Geburtstag einmal ganz anders
Die Woche verging wie im Flug. Ich fragte mich langsam, ob im Unterricht überhaupt noch etwas drankommen würde, was mir nicht bekannt vorkam. Nun, die Langeweile in den geistigen Fächern machte der Überraschungsunterricht von Mr. Warner wieder wett. Da fragte ich mich, wie es möglich war, so viele verschiedene Sportarten in so einer geringen Zeit durchzunehmen und die einzelnen Schüler zu benoten. Hinzu kam, dass wir nicht seine einzige Klasse waren. Ich begann mich zu fragen, wie dieser Lehrer das auf die Reihe bekam. Ayden war inzwischen zu einer Art Mitbewohner in meinem Haus geworden, weil er einfach genauso oft in ihm anzutreffen war, wie ich selbst. Ich wusste allerdings nicht genau, womit das zusammenhing, da er meine Fragen auch nicht beantwortete. Ich legte mir zwei Möglichkeiten zurecht: Entweder, er wollte sicherheitshalber immer in der Nähe sein, falls ich wieder eine Vision bekommen sollte, oder – und das hielt ich für wahrscheinlicher – er wollte mich auf die Art besser im Auge behalten und sehen, weshalb ich geblutet hatte.
Der Kerl ist die Höhe, er lässt einfach nicht locker, dachte ich am Freitag resigniert, als er mit bester Laune neben mir die Rototai Road hinablief. Als wir im Wohnzimmer waren, warf ich meinen Rucksack in die Ecke und huschte gleich in die Küche, um etwas zu trinken zu holen. Da merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Der junge Phynix war mir nicht, wie sonst, hinterhergelaufen, um zu fragen, ob er helfen könnte. Hatte er dazugelernt oder was sollte das bedeuten? Ich wollte der Sache auf den Grund gehen, da war er auch schon im Torbogen, an den er sich lässig und cool lehnte. „Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst“, knurrte ich, weil ich mich ertappt fühlte, ehe ich wieder zum Kühlschrank ging.
„Ich will doch deine Erwartungen nicht unerfüllt lassen“, grinste Ayden, wurde dann jedoch ernst. „Leyla?“ Ich hielt kurz inne. Soweit ich wusste, hatte er mich noch nie so angesprochen, außer, mir ging es nicht gut.
„Ja?“, antwortete ich und holte Nudeln aus einer Schublade. Ich hatte Lust auf Spaghetti Bolognese.
„Wie würdest du es finden, wenn du Sonntag zu mir nach Hause kommen würdest?“ Die Packung Spaghetti fiel ein Stück, ehe ich sie wieder auffing. WAS?!?, rief ich entgeistert in Gedanken, bemühte mich aber darum, mir nichts anmerken zu lassen. „Keine Ahnung … Gibt es einen besonderen Grund?“, wollte ich möglichst ungeniert wissen.
„Du würdest mir eine große Freude machen … Ich habe am Sonntag Geburtstag“, erwiderte Ayden ruhig und dieses Mal wäre die Sauce runtergefallen, wenn der Schwarzhaarige nicht blitzschnell reagiert hätte. Ich starrte ihn an. „Bloß, weil wir körperlich nicht altern, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht Geburtstag feiern“, meinte der junge Phynix leicht gekränkt.
„Was feiert ihr dann überhaupt? Den richtigen Geburtstag oder den Tag, an dem ihr zu Vampiren geworden seid?“, rutschte es aus mir heraus, bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte.
„Der Tag, an dem wir zu Vampiren wurden, ist eine andere Geschichte und wird auch an einem anderen Tag gefeiert“, winkte der Schwarzhaarige locker ab. „Zumal sich da die Geister scheiden, ob man das feiern sollte oder nicht“, fuhr er eher zu sich selbst gewandt fort. „Wie dem auch sei: Kommst du?“
Er sieht mich an, wie ein ausgesetzter Hund, dachte ich unweigerlich bei den großen, fast schon wässrigen Augen. Dass jemand, der so auf sein cooles Image Wert zu legen scheint, so gucken kann, ist erschreckend …
„Ich – sicherlich. Ich freue mich, dass du mich eingeladen hast. Rein aus Interesse: Wie alt werden wir denn?“, wollte ich mit einem Grinsen wissen, welches der Mann mir gegenüber schelmisch erwiderte. „Tja, das ist hier die Frage … Ich habe viele Möglichkeiten, die mir mein Aussehen bereiten“, zwinkerte er dann. Ich verdrehte nur lachend die Augen und machte mich wieder ans Zubereiten, da kam der junge Mann auch schon und ging mir mal wieder zur Hand. Daran könnte man sich gewöhnen, dachte ich, schüttelte den Gedanken jedoch schnell wieder ab. Etwas viel Wichtigeres rang mit aller Macht um meine Aufmerksamkeit: Was sollte ich Ayden schenken?!?
Spät abends verschwand er wie gewohnt nach Hause. Nach seinen Worten war es gut, dass ich um seine Andersartigkeit wusste, weil er jetzt nicht mehr Benzin verschwenden musste, sondern einfach nach Hause rennen konnte. Er war zuvor immer mit dem Auto gekommen, nur, damit er normal auf mich wirkte, und da das nun wegfiel, kam er vor allem auch viel schneller nach Hause. Ich warf mich auf mein Bett und starrte zur Decke. Was konnte man jemandem schenken, der bereits alles zu haben schien und obendrein die Mittel hatte, sich alles Weitere zu kaufen, was er wollte? Vor dem Problem stand ich vorher eigentlich nie, weil ich Konstanze und Rupert nie etwas geschenkt hatte. Sie hatten immer jemanden geschickt, der etwas gekauft hatte und wo ich nur noch an das Kärtchen schreiben musste ‚Von Leyla’. Fertig. Unkompliziert und unpersönlich. Aber hier? „Am besten ich werde morgen in aller Frühe nach Nelson fahren … zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, das sind schon mal vier Stunden Fahrt. Dann werde ich mit Sicherheit erst einmal ziellos umherirren, bevor mir irgendetwas ins Auge springt. Und vor allem darf Ayden nicht mitkommen, das wäre ja sonst bescheuert“, murmelte ich. „Hm …“ Ich setzte mich auf und griff nach meinem Wecker, dann stellte ich die Weckzeit auf 6:30 Uhr, wobei ich nicht umhin kam, theatralisch zu seufzen.
