Das Schicksal lässt sich nicht betrügen
Ich konnte kaum die Hände von Ayden spüren, die mich an den Schultern packten, hörte seine Stimme, als wenn ich auf dem Grund eines tiefen Sees lag, und er von einem Schiff auf der Oberfläche aus zu mir sprach. Nur gedrücktes Gemurmel erreichte meine Ohren. Meine Sinne starben langsam, aber stetig, da selbst meine Augen ihren Dienst so weit herunterfuhren, dass ich kaum noch Konturen, sondern hauptsächlich verschwommene Farben wahrnahm. Außerdem waren meine Augenlider so schwer ... und ich war müde ... so unendlich müde ... Irgendwie wurde alles, was sich um mich herum abspielte, nichtig, ohne dass ich das bewusst so beschlossen hätte. Die Auswirkungen von dieser Einstellung war aber, dass ich mich noch weniger auf die schwindenden Sinne konzentrierte und irgendwohin mit meinem Geist abdriftete. Eigentlich erwartete ich schon in die Schwärze zu fallen und den weißen Wolf wiederzusehen, doch in meinem Inneren wusste ich auch, dass ich nicht wieder in mein Bewusstsein zurückkehren würde, sollte ich mich jetzt ergeben. Aber ich war so müde! Die Müdigkeit zerrte an allem an mir: Muskeln, Sinne, Organe ... Alles wollte schlafen und am besten im Augenblick der Ruhe auf ewig verweilen. Dieser Drang einfach zu schlafen wetteiferte mit dem letzten Rest Bewusstsein, an das ich mich klammerte, und das doch verlor, je mehr Zeit verstrich. Ich kämpfte gegen meinen eigenen Körper.
Die Grenze zwischen Ironie und Schicksal ist ein schmaler Grad ... Jetzt, wo ich etwas gefunden habe, für das ich nur zu gerne leben würde, greift der Tod mit starker Hand nach mir ... Das ist so typisch für mich, dachte ich säuerlich und sammelte meine Willenskraft, um meine Sinne zumindest ein bisschen zu schärfen. Ich wollte wissen, was um mich herum geschah.
„... ihr kann man nicht mehr helfen ...“, fing ich einen Gesprächsfetzen auf. Das wusste ich schon. Oder – dem Entsetzen in meinem Herzen nach zu urteilen – hatte es vermutet, aber nicht wahrhaben wollen.
„... muss ... Weg geben!“ Das musste Ayden gewesen sein. Diese Worte wären fürwahr typisch für ihn in so einer Situation. Ich wollte eigentlich lächeln, aber selbst das war schon zu anstrengend.
„Ayden ... wenn ... ob das besser ist?“ Diese Stimme musste zu Kenneth gehören.
„Ich kann und will sie nicht sterben …, selbst ... sie mich hasst ...“ Ich wurde wieder etwas wacher. Was hatte Ayden vor? Ich zwang meine Augen dazu, sich wieder schärfer zu stellen, damit ich sehen konnte, wer da über mir kniete. Wenn ich ehrlich zu mir war, wusste ich es schon, aber Gewissheit war nichts Schlechtes.
Ayden, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, kniete halb über mir. In seinen Augen sah ich das Glitzern von Tränen, sein Gesicht war vor seelischem Leid verzogen und Verzweiflung und ohnmächtige Angst schrien mich aus seiner Mimik und Gestik an. Er diskutierte wieder mit seinem Vater, der schräg hinter ihm stand. Noch ein wenig hinter ihm hatte sich der größte Teil von Aydens Familie versammelt, auch ein paar der freundlichen Vampire, der Rest war wohl verwundet worden und musste sich erst einmal verarzten.
Der Schwarzhaarige schüttelte auf einmal energisch den Kopf, sodass seine Haare in alle Richtungen peitschten, dann hob er seinen linken Arm, sodass er seine Pulsader sehen konnte. Mit einem Ruck führte er ihn zu seinem Mund, öffnete diesen und biss herzhaft mit zwei überlangen Reißzähnen in seinen Unterarm. Ich war geschockt. Nicht nur wegen des ultimativen Beweises, dass Ayden ein Vampir war – seine Fangzähne hatte ich noch nie zuvor gesehen – sondern wegen dieser für mich völlig sinnlosen Selbstverletzung. Der junge Mann ließ es dabei aber nicht bewenden. Soweit ich es sehen konnte, ließ er von seinem Arm nicht ab und schien sogar sein eigenes Blut zu trinken. Dünne Rinnsale purpurroten Blutes traten zwischen der Grenze von seinen Lippen und der Haut seines Armes hervor und bahnten sich in geraden oder fast schon verschnörkelten Bahnen ihren Weg, bis sie schließlich endeten und zu kleinen Tropfen wurden, die auf den Boden fielen.
Der junge Mann ließ mit zusammengepressten Lippen von seinem stark blutenden Arm ab, an dem ich für eine Sekunde sogar die tiefe Bisswunde sehen konnte, dann hob er mit der Hand, die zu dem unverletzten Arm gehörte, meinen Kopf. Genauso schnell, wie er zuvor in sein eigenes Fleisch gebissen hatte, senkte er nun sein Haupt zu mir, presste seine Lippen auf meine, zwang beide mit seiner Zunge herrisch auseinander. Anstatt wie sonst meine Mundhöhle mit ihr zu erkunden, suchte er meine eigene Zunge und drückte sie hinunter?! Im nächsten Moment spürte und schmeckte ich eine warme, eisenhaltige, leicht süßliche Flüssigkeit in meinem Mund, die – weil er mit seiner Zunge dafür sorgte – ungehindert weiter in meinen Rachen floss. Mit einem Schlag wusste ich, was er getan hatte. Er hatte sein eigenes Blut in seinen Mund gesaugt und flößte mir dieses ein, aber ... Wieso? Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, weil ich sein Blut nicht trinken wollte, aber selbst bei voller Stärke konnte ich gegen ihn nicht ankommen, wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, dementsprechend war es jetzt erst recht vollkommen unmöglich. Um nicht an seinem Blut zu ersticken, schluckte ich es hinunter. Als der Blutfluss endlich zum Stillstand kam, ließ der junge Vampir von mir ab und betrachtete mich um Verzeihung flehend.
„Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht sterben lassen!“, sagte er so zerknirscht, dass ich beinahe schon Mitleid bekam. Ich wollte etwas sagen, aber meine Zunge war bleischwer. Auf einmal hob mich Ayden hoch und trug mich irgendwohin. Als Nächstes – obwohl meine Sinne stetig an Schärfe verloren – spürte ich ein Brennen in mir. Es war nicht mein Rücken, sondern mein Magen. Was hatte Aydens Blut auf mich für eine Wirkung? Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf mein Inneres und fühlte, wie sich das Brennen von meinem Magen ausgehend verbreitete. Es befiel alle Organe in meinem Bauch, kroch langsam die Adern und Venen entlang zu meinen Gliedmaßen, erreichte sogar meinen Kopf, meine Lunge, mein Herz. In jede noch so kleine Zelle schien es vorzudringen und den kläglichen Rest meiner Sinne noch weiter zu vernebeln. Was mir jedoch Angst einjagte, war das Brennen und Ziehen in meinem Herzen. Mit jedem Herzschlag, der mein lebenswichtiges Blut durch meine Adern jagte, wurde der Schmerz in meinem gesamten Körper kurzzeitig unerträglich, dann nahm er ab und beim nächsten Herzschlag ging es von vorn los. Es war ein alternierendes System, aus dem ich nicht entkommen konnte.
Ayden legte mich irgendwo ab, wie ich am Rande bemerkte. Es war dunkel. Vielleicht der Keller? Es interessierte mich nicht. Die Schmerzen wurden mit jeder Minute, die verging, immer schlimmer, sodass ich versucht war, mir zu wünschen, dass ich endlich starb und ihnen auf ewig entkommen konnte. Keine Schmerzen mehr ... nie wieder ... was für ein Paradies ... Und endlich driftete ich ab in das Nichts, in die unendliche, samtene Schwärze. Aber die Schmerzen ... Sie waren immer noch da. Lief irgendetwas falsch? Sterben sollte doch so leicht sein. Wenn man den Worten der vielen Priester und Heiligen Glauben schenkte, so war das Leben gleichzeitig Geschenk und Last. Eine Last, die man entweder ertrug oder sie feige abwarf, indem man sich irgendwann das Leben wieder nahm. Aber wenn der Tod gleichbedeutend mit dem Abwerfen der Last war, dann musste es doch leicht und ruhig gehen und nicht ... nicht so. Ich wurde selbst in dieser Schwärze von den Schmerzen heimgesucht, fühlte selbst hier die Machtlosigkeit, die mit ihr einherging, als wenn sie beide zwei Seiten einer Medaille wären, und wurde auch hier von Gefühlen geplagt, die alles noch schlimmer machten. Meine Gedanken – sie schliefen nicht. Mein Herz – es schlief nicht. Ich schlief noch nicht den ewigen Schlaf. Aber wieso?
Wo auch immer ich war, Zeit spielte hier keine Rolle. Wie auch? Alles war dunkel, einen Sonnenzyklus gab es nicht und zumindest eines war mir genommen worden. Und das war die Müdigkeit. Ich war wach, die ganze Zeit wach, den übermenschlichen Schmerzen ausgesetzt und gleichzeitig unfähig, etwas an alledem zu ändern. Oder war das hier doch der Tod? Das endlose Treiben in Raum und Zeit, ohne Sterne, Sonnen, Planeten? Aber wieso konnte ich mich dann immer noch an alles aus meinem Leben erinnern? In manchen Religionen glaubte man daran, dass die Seele eines Verstorbenen wiedergeboren werden könnte. Wartete ich jetzt darauf, in meinen neuen Körper einzutreten und wurde deshalb weiterhin den Schmerzen ausgesetzt? Damit ich nicht vergaß, wie es war, sie zu empfinden? Nein, das machte nun wirklich keinen Sinn. Aber was konnte das hier sein? Die Grenze zwischen Leben und Tod? Auch nicht, denn tief in meinem Herzen hatte ich bereits gewusst, dass ich sterben würde, sollte ich Ayden und seiner Familie helfen. Das hatte zwischen den Zeilen der Worte des Wolfes hindurchgeschimmert, wie ein einzelner glitzernder Eiszapfen an einem kleinen Wasserfall eines Bachs.
Ich versuchte, mich zu bewegen. Immer noch waren meine Gliedmaßen zu schwer, aber ... Bildete ich mir das ein? Etwas regte sich. Ich versuchte es erneut, das musste ich jetzt wissen. Tatsächlich: Meine Finger krümmten sich. Der Schmerz ließ allmählich nach, schien aus meinem Körper langsam auszutreten und sich in das schwarze Nichts zu verflüchtigen. Sollte hier nicht irgendwo der weiße Wolf umherstreifen? Warum war er noch nicht zu mir gekommen? Oder war sein Fehlen der Beweis dafür, dass ich nicht länger unter den Lebenden weilte?
Weiter entwichen die Schmerzen und immer mehr Muskeln konnte ich bewegen. Sogar Zwerchfell und Herzmuskel. Ich ging in Gedanken die Anatomie des menschlichen Körpers durch und vertrieb mir die Unendlichkeit damit, zu beobachten, welche Muskeln als Nächstes wieder erwachten. Ich hob meinen Arm. Es war alles wie gehabt. Oder nicht ganz. Es ging leichter. Mein eigener Arm war mir früher immer viel schwerer vorgekommen, jetzt allerdings ... wie eine Feder. Ich krümmte meine Finger und Zehen, kugelte mich ein, erkundete sozusagen die Tatkraft meines Körpers neu.
Plötzlich schaltete sich auch wieder mein Sinn für Gleichgewicht ein und ich merkte, dass ich lag. Konnte man im Nichts liegen? Wie konnte man dort überhaupt zwischen oben und unten unterscheiden? Es war eigentlich unmöglich. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen, aber wie konnte ich? Just in dem Moment ging mir auf, dass ich nicht in der Schwärze trieb, sondern dass ich einfach die Augen geschlossen hatte und deswegen nichts sehen konnte. Wenn ich sie öffnete ... Was würde ich dann sehen? Eine andere Welt? Meine Neugier sagte mir, dass ich es darauf ankommen lassen sollte und so schlug ich die Augen auf. Es war so einfach ...
Zunächst war alles verschwommen, aber in atemberaubender Geschwindigkeit machte ich Konturen und Farben aus, bis ich schließlich ein Gesamtbild hatte, mit dem ich seltsamerweise etwas anfangen konnte. Ich war in einem abgedunkelten Zimmer. Ich starrte zur Decke hoch, die mir irgendwie vertraut vorkam und dann doch wieder nicht. Ich war verwirrt. Ich wollte mehr sehen, daher wandte ich leicht den Kopf und ließ meinen Blick weiter schweifen. Jetzt war ich mir sicher. Ich kannte dieses Zimmer. Aber ... hatte ich schon immer die Holzmaserung des Stuhls unweit des Fensters vom Bett aus so genau sehen können? Ich setzte mich auf und war mir sicher. Ich war im Haus der Phynix und zwar in Aydens Zimmer. Nur wie? Ich ließ meinen Blick über all die vertrauten Gegenstände schweifen und bemerkte dabei, dass sie mir doch zum Teil fremd waren. Waren an der Vase schon immer so feine Ornamente gewesen? Konnte ich von hier schon immer die kleinen Buchrücken der sich aneinanderreihenden Bücher im Regel lesen?
