Wahrheit bedarf nur weniger Worte ... manchmal gar keiner

 

Eine Woche verging ohne sonderlich aufregende Zwischenfälle. Wenn überhaupt, dann wiederholten sich bereits gesehene Szenen meiner Vergangenheit im Schlaf und Schmerzen hatte ich auch keine. Nicht einmal mein Kopf schien sich darüber zu beschweren, wieder an Dinge erinnert zu werden, die lieber im Dunkeln hätten bleiben sollen. Denn so stand ich mittlerweile zu den Dingen. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn all das im Dunkeln geblieben wäre. Ich wäre dann noch so wunderbar unwissend, müsste mir über Konstanze und Rupert nicht den Kopf zerbrechen und musste nicht fürchten, jeden Moment eine neue Grausamkeit erfahren zu müssen. Aber wie das bei solchen Sachen nun einmal ist: Im Schicksal hat man kein Mitspracherecht.

Man akzeptiert es, kämpft dagegen an oder flieht davor. Ich hatte mir meinen Weg noch nicht ausgesucht.

Abgesehen davon verlief mein Leben so gut wie normal, mal abgesehen von den häufigen Besuchen des jungen Phynix. Ich hatte mich schon so sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, dass es mich überhaupt nicht mehr störte – zumal ich ihn in meiner Nähe haben wollte, wie ich mir eingestehen musste. Das würde ich ihm jedoch nicht auf die Nase binden. Er war ohnehin schon in einer Hochstimmung, weil er mich so weit gebracht hatte, ihn vollends zu akzeptieren und immer zu ihm zu kommen, wenn ich wieder eine Vision hatte oder es mir einfach schlecht ging. Auch nach seiner Handynummer hatte ich gefragt, die er mir gleich gegeben hatte. Für Notfälle. Ich wusste, dass unsere Definition dieses Wortes weit auseinanderging, aber … nun ja.

Und doch, obwohl eigentlich alles wieder seinen gewohnten Gang ging, spürte ich, wie ich mich langsam veränderte, ohne wirklich Einfluss darauf zu nehmen. Zum Beispiel wurden meine Reflexe mit jedem Tag, der verging, schneller. Ich konnte irgendwie schneller denken und bewies mehr Ruhe in Situationen, die mich sonst aufgeregt hätten. Sogar Richard Brown, der Bruder von Vivian, bemerkte am Freitag in der Cafeteria, dass ich verändert wirkte. Meine gesamte ‚Aura’, wie er es nannte, habe sich gewandelt, sodass ich nun wie eine ‚stolze Königin’ wirke. Ich tat diesen Schwachsinn sofort mit einer Handbewegung ab – nach außen – behielt die Bemerkung jedoch im Hinterkopf und nahm mir vor, darauf zu achten. Doch nicht nur ich, auch Ayden Phynix veränderte sich. Er zog sich ein wenig mehr zurück und ich bemerkte mal wieder die Schatten über seinen Augen – oder seine Augenfarbe wurde stetig dunkler. Er war gereizter als sonst und schien sich selbst immer im Zaum zu halten, warum auch immer. Die anderen bemerkten es nicht, aber ich, die ich so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, sah es, und es gefiel mir irgendwie nicht. Um seine Laune oder was auch immer ein wenig zu heben, schlug ich vor, eine Wanderung im Abel Tasman National Park, südöstlich von Takaka zu machen, was er jedoch überraschenderweise vehement ablehnte.

Am Samstag verbrachte ich den Tag allein zu Hause und las, machte Hausaufgaben oder sah fern und fasste dabei den Entschluss, auch ohne den Schwarzhaarigen im National Park wandern zu gehen. Er war mir von Vivian empfohlen worden, die vor längerer Zeit mit ihrer Familie dort gewesen war, und ich brauchte frische Luft und einen Tapetenwechsel in eine ruhige Umgebung. Damit war mein Reiseziel gewählt und es war perfekt.

 

Am Morgen des 7. Juni 2009 erwachte ich, innerlich von nichts außer der Leere meiner Träume erschüttert, stand auf und zog mich sportlich an. Und dick. Es war draußen relativ frisch mit 12° C und den wenigen Sonnenstunden, vermischt mit dem Regen, der immer stärker wurde. Aber so tickte die Gezeitenuhr nun einmal in Neuseeland. Wenn ich mir vorstellte, dass in den USA gerade Sommer war, wurden meine Gedanken ein klein wenig sehnsüchtig, andererseits musste ein gewisses Gleichgewicht zwischen Wärme und Kälte bestehen, um der hiesigen Flora und Fauna das Leben zu ermöglichen. In meinen Rucksack kamen Proviant, ein Regenschirm und -cape, mein Handy, mein Portemonnaie und kleinere Dinge wie ein Taschenmesser und zur Not ein Kompass. Dann setzte ich mich in meinen Mercedes und fuhr los. Die Sonne war noch nicht einmal vollständig aufgegangen, als ich mich auf der Rameka Creek Road nahe an das Zentrum des National Parks schlich. Irgendwo parkte ich schließlich mein Auto, schulterte meinen Rucksack und lief los, wobei ich mir auf der Karte, die ich ebenfalls eingesteckt hatte, den Parkort markierte und mit dem Bleistift die Richtung einzeichnete, in die ich daraufhin lief: Osten. Ich wollte zum Zentrum des ‚Parks’. Die Ruhe des Waldes, unterbrochen vom sanften Rauschen der Blätter und Nadeln der Baumkronen, die sich im Wind neigten, von Vögeln und Spechten, die ihre Lieder sangen oder davonflatterten und von meinen eigenen Schritten, unter denen ab und an ein Zweig knackte, war wie Balsam für meine Seele. Niemand war da, dem ich Rede und Antwort stehen musste.

Und niemand ist da, an den du dich wenden kannst, meldete sich eine kleine, unerwünschte Stimme in meinem Hinterkopf, die ich daraufhin auch nicht mehr loswurde. Langsam, aber sicher wurde es um mich herum heller. Grünes Licht fiel auf den Waldboden, grün aufgrund der Blätter, durch die es zuvor schien. Ich holte mehrmals tief Luft und genoss die saubere, vom nahen Meer leicht salzige Luft. Auf einmal kreischte eine Krähe in der Ferne, dann näher. Andere stimmten mit ein, bis ein wahrer Schwarm über den Baumwipfeln dahinflog, fort von der Richtung, in die ich zielstrebig ging.

