Kapitel drei

Man kann sich vorstellen, wie saublöd es für Sarah war, als ich sie anrief, um ihr meine Neuigkeit mitzuteilen.

»Ich bin schwanger«, sagte ich und konnte es selbst noch nicht ganz glauben. »Scheiße, ich bin schwanger.«

Ich hätte nicht so damit herausplatzen sollen. Es lag teils am Schock und teils an meiner Angst vor ihrer Reaktion. Außerdem hatte ich einen Albtraumtag hinter mir, denn ich hatte ein Mädchen namens Jess in Pflege gegeben, dessen Mutter dauernd ins Pub ging und den winzigen Knirps allein zuhause zurückließ. Sie hielt sie eingesperrt wie ein Kaninchen und hatte mit Tesafilm eine Milchflasche an die Sprossen des Laufställchens geklebt, aus der Jess trinken sollte, wenn sie durstig war.

Bei der Anhörung an jenem Tag hatte ich Jess’ Fall skizziert und darauf gewartet, dass die Mitglieder des ehrenamtlichen Komitees eine Entscheidung darüber träfen, ob sie meine Empfehlung, Jess in Pflege zu geben, annehmen wollten.

Einer aus dem Komitee, ein Arsch mit Haartolle, vermutlich nicht älter als achtundzwanzig, ohne Kinder und ohne einen Schimmer von Kindererziehung, hatte sich sogar noch mehr über mich entrüstet als die Mutter. Während die Mutter dasaß und zuhörte und zugab, dass sie nicht klarkam, fing er an, mich anzugreifen. Er sagte:

1. »Aber die Mutter gibt zu, dass sie Probleme hat.«

2. »Aber die Mutter ist bereit, mit der Sozialarbeiterin zu kooperieren.«

3. »Wie können wir es rechtfertigen, die kleine Jess ihrer Mutter wegzunehmen?«

4. »Wie schwer wird es für sie werden, Jess zurückzubekommen?«

5. »Wo wird Jess hinkommen? Wer wird sich um sie kümmern? Haben Sie Pflegeeltern gefunden?« und

6. »Wir müssen alles tun, was wir können, damit Mütter und ihre Kinder zusammenbleiben.«

Ich war stinksauer. Der Arsch schien sich mehr Sorgen um die Mutter als um das Kind zu machen, und das empörte mich mehr als alles andere.

Ich hatte mich immer zu gefährdeten Kindern hingezogen gefühlt. Und obwohl ich selbst keine Mutter sein wollte, hegte ich feste Überzeugungen über Mutter-Kind-Beziehungen. Meine eigene Mutter, so glaubte ich, hatte ein gutes Vorbild abgegeben, wie man mit Elternschaft umgehen sollte. Sie hatte immer mit vollem Einsatz versucht, mir ihre Freundschaft anzubieten und mir meine Grenzen aufzuzeigen, und sie hatte ihr eigenes Leben weitergelebt, während sie sich gleichzeitig mir widmete, so dass es auf beiden Seiten keinen schwelenden Groll gab. Sarahs Mutter dagegen hatte Sarahs Kindheit voll und ganz vermasselt. Sie war kaum je da gewesen, und wenn doch, dann hatte sie zu viel getrunken. Als Sarah sieben war, hatte sie sich zum zweiten Mal scheiden lassen. Und sie war so selbstbezogen, dass es einem den Atem verschlug. Die Folgen für Sarahs Selbstwertgefühl waren furchtbar. Wie heißt es bei den Jesuiten? »Zeige mir einen Jungen, ehe er sieben ist, und ich zeige dir, was für ein Mann er sein wird.«

Ich war überzeugt, dass ich Kindesvernachlässigung aus einer Meile Entfernung riechen könne, und ich empfand es als meine Pflicht, Kinder davor zu bewahren. Ich hatte wohl zwangsläufig Sozialarbeiterin werden müssen.

Jedenfalls konnte ich mich durchsetzen, und zwei der drei Komiteemitglieder (der Arsch gab nicht nach) stimmten zu, dass das Kind nicht nach Hause zurückkehren solle.

