Farewell Spit
Nur unser Sportlehrer hätte auf so eine bescheuerte Idee kommen können, obwohl sie so bescheuert an sich ja nicht war. Der 2. April sollte eine Art Entschädigung für die Erniedrigungen des 1. sein und noch dazu so eine Art Geschenk, wo wir doch in einer Woche den letzten Schultag haben würden. Warum der Lehrer es nicht am 9. April und letzten Schultag dieses Semesters gemacht hatte, war ihm wohl selber ein Rätsel, aber er schien die Tatsache wunderbar zu finden, dass es für alle, selbst für ihn, ein Überraschungsausflug war. Ich schüttelte während der Vollversammlung nur mit dem Kopf und dachte darüber nach, was für ein Volltrottel der Mann doch hätte sein können, wenn er mir nicht die Mühe erspart hätte, selber einmal dort hoch zu fahren. Vivians Augen leuchteten, sie war hin und weg, während die meisten anderen nur mürrisch guckten. Der Ausflug galt nur für den 13. Jahrgang. „Ich möchte nun die betroffenen Schüler auf den Parkplatz bitten, wo zwei Busse bereits sehnsüchtig auf euch warten“, entließ uns Mr. Warner in Bombenstimmung. Über das ‚sehnsüchtig’ ließ sich definitiv streiten. Ich begab mich zum Parkplatz, wo Allan bereits mit leuchtenden Augen vor einem Bus stand. Ich machte ein gequältes Gesicht, doch bevor ich in seine Richtung gehen konnte, packte mich eine starke Hand am Ellenbogen und zog mich zu sich. „Soll ich dich erlösen?“, wisperte mir eine mittlerweile vertraute Stimme ins Ohr.
„Wäre das eine Erlösung?“, erwiderte ich skeptisch. Er lachte leise.
„Kommt drauf an, ob du mich als Sitznachbarn besser findest als Mister Hyperaktiv.“ Anstatt ihm zu antworten, drehte ich mich zu ihm um und schob ihn zum anderen Bus, das enttäuschte Gesicht des anderen beflissen ignorierend. Jetzt lachte er laut und bellend, drehte sich einmal, sodass er nun hinter mir stand, und hob mich einfach die Stufen des Busses hoch. „Ich denke, das hätte ich noch alleine gekonnt“, meinte ich leicht angesäuert. An sich war Ayden wirklich hinreißend … nur, dass er meinen Stolz so oft zu verletzen vermochte, das gefiel mir ganz und gar nicht. Er antwortete darauf gar nicht erst, sondern schob mich den Gang entlang bis nach ganz hinten. „Willst du am Fenster sitzen?“, fragte er höflich.
„Das ist mir so was von egal“, erwiderte ich und rollte mit den Augen, was er zum Anlass nahm, mich weiterzuschieben und mich auf den Sitz am Fenster zu drücken. „Warum fragst du überhaupt, wenn du sowieso deinen Willen durchzusetzen gedenkst?“, wollte ich wieder leicht angenervt wissen.
„Ich will zumindest den Schein von Höflichkeit bewahren“, grinste er breit und setzte sich neben mich. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht.“
„Weshalb?“, hakte ich sofort nach und sah ihm prüfend in die Augen.
„So, wie du mich manches Mal bereits angesehen hast, hätte ich gedacht, du ziehst ihn mir vor“, löste er das Rätsel auf.
„Glaub mir, selbst wenn ich dich manchmal aufgrund deiner Kommentare nicht ausstehen kann, so bist du immer noch ein weitaus besserer Gesprächspartner, als die Leuchte da hinten“, grummelte ich und nickte in Richtung Allan, der sich schmollend im anderen Bus neben Vivian setzte. „Dann muss ich mich ja bei ihm dafür bedanken, dass er dich vergrault, damit du zu mir kommst“, gab Ayden zurück und wirkte dabei seltsam verstimmt.