Was gibt es hier eigentlich für Fleischfresser?, überlegte ich – wie ich mir selbst eingestehen musste – reichlich spät. Dennoch ließ ich mich nicht beirren und setzte meinen Weg fort. Normalerweise mieden sie Menschen und man sah sie auch früh genug. Wozu also Panik machen? Trittsicher stieg ich über Baumwurzeln und kleinere Kuhlen, in denen man sich schnell seinen Fuß verknacksen konnte. Ab und an blickte ich auf die Karte, um zu sehen, wo ich war, und ob ich von meinem Weg abgekommen war, dann ließ ich wieder die beruhigende Umgebung auf mich einwirken. So musste es sein, unter den Bäumen Lothlóriens zu wandeln und tatsächlich glich die Umgebung, nachdem ich sie daraufhin musterte, wirklich ziemlich stark den Wäldern der Elben. Kein Wunder, schließlich wurde der Film hier gedreht, rief ich mir ins Gedächtnis und war vollauf mit mir und der Welt zufrieden, dass ich hierher gezogen war. Wieder flogen aufgeschreckte Vögel über mich hinweg, lauter schreiend und aufgeregter als die vorherigen. Stirnrunzelnd setzte ich meinen Weg fort. Gleich kommen mir Orks oder Urukhai entgegen, gluckste ich innerlich, und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Oder Aragorn höchstpersönlich. Ich fing an, leise zu kichern, bis es zu einem Lachen ausartete. Als von vorne ein unglaublich lautes Knacken ertönte, in etwa, wie wenn ein Baum gefällt wurde, blieb ich schlagartig stumm stehen. Nun hüllte mich vollkommene Stille ein, nicht einmal der Wind wehte mehr. Mein Herz schlug unwillkürlich schneller, während meine Augen umherhuschten, um die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen.

„Was zum Teufel machst du hier?!“, kam es aus einer von mir gänzlich unerwarteten Richtung: hinter mir. Ich wirbelte herum und stolperte instinktiv rückwärts. Vor mir stand Cináed, der kleine Bruder von Ayden. Jedenfalls glaubte ich, dass er der kleine Bruder war, weil er schlichtweg einen halben Kopf kleiner war als Ayden. Das war es jedoch nicht, was mich zurückweichen ließ, sondern das Blut an seiner Kleidung, das von seinem Kinn heruntertropfte. Im allerersten Augenblick hatte ich gedacht, er sei verletzt, doch beim zweiten Blick war mir klar, dass es ihm blendend ging – und das Blut von seinem Mund aus nach unten floss. „Das ist gefährlich! Einen Moment unachtsam und dann …“, seufzte der Braunhaarige und sah finster zu mir herüber. Ich wich weiter zurück, als auf einmal ein Baum in meinem Rücken war. Ich traute mich nicht, den Blick abzuwenden, es war wie bei einem Autounfall: Man wollte es eigentlich nicht sehen, aber man konnte nicht woanders hinschauen.

„Was – was bist du?“, brachte ich mühsam hervor, auch wenn ich die Antwort eigentlich schon kannte, dafür hatte ich einfach zu viel gelesen. Sicherlich könnte es rein theoretisch noch eine andere Erklärung geben … aber der Mann vor mir – das war einfach eindeutig.

„Oh je. Das ist jetzt ein Problem …“, murmelte Cináed nachdenklich und lehnte sich lässig an einen Baum. „Eigentlich solltest du mich so nicht sehen.“

„CINÁED!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“ Die Stimme donnerte wie ein Gewehrschuss über und durch den Wald und ließ mich wieder in die von mir angestrebte Richtung wirbeln. Mit geballten Fäusten, schwer atmend und mit glitzernden, eisblauen Augen stand Ayden seinem Bruder gegenüber. „Oh je …“, machte der Angesprochene und duckte sich vorsichtshalber. Ich war derweil von Aydens Erscheinung fasziniert. Er wirkte zwar so unendlich gefährlich und beinahe schon bösartig, andererseits passte diese Seite zu ihm.

Auch er wies Blutspuren auf, die sich bei ihm jedoch nur auf die Mundwinkel beschränkten.

„WAS ZUM TEUFEL GLAUBST DU, WAS DU DA TUST?!?!“ Ayden war außer sich und noch immer hallte seine Stimme scheinbar meilenweit.

„Ich – ähm – nun …“, stammelte Cináed, dem man ansehen konnte, dass er einen Fehler gemacht hatte – einen schwerwiegenden. Ayden machte ein paar aggressive Schritte auf den anderen zu und zusammen mit dem mörderischen Glitzern in seinen Augen und der Kampfbereitschaft, in denen des anderen, war die Atmosphäre vollends geladen.

„Moment mal!“, mischte ich mich ein und sprang zwischen die beiden. „Wehe euch, ihr kämpft gegeneinander.“ Ayden, der mir gegenüber stand, starrte mich an. Sein ganzes Gesicht zeigte für einen kurzen Augenblick Überraschung, dann wurde es wieder wütend. „Geh beiseite, Leyla!“, fauchte er.

„Nein! Warum regst du dich eigentlich so auf? Ich bin mittlerweile in einem Stadium, in dem mich nichts mehr überraschen kann, also ist es egal!“, erwiderte ich lautstark. Die Wut wich aus seinem Gesicht und er ging auf mich zu, bis er direkt vor mir stand. Dann hob er eine Hand, strich mit ihr über meine Wange und ließ sie dort verharren. „Das sagst du zwar, aber deine Augen verraten nur zu deutlich, was du wirklich fühlst. Niemand könnte so eine Offenbarung so einfach wegstecken. Also verzeih, aber ich glaube dir nicht“, wisperte er und stieß mich daraufhin zur Seite. „Was dich Volltrottel angeht: Was hast du dir gedacht?!“

„Ich habe für den Wald untypische Geräusche gehört und bin ihnen nachgegangen“, antwortete Cináed mit gestrafften Schultern.