Ich schwang meine Beine über die Bettkante und stand auf. Es ging alles ohne Probleme. Keine Müdigkeit mehr, kein Schmerz mehr – es war, als wäre ich neu geboren worden. Oder zumindest einmal richtig ausgeschlafen und vollends gesund. Ich ging versuchsweise ein paar Schritte und wunderte mich, wieso das alles so einfach ging. Dann hörte ich Schritte aus dem Flur und wartete, dass jeden Moment die Tür aufgehen würde. Aber es geschah nichts. Dann hörte ich das leise Rascheln der Blätter und Nadeln der Bäume außerhalb. Und dann öffnete sich doch die Tür. So spät?
Ayden blieb wie angewurzelt stehen und starrte mich überrascht an. Ich war in der Lage, ihn und seine übernatürlichen Sinne zu überraschen? Er schien ziemlich unaufmerksam geworden zu sein ...
„Was ist?“, fragte ich, mich leicht unwohl fühlend, weil er mich immer noch anstarrte und nichts sagte. Er schien wegen irgendetwas sprachlos zu sein. „Alles in Ordnung?“, versuchte ich nochmals eine Antwort aus ihm herauszubekommen und dieses Mal schien er aus seiner Starre zu erwachen.
„Ja. Ich meine ... eigentlich schon ...“, sagte er und wandte auf einmal den Blick von mir ab.
„Eigentlich?“, ermutigte ich ihn dazu, mich aufzuklären. Aber er schwieg, die Hände zu Fäusten geballt und die Augen zusammengekniffen. Er sah aus, als wenn er unglaublich wütend auf sich selbst wäre.
„Ayden?“, trat ich nun ebenfalls verunsichert an ihn heran, er jedoch schüttelte nur den Kopf.
„Bitte verzeih mir“, flehte er dann und blickte mich gequält an.
„Was soll ich denn verzeihen??“, machte ich meiner Verwirrung Luft, doch diese einfache Frage brachte den jungen Mann wieder dazu, sich von mir abzuwenden und sogar den Raum zu verlassen. Allmählich wurde ich wütend. Ich wollte wissen, was los war, und er wich mir einfach aus, nachdem er kryptische Andeutungen gemacht hatte. Ich rannte zu ihm und stellte mich darauf ein, dies so schnell wie möglich zu tun, um mit ihm mithalten zu können – als ich eine Millisekunde später auch schon vor ihm stand.
„Also, was ist ... los ...“, wollte ich den Faden wieder aufnehmen, als mir dämmerte, was gerade geschehen war. Ich sah an mir herab. Es war alles normal, aber wie hatte ich so unglaublich schnell rennen können? Dann hörte ich unten ruhige Gespräche in verschiedenen Sprachen. Das Wohnzimmer? Sonst konnte ich die anderen doch auch nicht hören, wenn ich hier oben war und sie sich unten unterhielten. Es hörte sich auch nicht unbedingt danach an, als ob sie besonders laut miteinander reden würden. Als ich fragend zu Ayden sah, blickte er drein, als würde er in seiner persönlichen Hölle schmoren. „Was ist passiert?“, wollte ich nun nicht mehr annähernd so dringend wie zuvor wissen, weil ich vermutete, dass sein Zustand mit dem meinen verknüpft zu sein schien.
„Ich ... ich ...“ Es war für mich so verstörend, den Schwarzhaarigen so um Worte ringen zu sehen.
„Wenn du es mir nicht sagen kannst, dann ist das in Ordnung. Ich kann auch Kenneth fragen“, versuchte ich, ihm damit zu helfen, erreichte aber nur das Gegenteil. Er packte mich, als ich mich umdrehen wollte, sofort an der Schulter und sah mir tief in die Augen. „Nein ... ich muss es dir sagen ... weil ... wegen mir ...“, Ayden nahm sich zusammen. „Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen. Du lagst im Sterben und ich konnte einfach nicht mehr! Ich wollte nicht, dass du stirbst! Auch wenn du mich aufgrund meines Egoismus hassen solltest – ich wollte dich, koste es was es wolle, retten.“ Ich sah ihn fragend an, da ich noch immer nicht hundertprozentig aus seinen Worten schlau wurde. „Hast du es denn wirklich noch nicht gemerkt?“ Meine Stirn faltete sich leicht.
„Was denn?“
„Ach Leyla ...“, seufzte der Mann und strich sich mit einer Hand über das Gesicht. „Du bist schneller geworden.“
„Ja?“
„Und du siehst schärfer?“
„Ja ...?“
„Kannst besser hören?“
„Ja ...“
„Fühlst dich irgendwie leichter und kräftiger.“ Jetzt waren es Feststellungen seinerseits, weshalb ich nur langsam nickte. Nun in der Aufzählung sagten mir diese Eigenschaften etwas. Als die Erkenntnis in meinen Gedanken Gestalt annahm, weiteten sich meine Augen und mein erschrockener Blick schoss zu dem jungen Phynix, der mich weiterhin musterte, als wenn er Qualen leiden würde. Unwillkürlich schossen mir die letzten Bilder und Erlebnisse durch den Kopf, bevor ich in die Schwärze abgedriftet war. Ayden, wie er sich in den Arm biss. Wie er mir sein Blut einflößte ... „Ich ... ich bin jetzt ein ... ein Vampir?“Die Frage verließ zwar meine Lippen, aber unwirklich wirkte sie deswegen trotzdem noch auf mich.
„Es war die einzige Möglichkeit, dich noch zu retten. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ich habe nur daran gedacht, dich zu retten und ... das ist das Ergebnis. Falls du mich dafür hassen solltest, nur zu, aber lieber ertrage ich das, als die Gewissheit, dich nicht gerettet zu haben, obwohl ich eine Möglichkeit dazu gehabt hätte.“ In meinen Ohren klang das mehr wie eine Rechtfertigung für ihn.
„Aber wie? Du hast mich doch überhaupt nicht gebissen?“, versuchte ich von meinem inneren Chaos abzulenken, indem ich die oberflächlichste Frage überhaupt stellte.
„Weißt du, nicht alles läuft so ab, wie in den Filmen und Büchern. Gebissen und ZACK!“, er schnipste. „Vampir.“ Sein düsterer Blick wanderte über die Wände des Flurs. „In der Realität ist es so, dass der Vampir demjenigen, den er verwandeln will, sein Blut zu trinken geben muss, damit sozusagen der ... der Virus des Vampirismus überhaupt in den Körper des anderen gelangt. Unsere Fangzähne können das nicht“, erklärte Ayden wieder mit Augen auf mich gerichtet. „In gewisser Weise haben wir es also besser, als die Vampire in den Filmen und Büchern, die, wenn sie einen zu schnellen Anwuchs ihrer Zahl verhindern wollten, ihre Opfer gleich töten mussten. Bei uns wäre das egal. Die Wunden verheilen ungewöhnlich schnell, und wenn man sich geschickt anstellt, bemerken die Leute noch nicht einmal, überhaupt gebissen worden zu sein, oder denken, sie hätten nur geträumt. Das ist auch die ... Rechtfertigung, die jene Vampire immer gerne benutzen, die sich von menschlichem Blut ernähren. 'Es kann nichts passieren', heißt es dann immer und damit ist die Sache erledigt.“
Ich hob eine Hand und betrachtete sie mir. Sie sah nicht im Mindesten kräftiger aus als zuvor, und doch konnte ich den Tatendrang, die neue Energie pulsieren spüren. „Mit ... mit dem Vampirismus gehen die Fähigkeiten einher?“, stellte ich meine nächste Frage, die Ayden ein wenig zu verwirren schien.
