Kapitel zwanzig

Ich hatte auf Teneriffa Ecstasy genommen, aber ich hatte niemals auch nur annähernd so etwas wie diese Pilze erlebt. Kyle und ich saßen auf dem Hügel und kauten, und dann legte ich mich hin und wartete. Wir sahen in den Himmel und sagten hin und wieder: »Nö, gar nichts. Bei dir?«

Wenn ich jetzt zurückblicke, dann weiß ich, dass wir nicht auf die Halluzinationen warteten. Wir warteten darauf, dass etwas die Schleusen öffnete und uns dazu brachte, zu Ende zu führen, was wir bereits begonnen hatten.

Ungefähr eine Stunde später öffneten sich die Schleusen. Aber anstatt geil zu werden, wurden wir erstaunlicher Wahrheiten ansichtig, die die Hügel, die Felsen und unsere Köpfe überfluteten.

»Einer von uns wird als Erster sterben, und der andere muss dann zu seinem Begräbnis gehen.«

»Sarah ist der schönste, freigiebigste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sie passt auf mich auf. Passt. Auf mich. Auf.«

»Arzt zu sein ist ätzend.«

»Ich liebe dich, Kyle.«

»Ich liebe dich, Krissie.«

»Die Wolke da sieht wie eine Giraffe aus.«

»Komm, wir laufen ihr hinterher.«

Und so redeten Kyle und ich eine Stunde lang absoluten Scheiß, hielten von Zeit zu Zeit inne, um zu weinen oder zu lachen, und torkelten schließlich gegen elf Uhr abends auf den Zeltplatz. Ich werde niemals erfahren, wie wir den Weg dahin gefunden haben.

Natürlich war ich viel zu zugedröhnt, um mein Zelt aufzubauen, und so krochen wir gemeinsam zu Sarah, die wie ein Stein schlief.

Wir schliefen sofort ein.

Als ich aufwachte, hatte ich keine Vorstellung davon, wo ich war oder auch nur, wer ich war. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich Kyle, der neben mir lag, auf der anderen Seite Sarah. Sein Gesicht war unheimlich hübsch, und ich hätte vor lauter Liebe am liebsten geweint. Und ehe ich wusste, wie mir geschah, überwältigte mich ein verzweifeltes Verlangen. Ich musste ihn in meinem Mund haben.

Ich ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. Langsam kroch ich unter seinen Schlafsack und küsste ihn.

Früher hatte ich oft von Fellatio geträumt. Immer waren die Schwänze so dünn wie Bleistifte gewesen, und mindestens zweimal hatten sie sich in meinem Mund in Scheiße verwandelt, so dass ich mit trockenem Würgen aufwachte. Eine Zeit lang hatte ich vermutet, diese Träume würden darauf hinweisen, dass ich lesbisch sei. Aber immer, wenn ich mir ausmalte, mit einer Frau zusammen zu sein, hatte ich Probleme, mir die Abläufe vorzustellen. Folglich kam ich zu dem Schluss, dass die Träume vielleicht einfach bedeuteten, dass ich Männern nicht gern einen blies.

Nichts hätte in dieser Nacht weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Ich hätte mein ganzes Leben da unten verbringen können. Und ich werde niemals den besten Teil an der ganzen Sache vergessen. Der beste Teil kam, als Kyle mit leisem Stöhnen aufwachte, den Schlafsack hochhob und heruntersah. Für den Bruchteil einer Sekunde verschränkten sich unsere Blicke, ehe er zuckend einen Orgasmus hatte.

Danach lagen Kyle und ich in dem Zelt und starrten uns die ganze Nacht lang hellwach an. Wir hatten uns ineinander verliebt – heftig und leidenschaftlich ineinander verliebt.

***

Am nächsten Morgen kochten wir Bohnen auf dem Gaskocher, und in mir tobte ein Kampf. Als Kind hatte ich meine inneren Streithähne »Schwätzer« genannt. Sie hatten ungefähr folgendermaßen argumentiert:

Klau den Schokoriegel nicht, das ist nicht richtig.

Aber ich will ihn haben.

Aber es ist nicht richtig.

Aber es ist ein Curly Wurly.

Du wirst in die Hölle kommen! Nimm ihn nicht! Es ist nicht richtig!

Es ist bloß Schokolade. Es ist nur ein Curly Wurly.

Und jetzt waren sie wieder da, meine Schwätzer, und quasselten drauflos.

Es ist falsch.

Es ist Schicksal.

Es ist böse.

Es ist Liebe.