Später, im Foyer, sagte der Arsch mit der Haartolle: »Es ist schwierig, unvoreingenommen zu sein, nicht wahr? Aber wir alle sollten es versuchen.«

»Ja«, antwortete ich und sah ihm erst ins Gesicht und dann hinunter auf seine Hand, die meinen Arm fest umklammert hielt. »Wir alle sollten es versuchen.«

Er ließ los und seufzte, als die Mutter mir einige von Jess’ Sachen für die Pflegeeltern mitgab. Sie weinte nicht einmal.

***

Ich ging von der Anhörung direkt zur Ärztin, und es dauerte nicht lange, bis sie zu dem Schluss kam, dass meine Gewichtszunahme und meine Erschöpfung nicht auf Stress zurückzuführen seien. Ein schneller Urintest räumte alle Zweifel aus. Als ich es Sarah erzählte, befand ich mich in einem Schockzustand.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich schwanger war. Ich hatte jeden Monat meine Regel gehabt, aber meine Ärztin hatte mir erklärt, dass das bloß falsche, vorgebliche Blutungen gewesen seien. Verfluchte Lügen! Ich war schon im fünften Monat, und es war zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.

Sarah antwortete auf meine ungeschickte Enthüllung mit Schweigen. Dann legte sie auf. Ich verbrachte einen Tag damit, mich im Kopf mit ihr zu streiten. In schneidend kurzen Repliken sagte ich ihr, wie wenig sie für mich da gewesen sei, als ich sie gebraucht hätte, und dass unter keinen Umständen von mir erwartet werden könne, dass ich mich entschuldigte oder den ersten Schritt tat.

Aber im Grollen bin ich nicht besonders gut, und am nächsten Tag nach dem Mittagessen rief ich sie von der Arbeit aus an und entschuldigte mich.

Sie sagte, es tue ihr auch leid, und dass sie nicht hätte auflegen sollen, aber dass meine Neuigkeit zu einem ganz, ganz schlechten Zeitpunkt eingetroffen sei.

Es stellte sich heraus, dass Kyle und sie eine Stunde vor meinem Anruf von einer Sozialarbeiterin befragt worden waren, die ihre Eignung für das Adoptionsverfahren einschätzen sollte.

»Sie ist erst einundzwanzig«, sagte Sarah, »und eindeutig eine Lesbe. Sie hat auf unserem Sofa gesessen, ihren Nasenring in die Luft gestreckt und sich über meine Eltern ausgelassen. Herr im Himmel! Ich habe versucht, ihr das Haus zu zeigen, aber sie hat abgelehnt. ›Alles zu seiner Zeit‹, hat sie gesagt – und das mit einem Nasenring!«

Nach dem Gespräch wurde mir klar, dass der gesamte Anruf sich um Sarahs Eierstöcke gedreht hatte – und nicht um meine, in denen zu meinem anhaltenden Schrecken ein rauschendes Fest gefeiert wurde.

***

Das Adoptionsverfahren von Sarah und Kyle entwickelte sich gleichzeitig mit meinem Bauch. Es gab viele weitere Befragungen durch Sozialarbeiter mit und ohne Nasenring. Familienstammbäume wurden gezeichnet, Geschichten geschrieben, Liebesleben, Bewältigungskompetenz und soziale Einbindung genau untersucht. Schließlich machte irgendwer irgendwo ein Häkchen und erteilte Sarah und Kyle die Genehmigung, ein fremdes Kind aufzunehmen.

Wir feierten im Café Rosso mit einer Flasche Chianti (ja, ich weiß, aber wenigstens war mein Fötus nicht auf Heroin wie bei vielen Müttern, mit denen ich bei der Arbeit zu tun hatte), drei Gängen und einem Streit über den Mittleren Osten. Der perfekte Abend.