„Das hat nicht nur damit was zu tun.“ Ich biss mir auf die Zunge. Ich war aber auch blöd. Alle saßen mittlerweile und der Bus fuhr an. Eine vierzigminütige Fahrt stand an und es wurde munter geplappert, niemand schien uns ganz hinten wahrzunehmen. „Womit denn noch?“ Er sah mich wieder durchdringend an und wieder schien ihm irgendetwas zu missfallen, allerdings, so wusste ich inzwischen, schien es nicht mit meinen Antworten oder Taten zusammenzuhängen. Es war etwas für mich nicht Greif- und Nachvollziehbares, was mich ziemlich ärgerte.
Ich sah gelangweilt aus dem Fenster und machte damit unmissverständlich klar, dass er keine weiteren Auskünfte erhalten würde. Ich mochte lange Auto- oder Busfahrten nicht sonderlich, einerseits, weil ich sowieso niemanden hatte, mit dem ich reden konnte, andererseits, weil mir das Geplapper der anderen auf die Nerven ging. Jemanden zum Reden hatte ich, mehr oder minder, doch der andere Störfaktor blieb. Dennoch nahm ich meinen MP3-Player nicht zur Hand. Ich wollte Ayden nicht kränken, zumal ich ja mit ihm zusammen hatte fahren wollen. „Wie hieß das Städtchen, wo wir hin wollen doch gleich?“, wollte ich von ihm wissen.
„Port Puponga“, kam sogleich die Auskunft.
„Und dann eine wunderbare Wanderung von unbekannter Länge über den Farewell Spit“, kommentierte ich.
„Ja. Wobei die Länge sicher nicht unbekannt ist. Nachher können wir Mr. Warner mal danach fragen“, erwiderte der Schwarzhaarige mit einem Schulterzucken. „Die Wanderung ist unsere einzige Verpflichtung, der Rest ist Freizeit. Man kann doch wunderbar die Gelegenheit beim Schopf packen.“
„Um was zu tun?“, wollte ich von ihm wissen, wandte mich zu ihm um und sah ihn skeptisch an. „Nicht mal in Takaka kann man richtig einkaufen im Sinne von shoppen. Was will man dann in Port Puponga anfangen?“
„Es dreht sich ja nicht immer alles ums Shoppen“, erwiderte Ayden leicht genervt.
„Für mich schon. Ich brauche neue Bücher“, gab ich trocken zurück. Sofort sah mich der gut aussehende junge Mann überrascht an. „Es geht dir nicht um Klamotten, sondern um Bücher?!“ Ihm war die Verwunderung deutlich anzuhören, was mich ein klein wenig verletzte. Woher sollte er auch wissen, dass ich mich instinktiv von den anderen Weibern distanzierte? „Ja. Ich lese viel und durch den Umzug habe ich noch weniger, was ich mir zu Gemüte führen kann.“
„Du hättest mich ja fragen können“, meinte Ayden nachdenklich. „Wir haben so eine Art Bibliothek.“
„Klingt gut“, schmunzelte ich. „Aber einige Bücher muss ich einfach im Regal stehen haben, sonst könnte ich nicht in den Spiegel sehen.“
„Die wären?“
„Titel kann ich dir nicht genau sagen, aber das Genre.“
„Schieß los“, grinste Ayden, wobei man ihm ansehen konnte, dass er vor Neugierde innerlich zu brennen schien.
„Fantasy“, antwortete ich schlicht.
„Wieso ausgerechnet Fantasy?“, hakte mein Sitznachbar sofort nach, wobei wieder dieser unzufriedene, nicht definierbare Ausdruck auf sein Gesicht trat.
„Ich weiß auch nicht so recht ... es ist einfach ... ich …“, ich brach sicherheitshalber ab.
„Ja?“, bohrte der Schwarzhaarige natürlich sofort weiter.
„Wenn ich dir das sage, verrate ich dir zu viel von mir.“
„Und wo ist da das Problem?“
„Ich würde mich angreifbar machen.“ Damit drehte ich mich wieder zum Fenster, um zu verdeutlichen, dass das Gespräch damit beendet war. Ich konnte seinen Blick buchstäblich spüren, widerstand jedoch erfolgreich dem Drang, in seine Augen zu sehen und dann versehentlich doch die Information preiszugeben, die er hören wollte. Erstaunlicherweise schwieg er eine Weile, während ich, meinen Gedanken nachhängend, aus dem Fenster starrte, ohne wirklich etwas zu sehen.