Am nächsten Tag musste ich mich sehr zusammennehmen, damit mein Wecker nicht als Schrotthaufen endete. Es war immerhin Samstag und dann so früh aufstehen? Ich schlurfte ins Bad und wusch mir mit eiskaltem Wasser das Gesicht. Schon war ich wach. Ich wusch mich vollends, zog mich an und aß in der Küche eine Kleinigkeit. Mit meiner Jeans und dem Sweatshirt würde mir bei den immer weiter fallenden Temperaturen hoffentlich nicht allzu kalt werden, nichtsdestotrotz krallte ich mir beim Hinausgehen nicht nur meine Umhängetasche mit meinem Portemonnaie, den Schlüsseln und einen Regenschirm, sondern auch eine Jacke. Ich schloss ab, setzte mich in meinen Mercedes und schon begann die muntere zweistündige Fahrt. Solange ich zurückdenken konnte, musste ich bis jetzt noch nie eine so lange Strecke allein fahren. Damals bei Konstanze und Rupert wurden wir immer von einem Chauffeur herumkutschiert. Als ich in Neuseeland am Nelson Flughafen angekommen war, hatte Kenneth Phynix mich abgeholt. Und als ich mit Ayden nach Nelson zum Flughafen fuhr, weil wir nach Wellington wollten, war er gefahren. Ich fühlte mich frisch, endlich wieder eine Art Herausforderung und vor allem: meine Ruhe. Es war zwar nicht so, dass ich Ayden nicht mochte, ganz im Gegenteil, wie ich mir murrend eingestehen musste, aber seine ständige ‚Sorge’ und Anwesenheit waren manches Mal doch etwas erdrückend, aber auch beruhigend …
Ich konzentrierte mich fieberhaft auf die Straße, während ich nicht anders konnte, als zu dem Schluss zu kommen, dass genauso verwirrend und undurchschaubar wie Ayden war, auch die Gefühle in mir waren, die er hervorrief. Da brauchte er sich nicht zu wundern, dass ich mich nicht immer so verhielt, wie er es gerne hätte. Ich sollte mir darüber nicht so viele Gedanken machen, rief ich mich zur Raison. Doch als ich das tat, war ich bereits in Nelson angekommen. Mit einem Gesicht, als ob es seit sieben Tagen regnen würde, parkte ich meinen Wagen in der Nähe der Innenstadt und stapfte los.
Letzten Endes habe ich mir die fast zwei Stunden darüber Gedanken gemacht, dachte ich säuerlich und bemerkte nur am Rande die Passanten, die mich fragend ansahen. Ich musste nach außen hin wirklich mürrisch aussehen, daher raffte ich mich auf und verbesserte mich zu einem indifferenten Gesichtsausdruck. Ich bog um eine Ecke und blieb wie angewurzelt stehen, als ich meinen Blick hob. Ich wusste zwar, dass Nelson ein schönes Stadtzentrum haben sollte, aber das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Vor mir erstreckte sich eine wunderbare Fußgängerzone von der Breite einer normalen Straße, mit roten oder weißen Steinen bepflastert. Am Rand reihten sich schöne, prachtvolle aber nicht zu hohe Bäume, deren Blätter sich aufgrund der Jahreszeit verfärbt hatten und teilweise schon hinabfielen. Diese Allee wurde zudem von rustikalen Straßenlaternen gesäumt, die mit kleinen Blumensträußen dicht unter der Lichtquelle verziert waren. Den äußersten Rand bildeten die kleinen, aber schönen zwei- bis dreistöckigen Häuser, in denen die Läden zu finden waren. Wenn ich nach links sah, wurden die Häuser noch ein klein wenig farbenfroher und unter den Schatten spendenden Bäumen fanden sich Sonnenschirme von Cafés und Restaurants. Wenn ich dagegen nach rechts sah, wurden die Gebäude zusehends höher und ihre Fassaden moderner. Einer inneren Eingebung folgend, ging ich nach rechts.
Und tatsächlich reihte sich Laden an Laden, ob Apotheke, Kleidungs-, Schuh- oder Schmuckgeschäft. Geradezu in etwas weiterer Entfernung konnte man einen Turm – wohl ein Glockenturm – sehen, wie er exakt in der Mitte der Allee alles überragte. Mehrere Stufen führten auf die etwas erhöhte Ebene, auf der die Kirche stand. Alles in allem lud dieses Zentrum zum Wohlfühlen und Shoppen ein. Ich holte tief Luft und schlenderte mit einem Lächeln auf den Lippen los. In so einer Atmosphäre kaufte man gerne ein – ich zumindest. Das einzige Problem, welches mir nach wie vor blieb, war die Frage, was ich Ayden schenken sollte.
Mal sehen … es sollte nicht zu unpersönlich sein, das könnte ihn kränken … aber auch nicht zu persönlich, damit er nicht auf komische Gedanken kommt, sinnierte ich. Ich lief an einem Bücherladen vorbei. Hm … nein. Ich habe schließlich keine Ahnung, welches Genre er bevorzugt … und was er überhaupt schon gelesen hat … Auf der anderen Seite, auf gleicher Höhe mit dem Buchladen war ein Laden mit Männerkleidung. Wäre zwar eine Option, da ich mir aus dem, was er sonst immer so trägt, seinen Geschmack erahnen könnte, aber so richtig toll ist das auch nicht … es könnte ihm schlimmstenfalls nicht gefallen … Ich schlenderte weiter und die nächsten Geschäfte waren ein Eiscafé und ein Schmuckladen. Trägt er überhaupt Schmuck?, fragte ich mich und blieb nachdenklich stehen. Nun, er trägt eine Uhr … glaube ich zumindest … hm … da ist wieder das Problem mit dem Geschmack … vielleicht eine coole Kette? Ein Ring? Ich ging sicherheitshalber weiter. Da ich nachher sowieso denselben Weg wieder zurückgehen musste, um zum Auto zu kommen, würde ich wieder an dem Laden vorbeikommen. Es folgten einige Restaurants und Cafés, andere Kleidungshändler mit verschiedenen Spezialisierungen wie Punk und Gothic.
Kichernd blieb ich an dem Gothic-Laden hängen. Das wäre zu viel des Guten …, lachte ich in mich hinein, ehe ich weiterging. Aber schöne Kleider haben sie, das muss man ihnen lassen, gestand ich mir ein. Ich war der Kirche sehr nahe gekommen und dementsprechend wuchs mein Wunsch, sie mir von innen anzusehen. Es war eine Kathedrale von unbeschreibbarer Schönheit. Sie war im christlichen Stil erbaut und dementsprechend fanden sich wunderschöne Deckenbemalungen, ein weiträumiger Altar, Hunderte Bankreihen für die Gläubigen und wunderbare Mosaikfenster mit farbenfrohen Bemalungen, die die verschiedensten Bibelszenen zeigten. Es muss herrlich sein, in so einer Kathedrale zu heiraten, dachte ich träumerisch und konnte die Braut in ihrem weiten, weißen Kleid förmlich sehen, wie sie den breiten Gang zwischen den Bankreihen entlang schritt, den Blumenstrauß in der Hand, eine lange Schleppe hinter sich. Plötzlich schüttelte ich heftig den Kopf. Wie komme ich auf heiraten?!? Ich hab einfach zu wenig geschlafen, dachte ich seufzend und verließ das wundersame Gemäuer wieder, allerdings nicht ohne eine kleine Spende da zu lassen. So wurde das Geld von den Lügnern, die sich meine Eltern nannten, zumindest für die Instandhaltung und Restauration eines Gotteshauses benutzt und tat so etwas Gutes. Während ich die hellen Steinstufen zurück zur Hauptstraße der Fußgängerzone hinabstieg, kehrten meine Gedanken unweigerlich auf mein Problem zurück. Mittlerweile waren wesentlich mehr Menschen unterwegs. Ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass es jetzt 11 Uhr war. Und es zeigte mir … „Fünf entgangene Anrufe?!?“, murmelte ich ungläubig und ging der Sache auf den Grund. Sie waren alle zehn Minuten eingegangen und der Anrufer hatte immer seine Nummer unterdrückt. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Ayden mich angerufen haben musste, aber seine Nummer hatte ich mittlerweile eingespeichert. Andererseits, wenn er bewusst die Nummer unterdrücken lässt, würde es mir nicht einmal helfen, seine Nummer eingespeichert zu haben … er würde trotzdem als ‚Unbekannt’ erscheinen. Da ich die Erfahrung gemacht hatte, dass auf mein Bauchgefühl Verlass war, saß ich nun in einer Zwickmühle. Entweder ich beließ es dabei – schließlich hatte er mich während der Fahrt angerufen und nach dem fünften Mal aufgegeben – und er konnte sich seine Vorstellungen machen, was passiert sein konnte, oder ich rief ihn an und erklärte, dass ich in Nelson bin und er mich angerufen hatte, als ich gerade Auto gefahren war. Mir gefiel keine der beiden Optionen. Beließ ich es dabei, würde er wahrscheinlich austicken und Takaka auf den Kopf stellen, um mich zu finden. Rief ich ihn an … „Bleib, wo du bist, ich komme auch nach Nelson, und keine Widerrede!“ Ich machte ein entnervtes Gesicht. Ja, das würde er sagen. Ich kann ihn mittlerweile gut imitieren … Ein wenig berechenbar ist er wohl doch.