„Und du musstest dich im Zuge dessen auch gleich zeigen?“, giftete Ayden böse, während ich mich aufrappelte. So gewalttätig hatte ich ihn noch nie zu spüren bekommen.

„Ja, weil sie geradewegs in deine Richtung marschiert ist! Hätte sie dich etwa überraschen sollen, während du deiner ‚Tätigkeit’ nachgehst???“, fauchte der Braunhaarige zurück. Ayden bleckte wütend die Zähne, weil er nichts erwidern konnte. Von meinem Standpunkt aus wirkten sie wie zwei Wölfe oder Tiger, die sich anfauchten und kurz davor waren, sich anzuspringen.

„Was ist hier los?“ Ich wirbelte um 180 Grad herum, nachdem ich gerade wieder auf die Füße gekommen war. Das war eine Frauenstimme. Sie war leise, lauernd und ein wenig arrogant. Kira schied daher schon mal aus. Auf uns zu kam eine zierliche Frau mit langen, roten Haaren, die sie zu einem Knoten zusammengebunden trug, aus dem sich einige Strähnen flüchteten. Ihr Alter konnte man ihr bei Weitem nicht ansehen; ich schätzte sie zwischen 17 und 43 – ein wirklich mies großes Intervall. „Sophie …“, hauchte Ayden ungnädig, was sich wie ein Knurren anhörte. Ich fixierte die Frau. Das sollte die Mutter von Kira, Cináed und Ayden sein?!? Ja klar …, dachte ich auf dem Höhepunkt meines Misstrauens und verschränkte nur meine Arme. Die grünen Augen der Edeldame wanderten zu mir herüber, dann wieder zu ihren ‚Söhnen’. Sie machte den Eindruck einer stolzen Kaiserin, wie sie so dastand und sich die Mundwinkel mit einem Taschentuch abtupfte.

Wo zum Henker bin ich hier gelandet?!? Mitten in einer Horde Vampire!! Wenn das ein Traum oder Scherz sein soll, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, das aufzuklären, wenn nicht …, ich wagte nicht einmal daran zu denken.

„Leyla Valimore, nicht wahr?“, sprach mich die Lady an.

„Ja?“, antwortete ich zögernd. Woher sollte die mich auch kennen? Obwohl …

„Ayden hat viel von dir erzählt.“

Hab ich es doch geahnt …, dachte ich resigniert. „Ich bin mal gespannt, was“, meinte ich dann laut und strafte den Schwarzhaarigen mit einem vernichtenden Blick, der diesen jedoch überhaupt nicht zu jucken schien.

„Das tut hier nichts zur Sache. Wichtiger ist das, was du gesehen hast“, sagte die Frau zwar vorsichtig und ein wenig freundlich, aber auch drohend. Ich spießte sie nahezu mit meinem Blick auf.

„Denkt gar nicht erst daran, irgendetwas an meinem Gedächtnis rumzupfuschen, sonst sterbt ihr durch meine Hand, egal, was ihr seid!“, fauchte ich sie an, sodass eine gezupfte Augenbraue nach oben wanderte.

„Das war nicht feindselig gemeint. Allerdings könnte es uns Probleme bereiten, wenn du … deinen Fund anderen mitteilst“, erwiderte die Rothaarige ansonsten ungerührt.

„Das wird sie nicht“, schaltete sich Ayden sofort ein.

„Aber …“, setzte die Frau an, wurde durch ihn jedoch unterbrochen: „Ich würde ihr mein Leben anvertrauen.“ Ich sah überrascht zu dem jungen Mann herüber, der jedoch betont konzentriert etwas auf dem Waldboden musterte.

„Ich werde nichts sagen. Die meisten halten mich ohnehin schon für verrückt, da werde ich nicht auch noch erzählen, dass ihr Vampire seid … wenn ihr das überhaupt seid“, meinte ich schließlich.

„Jupp, sind wir“, meinte Cináed mit einem seltsamen Stolz in der Stimme, der mich dazu veranlasste, ihn skeptisch anzusehen.

„Kein Grund, deswegen so arrogant zu werden“, sprach Ayden aus, was ich im Begriff war zu sagen.

„Warum nicht? Wir sind Übermenschen, ist doch cool“, zuckte Cináed mit den Schultern.

„Und für welchen Preis?“, keifte Ayden wütend.

„Schluss jetzt“, herrschte Sophie die beiden an. „Cináed, du gehst zurück zu Kira. Ich werde auch gehen, und Ayden, du bringst sie nach Hause.“ Damit wandte sich die Rothaarige ab und spazierte wieder in den Wald wie ein Model auf einem Catwalk.

„Komm“, sagte Ayden nur und ging Richtung Nordwesten.

„Nein“, gab ich zurück und rührte mich nicht. „Erstens steht in der Richtung nicht mein Auto und zweitens bin ich der Meinung, dass ich jetzt endlich ein Recht darauf habe, alles zu erfahren. Findest du nicht?“, fauchte ich.

„Du musst gar nichts …“

„Dann bist du nicht besser als diese Wissenschaftler“, unterbrach ich ihn ungnädig und stolzierte nach Westen. An dem Zusammenzucken von ihm sah ich, dass das tief getroffen hatte.

„Also schön, aber nicht hier …“, lenkte er dann ein.

„Warum nicht? Hier ist niemand außer uns und deinen übermenschlichen ‚Familienmitgliedern’. In Takaka könnten wir von absolut jedem überrascht werden, hier wäre es schlimmstenfalls ein Eichhörnchen oder so.“ Ich war wütend.