***

Kurze Zeit nach unserem gemeinsamen Abendessen holte Sarah bei ihrer örtlichen Sozialstelle ein sechsjähriges Pflegekind ab und nahm es für das Wochenende mit nach Hause. Es war nicht ganz wie im richtigen Leben, nur ein kurzes Wochenende, »um die Kinder einzuarbeiten«, wie Sarah sagte.

Kyle wartete schon auf Sarah und das Kind, als die beiden ankamen. Sarah hatte vorher Kekse und verdünnten Bio-Schwarze-Johannisbeersaft gekauft, außerdem drei DVDs über die Tier- und Pflanzenwelt Afrikas.

Der Knirps nahm seinen Platz auf dem Ledersofa mit dem Kaschmirüberwurf ein, betrachtete die Kekse und den Saft auf dem Couchtisch und starrte Sarah und Kyle mehrere Minuten lang an. Er hatte große grüne Augen und leuchtend rotes Haar, und er war so süß wie ein Knopf aus Glasgow. Sarah hätte ihn am liebsten aufgefressen, und Kyle fing an, sich ziemlich männlich zu fühlen, jetzt, wo er einen Jungen im Haus hatte, der einen Vater brauchte.

»Kann ich auf Toilette?«, fragte der Junge nach einigen Minuten verlegener Stille.

Sarah brachte ihn zu seinem eigens-für-das-Wochenende-gestrichenen Zimmer mit Bad und schloss mit dem Seufzer einer liebenden Mutter die Tür hinter seinen zarten kleinen Gesichtszügen.

Er kletterte aus dem Fenster.

Ehe Sarah und Kyle auch nur Zeit hatten, den Biosaft in die eigens-für-das-Wochenende-gekaufte Plastiktasse-mit-coolem-Strohhalm zu gießen, war er vermutlich eine halbe Meile weit weg. Sie bekamen nichts davon mit, ehe Kyle alle Trailer auf der ersten DVD über Afrikas Tierwelt gesehen hatte.

Danach kam Sarah zu dem Schluss, dass Pflegeelternschaft eine schlechte Idee sei – unwiederbringlich lädierte rotblonde Unterschichtenware und so weiter. Also konzentrierte sie sich auf das schneckenhafte Vorwärtskriechen auf der Adoptionsliste. Und auf mich. Sie fing an, mich bei jeder pränatalen Untersuchung zu begleiten. Sie strich mein Gästezimmer, schrieb endlose Besorgungslisten, nahm Mixtapes auf, die ich während der Geburt hören sollte, half mir, meinen drogenfreien Geburtsplan zu schreiben und kochte Unmengen von gefrierfertigen Mahlzeiten für die Zeit danach.

***

Auf Sarahs Drängen hin hörte ich drei Wochen vor dem Tag X mit Arbeiten auf.

Meine Kollegen kamen zusammen, um mir Gutscheine für Marks & Spencer und eine gemischte Kuchenplatte zu schenken. Mein Chef – der, wie ich bald merkte, sehr oft »ach, Scheiße« sagte – hielt eine Rede.

»Glückwunsch an Krissie und ihren Ehem… – ach, Scheiße … ich meine, nach allem, was man hört, wirst du großartige Eltern, Mutter … ach, Scheiße. Auf Krissie!«

***

Nachdem ich mit der Arbeit aufgehört hatte, kam ich zu dem Schluss, dass so eine Mutterschaft eine fantastische Sache sei. Ich schlief aus, ging spazieren, aß mittags in Cafés, schaute mir »Quincy« an, las Bücher und vertilgte mindestens einen kompletten Bananenkuchen am Tag.

Ich lachte und lachte mit meinen neuen pränatalen Freundinnen, traf mich mindestens zweimal in der Woche mit Sarah und Kyle zum Abendessen, bummelte mit Mum und Marj durch die Geschäfte, und ging ins Kino. Ich hüpfte beim Aqua-Aerobic herum, aß Currys, trank Himbeertee, gab dem verzweifelten Drang nach Blumenkohl nach, und dann, gerade als ich mich zu langweilen anfing, kam das Kind.