„Nun, das siehst du doch. Deine Sinne …“
„Das meine ich nicht“, unterbrach ich ihn. „Ich meine zum Beispiel deine Eissplitter.“ Erkenntnis flackerte über sein Gesicht.
„Ja. Mit der Infektion kommen die Fähigkeiten, aber sie brauchen ein, zwei Tage, um sich voll zu entwickeln. Uns allen ist noch immer ein Rätsel, wie genau das vonstattengeht und woran es liegt, wer welches Element zugeteilt bekommt. Der erschwerende Faktor ist aber, dass man sich erst einmal an die Kräfte gewöhnen und den Umgang mit ihnen lernen muss. Kenneth lebt schon so lange und entdeckt immer noch neue Anwendungsmöglichkeiten für seine Gabe. Mir geht es nicht anders. Die Unsterblichkeit könnte man beinahe allein dadurch ausfüllen, sich mit seinen eigenen Kräften bekannt zu machen“, erläuterte der Schwarzhaarige. Mein Blick lag wieder auf meiner Hand und meine Gedanken kreisten. Ich hatte doch schon zu ... Lebzeiten besondere Kräfte besessen. Ich war ein Engel gewesen. Und nun hatte ich auch noch die Kräfte eines Vampirs. Addierten sich beide oder würden sie miteinander konkurrieren? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir bei der Frage aus. Was für Konsequenzen würde es für mich haben, sollten sich die Kräfte nicht tolerieren?
„Es tut mir leid.“ Es war nicht mehr als ein Wispern und doch konnte ich es hören. Wider meiner doch recht düsteren Gedanken verzog ich meine Lippen zu einem Lächeln.
„Das ist doch wohl hoffentlich nicht dein Ernst“, tadelte ich Ayden, der mich daraufhin überrascht anblickte. „Du rettest mir das Leben und entschuldigst dich dafür?“
„Ich ... ich denke eben nur die ganze Zeit daran, dass ich dir im Prinzip nicht die Wahl ließ, ob du als Vampir weiterleben willst oder nicht“, erwiderte er traurig. „Mein eigener Egoismus ekelt mich an. Er war es, der mich dazu trieb, weil ich ... weil ich mir einfach kein unsterbliches Leben ohne dich vorstellen konnte.“ Er hatte es schon wieder getan. Er hatte schon wieder eine Art Liebeserklärung einfach so von sich gegeben und mich damit vollkommen überfahren. Man sollte meinen, ich hätte mich daran gewöhnt, dachte ich sofort.
„Dann sollte ich mich also bei deinem Egoismus bedanken?“, neckte ich ihn mit leicht schief gelegtem Kopf. Er sah mich verwirrt an und ich schüttelte nur sacht mit dem Kopf, ehe ich zu ihm trat, meine Arme unter seine schob und mich daraufhin mit meinen Händen in dem Stoff des Hemdes an seinem Rücken verkrallte. Einen Augenblick stand der junge Phynix wie versteinert da, dann schlang er seine Arme um mich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. „Etwas würde mich aber noch interessieren“, gestand ich nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Was denn?“, wollte Ayden wissen, ohne mich loszulassen.
„Warum warst du eigentlich so überrascht? Ich nehme an, du hast gehört, dass ich mich bewegt habe – also wieder wach bin. Da du derjenige warst, der mich verwandelt hat, kannst du auch schlecht darüber verwundert gewesen sein, dass ich wieder aufgestanden bin. Also wieso?“ Ich war wirklich neugierig ...
Mit einem Ton, dem ich das Lächeln anhören konnte, antwortete er: „Weil du noch schöner aussiehst als vorher ... obwohl ich mir das kaum hätte vorstellen können.“
„Als Vampir ist man wohl immer überdurchschnittlich schön?“, hakte ich ein wenig skeptisch nach.
„Ja. Das dient vor allem eigentlich dazu, die Opfer ... na ja zu verzaubern und anzulocken.“ Ich lachte laut. „Mit anderen Worten: Das erste Opfer ist also schon hereingefallen?“, kicherte ich.
„Ja ... und zwar voll und ganz“, wisperte Ayden, schob mich ein klein wenig von sich und küsste mich. Zuerst auf die Haare, dann auch die Stirn und schließlich auf den Mund. Es war nur ein Lufthauch und doch genug, um seine Worte zu unterstreichen und mir ein kleines Schwindelgefühl zu geben. Ich räusperte mich.
„Was ist mit den Engeln?“, erinnerte ich mich reichlich spät an das unangenehme Thema, wegen dem Ayden auch gleich sein Gesicht verzog.
„Du hast immer noch die unangenehme Angewohnheit, manche Dinge im falschen Augenblick zur Sprache zu bringen“, bemerkte er bitter.
„Ich denke dabei hauptsächlich an unsere Sicherheit“, verteidigte ich mich sofort.
„Ja, ja. Ist ja schon gut“, seufzte der junge Mann. „Du hast sie mit deiner Kraftwelle ziemlich weit verstreut und vom Kurs abgebracht, aber sie sammeln sich bestimmt in diesem Augenblick und planen einen erneuten Angriff. Aber ich muss gestehen, du hast sie alle ziemlich überrascht. Selbst der Engel mit den acht roten Flügeln war überfordert und wurde weggefegt.“
„Das war eine böse Überraschung ...“, murmelte ich.
„Was?“
„Der andere Engel mit den acht Flügeln. Die Sache wäre wesentlich einfacher, wenn ich die Stärkste von ihnen wäre, so allerdings liegt das Gleichgewicht der Kräfte nicht unbedingt in der Waage“, meinte ich. Ayden stieß ein kurzes Lachen aus, ehe er erwiderte: „Du hast das wahrscheinlich gar nicht so mitbekommen, aber du hast bestimmt ein Viertel der Engel in den Tod gerissen, einfach weil sie mit zu großer Wucht irgendwo dagegen stießen und infolgedessen ihre Flügel zerstört wurden.“
„Oh.“
„Ich würde sagen, du hast uns erfolgreich beschützt“, gestand Ayden dann mit einem schiefen Lächeln.
„Zumindest das hat also geklappt“, seufzte ich resigniert.