„Ich kann verstehen, dass du wütend bist …“, meinte Ayden dann und streckte seine Hand nach mir aus, ich jedoch wich vor ihm zurück, meine Stirn in Falten und einen allgemein abweisenden Gesichtsausdruck, der den anderen tiefer traf, als ich beabsichtigt hatte. „Du verstehst gerade überhaupt nichts!“, klagte ich ihn, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, an. „Nach allem, woran ich mich langsam wieder erinnern kann, wurden mir von Anfang an Lügen aufgetischt und die Wahrheit wurde mir verschwiegen. Und du, ausgerechnet du, der du um diesen Umstand als Einziger Bescheid weißt, ausgerechnet du verheimlichst mir auch einen wichtigen Teil der Wahrheit um dich? Du hast überhaupt keine Ahnung, wie ich mich fühle, kapiert?!“ Ich drehte mich um und lief wütend durch den Wald, bis ich schließlich ins Rennen verfiel. Ich war ein mittelmäßig ausdauernder Läufer – für gewöhnlich. Ich hatte keine Ahnung, wie tief ich nun in den Abel Tasman National Park gekommen war, doch ich rannte beständig Richtung Westen, bis ich mich keuchend auf die Motorhaube meines Mercedes lehnen konnte. Nach allem, was ich gehört hatte, war mir der Schwarzhaarige nicht gefolgt. Allein dafür begann ich ihn zu hassen. Warum hatte er die Angewohnheit, so anhänglich zu sein, und tat es nicht, wenn man – wenn ich es von ihm erwartete? Wenn ich es brauchen könnte, damit er mir das Gefühl gab, das nicht alles zusammenbrach, was ich mir unbewusst und doch so mühselig aufgebaut hatte?!? Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen oder – und schlimmer und – zu schreien. Es war für mich erschreckend, wie oft ich in dieser kurzen Zeit zusammengebrochen war.

„Verdammt, AYDEN!!! Bring mich nicht dazu, es zu bereuen, hergezogen zu sein! Du Idiot! DU VOLLIDIOT!!!“, schrie ich dann doch und hieb mit meiner Faust auf die Motorhaube, die daraufhin einen dumpfen Laut von sich gab. Ich sah mein Gesicht verzerrt im glänzenden Lack. So schrecklich habe ich noch nie im Leben ausgesehen. So fühlte es sich an, wenn einem der Boden unter den Füßen fortgezogen wurde. So fühlte sich ein … ein … ein gebrochenes, verratenes Herz an. Ich setzte mich ins Auto und fuhr wesentlich schneller, als erlaubt war, nach Hause, wo ich meine Tür von innen abschloss und daraufhin an sie gelehnt zu Boden sank. Die Wut, die sich nach dem Schmerz bemerkbar gemacht hatte, ebbte einfach nicht ab, sondern siedete immer mehr, bis ich fürchten musste, dass ich ihn hasste. Meine Finger kribbelten, und dann war es wieder da: das seltsame Brennen an meinem Rücken. Panik überfiel mich und ich stürzte ins Bad, wo ich mir sofort mein Oberteil auszog und mich so zum Spiegel wandte, dass ich meinen Rücken betrachten konnte. Ich zitterte. Filigrane Ornamente leuchteten hellblau auf meinem Rücken und brannten sich irgendwie in meine Haut, sodass an den Rändern der eigentlich wunderschönen Verschnörkelungen mein Blut austrat und meinen Rücken hinabfloss. Ich schluckte und beobachtete mit Horror, wie die Ornamente verblassten und mit ihnen schließlich auch die Wunden, die sie eingebrannt hatten, verschwanden. Ich sank in die Knie und starrte auf die Fliesen. „Was passiert hier?!“, murmelte ich geschockt.

Wer bin ich?

Was bin ich?

Es hallte wieder einmal in meinem Kopf, was ich in den Visionen sah, hörte, dachte, sagte …

„Wer bin ich … was bin ich … früher hätte ich die Fragen mit Leichtigkeit beantworten können“, wisperte ich den Kacheln zu, die ungerührt ihre Aufgabe taten. Sie brauchten nur hübsch auszusehen.

Mein Blick wanderte zum Fenster, durch das beinahe schon zögerlich Licht fiel, um das Bad zu erhellen. Vor mein geistiges Auge stahl sich unerwünscht das Bild Cináeds, wie er mit Blut bekleckert vor mir stand, als mir auffiel, dass ich die wohl wichtigste und essenziellste Frage nicht gestellt hatte, als mir dies noch möglich war: von wem oder was das Blut stammte. Ich schauderte kaum merklich und zog mich rasch wieder an, um mich daraufhin durch ein wenig Fernsehen abzulenken. Doch wie zum Hohn kamen zu diesen utopischen Sendezeiten Filme, so gut wie ausschließlich aus der Sparte Dracula. Keine Ahnung, ob heute ein besonderer Tag war, an dem der Mythos ‚Vampir’ abgehandelt wurde – ich für meinen Teil empfand die Entwicklung der Dinge als höchst nervenaufreibend. Der Fernseher war schnell wieder ausgeschaltet und ich vor meinem Bücherregal. Beinahe schon verzweifelt suchte ich nach einem Buch, welches mich erfolgreich würde ablenken können.

„Leyla?“ Ich zuckte kaum merklich zusammen und hielt mitten in meiner Bewegung inne, was zur Folge hatte, dass das Buch halb aus dem Regal fiel. „Es tut mir leid … ich wollte nicht …“

„Dass ich es erfahre … schon klar. Kann ich mir denken“, unterbrach ich den jungen Mann und stellte das Buch möglichst sicher zurück.

„Ich hätte es dir erklärt … irgendwann …“, deutete Ayden meinen Unterton richtig und ging darauf ein.

„Ja, ja“, winkte ich nur ab und verzog mich in mein Schlafzimmer, wobei ich sorgsam darauf achtete, ihn nicht anzusehen. Er folgte mir, ohne zu zögern, blieb jedoch ein wenig unschlüssig im Türrahmen stehen.

„Das ist nicht das Einzige, was dich bedrückt“, bemerkte Ayden nach einer längeren Pause, in der ich in die Leere gestarrt und meinen Gedanken nachgehangen hatte. Ihm entging wohl nichts.

„Aber der Hauptgrund. Wer war denn die Beute? Hoffentlich niemand, den ich kenne“, erwiderte ich zynisch.

„Ich bezweifle, dass du die Tiere des Waldes alle persönlich kennst“, gab der Schwarzhaarige daraufhin zurück.