Plötzlich spürte ich, wie meine linke Schulter belastet wurde. Sogleich wandte ich mich um und sah halb entsetzt, dass Aydens Kopf auf ihr ruhte. Er hatte die Augen locker geschlossen, doch ich sah es um seine Mundwinkel zucken, als müsse er sich zusammennehmen, um nicht zu grinsen, wobei ich mir nicht sicher sein konnte. Ich hätte mir das bei meiner Paranoia auch gut einbilden können, so minimal waren die Bewegungen unter seiner Haut, die ich glaubte zu sehen. Ich focht einen inneren Kampf mit mir aus, ihn wegzuschieben, zu stoßen oder aber gleich zu wecken. Doch dann schaltete sich noch eine weitere innere Partei in mir ein, die ganz und gar zufrieden mit der Situation war, und die immer stärker die Oberhand gewann, je länger ich Ayden ansah. Ich schluckte hart und wandte mich dann wieder ab. Wenn schon, denn schon ... ich konnte ihn im Nachhinein immer noch ankeifen, dass er sich so etwas erlaubt hatte. Wobei es durchaus auch schmeichelhaft war ...
Etwa dreißig Minuten später kamen wir in Port Puponga an. Wir fuhren weiter, die Freeman Accs entlang, bis der Weg direkt am Strand endete. Bevor ich Ayden auch nur ansatzweise wachrütteln konnte, war er, wie durch eine innere Uhr geweckt, auch schon aufgesprungen und zog mich an der Hand nach draußen. Seine kühle Haut war eine angenehme Erfrischung in der Hitze draußen. Heute hatte das Thermometer erstaunliche 25° C erreicht und das, obwohl die Temperatur für den Monat April sehr unüblich war.
Das hatten natürlich sehr viele Jahrgangskameraden zum Anlass genommen, ihre Badesachen mitzunehmen, ich hatte sie bewusst noch tiefer im Kleiderschrank versteckt. Die Jungs schenkten mir auch so schon genug Aufmerksamkeit, warum auch immer, da musste ich sie nicht auch noch zusätzlich reizen. Es reichte schon, dass ich ein rotes Spaghettiträger-Top und Jeansshorts trug und damit mehr als genug meiner bleichen Haut zeigte.
Meine Mutter hatte immer einen Nervenzusammenbruch bekommen, weil ich einfach nicht braun wurde. Sie hatte alles versucht: Kalifornien, Sonnenstudios, Cremes ... doch meine Haut blieb stur bei der gleichen Farbe. Sie war blass, aber hatte dennoch einen Hauch von gelb-braun in den Farbpigmenten, eine wahrlich einzigartige Farbkombination für ein Mädchen, das so gut wie ständig draußen Sport getrieben hatte. Später verlagerte ich meine Aktivitäten in mein Zimmer. Hier jedoch, neben Ayden, Kira und Cináed fühlte ich mich nicht mehr so aussätzig. Die drei und Kenneth waren zwar noch einen Tick blasser als ich, aber nicht so drastisch, dass man es von Weitem erkennen konnte. Vermutlich auch ein Grund, warum ich Ayden irgendwie mochte. Ein bescheuerter zwar, aber ein Grund ...
Sobald wir aus dem Bus waren, ließ Ayden meine Hand wieder los und ging zu Mr. Warner, der gerade die Schüler zu sich winkte. Ich folgte zögernd. Ich hatte keine Lust, die nervige Belehrung zu hören, dass man immer zu zweit oder in Dreiergruppen unterwegs sein sollte. Ich war achtzehn und konnte hundertmal besser auf mich selbst aufpassen als alle zusammen, so viel war sicher. „Ihr dürft euch aussuchen, wann ihr die mindestens fünf Meilen lange Wanderung macht, der Rest ist dann Freizeit“, verkündete der Lehrer mit ausgebreiteten Armen und ließ sich quasi von der Menge feiern. Ich verdrehte nur die Augen. „Wie weit ist es bis zum östlichsten Ende des Farewell Spits?“, wollte ich laut wissen. Mr. Warner sah mich mit leuchtenden Augen an, da er einen potenziellen Sportler witterte, der womöglich die gesamte Strecke laufen würde. „Ungefähr 16 Meilen auf dem Grad zum Meer“, antwortete er stolz. Ein Schaudern durchlief die Menge, offenbar wollte sich das niemand zumuten. Perfekt. Dann hatte ich meine Ruhe.