„Auf ganzer Linie“, bestätigte Ayden mit einem Hauch von einem Lächeln. Er machte sich immer noch Vorwürfe. Zugegebenermaßen fühlte ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich in Zukunft das Blut von Tieren – Menschen kamen gar nicht infrage – trinken sollte, um zu überleben ... oder, dass die Unsterblichkeit auf mich wartete. Ich ließ mir aber nichts anmerken, damit ich es für den Schwarzhaarigen nicht noch schlimmer machte.
„Sollen wir zu den anderen gehen?“, wollte ich nach einer langen Pause von ihm wissen.
„Wie du willst“, zuckte Ayden nur mit den Schultern.
„Ich möchte wissen, wie es ihnen geht. Es waren immerhin einige verletzt.“
„In Ordnung, dann komm mit“, erwiderte der junge Mann, auch wenn er nicht wirklich glücklich über meine Entscheidung schien. Wenig später trat ich ins Wohnzimmer, in dem es schlagartig totenstill wurde. Alle Augen waren auf mich gerichtet, neugierig, skeptisch oder sogar ablehnend. Ich schob mich halb hinter Ayden, weil ich zugegebenermaßen nicht mit diesen Blicken gerechnet hatte. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass sie jetzt ... freundlicher auf mich zugehen würden, diese Freunde der Familie Phynix, aber das Gegenteil schien der Fall zu sein.
„Was ist denn los?“, flüsterte ich so leise, dass ich mir sicher sein konnte, dass nur Ayden es hören konnte.
„Keine Ahnung ...“, kam es von ihm, als auf einmal Antonius vortrat, direkt vor Ayden.
„Ich denke, das kann ich aufklären“, meinte er mit einem undefinierbaren Blick auf mich. „Einige von uns sind der Meinung, dass die Verwandlung von dir das denkbar Schlimmste ist, was passieren konnte.“
„WAS?“, brach Ayden sofort aus. „Wieso?!“
„Weil sie – das kannst du schlecht leugnen – ebenfalls eine von den Kreaturen ist, die erschaffen wurden, uns zu jagen und zu töten. Indem du sie nun unsterblich machtest, hast du sie nochmals stärker gemacht und die Gefahr für uns vergrößert“, erklärte Antonius völlig ruhig.
„Aber sie ist auf unserer Seite!“, empörte sich Ayden mit einem Knurren in der Stimme.
„Das mag sogar stimmen, aber das hat sie nicht davon abgehalten, einmal die Hand gegen uns zu erheben. Erinnerst du dich?“
„Da wurde ihr Gedächtnis von diesen Typen manipuliert, da konnte sie nichts dafür!“
„Verstehst du also immer noch nicht? Wenn sie nun noch einmal von ihnen gefangen und umgepolt werden sollte, haben wir ein noch größeres Problem als vorher.“
„Nichtsdestotrotz hat sie es geschafft, sich wieder an alles zu erinnern“, hielt der junge Phynix weiterhin dagegen.
„Und wo ist die Garantie dafür, dass sie dieses Wunder noch einmal vollbringt?“ Ich konnte hören, dass Antonius langsam ungehalten wurde.
„Sie steht vor dir“, gab Ayden mit verengten Augen zurück und ich starrte ihn von hinten an. Meinte er das ernst?! Auch der Vampir ihm gegenüber schien nicht überzeugt, verharrte aber im Schweigen. Entweder, er beobachtete alles weiterhin, um sich daraufhin eine Meinung zu bilden, oder er sah ein, dass er gegen die Sturheit Aydens nicht ankam. So oder so war die Sache noch nicht vorbei. Ich verhielt mich auch lieber ruhig. So, wie ich meinen momentanen Standpunkt betrachtete, könnte alles, was ich sagte, im schlimmsten Fall irgendwann einmal gegen mich verwendet werden. Da ich die Blicke der anderen Vampire auch nicht mehr aushalten konnte, drehte ich mich um und verließ das Wohnzimmer. Ayden – noch immer vollauf damit beschäftigt, Antonius stumme Morddrohungen mit seinen Blicken zu vermitteln – bemerkte relativ spät, dass ich fehlte. Diese Verzögerung machte er aber mit seiner Geschwindigkeit wieder wett, mit deren Hilfe er wieder blitzschnell an meiner Seite war.
„Warum bist du weggegangen?“, fragte er mich fast schon vorwurfsvoll.
„Ich wollte keinen Streit provozieren. Und da du offensichtlich keinerlei Intention gehabt hast, die Sache zum Wohle des Zusammenhalts unter den Vampiren auf sich beruhen zu lassen, habe ich das eben getan“, antwortete ich schlicht.
„Mir ist klar, dass wir alle zusammenhalten müssen, um diesen Feind zu besiegen, aber was Antonius da gesagt hat, war einfach unter der Gürtellinie“, rauchte der Schwarzhaarige noch immer vor Zorn.
„Ich wiederum kann seinen Standpunkt verstehen. Er denkt eben an alle Eventualitäten, anders, als ein bestimmter junger Mann, der eher impulsiv handelt.“ Der junge Phynix schien ein wenig zu schrumpfen, wirkte aber gleichzeitig gekränkt. „Heißt ja nicht, dass es etwas Schlechtes ist.“ Ayden lächelte nur und schüttelte sanft den Kopf, sodass sich seine Haare wiegten.
„Ich versteh schon“ war das Einzige, was er dazu sagte. „Sag mal: Wo willst du eigentlich hin?“ Ich konnte ein Grinsen aus seinen Worten heraushören und ich wusste auch warum. Ich war völlig ziellos mit ihm durch das Haus gewandert, nur um jetzt festzustellen, dass ich am Ende eines langen Flures in einer Sackgasse angekommen war.
„Ehm ...“, machte ich verlegen und sah einfach mal aus dem Fenster direkt vor mir.
„Wo wolltest du denn hin? Fragen wir mal so“, schlug Ayden versöhnlich vor.
„Ich hatte kein wirkliches Ziel. Ich wollte einfach nur weg von ihnen ...“
„Das hast du gründlich hinbekommen. Wir sind quasi am anderen Ende des Hauses.“
„Ich mache eben keine halben Sachen“, verteidigte ich mich eher kläglich und lehnte mich an die Wand direkt am Fenster, sodass ich ungesehen hinausblicken konnte. In meinem Rücken ziepte es, aber nicht nur da. Mein ganzer Körper fühlte sich irgendwie fremd an. Als wäre ich darin nur zu Gast und nichts weiter. Es war ein befremdliches Gefühl, das mir zugleich einen Schauer den Rücken hinab jagte.
„Ayden, Leyla?“, ertönte es auf einmal hinter uns, sodass wir uns umdrehten. Kenneth kam auf uns zu. „Das gerade tut mir außerordentlich leid. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist.“
„Nicht schlimm. An seiner Stelle hätte ich wohl auch so gedacht. Es ist kein Verbrechen, sich zu sorgen“, beschwichtigte ich den aufrichtig zerknirschten Mann.
