Etwas in Krissie hatte sich verändert, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Vielleicht lag es daran, dass sie endlich eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, vielleicht war es die Vorstellung, eine Woche ohne Pflichten in den Highlands zu verbringen. Was auch immer es war, sie fühlte sich anders, sie fühlte sich gut, und sie hatte vor, einige Änderungen vorzunehmen und ein besserer Mensch zu werden. Sie legte sich eine Gute-Mutter-Strategie zurecht, bei der Opferbereitschaft, größere Geduld und eventuell sogar Freude von entscheidender Bedeutung waren.
Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Sarah beschloss sie, einen Einkaufsbummel zu unternehmen. Ein herbstliches Outfit würde ihr helfen, Robbie mit frischem Gesicht abzuholen. Dann würde sie mit ihm in den Park gehen, sie würden Brotrinden an die Enten verfüttern, mit den krossen roten Herbstblättern spielen und lachen.
Der Einkauf war kein Erfolg. Krissie hatte einen neuen Körper und wusste nicht, was sie mit ihm anfangen sollte. Sie nahm sich Sachen in Größe zehn von den Kleiderständern bei H&M und erwartete allen Ernstes, dass die meisten davon gut aussehen würden, nur um festzustellen, dass sie drei von den Hosen nicht einmal über ihre Oberschenkel bekam. Sie fragte sich, warum zum Teufel die Oberschenkel ihre Form verändert hatten – der Fötus war nicht einmal in ihre Nähe gekommen.
Nachmittags um drei ging Krissie zum Haus ihrer Eltern in der Kenilworth Avenue, fest entschlossen, ihre Gute-Mutter-Strategie umzusetzen. Sie packte Robbie ins Auto und fuhr mit ihm in den Park. Als sie ankamen, war Robbie eingeschlafen. Sie holte ihn trotzdem aus seinem Sitz und setzte ihn in den Kinderwagen, denn so lautete der Plan. Sie schob einen immer noch schlafenden Robbie zum Ententeich und warf zwei Brotstückchen ins Wasser, wo sie versanken. Nachdem sie mit ihrem Handy zwei Fotos von Robbie in seinem Kinderwagen geschossen hatte, stapfte sie durch ein durchweichtes Häufchen gelber Blätter. Dann kehrte sie zurück zum Auto, setzte Robbie wieder hinein, was ihn aufweckte, und fuhr mit ihm nach Hause in ihre Wohnung.
Robbie schrie den ganzen Weg.
Sobald Krissie zuhause war, schenkte sie sich einen Rotwein ein. Als Nächstes war eine saubere Windel für Robbie dran.
Krissie nahm einen Schluck von ihrem Wein und setzte Robbie in seinen Hochstuhl. Dann setzte sie sich neben ihn an den Tisch, trank ihr Glas leer, sah ihn an und legte den Kopf auf den Tisch aus Verzweiflung über sich selbst, ihre Unzulänglichkeit und ihre erbärmlichen Fähigkeiten als Mutter.
Plötzlich fühlte sie etwas an ihrer ausgestreckten Hand. Sie hob den Kopf und sah, dass Robbie nach ihren Fingern gegriffen hatte und sie festhielt. Er sah ihr in die Augen und lachte. Beide Sachen gehörten zusammen – das Handhalten und das Lachen. Er sprach mit ihr, sagte ihr, dass er sie mochte, und bat sie, seine Hand zu halten.
Aber sie hielt seine Hand nicht. Sie schenkte sich ein zweites Glas Wein ein.
Nach dem vierten Glas stellte sie die leere Flasche unter die Spüle und stellte entsetzt fest, dass dort mindestens ein Dutzend Flaschen stand. Sie redete sich ein, dass sie sich über eine längere Zeit dort angesammelt hätten und dass es nur deshalb schlecht aussehe, weil sie habe warten wollen, bis eine Kofferraumladung für die Flaschencontainer beim Supermarkt zusammengekommen sei.