„Wenn ich das heute noch schaffen soll, mach ich mich auf die Socken“, gab ich nur zurück und lief zielsicher an dem Rest der Gruppe vorbei. Wir waren am Ende des Freeman Accs, dort, wo er zu einer Art Wanderweg verkümmerte. Man konnte sich ohnehin nicht verlaufen, es gab nur einen Weg zur Spitze des Spits, es sei denn, man wollte schwimmen.
„Wunderbar! Was für ein Sportsgeist! Nimmt noch jemand die Herausforderung auf sich?“, fragte Mr. Warner glücklich in die Runde. Ich ließ mich zwar nicht dazu herab, mich umzudrehen und zu sehen, wer noch glaubte, genug Schneid für so eine Wanderung zu haben. Und doch wusste ich instinktiv, wer mitkommen würde ... „Ich. Bis nachher“, ertönte die samtene, leicht dunkle Stimme Aydens und gleich darauf war er neben mir und schlenderte gemütlich dahin, den Blick nach vorn gerichtet. Ich warf ihm einen fragenden Seitenblick zu, den er zunächst nur mit einem Grinsen beantwortete. „Dachtest du etwa allen Ernstes, dass ich dich allein gehen lasse?“, wollte er vorwurfsvoll von mir wissen.
„Ich hatte es eigentlich gehofft, ja“, gab ich bissig zurück. Der Kerl schien sich wohl einzubilden, so eine Art Babysitter zu sein. Das war ja wohl die Höhe! Als ob ich das nötig hätte ...
„Nun, dann war dein Hoffen leider vergebens“, erwiderte Ayden galant und deutete eine Verbeugung an. Ich hatte das eigentlich nur getan, um meine Ruhe zu haben. Ich wollte das Naturschauspiel in Einsamkeit bewundern und würdigen, doch nun würde sich mir eher die Frage stellen, was ich bewunderte: die Natur oder Ayden. Ich beschloss, mich mit all meiner Selbstbeherrschung, die beachtlich war, auf die Natur zu konzentrieren, was nicht annähernd so schwierig war, wie ich befürchtete. Der Farewell Spit war wirklich ein einzigartiges Naturschauspiel, das seinesgleichen erst noch suchen musste.
Wie ein Halbmond verlief er von Westen nach Osten, wobei er sich nach Norden hin wölbte. Dort, also im nördlichen Teil des Spits, häufte sich fast schon weißer Sand. Durch die Sonnenstrahlen wirkte er mehr denn je wie Schnee und doch konnte man erkennen, dass es sich immer noch um Sand handelte, und zwar an der Art und Weise, wie die Dünen aussahen. Sie bargen das typische Muster, das in der Wüste entstand, sodass man sich allen Ernstes fragte, ob man wirklich noch am Meer war. Diese Frage erübrigte sich jedoch, da die Wellen sich ständig am weißen Sandstrand brachen, schäumend und laut, auch wenn sie sich nicht sonderlich hoch türmten. Im südlichen Teil der Landzunge wuchsen kleinere Farngewächse und stellenweise auch Gras. Man konnte, wenn man, so wie Ayden und ich, direkt mittig auf dem Grad des Spits ging und sich an die höchsten Stellen hielt, meilenweit in alle Himmelsrichtungen sehen, was natürlich besonders imposant war, wenn man nach Norden oder Süden sah, da man das Gefühl hatte, auf dem offenen, azur- bis türkisblauen Meer zu laufen.