Ich seufzte schwer. Die Entscheidung war nicht leicht, sie wurde mir jedoch abgenommen. Ich hatte mich während meiner Gedanken in Bewegung gesetzt und befand mich nun vor einem riesigen Parfümgeschäft, ähnlich ‚Douglas’. Ich legte den Kopf schief und betrachtete mir das Schaufenster. Hm …, dachte ich. Warum eigentlich nicht? Ein Aftershave ist doch eine gute Idee. Da ist natürlich dann auch wieder das Problem, wenn er den Geruch nicht mag, aber das kann ich dann auch nicht ändern. Und dazu eine coole Kette oder so … Gedankenversunken betrat ich den Laden und wurde sogleich von einer eifrigen Angestellten bequatscht, die mir die neuesten Düfte der berühmtesten Marken vorstellte. „Vielen Dank, aber ich suche ein Geschenk für einen Freund“, wehrte ich sie nach ihrer Redesalve mit erhobenen Händen ab. Sie sah mich kurz an, dann lächelte sie. „Was darf es denn sein? Herb oder verführerisch? Oder verspielt?“, wollte sie offen von mir wissen. Ich musste mit mir kämpfen, damit ich mir nichts anmerken ließ. Sie benutzt meiner Meinung nach die falschen Adjektive, dachte ich nervös. „Ich würde mir, wenn es geht, erst einmal selbst ein Bild machen“, wehrte ich dann laut ab.
„Dann sind Sie unentschlossen“, befand die junge Angestellte und führte mich zielstrebig an eine Wand, die von einem gigantischen Regal dominiert wurde, auf dem sich die verschiedensten Aftershaves, Parfüms und andere duftende Dinge befanden. Die einzelnen Fläschchen buhlten mit aufregenden bis hin zu klassischen Formen und Farben um die Aufmerksamkeit der Käufer. Ich ließ meinen Blick über die Auslage schweifen und griff mir das erstbeste Aftershave, das mir ins Auge fiel. Sofort begann die Angestellte nahezu alles Wissenswerte zu diesem Produkt aufzusagen, als wenn sie nichts Besseres zu tun hätte, als alles, was es hier zu kaufen gab, von A bis Z zu kennen. Ich musste mir unweigerlich vorstellen, wie sie abends Zuhause auf dem Bett saß und alles auswendig lernte. Ich nahm die Kuppe ab und roch daran, dann stellte ich es zurück. Der Duft war viel zu aufdringlich. Auch beim nächsten Fläschchen wusste meine Beraterin alles Wissenswerte und bei den darauf folgenden. Je mehr ich roch, umso klarer wurde meine Vorstellung. „Ich suche etwas Leichtes und doch Angenehmes. Aber nicht zu aufdringlich, eher …“, sagte ich nach der fünften Flasche, ging jedoch nicht weiter ins Detail. Meine Metapher für das, was ich suchte, war eine Raubkatze. Elegant und majestätisch, aber auch in der Lage, sich zu verstecken, wenn sie jagte. Allein die Vorstellung ließ mir einen Schauer den Rücken hinabjagen. Meine kryptische Umschreibung hatte bei der Angestellten jedoch zur Folge, dass sie sich zielstrebig nach einer Flasche ausstreckte und sie mir reichte. Die Flasche an sich war rechteckig und das Glas war zwar noch durchsichtig, aber schwarz. Vorne pirschte sich ein weißer Puma an, der sich perfekt von der dunklen Flasche abhob. Ich roch Probe und tatsächlich: Der Geruch schien genau das zu sein, was ich suchte. Das riecht wirklich sehr gut … und es passt außerdem zu ihm … allein schon das Äußere, dachte ich.
„In Ordnung, das nehme ich“, sagte ich zu der strahlenden Verkäuferin, die mich nur noch nach der Größe fragte. Ich deutete nur auf eine Verpackung und schon befand die sich in den Händen der Frau, die gleichzeitig die Probeflasche zurückgestellt hatte und nun mit mir zur Kasse ging. Ich reichte ihr einfach meine Karte, als sie nach der Bezahlungsart fragte. „Soll ich es Ihnen auch noch einpacken?“, wollte sie dann zuvorkommend wissen.
„Ja, aber wenn es geht, so, dass ich ohne die Verpackung zu beschädigen noch an das Innere rankommen kann. Ich möchte noch etwas dazutun“, antwortete ich.
„Kein Problem“, erwiderte die andere und lief sofort zum Verpackungstisch. Als sie fertig war, gab sie mir ein optisch ansprechendes und nicht zu kitschiges Geschenk. „Das ist perfekt, vielen Dank“, sagte ich lächelnd.
„Beehren Sie uns bald wieder“, meinte die Verkäuferin nur, weil ich schon auf dem Weg nach draußen war. Ich nickte nur über die Schulter hinweg, dann stand ich wieder in der Fußgängerzone mit einer Tüte in der Hand, in der der erste und wichtigste Teil von Aydens Geschenk war. Ich sah die Kathedrale und machte mich in die von ihr entgegengesetzte Richtung auf. Nach ein paar Schritten fand ich den Schmuckladen wieder und tauchte in die glitzernde Welt ein, die sich der Inhaber dort aufgebaut hatte. Es war ein großer, weitläufiger Laden mit Schmuck von der Preisklasse ‚Normalverdiener’ bis hin zu ‚Millionär’ mit den zugehörigen Karaten. Auch hier wurde ich sofort angesprochen, allerdings von einem Mann, der sein Handwerk und vor allem die Schmuckstücke ebenso gut zu kennen schien, wie die Frau von der Parfümerie ihre Düfte. Ich erklärte ihm, dass ich eine silberne Kette oder ein silbernes Armband suchte, das sich gut einem Mann anpasste, der Wert auf sein Äußeres legte und der obendrein ohnehin sehr gut aussah. Ayden darf niemals erfahren, dass ich so über ihn gesprochen habe, dachte ich innerlich seufzend, während der Mann mich nach meiner Beschreibung zu der ersten Auslage führte. Der würde das wahrscheinlich als Einladung verstehen … Der Mann hielt mir mehrere Teile entgegen, manche sogar zusammenhängend aus Kette und Armband. Zunächst begann er mit den ganz schlichten Exemplaren, die gefielen mir jedoch nicht sonderlich. Dank meiner ausgeprägten Fantasie konnte ich mir sehr gut vorstellen, wie der Schwarzhaarige aussehen würde, wenn er die Dinge tragen würde. Und dann hielt der Verkäufer ein silbernes Armband hoch, in das ein meerblauer, schlichter, kleiner Stein eingearbeitet war. „Das nehme ich. Gibt es dazu eine Kette?“, wollte ich wissen. Der Mann nickte grinsend und hielt sie hoch. Sie wirkte vollendet cool. „Perfekt, die zwei Sachen kaufe ich“, schloss ich die quälende Suche ab. Kurz darauf stand ich wieder in der Fußgängerzone. Ich lenkte ungeniert und zufrieden meine Schritte Richtung Auto, als mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief, als wenn mich jemand mit mörderischer Wut ansehen würde. Ich sah mich um, bemerkte jedoch nichts. Nun, abgesehen von dem Kerl, in den ich fast hineinlief und der mich grob auffing, bevor ich stolpern konnte. „Entschuldigung und vielen Dank“, sagte ich mechanisch und sah zu dem Mann auf, ehe mein Blut in meinen Adern zu gefrieren schien. Ayden sah hochgradig erregt auf mich herab. „Hi“, meinte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Die blauen Augen des Mannes wurden schmal.