Dann brachte sie Robbie ins Bett. Es war nicht wie in den Filmen, sagte sie sich, wo die Eltern dem Kind einen Kuss auf die Stirn geben, das Licht ausmachen, ganz hingerissen im Türrahmen stehenbleiben und dann gehen. Robbie ins Bett zu bringen, glich eher der Erstürmung der Küste bei Gallipoli: eine furchterregende und sinnlose Schlacht.
Sie hatte die strikte Abfolge ausprobiert, über die unter den pränatalen Muttis Einhelligkeit herrschte: Essen, Anregung – aber nicht zu viel –, Bad, Bett. Es hatte nicht funktioniert. Sie hatte versucht, ihn tagsüber vom Schlafen abzuhalten. Kein Erfolg. Hatte versucht, neben ihm zu schlafen. (Es hatte funktioniert, aber sie hatte den Fehler gemacht, es Frasers Mutti zu erzählen, die geschrien hatte: »NEIN! Er wird sterben, wenn du damit weitermachst. Hast du nicht die Geschichte von dem Baby gehört, das erstickt ist?«) Also wandte sich Krissie einem Buch namens »Kontrolliertes Weinen« zu, ihrer jüngsten Erwerbung aus der Abteilung Kinderpflege. Das Buch sagte, sie solle ihn beruhigen, ihn schreien lassen und in immer größer werdenden Abständen während des Abends zu ihm gehen. »Nach einer Woche wird ihr Baby durchschlafen«, hatte das Buch versprochen.
Heute war der sechste Tag, und Krissie hatte den starken Verdacht, dass sie ihr Geld würde zurückfordern müssen. Sie hatte Robbie zwei Minuten lang allein gelassen und war zum Beruhigen zurückgekommen, dann vier Minuten, Rückkehr, acht Minuten, Rückkehr, sechzehn, Rückkehr, und hier war sie nun, trat zum fünften Mal wie ein Einbrecher den Rückzug aus dem verdunkelten Zimmer an und betete, dass Robbie nicht bemerken würde, wie seine Mutter erst an Größe abnahm und dann durch die Tür verschwand – diesmal für dreißig Minuten.
»Gehen Sie an einen weit entfernten Ort«, hatte das Buch geraten. »Und seien Sie stark!«
Bis jetzt hatte Krissie das nicht über sich gebracht, aber heute war der erste Tag ihres neuen Lebens als resolute, kompetente, liebende, Grenzen setzende Mutter, und entsprechend fest entschlossen war sie.
Als sie aus dem Schlafzimmer kam, hörte Krissie Musik aus dem unteren Stockwerk. Sie hatte die Jungs seit Monaten nicht spielen hören, und die Klänge sandten eine Woge der Erregung durch ihren Körper. Ohne sich selbst Zeit zum Nachdenken zu geben, legte sie etwas Lipgloss auf, griff sich das Babyphon, stellte den Wecker an ihrer Armbanduhr auf dreißig Minuten und ging hinunter.
Als Marco die Tür öffnete, sagte sie: »Ich habe mein Tamburin nicht dabei, kannst du mir etwas von dir zum Rasseln geben?«
Marco antwortete genauso, wie sie es sich erhofft hatte. Er packte sie um die Hüften und küsste sie. Dann sah er auf das Babyphon, aus dem Robbies Stimme heulte.
»Keine Sorge, es geht ihm gut«, sagte sie.
Sie taumelten durch den Flur und in das Schlafzimmer, und Marco hob ihren Rock.
Der Schmerz überraschte sie. Er war scharf und stechend, und als Marco in sie eindrang, blitzte ein Schnappschuss aus Hebammen, Blut und großen, metallenen Salatbestecken vor ihr auf. Was war da unten passiert? Hatten die sie etwa enger als vorher zusammengenäht?
Robbies Weinen drang aus dem Babyphon und erfüllte das Zimmer, und sie sah über Marcos auf und ab wippende Schulter auf ihre Armbanduhr … Er schrie erst seit zehn Minuten. Sie schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Marco zu, der dreimal schnell zustieß, ehe er fertig war.
