Sarah hatte schon lange gewusst, dass sie und Kyle mal rausmussten, auch wenn ihre Vorstellung von »mal rauskommen« eher etwas mit einem Rundum-Sorglos-Paket in einer Fünfsterne-Ferienresidenz zwischen Hunderten ähnlich gekleideten Leuten zu tun hatte. Ihre liebste Urlaubserinnerung war Dubai, wo sie und Kyle eine eigene Abteilung im Swimmingpool bekommen hatten. Dort hatten sie den ganzen Tag faulenzen können, und ihr blieb abends jede Meng Zeit, um sich aufzubrezeln und eine falsche Bräune zuzulegen. Die Gefahr, dass ihr dabei ein Fingernagel abbrach, ging gegen null.
Sarahs Therapeutin hatte vorgeschlagen, dass sie Kyle ein bisschen mehr Kontrolle übernehmen lassen solle, aber als Kyle ihr gesagt hatte, er habe einen Wanderausflug in Schottland organisiert, hätte sie ihn am liebsten erwürgt. Sie war nicht besonders sportlich. Den größten Teil ihrer Kindheit hatte sie damit verbracht, sich Entschuldigungen für den Sportunterricht auszudenken. Sie hatte noch nie in ihrem Leben gezeltet, und so sorgte sie sich viele Nächte vor dem Aufbruch über die Logistik ihrer Körperhygiene. Normalerweise packte sie zwei Koffer für einen Urlaub, egal, wie lange er dauerte, aber Kyle hatte ihren Haarglätter, ihre elektrische Zahnbürste, die Reinigungslotion, das Gesichtswasser, die Nachtfeuchtigkeitscreme und die Tagesfeuchtigkeitscreme von Clarins konfisziert. Er hatte ihr Gepäck auf einen einzigen Rucksack reduziert.
Aber als sie im Sonnenschein durch die malerischen Dörfer südlich des Loch Lomond wanderten, dachte sie, dass dies vielleicht genau der richtige Urlaub für sie sei. Als Kyle und Krissie über ihre alten Freunde lachten, kam sie zu dem Schluss, dass dem so sei. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, waren die frische Luft, die körperliche Bewegung und die Schönheit ihrer Umgebung genau das, was sie brauchten. An diesem ersten Tag stellte Sarah überrascht fest, dass sie glücklich war, und sie lief sieben Stunden lang ohne ein einziges Stoßgebet.
Im Gegensatz zu Krissie hatte Sarah ihr Gottvertrauen nicht verloren. Sie ging jeden Sonntag in die Messe und betete dafür, dass etwas geschähe oder sich änderte oder besserte. Dann entschuldigte sie sich für alles, was sie dazu beigetragen haben könnte, dass etwas nicht geschähe oder sich änderte oder besserte. Sie glaubte wirklich, dass Maria eine Jungfrau sei, und dass Gott und Jesus einen ominösen Verwandten namens Heiliger Geist hätten. Und sie glaubte, dass alles gut werden würde, wenn sie nur ausreichend betete. All ihre Wünsche würden wahr werden.
Jeden Sonntag nach der Messe ging Sarah in positiver und aufgehellter Stimmung zu Kyle nach Hause. Sie war Teil von etwas Großem und Großartigem, und dieses Große und Großartige würde auf sie aufpassen. Sie kuschelte sich zu Kyle aufs Sofa, sie berührte ihn verführerisch im Nacken und versuchte, nicht über das Schwangerwerden nachzudenken. Dann brachte sie ihn versehentlich dazu, mit ihr zu schlafen. Die nächste Woche verbrachte sie damit, nicht über ihre Regel nachzudenken, und die übernächste Woche verbrachte sie damit, nicht über ihre Regel nachzudenken. Wenn sie fünfzehn Tage nach der sexuellen Begegnung offiziell überfällig war, dachte sie so angestrengt nicht an ihre Monatsregel, dass sie das Gefühl hatte, an einer unguten Mischung aus Machtlosigkeit und Hoffnung erkrankt zu sein. Ihre Regel kam natürlich. Sie kam immer.
Wenn überwältigende Enttäuschungen wie diese passieren, dann schlägt der Katholizismus so richtig durch. Er macht einen zornig und unvernünftig, denn solange man betet und um Vergebung bittet, ist jedes Verhalten in Ordnung. Also verbrachte Sarah mindestens eine Woche damit, zornig und unvernünftig zu sein – ihre Gebete verwandelten sich in fluchgesättigte Zornesausbrüche, ihre Verführungskünste erinnerten mehr an Selbstgeißelungen, bei denen sie Kyle als Peitschenstiel benutzte. Unter solchen Bedingungen fand Kyle es schwierig, den Samen zu erzeugen, den sein Weib begehrte.
Sarah wusste, dass Kyle ein guter Mann war, der erste gute Mann, den sie wirklich gekannt hatte, und sie hatte aufgehört, sich über seinen Mangel an Ehrgeiz zu sorgen. Sie hatte aufgehört, wegen ihrer Kinderlosigkeit auf ihn wütend zu sein. Es war offensichtlich nicht seine Schuld.
Aber an irgendeinem Punkt hatte ihre Liebe für Kyle zu schwinden begonnen. Es war ganz plötzlich passiert. Mit jeder schlechten Nachricht schwand ihre Liebe ein bisschen mehr – ob es nun eine Monatsblutung war, der fehlgeschlagene Versuch einer Pflegeelternschaft oder eine unveränderte Position in der Adoptionswarteliste. Ihre Liebe füreinander löste sich auf. Sie wussten es beide. Und sie wussten beide auch, dass sie bei einer weiteren schlechten Nachricht am Ende wären.