„Würdest du mir bitte sagen, was das alles zu bedeuten hat?“, knurrte er nur für mich hörbar. „Ich rufe dich fünf Mal an, nachdem ich feststellen musste, dass dein Haus komplett verwaist ist. Keinerlei Nachricht war irgendwo zu finden, dein Auto weg und du gehst nicht an dein Handy!“ Er redete sich regelrecht in Rage. „Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht habe?!“
„Du hast mich beim Fahren angerufen, da konnte ich ja wohl schlecht …“
„Und was ist mit zurückrufen?!“, unterbrach mich der Schwarzhaarige ungnädig. Jetzt war ich wütend.
„Sag mal, geht’s noch?!? Du tust ja gerade so, als wäre ich ein Invalide, den man rund um die Uhr beobachten muss, weil er sonst von dieser Erde scheidet! Ich habe das Recht, dort hinzufahren, wohin ich möchte! Du bist nicht mein Babysitter, der immer erfahren muss, wo ich gerade bin. Herrgott!“, schrie ich ihn an, sodass die Passanten verwundert stehen blieben und uns ansahen. „Reiß dich zusammen“, murrte ich dann nur und marschierte weiter Richtung Auto.
„Du hast dich noch nie um jemanden gesorgt, oder?“, kam der erwartete Seitenhieb von dem jungen Phynix, der ohne Probleme mit mir Schritt hielt.
„Nicht wirklich“, antwortete ich vage.
„Dann verstehst du es auch nicht“, seufzte Ayden. „Es tut mir leid, dass ich mit dieser Szene angefangen habe – die du übrigens zu einer öffentlichen Attraktion vollendet hast – aber ich habe mir nun mal Sorgen gemacht. So weit ich weiß, brichst du zuweilen zusammen, wenn dich deine Erinnerungen heimsuchen und du blutest auch aus unerfindlichen Gründen. Oder bin ich nicht mehr auf dem Laufenden?“
Ach darum geht es, dachte ich und konnte nicht verhindern, dass ich Gewissensbisse bekam. Er hatte sich wirklich nur Sorgen um mich gemacht … „Du bist schon noch auf dem Stand der Dinge“, gestand ich dann. „Auch wenn mein letzter Anfall eine Weile her ist.“
„Na also. Warum war es dann so schwer, mich anzurufen?“, wollte der Schwarzhaarige wissen.
„Weil du sofort gesagt hättest, dass du auch kommen würdest“, erwiderte ich säuerlich.
„Ich doch nicht …“, gab er nicht gerade überzeugend zurück.
„Auch wenn ich mir nicht so recht sicher bin, ob ich es wissen möchte: Wie bist du hergekommen?“, wechselte ich dann das Thema.
„Was meinst du?“, kam die verwirrte Frage.
„Auto?“, präzisierte ich.
„Ähm …“, machte der andere und das war mein Stichwort in schallendes Gelächter auszubrechen. „Was ist so witzig?“, wollte Ayden ein klein wenig gekränkt und mit einem Hauch Rot auf seinen Wangen wissen. „Weißt du, irgendwie hatte ich mir so etwas vorgestellt. Dass du einfach drauflosstürmst“, kicherte ich. Ayden äußerte keinen Kommentar dazu, sondern schmollte gut sichtbar vor sich hin. Als wir an einem Restaurant vorbeikamen, hellte sich seine Miene plötzlich auf, und indem er meine Hand packte, brachte er mich zum Stehen. „Was ist?“, wollte ich irritiert wissen.
„Als Entschädigung für die Sorgen gehen wir jetzt zusammen essen“, meinte der junge Phynix nur.
„Erstens: Du isst doch sowieso nichts und ich habe nicht wirklich Hunger. Zweitens: Entschädigung?!?“, fauchte ich.
„Ach komm, sei doch nicht so. Ich werde auch etwas essen, versprochen.“ Da war er wieder, dieser Hundeblick. Innerlich seufzte ich theatralisch, nach außen hin musste ich mir ein Lachen verkneifen. „Na gut“, rollte ich dann mit den Augen und ließ mich von dem Schwarzhaarigen in das Lokal ziehen. Dort suchte er uns einen Tisch und sah mich auffordernd an, als uns die Speisekarten gereicht wurden. „Ist ja schon gut, ich werde etwas essen!“, fauchte ich kaum hörbar über den Tisch hinweg. „Und ich bezahle“, fügte ich noch an, allerdings war ich mir nicht so sicher, ob der Schwarzhaarige das gehört hatte oder hören wollte. Wir verbrachten die Wartezeit mit ein wenig unbefangener Konversation, dann kam das Essen und Ayden aß es tatsächlich. „Du musst dich nicht zwingen …“, meinte ich dann. Verflucht sei mein Gewissen.
„Ich zwinge mich nicht. Ab und an ‚normales’ Essen zu verspeisen ist eine willkommene Abwechslung“, zuckte der Mann nur mit den Schultern. Ich werde nie wieder Sympathie für dich empfinden, brodelte ich innerlich als Antwort darauf. Wenig später waren wir wieder in der Fußgängerzone.
„Wollen wir zu der Kathedrale?“, schlug Ayden unschuldig vor. „Ein bisschen Sightseeing?“
„Nein, danke, die habe ich heute schon bewundert“, erwiderte ich.
„Ach so. Wie wäre es dann …“
„Mit der Fahrt nach Hause?“, unterbrach ich ihn mit einem leicht angenervten Unterton in der Stimme.
„Willst du hier nicht noch ein bisschen rumlaufen?“, wollte Ayden offenkundig enttäuscht wissen.
„Ich habe meine Besorgungen bereits erledigt und die Kathedrale angesehen. Was sollte ich hier sonst wollen?“, kam meine Gegenfrage. Erst jetzt schien Ayden auf die Tasche in meiner Hand aufmerksam geworden zu sein. „Warum machst du deine Besorgungen denn hier und nicht in Takaka?“
„Weil ich raus aus dem Nest wollte“, antwortete ich absichtlich abwertend.
„Hm … Lebensmittel sind das aber keine.“
„Kannst du mich eigentlich immer nur verhören oder lässt du die Dinge auch mal auf sich beruhen? Es nervt“, fauchte ich, da ich nicht wollte, dass er jetzt schon erfuhr, dass ich ihm extra etwas gekauft hatte. Um die Sache noch deutlicher zu machen, lief ich an ihm vorbei, endlich wieder mit Ziel ‚mein Auto’. „Tut mir leid“, sagte der junge Phynix, wobei ich in seinem Tonfall heraushören konnte, dass er nicht so recht wusste, für was er sich eigentlich entschuldigte. Das würde mir irgendwann noch einmal den letzten Nerv kosten. Ich beschäftigte mich indes mit der Frage, ob es an ihm oder an mir lag, dass unsere Beziehung so … so … kompliziert war. Ein bisschen von beidem, würde ich denken … aber wenn ich ehrlich bin, bin ich wohl diejenige, die die meisten Probleme macht, sann ich während des Laufens, sodass ich fast den Abzweig verpasste, um zum Parkplatz meines Wagens zu kommen. Ayden blieb unschlüssig neben meinem Mercedes stehen. Ich legte meine Taschen auf den Rücksitz und sah dann auf. „Was ist?“, fragte ich verwirrt. Ayden schwieg und sah in Richtung Takaka. „Steig ein!“, forderte ich ihn dann auf, bis mir wieder in den Sinn kam, dass der Vampir zu Fuß möglicherweise schneller wäre. „Das heißt, wenn du willst und du nicht atemberaubend schneller zu Fuß bist“, fügte ich daher an.