Danach gingen sie ins Wohnzimmer, wo der andere Typ auf seiner Mundharmonika spielte. Er grüßte Krissie nicht einmal.
»Sicher, dass mit ihm alles in Ordnung ist?«, fragte Marco und schnitt eine Grimasse in Richtung des schreienden Babyphons, als er ihr eine Rassel in die Hand drückte.
»Klar doch, mach dir keine Sorgen«, antwortete Krissie und drehte nach einem Blick auf die Uhr das Babyphon etwas leiser.
Ohne sie eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, nahm Marco seine Gitarre und fing zu spielen an.
Krissie fühlte sich erniedrigt. Was hatte sie getan? Was stimmte nicht mit ihr? Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen oder wie sie sich benehmen sollte. Also saß sie einfach da und schüttelte ihre Rassel, zu der das Babyphon seine quälende Harmonie brüllte. Die Sekunden stapften auf ihrer Uhr voran, aber sie würde nicht aufgeben, sie würde die ganze halbe Stunde abwarten. Sie würde eine gute Mutter sein.
***
Sarah traf um neun Uhr bei Krissie ein. Sie machte sich Sorgen, ob ihre Freundin zurechtkäme, und hatte sich entschlossen, bei ihr vorbeizuschauen.
Sie klopfte, aber außer Robbies Weinen kam keine Antwort. Sie wählte Krissies Handynummer und hörte es drinnen klingeln. Sie rief noch einmal an, diesmal auf dem Festnetz, aber es klingelte und klingelte nur. Sarah hämmerte gegen die Tür. Keine Antwort. In Anbetracht des labilen Zustandes, in dem sich Krissie befand, rief sie die Polizei.
Die Sirene brachte die Jungs dazu, mit dem Spielen aufzuhören, und als die Sirene aufhörte, ging der Wecker an Krissies Armbanduhr an. Es war Zeit zum Beruhigen. Sie sprang auf und lief nach oben.
Als sie an ihrer Wohnungstür ankam, stand Sarah dort.
»Was machst du denn hier?«, fragte Krissie.
»Wo bist du gewesen? Ich habe die Polizei gerufen. Schnell, mach die Tür auf«, sagte Sarah.
»Was? Warum? Ihm geht es gut!«, sagte Krissie, als sie den Schlüssel im Schloss drehte. Sie gingen in Robbies Schlafzimmer und sahen, dass er vor Panik dunkelrot angelaufen war.
»He!«, sagte Krissie und nahm ihn hoch. »He, ist schon gut, es ist schon gut.«
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie ihn so sah. Was hatte sie ihm angetan? Sie wiegte ihn sanft, und einen flüchtigen Moment lang verstand sie ihn. Sie verstand, dass er hübsch war, dass er es mochte, wenn sie ihn in ihren Armen hielt, dass nur seine Mutter ihn beruhigen konnte. Sie weinte mit ihm, und ihre Lippen waren nah an seinem winzigen Ohr. »Ich bin ja da, ich bin ja da.«
»Kontrolliertes Weinen«, erklärte sie Sarah. »Ich habe versucht, stark zu sein, wie es im Buch steht. Ich hatte das Babyphon dabei.«
Eine unangemessen gut aussehende Jungpolizistin klopfte einige Minuten später an die Tür. »Alles in Ordnung?«, fragte sie, als Krissie öffnete.
»Uns geht es gut. Ich war nur kurz beim Nachbarn. Ich habe ›kontrolliertes Weinen‹ angewandt, wissen Sie? Ihm beigebracht, wie man einschläft. Ich hatte das Babyphon dabei und wollte gerade zurückgehen, als Sarah ankam und Sie anrief.«
»Kontrolliertes Weinen? Das ist Quatsch, wenn Sie mich fragen. Besser, man nimmt sie mit zu sich ins Bett.«
»Scheiße, ich bin so blöd! Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, sagte Krissie. Sie warf das Erziehungsbuch in den Müll und trug Robbie in ihr Schlafzimmer.