Meine Schritte wurden schneller, eine Angewohnheit von mir, die teilweise meine Ausdauer stark in Mitleidenschaft zog. Wenn mich eine Disziplin im Sport besonders fesselte oder wenn ich durch eine besonders schöne Landschaft lief oder wanderte, dann ging es mit mir durch und ich wurde instinktiv immer schneller, da ich mehr sehen wollte. Ayden hielt problemlos Schritt, ohne sich zu beschweren, was ihn gleich in einem besseren Licht dastehen ließ. Ich konnte es nicht leiden, wenn sich jemand über meine Geschwindigkeit beschwerte, wo er doch freiwillig mitgekommen war.
„Schöne Landschaft“, sagte ich nach einer längeren Zeit der Stille, in der wir schätzungsweise zehn Meilen zurückgelegt hatten – also über die Hälfte des Weges. Ayden grinste über meinen missratenen Versuch, Konversation zu betreiben. Wenigstens hatte ich nichts über das Wetter gesagt, so wie er.
„Ja, durchaus. Auch wenn sie nur durch deine Anwesenheit schön wird“, kommentierte er scheinbar ungerührt. Sofort warf ich ihm einen schnellen Blick zu. War das sein Ernst?!? Aydens Gesicht wurde von einem einnehmenden Lächeln verzerrt und der Winkel, in dem die Sonne sein schönes Gesicht anstrahlte, ließ ihn noch attraktiver wirken. Ich musste unwillkürlich schlucken und wandte mich mit geröteten Wangen ab, was ihn noch breiter lächeln ließ. „Mach dich nicht lächerlich“, murmelte ich und achtete darauf, dass ich nicht stolperte.
„Wieso lächerlich?“, hakte Ayden skeptisch nach.
„Die Natur ist schon schön genug, ohne, dass ich unangenehm ins Bild springe“, erwiderte ich und lief wieder ein wenig schneller. Wieso hatte ich so viel von meinen Gefühlen preisgegeben? Es mag sich ja nach nichts anhören, aber für meine Verhältnisse hatte ich zu viel gesagt.
„Du kannst dich selbst wohl nicht so gut einschätzen“, meinte Ayden daraufhin wieder mit einem Grinsen. Ich schwieg. Woher hätte ich es auch lernen können? Die östlichste Spitze kam immer näher, ebenso eine Baumgruppe, hinter der sich ein Leuchtturm verbarg. Ein Blick auf den Stand der Sonne und ich wusste, dass ich heute nicht zu mehr kommen würde. Wir konnten froh sein, wenn wir bei Sonnenuntergang – die Zeit, wenn wir uns bei den Bussen treffen sollten – wieder zurück waren. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief wieder zurück. „Du schummelst“, meinte Ayden nur, hielt jedoch seine Position an meiner Seite.
„Ich möchte nicht hetzen, wenn wir zurückgehen. Es gibt nichts Schöneres, als einen Sonnenuntergang am Meer ...“, flüsterte ich und setzte weiter einen Fuß vor den anderen.
„Hm ... du hast recht“, stimmte mir Ayden unerwarteterweise zu. Wir übten uns gerade in der ultimativen Gleichgewichtsübung: direkt über den Grad einer Sanddüne laufen. Unbeirrbar setzte ich einen Fuß vor den anderen, wenn der Untergrund nachgab, dann verlagerte ich mein Gewicht so, dass nichts passieren konnte. Hinter mir lief Ayden, dessen Blick ich spüren konnte und der mich darauf warten ließ, dass er etwas sagte. „Du hast einen guten Gleichgewichtssinn“, bemerkte er dann tatsächlich in einem leicht nachdenklichen Ton.
„Danke“, sagte ich nur und konzentrierte mich weiter auf den Weg.
„Wie kommt es, dass du deine Geschwindigkeit halten kannst und immer noch ohne Fehler einen Fuß vor den anderen setzen kannst?“, bohrte der Schwarzhaarige weiter. Na klar. Als ob man so etwas erklären könnte. Doch dann fiel mein Blick auf zwei unserer Jahrgangskameraden etwa eine halbe Meile voraus – wow, wir waren schon wieder über die Hälfte zurückgegangen – die sichtlich Mühe zu haben schienen, uns zu imitieren. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass sie uns gesehen und gedacht hatten ‚Das können wir auch’. Offensichtlich ein Irrtum, wie ich mit einem überlegenen Grinsen feststellte und immer weiterlief. „Ist das derart ungewöhnlich?“, provozierte ich Ayden und sah kurz über die Schulter, machte aber, dass ich wieder nach vorne sah.