Sarah zu meiner Linken, Kyle zu meiner Rechten.

Schuld. Verlangen.

Es war, als ob meine geballten Fäuste in einen Kampf miteinander verstrickt wären. Als ob sie sich vor meinen Augen miteinander prügeln würden. Und während sie aufeinander eindroschen, konnte ich weder gebackene Bohnen essen noch Kaffee trinken. Ich war völlig außer Gefecht gesetzt, und das machte mich wütend, denn in einem Kampf wie diesem steht eines fest: Das Schuldgefühl muss siegen. Es dauert vielleicht eine Weile, und es kann sein, dass es sich ein bisschen dreht und windet. Ehe das Schuldgefühl siegt, ist die Hölle los.

Und das machte mich wütend.

Meine Art, damit umzugehen, bestand darin, dass ich im Tempo meiner Schwätzer wanderte:

Die Ehe ist sowieso am Ende.

Ich werde es ihr nicht sagen.

Ich gehe nach Hause. Ich muss nach Hause gehen.

Wie konnte ich so etwas tun?

Es war doch nur ein Kuss.

Was kann ein Kuss schon …

Sarah versteht ihn nicht. Ihre Ehe ist seit Jahren am Ende.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Sarah.

»Klar doch, alles prima … Aber ich will heute Nacht auf keinen Fall im Zelt schlafen, und ich muss dringend baden.«

***

Wir erreichten das Kingshouse Hotel in der Nähe von Glencoe nachmittags um vier. Es war ein kürzerer Tag, und Sarahs Füßen schien es gut zu gehen. Ich entschloss mich, die Sache mit Kyle zu vergessen. Dann wäre alles in Ordnung, genau wie zuvor.

Das war der Plan.

Stattdessen passierte Folgendes: Sarah nahm einen Kofferkuli und brachte das Gepäck nach oben, während Kyle und ich an der Bar saßen und jeder zwei Gläser Wein tranken, ohne ein Wort zu sprechen.

Als ich Kyle ansah, war klar, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. Er konnte nicht aufhören, mit dem Knie zu wippen – auf und ab, auf und ab –, und seine Unruhe übertrug sich auf den Tresen und fand ihren Weg zu meinem Barhocker.

»Kyle, was letzte Nacht passiert ist …«, fing ich an.

Ehe ich den Satz beenden konnte, sagte er: »Es ist aus zwischen mir und Sarah.«

Ich stürzte ein weiteres Glas Wein hinunter und dachte an all die Sachen, die mir an Kyle gefielen. Zum Beispiel, dass er freundlich war.

»Aber ich kann sie trotzdem nicht verlassen. Sie würde sterben, Krissie.«

»Das will ich auch gar nicht«, sagte ich.

Nachdem wir eine zweite Flasche bestellt hatten, dachte ich daran, wie witzig er war.

Ein weiteres Glas später fiel mir auf, dass Kyles Oberschenkel (er trug Shorts) mit weichen, gleichmäßigen, hellbraunen Haaren bedeckt waren. Ich dachte über die Tatsache nach, dass seine Oberschenkel mit seinem Schwanz verbunden waren, den ich am Abend zuvor gelutscht hatte.

Ich liebte ihn, und ich begehrte ihn. Er sah es in meinen Augen und berührte mit der Hand mein Knie, als er nach seiner Brieftasche griff, um für unsere nunmehr dritte Flasche Wein zu bezahlen.

Als Sarah schließlich in Rock und Oberteil herunterkam, war klar, dass sie gebadet oder geduscht und sich frisiert hatte. Sie ließ sich vorsichtig auf einem Barhocker neben mir nieder – zweifellos um zu vermeiden, dass ihre Frisur durcheinanderkam – und schlug ihre auf Hochglanz polierten Beine übereinander.

»Ihr seid ja besoffen!«, sagte sie, als wir unbändig über etwas lachten, das nicht besonders lustig war.

Wir aßen Sachen wie Steakpastete und sahen uns in der Glotze Deutschland gegen England an. Es war ein wichtiges Qualifikationsspiel, und die Bar war zu etwa gleichen Teilen mit Deutschen und Schotten gefüllt, außerdem mit ein paar Australiern und Engländern. Als England ein Tor schoss, gab es zurückhaltenden Applaus, und die Deutschen wirkten irritiert. Hier war doch Großbritannien. Warum explodierte der Raum nicht? Dann schossen die Deutschen ein Tor, und der Raum explodierte.