„Ich wäre wesentlich schneller, aber ich leiste dir Gesellschaft“, meinte der Schwarzhaarige lächelnd und schon saß er auf dem Beifahrersitz. Der Kerl hat nur auf meine Einladung gewartet, brodelte ich. Obwohl … ist ja eigentlich sehr höflich … Ich schüttelte meine Gedanken ab, setzte mich hinter das Lenkrad, drehte das Radio auf und fuhr los. Während der Fahrt unterhielten Ayden und ich uns über die verschiedensten Dinge. Unter anderem den Film, den wir gestern geguckt hatten, andere Filme, Fernsehserien, wobei er dann immer einen kurzen Plot gab, da ich so gut wie nie Serien schaute. Und Bücher. Ich war überrascht, dass er bei so gut wie sämtlichen Büchern mitreden konnte, die ich gelesen hatte. Da ich irgendwie spürte, dass da etwas dahinter war, sprach ich Ayden darauf an. Er antwortete nur, dass er sich die Buchrücken meiner Bücher irgendwann eingeprägt habe und sich daraufhin interessiert an die Literatur gemacht hatte. „Unter anderem, weil ich mit dir über die Werke reden wollte“, gestand er irgendwann mittendrin, weshalb ich kurz zur Seite sah. Hatte ich ihn falsch eingeschätzt? War er wirklich so zuvorkommend?! Wieder in meinem überschaubaren Haus verdonnerte mich Ayden ‚zur Strafe’ dazu, einen weiteren Film zu gucken. Er nahm wahllos einen aus meinem Regal, machte Mikrowellenpopcorn und schon ging es los. Erneut hielt er meine Schulter, wobei ich meinen Kopf auf seinem Arm hätte abstützen können. Ich kam nicht umhin, diese Atmosphäre zu genießen. Und da ich mich immer noch schuldig fühlte, dafür, dass ich ihm Sorgen bereitet hatte, gab ich mir einen Ruck und lehnte mich an seine Schulter. Ich konnte seinen fragenden Blick förmlich spüren, aber ich tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt und nach einigen Sekunden wandte er sich wieder dem Fernseher zu.
Während des Abspanns richtete ich mich wieder auf und sah zu ihm auf. „Ich hätte da noch eine Frage“, meinte ich vorsichtig.
„Ja?“, fragte er offen.
„Wo wohnst du?“ Es war die essenziellste aller Fragen, wenn man bedachte, dass ich morgen zu ihm sollte. Er blinzelte, dann brach er in lautes Lachen aus.
„Ich muss morgen nicht kommen“, züchtigte ich ihn überaus gekonnt, da er sofort im Lachen innehielt.
„Nein, nein, bitte nicht. Ich meine: Bitte komm morgen. Tut mir leid. Aber es hat sich einfach nur so lächerlich angehört“, versuchte er zu erklären, während ich ihn ungnädig musterte. „Ich hole dich morgen ab“, sagte er dann ernst. „Sag mir nur wann.“
„Wann steigt denn die Feier?“, stellte ich meine Gegenfrage.
„Den ganzen Tag?“ Ich machte ein säuerliches Gesicht.
„Einfach ausgedrückt: Es ist vollkommen egal, wann ich aufschlage, Hauptsache ich erscheine überhaupt, richtig?“, brachte ich die Sache auf den Punkt.
„Nun, das ist so auch nicht ganz richtig“, erwiderte Ayden. „Ich möchte nämlich, dass du möglichst früh erscheinst.“ Jetzt hörte er sich wie ein schüchterner Erstklässler an. Der Typ sollte ernsthaft die Karriere eines Schauspielers in Erwägung ziehen.
„Da ich zumindest ein bisschen schlafen möchte … um zehn?“, gab ich dann doch klein bei. Immerhin war es sein Geburtstag – egal der wievielte. Ein strahlendes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen, und ehe ich mich versah, war er mir auch schon um den Hals gefallen. „Danke, Leyla!“, freute er sich. Ich blinzelte überrascht, während ich die Decke anstarrte. Er hatte mich so stürmisch umarmt, dass ich der Länge nach auf der Couch lag.
„Warum freust du dich so? Ist doch keine große Sache“, wehrte ich verwirrt ab, wobei ich bemerkte, dass meine Wangen ein wenig warm wurden – um nicht zu sagen heiß.
„Doch, das ist es, wenn man bedenkt, dass du in einen Haushalt voller Vampire hereinspazierst. Ist das nicht ziemlich egoistisch von mir, dich so einer Gefahr auszusetzen?“, wollte er dann allen Ernstes von mir wissen, als wenn ich der allmächtige Richter wäre.
„Gefahr? Du und deine Familienmitglieder waren die ganze Zeit über Vampire und ich habe immer noch alle Haare beisammen. Ich denke kaum, dass sich euer Charakter geändert hat, nur, weil ich jetzt weiß, was ihr seid.“
„Das klingt so wunderbar plausibel …“, sagte ein auf Wolke sieben schwebender Ayden. Ich begann derweil, an seinem klaren Kopf zu zweifeln. Er ließ sogar von mir ab, ohne dass ich etwas sagen musste. Die Zeit, die ich brauchte, um mich aufzusetzen, brauchte er, um bis zur Tür zu kommen. „Ich komme dann morgen früh um 10 Uhr und hole dich ab“, verabschiedete er sich und schon war ich allein in meinem Haus.