Er hatte mich durchdringend und mit einem beängstigenden Glitzern in den Augen angesehen. „Beantworten die da hinten nicht deine Frage?“, meinte er nur etwas gepresst.
„Nun … ja“, gab ich zu und wäre beinahe falsch mit meinem Fuß aufgekommen, so sehr hatte mich dieser eigentümliche Blick aus dem Gleichgewicht gebracht. Wir überholten die anderen zwei, dann ließ ich es etwas ruhiger angehen. Nur noch eine Meile und wir würden bei den Bussen sein, außerdem wurden die Strahlen der Sonne allmählich orange-rot. In Hunderten Facetten spiegelte das wogende Meer das warme Licht und bot somit den Augen ein wunderbares Schauspiel. Als ich sah, dass der Rest unseres Jahrgangs sich an die weißen Strände gesetzt hatte, so wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, verging mir meine Idee und ich steuerte auf Port Puponga zu. „Ich dachte, du wolltest dir den Sonnenuntergang zu Gemüte führen?“, schaltete sich Ayden wieder mit normaler Stimme ein.
„Nein – ich – ich habe ihn ja schon gesehen“, wehrte ich halbherzig ab und wandte mich demonstrativ von der Klassengemeinschaft ab. Bevor ich jedoch noch schneller laufen konnte, als ich es ohnehin schon tat, packte mich eine Hand an meinem rechten Ellenbogen und zog mich so zurück, dass ich denjenigen sofort ansehen musste. Die blauen, im Licht glitzernden Augen durchforsteten meine, wobei sie, je mehr Zeit verging, immer mehr diesen frustrierten Ausdruck annahmen. Außerdem schienen sie dunkler als gewöhnlich zu sein …
„Du bist eine Einzelgängerin.“ Das war eine Feststellung.
„Ja“, antwortete ich leise, völlig unfähig, mich abzuwenden.
„Wieso?“
„Das ist meine Sache“, erwiderte ich etwas fester und versuchte, mich loszumachen, doch ich hätte genauso gut versuchen können, meinen Arm aus einem festgezurrten Schraubstock zu befreien: sinnlos. „Kann sein, aber meine ist es auch“, gab Ayden zurück, nachdem er meine Ausbruchsversuche beobachtet hatte.
„Ach, und wieso das?“, fauchte ich wie eine in die Enge getriebene Großkatze. Das schien ihn zu belustigen, denn ein leises Grinsen stahl sich auf sein schönes Gesicht.
„Weil ich – wie soll ich sagen? – Ich mache mir Sorgen. Ein Mensch kann nicht ohne andere. Es ist einfach so.“
„Ich habe schon immer jegliche Regeln gebrochen, warum dann nicht auch diese?“, knurrte ich zurück. Ich wurde ungehalten, weil ich mich einfach nicht befreien konnte, was hieß, dass er es womöglich schaffte, dass ich zu viel von meinen Gefühlen sagte.
„Mag sein, dass du dir einreden willst, dass du diese Regel mit Vergnügen brichst, aber das ist nicht so“, erwiderte Ayden mit ungewohnt samtener und rauer Stimme. Ich schluckte. Er hatte sich leicht zu mir heruntergebeugt, da er einen Kopf größer war als ich.
„Woher willst ausgerechnet du das wissen?“, wehrte ich mich nicht annähernd so vehement, wie ich es vorgehabt hatte.
„Weil deine Augen dich verraten“, wisperte der Schwarzhaarige und ließ nur noch dreißig Zentimeter zwischen unseren Gesichtern. Eine leichte Brise kam auf und ließ seine Haare wehen. Oh Gott. Machte er das mit Absicht oder wusste er nicht, was er für eine Reaktion hervorrief?!