„Das schon, aber auf der anderen Seite sollte man niemanden verurteilen, den man noch nicht wirklich kennt.“
„Ich nehme an, auf beiden Seiten sind Fehler gemacht worden“, schaltete sich Ayden unverhofft ein. Dazu musste man nichts mehr antworten, weil es wohl den Nagel auf den Kopf traf.
Ich spürte, wie mein Geist wieder abdriftete. Wollte der Wolf mit mir reden? Aber seit wann tat mein Kopf so weh, wenn er es versuchte? Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, ihn zu sehen, aber letztlich gab ich nach und unterbrach meinen Versuch. Allein schon, weil Kenneth mit mir redete und ich bereits den Anfang nicht mitbekommen hatte, aber auch weil ich diese seltsame Migräne nicht ertrug. Mir reichte das befremdliche Gefühl in meinem Körper, da mussten nicht auch noch Kopfschmerzen dazukommen. Kurz darauf lief ich seltsamerweise dem Kopf der Familie Phynix hinterher – zum Wohnzimmer. Er wollte, dass sich die anderen Vampire an mich gewöhnten, am besten noch mit mir redeten, um zu sehen, dass von mir keine Gefahr ausging. Ich persönlich glaubte nicht, dass das klappen würde, aber ich tat es trotzdem, um es zumindest zu versuchen.
Einige der anderen Vampire schienen entgegen meinen Befürchtungen doch an mir interessiert zu sein und es entwickelten sich unbefangene Gespräche, zum Beispiel auch über Familienverhältnisse. Das Thema war mir eigentlich zuwider, trotzdem spielte ich mit. Antonius beobachtete mich und Ayden, der meine Seite niemals verließ, aufmerksam von einer Ecke des Raumes aus, in der ein Sessel neben einem Bücherregal stand. Er hielt zwar ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, das er vorgab zu lesen, aber seine Augen waren kaum auf die Seiten gerichtet. Die Vampire, die mir jedoch von Anfang an extrem skeptisch und ablehnend gegenübergetreten waren, machten keinerlei Anstalten, daran etwas zu ändern, sodass ich nach einer Weile unbefangener Gespräche den Gedanken nicht loswurde, dass das alles, was ich hier tat, doch irgendwie witzlos war. Den Falten auf der Stirn Antonius' nach zu urteilen, schien dieser meine stillen Bedenken zu bemerken und vielleicht sogar zu teilen, aber das vermochte ich nicht zu sagen.
„Wenn du nicht mehr willst, können wir auch gehen“, flüsterte Ayden neben mir mit einer Spur von Hoffnung in der Stimme. Ich hörte ihn kaum. Der Wind pfiff um das Haus und schien zu klagen, die Bäume ächzten und das Getier des Waldes floh am Haus der Phynix vorbei in den Wald. Der Wind ließ nicht nach, er klagte weiter, sogar mit mehreren Stimmen. Irgendwas ging dort vor sich ... Ich drehte mich um, entschuldigte mich bei dem japanischen Vampir, mit dem ich geplaudert hatte, und huschte flink zur Fenstertür, die ich aufschob und durch sie hindurch nach draußen gelangte. Hier – ungedämpft vom gut gebauten Haus – hörte ich die Geräusche besser. Das Klagen war lauter geworden, das Ächzen, das Rascheln, das aufgeregte Zwitschern; das alles brach über meine neuen geschärften Sinne herein und machten es mir schwerer, als ich gedacht hatte, daraus schlau zu werden.
„Du hättest mir auch sagen können, dass du raus willst, dann hätte ich …“
„SHHH!“, unterbrach ich Ayden energisch und horchte angestrengter. Zwischen all den überwältigenden Geräuschen machte ich etwas Fremdartiges aus. Ein schnelles, dumpfes Schlagen, auf das meistens ein Windstoß folgte. Es war gleichmäßig und verdrängte offensichtlich die Luft aus ihrem Ruhezustand ... Was war das ...? „Ein Hubschrauber“, flüsterte ich dann meine Erleuchtung. An der Stille schräg hinter mir konnte ich ausmachen, dass der junge Phynix der Sache wohl selbst auf den Grund ging.
„Ja und ein ziemlich großer noch dazu ... der in unsere Richtung fliegt“, stimmte er dann zu.
„Zufall?“, fragte ich mit einem flauen Gefühl im Magen.
„Das glaube ich weniger. Lass uns drinnen Bescheid sagen“, schlug der Schwarzhaarige vor, griff mein Handgelenk und zog mich daraufhin zurück ins Haus, wo er die anderen sofort von dem kommenden Hubschrauber unterrichtete.
„Diese Engel können das ja schlecht sein, die hört man doch kaum, wenn sie angeflogen kommen“, meinte einer der Vampire mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Sie könnten das laute Geräusch des Hubschraubers zusammen mit dem, was du gerade gesagt hast, nutzen, um sich unbemerkt anzuschleichen“, warf ein anderer ein. Ich gehörte eindeutig zu seiner Fraktion.
„Wir sollten der Sache auf den Grund gehen, um Sicherheit zu haben“, schaltete sich Antonius aus seiner Ecke ein, erhob sich, legte das Buch zur Seite und sah in die Runde. „Es sollten genug sein, um einen möglichen Kampf mit anschließendem Rückzug zu überleben.“ Wieder blickte er die Versammelten der Reihe nach an. Kenneth trat zu ihm, ebenso Sophie und noch drei weitere Vampire. „Wir kommen so schnell es geht zurück.“ Damit waren sie verschwunden. Es folgte eine bleierne Stille, die durch Cináed aufgelockert wurde, der völlig ohne jeden Zusammenhang eine Anekdote zum Besten gab. Ich folgte dem Aufklärungstrupp mit den Augen, bis sie meinem Blick entschwanden, in den Ohren weiterhin das dumpfe, regelmäßige Pochen der Hubschrauber-Rotoren. Ayden legte mir beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, da er offenbar bemerkte, dass ich mich unwohl bei der Aktion fühlte. Beim zweiten Mal überlegen wurde mir klar, dass es kein Kunststück war, zu wissen, dass ich mich nicht gut fühlte, weil das schließlich jedes Mal der Fall war, wenn diese Engel im Spiel waren. Ich seufzte verhalten. Mir wäre es fast schon am liebsten, wenn das alles ein schnelles Ende finden würde. Das würde mir einige weitere Kopfschmerzen und bange Minuten ersparen.
Mein Herz teilte mir während der grausam langen Wartezeit mit, dass das Ende nahte, so wie ich es mir wünschte. Meinem Wissen entzog sich aber natürlich, wie es ausgehen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte die kleine Gruppe zurück. Wie zu erwarten mit schlechten Nachrichten. „Es sind tatsächlich diese Engel. Sie schweben um den Hubschrauber herum, als wenn sie ihn beschützen würden. Vielleicht wäre das sogar eine gute Chance, für einen Angriff“, erstattete Antonius knapp Bericht.