Verdammtes Schottland, dachte ich, denn der Alkohol hatte einen weniger vergnügten Teil meiner selbst zum Vorschein gebracht. »Was zum Teufel tun wir in einem Land, das seine einzige Freude aus dem Scheitern seines Nachbarn bezieht?«

Kyle verstand das, und wir unterhielten uns darüber, während wir uns durch einen klebrigen Toffeepudding hindurcharbeiteten, aber Sarah fand die ganze Atmosphäre langweilig und deprimierend und ging – wieder einmal – zurück auf ihr Zimmer.

Wir tanzten mit den (siegreichen) Deutschen zu Stücken aus den Achtzigern. Kyle war schon immer ein linkischer Tänzer gewesen – verkniffenes Gesicht, Fingerschnipsen, hin und wieder eine unpassende Drehung –, aber er brachte mich zum Lachen und war geschickt genug, um mich aufzufangen, als ich seine Drehungen imitierte und beinahe hingefallen wäre. Als er mich hochhob, bemerkten wir Matt, der an der Bar stand und uns mit bösem Blick anstarrte. Er hatte einen Arm um die hübsche junge Frau geschlungen, die uns unsere Pasteten serviert hatte, und ich bemerkte eine Tätowierung auf seinem Oberarm. LOVE stand da. Wie passend und originell.

»Komm, ich bring dich auf dein Zimmer«, sagte Kyle und legte seinen Arm um meine Taille. Wir schwankten die Treppe hoch und den Gang entlang.

Das Hotel war zweihundert Jahre alt, weiß gestrichen und drei Stockwerke hoch. Es gab um die vierzig Zimmer, und in unserem hoch alkoholisierten Zustand brauchten wir eine Weile, um meines zu finden. Ich plumpste mit einem dumpfen Geräusch auf das Bett. Kyle stand unschlüssig neben mir.

»Setz dich noch ein bisschen her!« Ich klopfte neben mich aufs Bett. Kyle tat wie ihm geheißen und setzte sich neben meinen wirbelnden Horizontalleib.

»Und? Hast du vorletzte Nacht etwas Unanständiges und Ausgefallenes mit Sarah gemacht?«, fragte ich.

»Ich hab’s versucht, aber es hat ihr nicht gefallen.«

»Was hast du gemacht?«

»Sag ich nicht.«

»Na komm!«, sagte ich und kitzelte den Oberschenkel, der mich den ganzen Abend so sehr beschäftigt hatte. »Dann zeig es mir.«

»Ich möchte nichts Unanständiges und Ausgefallenes mit dir machen, Krissie«, sagte er. Er legte sich neben mich, sah mir tief in die Augen und strich mir über das Haar. »Ich möchte etwas Schönes und Zärtliches mit dir machen.«

Er küsste mich, und ich verstand, was ihm vorschwebte. Ein weicher, bedeutungsvoller Kuss, der einem den Atem verschlägt. Aber ich war viel zu betrunken für etwas Schönes, und so balgten wir eine Weile herum. Ich wollte Schnell/Aggressiv/Bitte-bald-vorbei-weil-ich-vielleicht-kotzen-muss. Er wollte Langsam/Zärtlich/Bedeutungsvoll.

Als wir schließlich die ziemlich ausgedehnte Vorspielphase hinter uns gebracht hatten, war ich der Auffassung, dass die Missionarsstellung das Beste sei, denn ich hatte einen Punkt an der Decke gefunden, der – wenn ich mich sehr stark darauf konzentrierte – das Drehen beendete.

Ich legte mich zurück und starrte den besagten Punkt an, während Kyle sich auf ein ziemlich pubertäres Stoßen verlegte, das er alle paar Sekunden in dem quälenden Versuch unterbrach, eine vorzeitige Ejakulation zu verhindern. Er schloss die Augen und schnitt Grimassen, während er weiterhämmerte.

»Es macht mir nichts aus«, sagte ich ihm und hoffte bei Gott, dass er es einfach geschehen lassen würde, aber er war angesichts seiner fragwürdigen Leistung offenbar so am Boden zerstört, dass er es nicht tat.

»Nein, nein, es ist in Ordnung, nur eine Minute«, sagte er mehrmals. »Ich kann … ich kann es zurückhalten … nur …«

»JETZT KOMM UM HIMMELS WILLEN«, schrie eine Stimme.

Ich beobachtete Kyles halbgeschlossene Augen, die sich bei dieser Äußerung entsetzt öffneten. Das Geschiebe hörte auf, denn er hatte die Konzentration verloren und folglich die Kontrolle. Immer noch auf mir liegend, starrte er mir in die Augen. Dann drehte er seinen Kopf um neunzig Grad nach links und sah Sarah neben sich stehen.