***
Eine rote Sonne senkte sich über Loch Lomond, als sie am Campingplatz ankamen, der zwischen dem See und den Hügeln eingebettet war und von schmutzigen, schlecht gekleideten, saufenden Wanderern fast überquoll.
Krissie war erschöpft, aber stolz darauf, so weit gelaufen zu sein. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ sie ihren Rucksack am Ufer fallen. Sie sah, dass Matt hundert Meter weiter sein rotes Zelt aufstellte, und nickte ihm so verhalten zu, dass sie nicht sagen konnte, ob er es bemerkt hatte. Also nickte sie ihm noch einmal zu, diesmal weniger verhalten, dann wünschte sie sich, es nicht getan zu haben, denn es war klar, dass er ihr (verzweifeltes) Nicken beide Male bemerkt hatte.
Sarah duschte in den Baderäumen des Campingplatzes. Ihre Füße waren rot, und ihre Beine taten weh, und ihr neuer Rucksack hatte sich in ihre Schultern gedrückt. Die heiße Dusche fühlte sich fantastisch an. Danach trocknete sie ihr Haar mit dem handlichen Fön, den sie in einem unbeobachteten Moment in ihren Rucksack geschmuggelt hatte.
Unterdessen hatten Kyle und Krissie ohne Probleme das Zelt aufgestellt. Nun sammelten sie gemeinsam Holz für ein Lagerfeuer. Als Sarah von den Duschräumen zurückkam, saßen sie im Schein des Feuers und tranken Wein.
»Du hast doch wohl nicht deinen Fön mitgebracht!«, lachte Krissie.
»Es ist nicht leicht, so gut auszusehen wie ich«, sagte Sarah und lächelte, als Kyle ihr einen Becher Wein reichte.
Während Kyle in kleinen Schlucken seinen Wein trank, fragte er sich, wie Krissie so verdammt gut aussehen konnte, obwohl sie überhaupt keine Zeit auf ihre Körperpflege verwendet hatte. Sie war verschwitzt und voller Dreck aus dem Wald, das Haar klebte ihr am Kopf, und ihr Knie war bei einem Sturz am Ufer aufgeschürft. Aber sie sah hinreißend aus.
Kyle nahm seinen dritten Becher Wein in Angriff und starrte Krissie an. Weil die Sache mit Sarah so sehr im Argen lag, war Masturbation seit Monaten seine einzige Art von Sex gewesen, und seine Eier trugen schwer an dieser Last. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen, weil er die Situation so beschämend fand.
Als er dort saß und Krissie über das Feuer hinweg anstarrte, fiel ihm ein, wie es gewesen war, Sex mit Sarah zu haben. Das beruhigte ihn ein bisschen, denn in den späteren Stadien war es wirklich schrecklich gewesen. Einmal hatte Sarah irgendwelche Fruchtbarkeitspillen genommen. Gerade, als er einer älteren Patientin ein Rezept ausgeschrieben hatte, meldete sich sein Pager. »Bitte, Mrs. Beattie, gehen Sie damit zur Apotheke«, hatte er gesagt und sie zur Rezeption begleitet.
»Kneipentheke?«, hatte Mrs. Beattie gefragt.
»Zur Apotheke. Apotheke!«
»Welche Kneipe?«, fragte Mrs. Beattie.
Kyle reichte die verwirrte Mrs. Beattie an die Sprechstundenhilfe weiter und las Sarahs Nachricht: »Sofort herkommen!«
Als Kyle zehn Minuten später eintraf, lag Sarah schon auf dem Bett. Sie hatte ihr T-Shirt an, die Hose aus, und ihre Unterhose ein Stück beiseitegezogen. Selbst die kleine Mühe, die Unterhose auszuziehen, war zuviel verlangt. Sie klatschte Gleitmittel drauf, dann sagte sie Hallo. Die meisten Typen hätten unter solchen Umständen wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt, ihre Erektion aufrechtzuerhalten, aber Kyle stellte sich vor, mit jemand anderem zusammen zu sein, und kämpfte sich durch.
Das war eines der letzten Male gewesen, dass sie versucht hatten, ein Kind zu zeugen, und seitdem hatte Sex irgendwie einen traurigen Beigeschmack gehabt.
Kyle hörte auf, Krissie anzuschauen und wandte sich Sarah zu. Wie sie da saß und ihren Wein trank, war es, als ob Jahre der Sorge und Anspannung von ihr abgefallen und begeistert glänzenden Augen gewichen wären. Kyle erhaschte einen kurzen Blick auf die Frau, in die er sich verliebt hatte: eine Frau, die ihn nicht als Idioten bezeichnete, die keine Listen mit Aufgaben anlegte, die er bis zu einem bestimmten Datum zu erledigen hatte. Sie lächelte, und ihr ganzes Gesicht hatte sich verwandelt und war lebendig geworden. Kyle spürte eine gewisse Aufgeregtheit, als er sie jetzt außerhalb ihrer normalen Umgebung sah. Er fragte sich einen Moment lang, ob es möglich sei, in eine frühere Zeit zurückzukehren – eine Zeit, als ihr Lächeln alles gewesen war, was er gebraucht hatte.