„Ich würde gerne wissen, wer in dem Hubschrauber ist“, murmelte ich vor mich hin, wobei ich irgendwo in meinem Inneren bereits eine Ahnung hatte ... Nur: Wieso? Wieso sollte er sich jetzt persönlich zeigen, wenn er bis jetzt immer nur die Fäden von einem sicheren Versteck aus gezogen hatte? Er musste noch irgendeinen Trumpf im Ärmel haben, andernfalls ergäbe dieser Schritt keinen Sinn ...
„Und was werden wir nun tun?“, meldete sich einer der Vampire zu Wort.
„Ihnen entgegentreten und verhindern, dass sie dieses Haus erreichen“, beschloss Antonius mit Blick auf Kenneth, welcher zustimmend nickte. Zustimmendes Gemurmel hob an und gleich darauf erhob sich, was saß und gruppierte sich um Antonius und Kenneth. Wenige Sekunden später lief die große Gruppe hinaus und sprintete den Feinden entgegen – ich in ihrer Mitte und Ayden direkt neben mir.
Wie es auch endet ... es endet heute, dachte ich und meine Stirn zierten kleine Falten. Ich war angespannt wie eine Sehne an einem Langbogen, kurz bevor sie losgelassen wird und den Pfeil in die Luft katapultiert. Ayden erging es nicht anders, allgemein war die Spannung in der Luft beinahe greifbar. Ich sah überall angestrengte, aufmerksame und eben gespannte Gesichter.
Augen huschten von hier nach da, um auch ja nichts zu übersehen. Ich kam mir vor wie in einem Rudel Wölfe oder einer Herde.
Plötzlich spürte ich etwas an meiner Hand. Es war der junge Phynix, der sie ergriffen hatte und mir aufmunternd zunickte. Ich musste wirklich elend aussehen, wenn er es für nötig befunden hatte, das zu tun. Ich wandte den Blick über ihn, dann über die anderen Vampire, die mit uns liefen, und daraufhin nach vorne. Das Pochen in der Luft, das durch die Rotorblätter verursacht wurde, nahm an Intensität zu und drückte immer mehr auf die Ohren. Ich bildete mir ein, die daraus resultierenden Druckwellen zu sehen, in Form der sich wiegenden Äste der Laub- und Nadelbäume. Von dem Leuchten der Flügel war noch nichts zu sehen, aber ich konnte ihre Gegenwart schon wieder spüren.
Nun konnte es keine Einbildung mehr sein. Die Spitzen der Bäume bogen sich in regelmäßigen Abständen in unsere Richtung, das Geräusch war unerträglich laut geworden für die feinen Sinne eines Vampirs und kurz darauf kamen wir auf eine mittelgroße Lichtung, wo wir den Hubschrauber gerade noch landen sahen. Um ihn herum schwebten die Engel wie Leibwächter, ihre Blicke – zunächst überall, um uns auszumachen – waren starr auf uns gerichtet, die wir am Rand der Lichtung standen, bereit, uns zu verteidigen, sollten sie den ersten Schritt machen. Der Hubschrauber setzte auf dem Gras der Lichtung auf und der Motor wurde langsam immer leiser, der Rhythmus des Geräuschs der sich drehenden Rotorblätter wurde immer langsamer und langsamer, bis sich schließlich Stille über alles senkte, in der böse und lauernde Blicke ausgetauscht wurden.
Ich stand wieder halb hinter Ayden, zu meiner Rechten war Cináed, zu meiner Linken Kira. Ich fühlte mich in etwa genauso gut beschützt, wie der Insasse des Hubschraubers – der im nächsten Augenblick die Flugmaschine verließ. Die Gestalt trug einen bodenlangen tiefschwarzen Mantel mit Kapuze, die sie sich tief in das Gesicht gezogen hatte, sodass man gerade mal von der Nase abwärts alles sehen konnte. Ein hoher Kragen verdeckte dabei aber schon wieder das meiste vom Hals. Da die Gestalt auch noch pechschwarze Handschuhe trug, war im Prinzip das Einzige, was man von der Haut der Gestalt sah, das, was unter der Kapuze hervorschien. Doch das reichte, um meine böse Vorahnung zu bestätigen. Die Haut war dünn und weiß, erinnerte irgendwie an Papier und die schmalen, bleichen Lippen kräuselten sich leicht zu einer Art siegessicherem Lächeln. Mit langen Schritten trat der Fremde auf uns zu, bis er direkt neben dem roten Engel mit den acht Flügeln stand. An der Bewegung des Kopfes konnte man sehen, dass er uns in Augenschein nahm, dann verzogen sich die Lippen zu einem Grinsen und die behandschuhten Hände griffen nach der Kapuze, die er gleich darauf nach hinten warf. Weiße Haare glänzten im schwachen Sonnenlicht, das noch durch die dünnen Wolken dringen konnte, die sich vor die Sonne geschoben hatten, und man konnte die Narbe gut erkennen, die das Gesicht verunstaltete. Ich wich instinktiv einen Schritt zurück. Ayden sah über die Schulter zu mir, erblickte meinen entsetzten Blick und Verständnis huschte über seine Augen, ehe er sie wieder auf den Albino richtete.
„So sehen wir uns also wieder“, sprach der Mann direkt mit mir und würdigte die Vampire um mich herum keines Blickes. „Du, wie du inmitten unserer Todfeinde stehst. Es bricht mir das Herz ...“, fuhr er melodramatisch fort, was bei Ayden ein leises Knurren auslöste. „Dass euch dieser Umstand nichts ausmacht, kann ich mir vorstellen“, sprach der Albino nun direkt mit Ayden, der daraufhin noch lauter knurrte. „Ihr habt einen starken Verbündeten gewonnen, indem ihr sie von ihrer Familie weggerissen habt.“
„Welche Familie?!“, brauste ich für alle überraschend auf. „Diese seltsamen Menschen, zu denen ihr mich gegeben habt, kann man bestenfalls als Bekannte bezeichnen! Ihr habt mich von meinen Eltern getrennt und diese sogar getötet, nur, weil sie Zeit mit mir verbringen wollten!“ Gemurmel erhob sich unter den Vampiren, aber auch bei den Engeln wurden mäßig überraschte Blicke ausgetauscht. „Warum habt ihr das getan?“, wollte ich endlich die Antwort auf eine Frage einfordern, die mir auf der Seele brannte, seit ich meine Vergangenheit Stück für Stück ungewollt aufgedeckt hatte.