»Gottseidank, Kyle, sie war kurz davor, sich zu übergeben!«, sagte sie. Ihre Stimme war ausdruckslos, hatte aber einen Unterton, der aus finsteren, unheimlichen Bereichen aufzusteigen schien.

Wir sprangen auf, verhüllten uns mit den Laken und taten all das, was man in den Filmen sieht.

Aber Sarah spielte ihre Rolle völlig falsch. Sie schlug nicht auf uns ein, sie schoss nicht auf uns, und sie schrie auch nicht oder knallte die Tür hinter sich zu. Sie ging überhaupt nicht. Mit nichts als ihrem seidenen Unterhemd bekleidet, setzte sie sich still an das Bettende. Dann hub sie mit der Stimme einer Grundschullehrerin und ohne das kleinste Beben auf ihren Lippen zu sprechen an.

»Es ist in Ordnung, macht euch keine Sorgen. Wir kriegen das geregelt. Wir müssen einfach nur logisch vorgehen.«

Ich: »Sarah, es tut mir so leid.«

Kyle: »Ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe nie gewollt, dass das passiert.«

»Ihr hört mir wohl gar nicht zu, wie? Ich bin nicht wütend. Wir kriegen das geregelt. Krissie, du und ich, wir haben jeder etwas, das die andere will.«

»Wovon redest du da?«

»Ihr könnt euch haben. Es macht mir nichts aus.«

Kyle und ich guckten verwirrt.

»Was willst du damit sagen?«, fragte ich.

»Ihr könnt euch haben, aber es gibt eine Bedingung.«

Ich starrte sie an.

Sie lächelte fast freundlich. »Ich kriege Robbie.«

Ich war so schockiert, dass ich mich nicht rühren konnte.

Dann verwandelte sich mein Schock in Zorn. Es war mir egal, dass ich mit Sarahs Ehemann nackt unter einem fadenscheinigen Laken lag. Ich war außer mir vor Wut. Ich stand auf und fing an, mich anzuziehen.

»Du bist völlig durchgeknallt!«, sagte ich.

Ich zog meine Unterhose vor den Augen der beiden anderen an. Schloss den Reißverschluss meiner Jeans. Band mir die Schnürsenkel. Zog den schwer zu entwirrenden Sport-BH an, das T-Shirt. Dann stopfte ich meinen Kram in einen Rucksack und befestigte das Zelt daran. Es dauerte eine Ewigkeit, und es war peinlich, und ich wunderte mich, dass Sarah und Kyle mir die ganze Zeit dabei zuschauten, aber genau das taten sie. Beide saßen auf dem Bett und sahen mir zu, bis ich zur Tür hinausging.

Sarah folgte mir in die Halle, wo Matt und seine hübsche Kellnerin auf der menschenleeren Tanzfläche knutschten. Ihre Münder bewegten sich mit dem pausenlosen Ingrimm von Halbwüchsigen.

»Wo gehst du hin?«, schrie Sarah.

Matt und sein Vögelchen hielten inne, um Luft zu holen.

»Wie kannst du es wagen, Sarah?«

»Ich denke wirklich nicht, dass du Grund hast, empört zu sein. Du hast Robbie schreiend in deiner Wohnung allein gelassen, während du mit diesem Penner von unten gevögelt hast. Und gerade eben hast du mit meinem Mann gefickt.«

Matt und sein Vögelchen kicherten sich gegenseitig in die Achseln und fuhren mit ihrer Mümmelei fort.

Ich schoss aus der Eingangshalle und knallte die Tür zu. Die kalte Nachtluft traf mich wie ein Schlag, und ich ging einfach drauflos. Ich wusste nicht, wohin, und es war mir auch egal. Ich musste weg. Von Sarah. Von Kyle. Von dem, was ich gerade getan hatte. Von dem, was ich war. Ein schrecklicher Mensch.

Und Sarah hatte recht. Ich war eine entsetzlich schlechte Mutter.

Aus meinem Gehen wurde ein Rennen, als ich einen steilen Weg hochstürmte. Anstelle der Lichter des Hotels trat der Mondschein. Er reichte aus, um mir zu zeigen, dass der Weg schmaler und schwieriger geworden war. Er wand sich auf einem Grat nach oben und wurde steiler und steiler. Ich stolperte über Felsen, kam vom Weg ab und kletterte immer weiter in die Schwärze hinein. Schließlich kroch ich, um zu entkommen, auf allen vieren.