Das war seltsam, dachte ich unweigerlich, ehe ich mich erhob und den Fernseher ausschaltete, wobei ich vorher die DVD sicherstellte. Ich bin auf morgen gespannt … Dann fiel mir ein, dass sein Geschenk noch nicht hundertprozentig fertig war. Ich wühlte es aus der Ecke meines begehbaren Kleiderschrankes, in der es sofort nach meiner Ankunft gelandet war, und legte es auf das Bett. Vorsichtig zog ich das Fläschchen heraus und legte es neben die Schmuckstücke, die ich bereits dort abgelegt hatte. Ich hatte schon eine ungefähre Vorstellung, was ich mit den drei Sachen anstellen würde, aber es würde sicherlich nicht einfach werden …
Mein Wecker – den ich sicherheitshalber eingestellt hatte – riss mich unsanft aus meinem traumlosen Schlaf. Ich hätte nicht gedacht, dass es sich tatsächlich lohnen würde, den Wecker einzustellen, dachte ich gähnend und streckte mich erst einmal ausgiebig. Es war 9:15 Uhr. Auf meinem Nachttisch, direkt neben dem Wecker stand das Geschenk, an dem ich gestern noch bis spät in die Nacht hinein gesessen hatte. Ich sprang nahezu aus meinem Bett und tauchte ein in die Weiten meines Kleiderschranks, um nach der passenden Garderobe zu suchen. Ein Kleid vielleicht? Obwohl, das würde vielleicht overdressed aussehen, immerhin ist es ja ‚nur’ ein Geburtstag … Rock und Bluse? Schon eher, sann ich, während ich mich durch die Regale und Kleiderbügel kämpfte. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, dann hatte ich mein Outfit zusammen. Damit bewaffnet ging ich ins Bad, wo ich mich wusch, umzog und dann meine Haare machte. Schließlich betrachtete ich mein Erscheinungsbild im Spiegel. Ich trug einen leichten, knielangen Rock, der sich in sanften Wellen faltete und so schwarz wie die Nacht war. Die Bluse hingegen war hellblau und ihre Ärmel weiteten sich zu meinen Händen hin in einen breiten Schlag. Auf dem Rücken präsentierte sich ein Kranich in seiner vollen Schönheit, während vorn das Motiv eine Magnolienblüte war. Meine Haare hatte ich mir zu einem geknoteten Pferdeschwanz hochgesteckt, was hieß, dass ich einen Knoten in sie gemacht hatte, diesen mit einigen Haarnadeln unterstützt hatte, und die Spitzen locker runterhängen ließ. Ein wenig hellblauen, kaum sichtbaren Lidschatten hatte ich mir auch gegönnt. Ich befand, dass ich so nicht overdressed, aber auch nicht zu alltäglich aussah, und ging wieder in mein Schlafzimmer. Dort verfrachtete ich Aydens Geschenk vorsichtig in eine schlichte schwarze Tüte, dann ging ich in die Küche, um noch schnell eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen. Gerade, als ich fertig war, meine wichtigsten Dinge in meine kleine Damentasche umzuräumen, klopfte es an der Tür. Unwillkürlich huschte mein Blick zu einer Uhr. Der Typ war pünktlich auf die Sekunde. Irgendwie gruselig … Ich schnappte mir die Tasche mit dem Geschenk und öffnete lächelnd die Tür. „Guten Morgen“, begrüßte ich Ayden.
„Wow. Ich sollte öfter Geburtstag haben, wenn du dann immer so zuvorkommend freundlich bist“, kommentierte der junge Phynix sofort.
„Ich kann auch anders“, erwiderte ich mit provozierend hochgezogenen Augenbrauen.
„Nein, bloß nicht“, lachte Ayden daraufhin, ehe er mir gentlemanlike eine Hand reichte. Ich nahm an, wenn auch Augen rollend, und schloss mein Haus ab und stutzte. „Kein Auto?“, wollte ich verwirrt wissen. Der Schwarzhaarige begann zu kichern, als er mich mit der Hand, die er noch immer festhielt, zu sich zog und mich dann hochhob. „Was hast du vor?“, wollte ich ungewohnt hysterisch von ihm wissen. „Du kommst endlich einmal in den Geschmack meiner Geschwindigkeit. Glaube mir, quer durch den Wald geht es schneller und da muss man auch nicht auf rote Ampeln warten“, zwinkerte er auf mich herab, dann spannte er seine Beinmuskeln und spurtete los. Ich krallte mich instinktiv an seinen Oberkörper und schloss die Augen, als ich spürte, wie stark der Gegenwind an uns zerrte und peitschte. „Auch wenn ich diese Frage bereuen werde …“, begann ich, wobei ich darauf vertraute, dass mich der Übermensch hören konnte. „Wie schnell läufst du so im Durchschnitt?“
„Nun, ich habe es nie gemessen, aber ich schätze, so schnell wie jeder Sportwagen auf einer Rennbahn“, zuckte der Schwarzhaarige kurz mit den Schultern und rannte einfach weiter. Ich versuchte, mir indes nicht vorzustellen, wie viele Meilen pro Stunde das sein mochten, die er gerade durch einen Wald rannte. Allein schon, wegen einer möglichen Kollision. „Du brauchst keine Angst zu haben. Vertrau mir, ich werde schon nicht gegen irgendetwas laufen. So schnell ich auch bin, so gut sind meine Reflexe und Sinne.“ Jetzt belobigt er sich und seine Fähigkeiten schon selbst, knurrte ich innerlich und sah zu, dass das Geschenk nicht wegfliegen konnte. Nach gefühlten fünfzehn Minuten hielt Ayden schlitternd an, dachte aber noch nicht daran, mich abzusetzen. „Willkommen im Haus der Phynix“, sagte er nur und wartete geduldig, bis ich mich wieder traute, die Augen zu öffnen. Als ich es tat, musste ich mich sehr zusammennehmen, nicht meinen Mund aufzuklappen. Vor uns befand sich eine Villa sehr großen Ausmaßes, deren Äußeres eine ansprechende Mischung aus Antike und Moderne war. Ich vermochte nicht zu sagen, wie viele Zimmer sich hinter der schönen Fassade verbargen, aber ich musste mir eingestehen, dass ich es herausfinden wollte. Als er sich sicher sein konnte, dass es mir gut ging, schritt er wieder in menschlich-üblichem Tempo zum Eingang. „Du kannst mich ruhig loslassen und musst mich nicht über eure Hausschwelle tragen“, sagte ich in einem Tonfall, der in etwa dieselbe Bedeutung hatte wie ‚LASS MICH RUNTER!’ Immerhin war die Symbolik eindeutig, sollte er mich über die Schwelle tragen. Seufzend ließ er mich runter. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er wohl gehofft, dass ich es nicht bemerken würde. Nichtsdestotrotz ließ er es sich nicht nehmen, eine Hand in meinen Rücken zu legen und mich leicht zu schieben. Zunächst einmal ging es durch die Flügeltür in eine Art Empfangssaal, die dem eines Herrschaftsschlosses nachempfunden zu sein schien. An dessen Rand führten zu beiden Seiten Treppen in das erste Stockwerk. Geradeaus befand sich eine weitere Flügeltür aus Mahagoniholz mit filigranen Schnitzereien. „Warum nicht gleich ein altertümliches Schloss?“, wollte ich trocken wissen, als Ayden vollkommen unbeeindruckt durch den großen Saal mit dem riesigen Kronleuchter, den ich erst jetzt bemerkt hatte, lief. „Das wäre zu viel des Guten gewesen. Allein vom Planungsaufwand“, meinte er nur gelassen, während er mich durch die zweite Flügeltür bugsierte, hinter der ein langer, breiter Flur zum Vorschein kam.
„Planungsaufwand?“, hakte ich verwirrt nach.
„Wir haben das Haus selber entworfen und dementsprechend bauen lassen“, kam die Erklärung, die mich beinahe dazu veranlasste, stehen zu bleiben.
„Ihr habt euch das ausgedacht?!“, meinte ich nur.
„Ja?“, zuckte er junge Phynix nur mit den Schultern. Ich starrte ihn an. „Oh mein Gott … Ihr habt viel Freizeit und offensichtlich eine regere Fantasie, als ich glaubte“, bemerkte ich zynisch. Mittlerweile tauchte vor uns erneut eine Tür auf, wieder eine Flügeltür, und danach kam ein lichtdurchflutetes, riesiges, modernes und trotzdem irgendwie zu dem ein wenig antiken Flair passendes Wohnzimmer. Darin erwartete uns bereits Aydens Familie. Kenneth saß lässig auf der Couch, auf der eine Fußballmannschaft mit Auswechselspielern und Trainer hätten sitzen können, neben sich seine Frau Sophie, die wie eine vollendete Dame aussah. Ich konnte immer noch nicht sagen, in welchem Alter sie verwandelt wurde. Cináed lehnte mit verschränkten Armen an der Wand neben einer monströsen Hi-Fi-Anlage und grinste zufrieden, während Kira eher Sophie imitierte und hinter einem höflichen Lächeln alles aufmerksam betrachtete.