„Nur Tiere?“ Ich wusste, er verstand meine fast schon kryptische Frage. Er wand sich um eine Antwort, das konnte ich aus der langen Pause heraushören.

„Wahrheit“, sagte er dann wie eine Beschwörung zu sich selbst, dann hob er erneut die Stimme: „Nicht ausschließlich Tiere, aber hauptsächlich.“

„Und was, wenn es keine Tiere sind?“, hakte ich mit einem leichten Taubheitsgefühl in meinem Körper nach.

„Menschen, die niemand vermissen würde. Schwerverbrecher zum Beispiel“, kam die Antwort.

„Ah ja. Und ihr richtet also danach, als wärt ihr der Allmächtige, wer vermisst werden würde und wer nicht? Ich bitte dich, selbst deine Schwerverbrecher haben Familie, weißt du?“, giftete ich und richtete meinen anklagenden Blick auf den Schwarzhaarigen, der ihm sogar auswich. Ich holte tief Luft, dann betrachtete ich ihn. Obwohl er mich nicht ansah, stach die hellblaue Augenfarbe aus seinem Gesicht heraus, wie eine Leuchttafel in Las Vegas in dunkelster Nacht. Dazu kam, dass er nun wesentlich ruhiger zu sein schien – mal abgesehen von seinem schlechten Gewissen. „Ich höre“, forderte ich Ayden auf und setzte mich mit verschränkten Armen auf eine Bettkante.

„Was willst du denn noch wissen?“

„Zum Beispiel, was es mit deinen Augen auf sich hat“, half ich ihm ungeduldig auf die Sprünge. „Mal dunkel und dann wieder hellblau.“

„Dunkel sind sie, wenn sich der Tag nähert, an dem wir jagen gehen müssen, hell, wenn ich – meinen Durst gestillt habe“, erklärte der junge Phynix, wobei er darauf achtete, mich nicht direkt anzusehen. Irgendwoher kannte ich diese Aktion.

„Der Tag, an dem ihr jagen müsst?“, hakte ich skeptisch nach.

„Die Tatsache, dass es Vampire wirklich gibt, bedeutet noch lange nicht, dass sie sich so verhalten, wie in den Büchern und Filmen“, meinte Ayden nur ungnädig. „Wir haben einen bestimmten Tag, an dem wir jagen müssen, dann haben wir bis zum nächsten Mal Ruhe. Das ist sozusagen die äußerste Grenze, diesen Zyklus abzuwarten. Natürlich könnten wir auch außerhalb dieses Kreislaufs Nahrung zu uns nehmen, aber wir wollen das nicht.“

„Welcher Tag ist das bei euch?“, wollte ich vorsichtig wissen und zog einen Kalender vor mein geistiges Auge.

„Vollmond“, kam die knappe Antwort von dem jungen Mann.

„Vollmond?“, wiederholte ich perplex und setzte in Gedanken hinzu: So etwas Banales … Statt sich zum Reden herabzulassen, nickte Ayden nur. „Also müssen alle Vampire zu Vollmond … etwas zu sich nehmen?“, umschrieb ich den Sachverhalt etwas.

„Nein. Nicht alle. Nur jene, die in unmittelbarer Nähe der Zeit zum Vollmond verwandelt wurden“, klärte der Schwarzhaarige auf und sah mich an.

„Also seid ihr alle, deine gesamte Familie, in etwa bei Vollmond verwandelt worden? Ein bisschen viel des Zufalls, findest du nicht?“ Ich konnte meinen Zynismus einfach nicht im Zaum halten, wie ich frustriert feststellen musste.

„Du hast recht, es war auch kein Zufall. Nun gut, bei Sophie und mir war es noch Zufall, aber nachdem Kenneth die Vorteile des gemeinsamen Jagdtages erkannte, verwandelte er nur noch jemanden unter zwei Kriterien. Das Erste war, dass die betroffene Person im Sterben lag, aber noch leben wollte, allerdings musste sie durch Fremdeinwirkung in diesen Zustand gebracht werden. Quasi kein natürlicher Tod, sondern durch Menschenhand hervorgerufen. Und das Zweite war eben der Zeitpunkt.“

„In welcher Reihenfolge wurdet ihr zu dem, was ihr seid?“ Meine Neugier war geweckt, schließlich war die Geschichte des jungen Mannes über die Maßen spannend und interessant.

„Zuerst Kenneth, dann Sophie, daraufhin ich, dann Cináed und zum Schluss Kira. Aber welche Information gibt dir das?“, wollte Ayden verwirrt wissen.

„Keine spezielle, aber es hat mich einfach interessiert“, meinte ich mit zuckenden Schultern.

„Okay … ich bin dran“, sagte der Schwarzhaarige schließlich. Ich starrte ihn perplex an.

„Inwiefern?“

„Mit Fragen stellen.“

„Was …?“

„Hast du dich verletzt?“, unterbrach mich der junge Mann.

„Wie bitte?!“, hakte ich verstört nach.

„Ich kann dein Blut riechen“, klärte Ayden knapp und todernst auf. Ich wurde leichenblass, das konnte ich spüren. „Also?“, drängte er und kam langsam auf mich zu, wobei er mich aufmerksam musterte. Ich wich seinem Blick aus und sah zur Seite.

„Nein, es ist nichts …“, erwiderte ich leise.

„Leyla …“ Es klang schon fast wie eine Drohung. „Jetzt, wo du weißt, dass ich ein Übermensch bin, solltest du damit aufhören, zu versuchen, mir etwas zu verheimlichen.“

„Es ist nichts“, beharrte ich und warf mich der Länge nach auf mein Bett, sodass ich bequem die Zimmerdecke anstarren konnte.

„Mein Gott, bist du stur“, beschwerte sich der junge Mann und anhand der Matratzenbewegung konnte ich spüren, dass er ebenfalls in irgendeiner Art und Weise auf mein Bett gekommen war. Ich schielte kurz zur Seite und sah, wie er auf der Bettkante saß und mich düster musterte. „Leyla … es ist nicht gut, wenn du blutest … erst recht nicht, wenn ich in der Nähe bin“, meinte er dann.

„Du hast recht. Mich würde man bestimmt nicht vermissen“, giftete ich ungewollt hart und drehte mich von ihm weg.