„Warum?“, wiederholte der Albino in einem fast schon herablassenden Tonfall. „Damit deine Kräfte erwachen, darum. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: Du bist anders, als deine Brüder und Schwestern.“ Der Meister der Blutrose umschloss in einer Handbewegung die Engel, die neben und hinter ihm schwebten. „Deine Kräfte konnten nur erwachen, wenn du starke negative Gefühle – Wut, Verzweiflung, Hass – empfindest, und im Zuge dessen habe ich Konstanze und Rupert als deine Pflegeeltern ausgewählt. Wer keine Liebe in Kinderzeiten bekam, kann sie auch nicht vermissen.“ Mein Blut schien in meinen Adern zu gefrieren. Er sagte das einfach so daher, so gut wie ohne Emotion. Ich hörte die Knöchel von Aydens Hand knacken, weil er sie so wütend zu einer Faust ballte, dass ich mir ernsthafte Sorgen um seine Fingerknochen machte. „Nun, es ist nicht zu ändern, dass diese Monster dir den Weg unnötig schwerer gemacht haben“, zuckte der Albino dann mit den Schultern.
„Sie sind keine Monster! DU BIST EINS!“, setzte ich mich sofort für die Vampire ein, was zur Folge hatte, dass die roten Augen schmaler wurden. Meinen Ausbruch nahmen die Vampire um mich her zum Anlass, auf den Mann und die Engel loszustürmen – Ayden ganz vorn. Die Engel stoben sofort auseinander, wobei einer den Albino ergriff und ein wenig an den Rand des Geschehens brachte, und griffen an. Die Elemente krachten aufeinander, ebenso die rohe Gewalt der übermenschlichen Vampire gegen die ebenso starken der Engel, die jedoch Handgreiflichkeiten eher vermieden und ihre eigentliche Stärke einsetzten, welche die Elemente waren. Ich hielt mich unschlüssig zurück, hatte mich, um ehrlich zu sein, nicht gerührt. Ich stand noch immer da, wo ich vorher gestanden hatte, und sah von einem Kampfpaar zum nächsten. Wie von mir befürchtet, hatten sich die Engel darauf eingestellt, dass ihre Feinde gezielt auf ihre Schwachstelle gehen würden, und deckten sich gegenseitig, um sich zu beschützen und daraufhin ihrerseits geschlossen angreifen zu können. Ich gab mir einen Ruck und lief zu Ayden, um ihn zu unterstützen. Er war zwar nicht sonderlich erfreut darüber, dass ich mich wieder in das Kampfgeschehen einmischte, nahm es aber hin. Das konnte daran liegen, dass er endlich eingesehen hatte, dass jeder helfen musste, um diesen Kampf zu überleben, oder, weil er es einfach müde geworden war, mich zurückzuhalten. Ich deckte ihn und lenkte einen der Engel ab, sodass der Schwarzhaarige blitzschnell um ihn herumrennen und ihm die Flügel zerschlagen konnte.
„Willst du nicht langsam aufwachen?“, tönte die markante Stimme des Albinos durch die Kampfgeräusche. Ich wusste, dass er mich und nur mich angesprochen hatte, und wandte mich deswegen krampfhaft nicht ihm zu. „Du gehörst zu uns! Dein ganzes Leben – dein ganzes Sein zielt darauf ab, Vampire zu töten! Du verrätst gerade dein eigenes Leben, indem du diesen Monstern hilfst zu überleben!“
„Auch wenn ich mich wiederhole: Du bist das Monster und nicht sie“, wirbelte ich meinem Vorsatz zum Trotz herum, um dem Mann mit der bleichen Haut in die roten Augen zu sehen. Er sah mich direkt mit seinen immer weiter verengten Augen an, hob dann eine Hand und winkte zu mir. Einen Augenblick zögerte ich, verwirrt, was das sollte, da flog über den Albino der Engel mit den acht Flügeln hinweg und richtete seine Hände auf mich. Ich war schon dabei, meine Muskeln zu spannen, um auszuweichen, aber erschreckenderweise war die Kreation der Gemeinschaft schneller als ich. Silberne Ketten aus Licht entstanden direkt aus den Händen des Engels, schossen blitzschnell auf mich zu und wanden sich wie Schlangen um meine Hand- und Fußgelenke, und auch um meinen Hals. Das Wesen hob die Hände und ich verlor den Boden unter meinen Füßen. Jetzt hatte ich Angst. Ich wollte nicht schon wieder von der Gemeinschaft der Blutrose gefangen genommen werden! Wo war der weiße Wolf? Mir wurde jetzt schmerzlicher als zuvor bewusst, dass sich mein Helfer nicht mehr gezeigt hatte. Normalerweise tauchte er in solch brenzligen Situationen auf, um mich zu fragen, was ich wollte und mich daraufhin irgendwie zu retten ... Aber jetzt fehlte er ... Konnte das vielleicht damit zusammenhängen, dass ich nun ein Vampir war? Hatte der Vampirismus den Engelswolf getötet? Verzweiflung breitete sich wie Gift in meinen Gedanken aus, erst recht als ich sah, wie Ayden und die anderen der Phynix-Familie bemerkten, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Vor allem Ayden ließ seine Gegner links liegen und wollte sofort zu mir. Sein Leichtsinn, seinem Feind den Rücken zuzukehren, rächte sich, weil der Engel es schaffte, seine Hände zu packen und hinter seinem Rücken zusammenzuhalten. Jetzt war der Schwarzhaarige auch ein Gefangener. Gott sei Dank teilten die anderen sein Schicksal nicht, auch wenn ich bemerkte, dass ein paar der Vampire wieder blutende Wunden hatten und erschöpft wirkten.
„Ich ziehe meinen nicht vorhandenen Hut vor euch. Euer Widerstand – so sinnlos er auch gewesen sein mag – hat doch einige Verluste bei uns zur Folge gehabt“, sagte der Albino mit einem triumphalen Grinsen in die Runde. Die Kämpfe fanden zwar noch statt, nichtsdestotrotz hatte er genug Publikum, das sich ihm und mir zugewandt hatte und sich eher sekundär mit Kämpfen befasste. Meine Angst wich Wut, vor allem, als die Erkenntnis in meine Gedanken sickerte, dass, sollten wir jetzt unwiderruflich verlieren, jeder der Familie Phynix über kurz oder lang sterben würde, und mit ihnen ihre Freunde. Diese Menschen – meiner Meinung nach verdienten sie diese Bezeichnung mehr als jeder andere – nahmen mich bei sich auf, gaben mir wie selbstverständlich das Gefühl dazuzugehören und – Ayden allen voran – Liebe. Das war wesentlich mehr, als ich in meinem ganzen Leben erfahren hatte, bevor ich nach Neuseeland gekommen war. Und dieses neue Leben, meine neue Familie wollte der Albino auslöschen. Ich senkte den Kopf, schloss krampfhaft meine Augen und ballte meine Hände so heftig zu Fäusten, dass meine Fingernägel mir fast schon blutig ins Fleisch schnitten. Das würde ich nicht zulassen und wenn ich zum ersten Mal alleine würde meine Kräfte einsetzen müssen. Mein Herz rief mir unmissverständlich zu: Für diese Familie werde ich, wenn nötig, noch einmal sterben ...