„Eine Vorstellung ist ja nicht nötig“, begann Ayden munter und alles schüttelte den Kopf. „Dann freue ich mich, dass ihr alle erschienen seid. Darf ich bitten?“, fuhr der Schwarzhaarige gerade so fort, als wenn wir alle Halbfremde für ihn wären und die ganze Aktion eine Gala wäre. Nichtsdestotrotz spielte seine Familie mit und erhob sich mit Neugier in den Augen. Er hatte sie wohl nicht eingeweiht.
Das kommt allerdings unerwartet, dachte ich und konnte nicht verhindern, dass auch in mir die Neugier aufstieg. Etwas, was er sogar vor ihnen hatte geheim halten können? Er führte uns durch eine Schiebetür in der Panorama-Fensterwand gegenüber der Tür, durch die wir den Raum betreten hatten, und weiter zu einem etwas kleineren Gebäude. Soll heißen: zu einem Haus, dessen Größe das Doppelte von meinem umfasste. Allein von der Fläche her. Innen fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf. Es war ein hochmodernes Poolhaus mit Bar, hawaiianischem Flair, Sprungbrettern, Strandliegen und, und, und. Ich kam mir vor, als wäre ich in einem Luxushotel gelandet. Und an einer Wand des komplett verglasten Poolhauses war ein farbenfrohes Buffet mit Kuchen, Snacks und so weiter aufgebaut. Das Glas, aus dem dieser Wunderbau bestand, hatte von außen wie eine Art Spiegel gewirkt, von innen konnte man jedoch ungeniert und unbeobachtet alles betrachten, was jenseits des subtropischen Inneren zu sehen war. Das Groteske an der ganzen Idee war, dass Ayden sehr wohl wusste, dass sie als Vampire nicht sonderlich viel aßen, was sich jedoch nicht einer gewissen Situationskomik erwehrte, was die Lacher seiner Familienmitglieder erklärte. Ich fühlte mich jedoch irgendwie fehl am Platz. Die anderen überreichten mit übertrieben höflichen Gesten Ayden ihre Geschenke, der ebenso übertrieben antwortete. Ich machte ein gelangweiltes Gesicht. Irgendwoher kannte ich dieses Prozedere und es war keine angenehme Erinnerung, weshalb meine Laune noch ein wenig mehr in den Keller sackte.
Ich hatte mich im Hintergrund gehalten, während Kenneth, Sophie, Kira und Cináed ihre Geschenke überreicht hatten und daraufhin dazu übergegangen waren, sich gemütlich auf die Liegen zu legen oder sich Cocktails zu machen. Ich packte die Tüte mit dem Geschenk fester und ging zu Ayden, der allein am Buffet stand, nachdem auch Kenneth sich zurückgezogen – oder wohl eher ausgezogen – hatte und nun fröhlich seine Runden im Pool drehte. Freudestrahlend sah mir der junge Phynix entgegen. „Und?“, wollte er aufgeregt von mir wissen. Ich sah ihn nur fragend an. „Wie gefällt es dir?“
„Macht Eindruck“, antwortete ich knapp und möglichst ohne irgendeinen Unterton. Er durchschaute mich jedoch.
„Was stimmt denn nicht?“, wollte er besorgt wissen.
„Nicht so wichtig, hier“, wehrte ich ab und hielt ihm die Tüte mit meinem Geschenk entgegen, damit ich um die komplizierte und peinliche Antwort auf seine Frage herumkommen konnte. Meine Strategie ging auf, er betrachtete sich sofort voll Interesse den Inhalt der Tüte und brachte das optisch ansprechende Geschenk zum Vorschein.
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich am meisten darauf gefreut, was du machen wirst“, gestand Ayden aus heiterem Himmel heraus, während er die kunstvolle Verpackung würdigte. „Bei meinen Familienmitgliedern konnte ich erahnen – wohl eher direkt erraten – was sie vorbereiten würden, bei dir hatte ich jedoch keine Ahnung.“ Der Schwarzhaarige öffnete das Päckchen oben, wo ich es mit einem Geschenkband zusammengeschnürt hatte, weil dort die Öffnung war, durch die ich es herausgenommen und wieder hineingesteckt hatte. Zutage kam die Quaderverpackung der Flasche, die der junge Mann mit einem Grinsen ebenfalls öffnete und die Flasche herauszog. Mitten in der Bewegung hielt er inne, und zwar genau dann, als man die Schmuckstücke sehen konnte, die ich in Millimeterarbeit um die Flasche gebunden hatte, bis sie deren Form vorteilhaft und elegant ergänzten und auch noch selber gut zur Geltung kamen. Ich war stolz auf mein Werk und an den geweiteten Augen Aydens konnte ich sehen, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass ich mir so viel Mühe geben würde. Ich hatte mir immerhin viel Mühe gegeben, ihn glauben zu lassen, dass ich ihn nicht so mochte, wie er es gerne hätte.
„Deswegen warst du in Nelson“, sagte der junge Phynix nach einer Weile, in der er das Gesamtbild meines Geschenks bewundert hatte, ehe er die Kette und das Armband sorgfältig öffnete und von der Flasche des Aftershaves nahm. Ich antwortete nicht, weil es eine Feststellung seinerseits gewesen war. „Du kannst meinen Geschmack gut einschätzen“, fuhr er fort, während er sich die Schmuckstücke betrachtete und sie sich gleich darauf anlegte. Danach roch er an dem Aftershave. „Selbst hierbei“, grinste er mich an.
„Wer kann, der kann“, zuckte ich mit leicht erhitzten Wangen mit den Schultern und drehte mich bereits zum Gehen, als mich seine Arme auch schon umfingen und am Gehen hinderten. „Lässt du mir nicht einmal die Chance, mich zu bedanken?“, raunte mir der Schwarzhaarige ins Ohr.
„Doch, wenn du dich kurzfasst …“, erwiderte ich, während ich symbolisch gegen seine Arme ankämpfte.
„Ich werde überhaupt keine Worte benötigen“, flüsterte er und gerade, als der Gedanke an seine mögliche Reaktion in meinem Kopf Form angenommen hatte, drehte er mich um, umschlang meinen Oberkörper mit seinen starken Armen und küsste mich leidenschaftlich auf die Lippen. Ich gab mich hin, allein schon, weil ich wusste, dass ich sowieso würde nichts ausrichten können. Nach einer Weile ließ er von mir ab, versäumte es jedoch nicht, mir nahezu sofort nach dem Kuss ‚Danke’ zuzuflüstern. Ich konnte seine Lippen spüren, wie sie sich bewegten – hauchzart auf meinen eigenen. Gleich darauf reichte er mir etwas zu essen. „Nein danke“, sagte ich bestimmt.
„Ich habe das unter anderem nur für dich bestellt. Du musst“, beharrte der junge Mann und hielt mir das Törtchen nun direkt unter die Nase. „Es hat dich niemand um diese Spezialbehandlung gebeten, oder?“, fauchte ich, schnappte ihm das Törtchen jedoch aus der Hand. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass man ihn bei dem Thema, was ich essen sollte, nicht umstimmen konnte.