„Ich – was?!?“ Er war vor den Kopf geschlagen.

„Du hast mich schon verstanden“, erwiderte ich nur halb in meine Decke hinein.

„Natürlich würde man dich vermissen! Nimm zum Beispiel deine Freundin Vivian! Und überhaupt würde ich dich vermissen! Ich würde es mir nie verzeihen, sollte ich dir etwas antun.“ Das Bett zitterte leicht, während er das sagte. So bewegt war er?

„Tut mir leid, ich sollte meine scharfe Zunge etwas besser unter Kontrolle bringen“, entschuldigte ich mich dann, da ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Ayden fühlte sich so schon elend und ich machte es durch meine Kommentare und Spitzfindigkeiten nur noch schlimmer. War ich zu einem Sadisten mutiert, der sich daran erfreute, den jungen Mann leiden zu sehen?! „Jetzt sag mir bitte, was passiert ist“, lenkte der junge Phynix das Gespräch wieder an seinen Ursprungspunkt und strich mir dabei sacht über den Rücken. „Dasselbe wie damals beim Sport?“

„Vielleicht …“, erwiderte ich leise. „Ich weiß es nicht, aber zu einem Arzt geh ich bestimmt nicht.“

„Keine Beschreibung?“, versuchte es Ayden erneut.

„Nein“, blieb ich hart und versuchte aus der Reichweite seiner Hand zu kommen, doch er hielt mich einfach mithilfe meines Oberteils an Ort und Stelle.

„Leyla … hast du Angst vor mir?“ Die Frage war nicht mehr als ein Windhauch an meinem Ohr, rief jedoch eine umso heftigere Reaktion hervor. Ich wirbelte auf der Decke herum und sah zu dem tief zu mir herabgebeugten Mann auf, der mich gequält ansah.

„Ich – nein.“ Ich war überrumpelt von der Frage, weshalb meine Antwort wohl nicht so überzeugend ausfiel, wie er sich erhofft hatte. Abrupt stemmte er sich hoch und verzog sich wieder zur Tür. Ich setzte mich verwundert auf, um sein Gesicht betrachten zu können. Hunderte Gefühle huschten darüber hinweg, doch sie alle konnten in die Kategorien Traurigkeit und Zorn verfrachtet werden. „Ich habe vielleicht einen gesunden Respekt dazugewonnen“, gestand ich vorsichtig. „Aber: Du warst schon vorher das, was du bist, und wirst es auch weiterhin bleiben. Der Charakter bleibt derselbe und er ist es, mit dem man andere in den Bann zieht.“ Die hellblauen Augen musterten mich durchdringend, ehe Ayden seufzte und ins Wohnzimmer ging, während er zu mir „Ich mach dir etwas zu essen“ sagte.

„Das ist nicht nötig“, rief ich noch hinterher, doch da war er schon aus meinem Sichtfeld verschwunden. Ich seufzte ergeben. Wenn man mit ihm zu tun hat, braucht man keine Mutter …, dachte ich beinahe schon säuerlich. Ich setzte mich wieder auf, hütete mich jedoch davor aufzustehen und zu ihm zu gehen. Ich musste die ganzen Informationen, die ich bekommen hatte, in Ruhe verarbeiten, was in Anbetracht meiner Situation mit den ganzen Visionen und so weiter nicht so einfach war, wie es eigentlich sein hätte sollen. Außerdem rätselte ich immer noch über diese seltsamen Ornamente, die auf meinem Rücken erschienen sind, und daraufhin blutig wieder verschwunden waren.

Was soll das alles? Alles, was ich will, ist in Frieden mein Leben leben…, dachte ich düster und erhob mich dann doch.

„Leyla, komm ins Wohnzimmer.“

Jetzt befehligt er mich auch noch, kommentierte ich ungnädig in Gedanken.

„Ich habe keinen Hunger“, sagte ich laut, betrat aber trotzdem den Raum, in dem mich der andere haben wollte. „Das sagst du immer“, rollte Ayden nur mit den Augen und stellte einen Teller mit einem Obstbuffet auf den Esstisch. Ich schielte ihn an. „Vitamine“, zuckte er nur unschuldig mit den Schultern und setzte sich auf einen Stuhl, wobei er es nicht versäumte, mich auffordernd anzusehen. Seufzend ließ auch ich mich nieder und griff irgendetwas aus diesem reichlich überfüllten Teller. Es war ein Apfelstück. Er hatte in der kurzen Zeit die Früchte geschält und entkernt.

„Gibt es etwas Bestimmtes, was ich über deine Übermenschlichkeit wissen sollte?“, fragte ich daraufhin und biss ein winziges Stück vom Apfel ab. Ich hatte wirklich überhaupt keinen Hunger.

„Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst“, erwiderte der Schwarzhaarige langsam und offenbar ehrlich.

„Ich meine, jetzt mal abgesehen von deiner Geschwindigkeit“, half ich ihm auf die Sprünge, wobei ich unwillkürlich an diese verschwommene Erinnerung zurückdenken musste, als ich auf der Straße zusammengebrochen war und er mich schneller als ein Blitz gerettet hatte. Er sah mich mit einem Grinsen auf den Lippen an.

„Nun, da wäre auch noch meine Stärke, meine Unsterblichkeit, meine scharfen Sinne … willst du noch mehr?“, neckte er.

„Ja, ja, schon kapiert, du bist perfekt“, rollte ich entnervt mit den Augen und schob mir das Apfelstückchen in den Mund.

„Das habe ich so nicht gesagt, aber danke für das Kompliment.“ Ich verschluckte mich beinahe an dem Apfel und musste ein paar Mal kräftig husten, damit ich überhaupt wieder Luft bekam. Der andere kicherte nur leise vor sich hin und ließ sich darin noch nicht einmal durch meinen wütenden Blick unterbrechen.

„Du elender …“, brodelte ich vor mich hin und sah aus den Fenstern.

„Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen“, beschwichtigte Ayden mich tölpelhaft.

„Darauf wäre ich nie gekommen“, erwiderte ich zynisch und beachtete ihn nicht weiter.