„Das – das kann ich mir – kaum vorstellen“, antwortete ich abgehackt und versuchte, mich ein wenig von ihm wegzulehnen. Statt einer Antwort zog er mich noch ein wenig näher zu sich heran und schien mit seinem durchdringenden Blick in meine Seele sehen zu wollen …
„NEIN!“, rief ich, schaffte es tatsächlich, mich loszureißen und stolperte einige Schritte rückwärts. Ich sah ihn verstört an, er mich verwirrt. „Was habe ich denn falsch gemacht?“, wollte er in einem Ton wissen, der so viel hieß, wie ‚Seit wann ist das eine falsche Aktion?’
„Du versuchst, zu viel von meinem Gefühlsleben und meiner Seele zu sehen, das machst du falsch“, antwortete ich zischend, machte auf dem Absatz kehrt und rannte fast zu den Bussen, Ayden zurücklassend, der mir völlig irritiert nachsah.
Mit verschränkten Armen lehnte ich am Bus. Ich hatte die ganze Zeit hin- und herüberlegt, wie ich mich bei Ayden entschuldigen könnte, doch etwas Sinnvolles war dummerweise nicht dabei herausgekommen, nur die Gewissheit, dass ich mich entschuldigen musste. Ich hatte ihn völlig grundlos angefahren, wenn man so wollte, schließlich war es ja für normale Menschen nichts Ungewöhnliches, mit Freunden über ihre Gefühle zu reden. Aber zum einen war ich nicht ‚normal’ in dem Sinne, zum anderen wusste ich noch nicht einmal richtig, ob wir Freunde waren. Das Ganze war schon so vertrackt genug und nun hatte ich es noch komplizierter gemacht. Ayden kam kurz vor der vereinbarten Zeit, sah mich und blieb unschlüssig stehen. Ich seufzte. Anscheinend musste ich den ersten Schritt machen – geschah mir nur recht. „Es tut mir leid“, sagte ich ehrlich, sobald ich vor ihm stand. „Ich hätte nicht so reagieren dürfen, aber wenn es um mein Innerstes geht, da bin ich … empfindlich “, versuchte ich mich immer leiser werdend zu erklären.
„Ich hätte auch nicht einfach so in diese Gefühle reinplatzen dürfen“, erwiderte Ayden seltsam steif. „Vielleicht ist es besser für dich, wenn du mit Allan zusammen zurückfährst … und überhaupt, wenn wir Abstand zueinander wahren“, fuhr er dann fort und ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen, um zu Cináed zu gehen, der bereits in einen Bus stieg. Ich schluckte hart, während sich meine Hände zu Fäusten ballten, und blieb stehen, wo ich war.
„Egal, was mein Bruder gesagt haben sollte, es ist besser für dich“, ertönte eine melodische Stimme hinter mir, die mich herumwirbeln ließ. „Mein Name ist übrigens Kira Phynix“, stellte sich die schöne junge Frau mit den langen weißblonden Haaren vor.
„Angenehm“, erwiderte ich leicht irritiert. „Ich bin Leyla Valimore.“ Ein Lächeln erschien auf dem einer Diva gleichen Gesicht der Frau, die einen halben Kopf kleiner war als ich.
„Wie gesagt: Es ist besser für dich.“
„Das sehe ich anders.“
„Warum denn?“, wollte Kira mit schief gelegtem Kopf wissen. Ihre hellblauen Augen musterten mich besorgt.
„Was besser für mich ist, entscheide ich selber, das kannst du ihm bitte ausrichten. Außerdem hat er mir mit seiner Aktion wehgetan“, antwortete ich mit leicht wankender Stimme. „Es ist mein Fehler, dass ich es habe so weit kommen lassen, dass er in der Lage ist, mich zu verletzen, aber das ist mein Problem. Wenn er allerdings auf seinem Standpunkt beharrt, akzeptiere ich ihn.“
Ich straffte meine Schultern und ging zum anderen Bus, wobei ich Allan vollauf ignorierte und ihn giftig anfauchte, als er sich zu mir setzen wollte, sodass er sich lieber an John hielt. Ich verschränkte die Arme, lehnte meinen Kopf an das Fenster und schloss die Augen. Gott, ich dachte eigentlich, so etwas hätte ich hinter mir gelassen …