„Ach, Leyla, sei nicht sauer. Es hat sich nur so … so unglaublich aus deinem Mund angehört.“ Jetzt schmeichelte er. Ich kam mal wieder bei seinen Stimmungsschwankungen nicht mit. Aber daran hatte ich mich ja unfreiwilligerweise gewöhnt. „Also, was wollen wir heute machen?“

„Ich setzte bestimmt keinen Fuß mehr vor die Haustür“, grummelte ich und nahm mir ein Stück Birne.

„Hm … also eine Beschäftigung für das Haus.“

Da ich Böses ahnte, wehrte ich sofort ab: „Meine Hausaufgaben“, erhob ich mich und lief zu meinem Rucksack.

„Ich hatte an etwas anderes gedacht“, wisperte Ayden dicht hinter mir. Diese Geschwindigkeit wollte ich auch, allerdings nur, um effektiver vor ihm davonlaufen zu können.

„Ich will es nicht wissen“, murrte ich und setzte mich an den Esstisch, wo ich meine Aufgaben ausbreitete. Eigentlich hatte ich so gut wie alles gemacht, aber eine Kleinigkeit hatte ich vergessen, und die gab mir das perfekte Alibi. Ayden ließ sich mir gegenüber nieder, stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte darauf seinen Kopf ab, den der schief abstützte. „Hast du nicht auch etwas zu tun?“, wollte ich unbehaglich von ihm wissen.

„Nein. Ich habe alles schon am Freitag fertig bekommen“, antwortete er lässig. „Und dich zu betrachten ist doch auch eine Beschäftigung.“ Ich sah zu ihm auf, seine hellblauen Augen bohrten sich verführerisch in meine, aber ich zwang meine Aufmerksamkeit zurück auf die Blätter. „Deine Selbstbeherrschung ist wirklich beeindruckend.“ Ich zuckte kaum merklich zusammen. Schlimmer, als ein Mann mit unglaublich hoher Anziehungskraft ist einer, der sich dieses Umstands vollkommen bewusst ist und ihn sogar noch als Trumpf ganz offen ausspielt. „Was lässt dich zögern?“

„Mal abgesehen davon, dass du untot bist?“, giftete ich, ohne aufzusehen. Am leichten Ruckeln der Tischplatte merkte ich, dass ich vielleicht zu dick aufgetragen hatte.

„Abgesehen davon“, meinte der junge Phynix dann, als er sich wieder gefangen hatte. Ich suchte in meinen Gedanken nach einer plausiblen Antwort, nur … es gab keine. Ayden wartete geduldig, doch als ich weiterhin schwieg, begann er selbstgefällig zu lächeln. Er stand auf, lief zu mir, stützte sich mit einer Hand auf meinen Unterlagen ab und beugte sich zu mir hinunter. „Wo ist dann das Problem?“ Ich schluckte und suchte fieberhaft nach einer Antwort. Da ich mir nicht mehr zu helfen wusste, sagte ich einfach: „… bin noch nicht soweit.“

„Das sehe ich anders“, meinte Ayden nur, packte sanft mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Mein Herz hüpfte geradezu in meinen Hals, als er mich lange und geheimnisvoll musterte, ehe er sich noch weiter zu mir herabbeugte. Ich lehnte mich ein wenig zurück, um wieder Distanz zu schaffen, aber ich hätte mich schmerzhaft verbiegen müssen, um ihm so weit auszuweichen. Letzten Endes gewann er doch und senkte seine Lippen sanft auf meine, wobei er mich liebevoll ansah. Ich ergab mich, vorerst, und floh vor seinem Anblick, indem ich einfach meine Augen schloss.

Nach einer Weile ließ er von mir ab, sah kurz auf meine Unterlagen und sagte: „Das ist falsch.“ Dann nahm er mir meinen Stift aus meiner losen Hand, berichtigte den Fehler und verschwand daraufhin im Bad. Ich holte mehrere Male tief Luft und rang fieberhaft mit meinem Herzen, damit sich dessen Puls wieder beruhigte.

Auch wenn es meinen Fluchtinstinkten zuvorkommt, so hinterlässt es doch einen merkwürdigen Eindruck, wenn er irgendwohin verschwindet, nachdem er mich geküsst hat, dachte ich auf einmal säuerlich und packte meine Sachen zusammen. Auch wenn mein Leben davon abhinge, so würde ich jetzt nicht mehr die Hausaufgaben machen können, dafür war ich viel zu aufgewühlt. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte ich wieder das Gefühl, als wenn ich – mein Geist – abdriften würde. In die Sphäre der seltsamen Visionen … Ich schüttelte vehement und stark den Kopf und konzentrierte mich mit aller Macht darauf, im Diesseits zu bleiben. Ich brauchte nicht noch eine kryptische, verwirrende und vor allem schmerzende Enthüllung meiner Vergangenheit, davon hatte ich weiß Gott genug in letzter Zeit gehabt. Aber wenn man sich den Trend ansieht, dann wird auf meine Gefühle eher wenig Rücksicht genommen und ich sehe letzten Endes immer das, was ich lieber nicht sehen will, dachte ich niederschlagen und ließ meine Stirn auf den Tisch sinken. Ob es wohl übertrieben wäre, zu sagen ‚Es ist hoffnungslos’? Wie gerufen, um meine Gedanken zu zerstreuen, kam Ayden wieder, der natürlich, obwohl ich meinen Kopf blitzschnell gehoben hatte, bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. „Alles …“

„Spar’s dir, es ist alles in Ordnung“, unterbrach ich die heraufziehende Frage und erstickte seine Hilfsbereitschaft so ebenfalls im Keim. Er grinste und hob abwehrend die Hände. „Okay, ich habe verstanden. Schon fertig mit den Aufgaben?“, meinte er unschuldig. Ich brummte nur unwillig, stützte mich mit dem Ellenbogen auf dem Tisch ab, legte mein Kinn auf die dazugehörige Hand und sah auf die Terrasse hinaus. Ich hörte ein leises Lachen und legte meine Stirn missbilligend in Falten. Ehe ich mich versah, stand der junge Mann knapp hinter mir und umschloss mich mit seinen starken Armen. „Was soll das?“, wollte ich leicht gereizt wissen.

„Ich hatte eigentlich die Hoffnung, dass du dich ein wenig entspannst“, antwortete Ayden freundlich. Ich seufzte nur schwer, ehe ich seine Handgelenke packte und mich aus seiner Umarmung befreite. Na ja, ich versuchte es, aber gegen seine Kraft kam ich dummerweise nicht an. „Ich finde es faszinierend, dass du es immer wieder versuchst, obwohl du weißt, dass es keinen Zweck hat“, kicherte mir der junge Phynix ins Ohr.

„Bei dir kann man nie wissen …“, grummelte ich.

„Warum willst du denn so dringend allein sein?“, wollte der Schwarzhaarige dann wissen. „Du hast doch Angst vor mir, nicht wahr?“

„Nicht mehr als vorher auch“, murmelte ich.

„Wie soll ich das jetzt verstehen?“, fragte er und beugte sich von hinten über meine Schulter, damit er mich direkt ansehen konnte.

„Für meine Verhältnisse warst du immer etwas unheimlich. Aus dem einfach Grund, weil du so verbissen mit mir zu tun haben willst“, giftete ich. Anstatt ihn, wie von mir erhofft, dazu zu bringen, mich loszulassen, ließ er einfach nur den Kopf hängen.

„Oh Gott, Leyla!“, beschwerte er sich heftigst. „Du merkst es einfach nicht, oder?“

„Was denn?“, gab ich verwirrt zurück. Jetzt ließ er mich los.

„Nichts …“, murmelte er. „Was willst du machen?“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich nur.

„Lust auf einen Film?“ Ich hob nur fragend eine Augenbraue und setzte mich so hin, dass ich ihn kritisch ansehen konnte.

„Was? Das ist doch ungefährlich“, zuckte er mit den Schultern.

„Welchen Film?“, wollte ich mich geschlagen gebend wissen.

„Entscheide du. Was hast du denn überhaupt da?“

„Wenn ich entscheiden soll, würde dir die Information, was ich habe, überhaupt nichts bringen“, erwiderte ich zynisch.

„Ja, aber dann weiß ich, was ich in Zukunft mitbringen könnte“, meinte Ayden engelsgleich. Ich seufzte und wies nur auf ein kleines Sideboard in der Nähe des Schreibtisches. Sofort war Ayden dort und inspizierte den Inhalt. „Du stehst auf Fantasy-Filme, oder?“, kam es nach einer Weile, in der ich mich in der Küche daran gemacht hatte, eine Inventur durchzuführen. Ein Nerv über meinem Auge zuckte bedrohlich.

„Ja, und weiter?“, rief ich ins Wohnzimmer.

„Nichts, ich wollte es nur fürs Protokoll haben“, kam es von dort.

Für das Protokoll???, dachte ich verwirrt, widerstand aber dem Drang, noch weiter darauf einzugehen. Ich vertröstete mich damit, dass ich es nicht wissen wollte, und das ging ziemlich gut.

„Also: Welchen Film willst du heute gucken?“, kam es wieder vom Wohnzimmer. Ich überlegte kurz. Etwas, um ihn zu verschrecken, dachte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Das Labyrinth von David Bowie!“, rief ich und musste mich sehr zusammenreißen, um nicht gleich zu lachen. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck nur zu gut vorstellen, und tatsächlich kam erst nach einer etwas längeren Pause ‚Okay …’ aus dem Wohnzimmer. Ich packte die Sachen wieder in die Schränke, die ganze Aktion von mir war komplett sinnlos gewesen, weil ich hinterher genauso schlau wie vorher war, ehe ich zu meinem Sofa schlenderte. Der Schwarzhaarige hatte die DVD bereits eingelegt und schaltete beim Fernseher gerade auf ‚AV’. „Ich hätte nicht gedacht, dass du auch so alte Filme guckst … ich habe mich gewundert, den zwischen ‚Der Herr der Ringe’ und ‚Harry Potter’ herumstehen gesehen zu haben“, meinte Ayden, als er sich neben mich auf die Couch setzte.

„Mag zwar sein, dass die Technik damals nicht so ausgefeilt war, aber deswegen leidet die Idee und die Story nicht darunter“, erwiderte ich.

„Stimmt … wie gesagt, hätte ich es bei dir einfach nicht erwartet“, fuhr der junge Phynix fort. Ich zuckte nur mit den Schultern. Der Film begann und ich kuschelte mich einigermaßen mit der Welt zufrieden in mein Sofa. Ich bemerkte den durchdringenden Blick, den Ayden mir zuwarf, aber da es mir gut ging, beachtete ich ihn nicht sonderlich. Er machte sich zu viele Sorgen und damit konnte ich nicht umgehen. Ich hatte nicht viele Erfahrungen mit Menschen um mich herum gemacht, die sich um mich sorgten. Konstanze und Rupert fielen von vorneherein weg, die Schulkameraden, die ich vor meiner Zeit in Neuseeland hatte, auch, da sie um meine ‚Eltern’ wussten und davon ausgingen, dass ich ohnehin den Himmel auf Erden hatte. Wenn überhaupt, dann hatten sich meine leiblichen Eltern um mich gesorgt, aber daran konnte ich mich schließlich nicht oder kaum erinnern. Dementsprechend gruselig war es für mich, ständig von dem jungen Mann obendrein versorgt zu werden.

Ich hatte zwar irgendwo tief in meinem Unterbewusstsein damit gerechnet, dennoch überraschte es mich, als sich ein Arm in meinen Nacken schob und die dazugehörige Hand mich an die Seite des Schwarzhaarigen zog. Ich seufzte resigniert, ließ ihm aber seinen ‚Spaß’. Ich wollte einfach nur in Ruhe und Frieden den Film sehen und die Informationen, die ich heute erhalten hatte, verarbeiten. Nicht vergessen, aber so verarbeiten, dass ich ihm und seiner Familie so wie bisher gegenübertreten konnte. Schließlich hatten sich ihre Charakterzüge nicht plötzlich verändert, jetzt, nachdem ich wusste, was sie waren … Oder?