Eigentlich grausam, wenn man bedachte, dass ich volljährig war und eigentlich das Recht hatte, selber zu bestimmen, was ich esse. Es war vor allem damit nicht getan. Das sollte ich noch essen, jenes noch probieren – Ayden ließ mich kaum allein, geschweige denn aus den Augen. Es war fast schon gruselig. Die anderen der Familie Phynix gingen betont ihren eigenen Geschäften nach, sodass sie uns unter gar keinen Umständen beobachteten oder störten. Ich kam nicht umhin, mich in einer Art gläsernen Käfig vorzustellen, wo ich in irgendeiner Art und Weise dressiert wurde. Ich schüttelte den Gedanken mit aller Macht ab. Ich fühlte mich unwohl, was jedoch nicht an der Tatsache lag, dass ich der einzige Mensch zwischen einer Vampirfamilie in einem Poolhaus war, es war eher etwas anderes … schwer zu erfassen …
„Was hast du?“, wollte Ayden ein wenig besorgt von mir wissen. „Gefällt dir etwas nicht?“
„Nein, nein. Alles ist super, wirklich. Ich finde die Idee auch sehr … extravagant“, erwiderte ich, war aber geistig immer noch bei diesem seltsamen Gefühl.
„War das jetzt ein Lob oder Kritik?“, hakte Ayden verwirrt nach.
„Ich denke ein Lob“, gab ich abwesend zurück und beschloss, dem Gefühl auf den Grund zu gehen. Etwas stimmte nicht. Ich lief aus dem Poolhaus und sah mich um. Natürlich war der Schwarzhaarige mir skeptisch und mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht gefolgt. „Was ist los?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Jetzt war ich mir sicher, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Gefühl in meinem Inneren war nun übermächtig und hinderte mich daran, klar zu denken. Was war es? War es Angst? Ich vermochte es noch nicht einmal mehr einzuordnen.
„Leyla, warte mal!“, forderte der junge Phynix, packte mich an meinem Oberarm und hielt mich zurück. „Jetzt sag mir schon, was los ist!“
„Ich weiß es nicht … ich fühle mich so merkwürdig.“
„Etwa wieder eine Vision?“, wollte er sofort in heller Aufregung wissen.
„Ich weiß nicht …“, antwortete ich müde und dann entglitt mir ohne mein Zutun, ohne, dass ich es gewollt hätte, mein Bewusstsein. Ich wurde mal wieder in die samtene Schwärze gezogen, in der ich schon so vieles erfahren hatte, was lieber vergessen hätte bleiben sollen. Dieses Mal jedoch wurde mir kein kryptischer Fetzen meiner Vergangenheit gezeigt, ich verweilte einfach im schwarzen Nichts. Zumindest, bis sich vor mir Ornamente zeigten, die sich schlängelnd zu Flügeln ausbreiteten. Dann veränderten sie sich. Aus den zwei Flügeln wurden vier, dann sechs und zum Schluss acht. Sie waren azurblau. Sie erhellten die Schwärze wie eine Sonne, bis sie ohne Vorwarnung verblassten und mich wieder im Dunkeln ließen. Dann hörte ich, wie eine Art Echo aus der Ferne zu mir drang. Es war mein Name. Es war Ayden, der ihn rief. Aber noch konnte ich nicht zurück, eine Kraft hielt mich fest und ließ mich nicht gehen. Vor mir wurde es wieder hell. Als ich mich dem Licht zuwandte, erwartete ich eigentlich, die Flügel wieder zu sehen, doch stattdessen leuchteten zwei Augen in der Nacht. Sie ähnelten von der Form her den Augen eines Raubtiers, wie in etwa einem Löwen oder Tiger. Sie starrten mich schweigend an und ich starrte wie gebannt zurück. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Ich traute dieser Dunkelheit nicht und fürchtete, dass ich bei einer falschen Bewegung stürzen würde. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, dann verschwanden sie ohne Warnung und ein Brüllen, das gleichzeitig Angst einflößend und beruhigend war, donnerte über mich hinweg. Dann war es wieder totenstill und schwarz um mich herum. Ich konnte nicht mehr. „Was willst du?“, rief ich in das Nichts hinaus. „Was möchtest du von mir?“, versuchte ich es erneut, als keine Antwort gekommen war.
Wach auf!, tönte es von überall und nirgendwo und ich wagte es, mich im Kreis zu drehen, um die grollende Stimme zu lokalisieren.
Wach auf!
Wach auf …
„Wach auf, Leyla!“, rüttelte Ayden mich unsanft wieder in das Diesseits. Ich blinzelte erschrocken und verwirrt, ehe ich meinen Blick auf ihn fixieren konnte. Ich lag auf dem Gras vor dem Poolhaus, und obwohl ich sie nicht sehen konnte, wusste ich, dass die anderen Mitglieder der Familie Phynix mich sorgenvoll beobachteten. „Was war es?“, wollte Ayden, auf dessen Schoß ich halb zu liegen schien, aufgeregt von mir wissen. Ich wandte nur den Kopf und schloss müde die Augen. „Leyla!“
„Es geht schon. Und was es war, vermag ich selbst nicht so recht zu sagen … Es war kein Einblick in meine Vergangenheit, so viel steht fest“, antwortete ich vorsichtig. „Das war irgendwie … anders.“
Es war, als ob irgendjemand … irgendetwas mit mir über meinen Geist gesprochen hat, dachte ich besorgt, behielt meine Gedanken jedoch lieber für mich. Das Geburtstagskind wirkte so schon aufgeregt genug, da musste ich dem Ganzen nicht auch noch die Krone aufsetzen, zumal ich mir nicht sicher war, womit ich es zu tun gehabt hatte. Ich war mir sehr vieler Dinge nicht mehr sicher, musste ich zu meinem Verdruss daraufhin feststellen.
„Ohne diese Einlage wäre es auch gegangen“, seufzte der junge Phynix dann erleichtert, dass mir nichts zu fehlen schien. Aber das seltsame Gefühl war noch nicht verschwunden. Und auf einmal konnte ich es einordnen. Es fühlte sich an, als ob mich jemand beobachten würde. Ich sah mich möglichst unauffällig um, aber alles, was ich zu sehen bekam, waren Bäume. Die Phynix lebten wegen ihrer ... Andersartigkeit weit abseits der normalen Menschen und tief im Wald, wo sie ihre Ruhe hatten und gleichzeitig gut getarnt waren. Dieser Umstand kam aber auch anderen möglichen Getarnten zugute. Auf der anderen Seite konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand vor den guten Sinnen der Vampire verstecken konnte.
„Leyla, ist wirklich alles in Ordnung?“, lenkte der Schwarzhaarige meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Du wirkst irgendwie ... abwesend“, versuchte er vorsichtig zu formulieren, als er mich gerade sah. Ich blickte mich wieder um. „Wie gut könnt ihr andere Lebewesen entdecken? Also riechen oder sehen oder was auch immer?“, wollte ich langsam von ihm wissen.
„Was ist das denn für eine seltsame Frage?“, lachte Ayden, hörte aber damit auf, als er meinen relativ ernsten Gesichtsausdruck sah. „Weit. Im Umkreis von mehreren Meilen. Würdest du mir sagen, von wem du dich verfolgt fühlst?“ Ich seufzte resigniert. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass der junge Phynix aufgrund meiner Frage den Schluss ziehen würde, dass ich mich beobachtet oder verfolgt fühlte, dennoch hatte noch ein kleiner Teil von mir gehofft, dass er es nicht tun würde und mir weitere Fragen ersparen würde.
„Von wem, weiß ich nicht“, gab ich gleich nach, da ich an seinem angespannten Gesicht sah, dass er nicht locker lassen würde.
„Aber ich habe irgendwie so ein seltsames Gefühl“, fuhr ich wieder etwas abwesender fort und sah mich um.
„Leyla, hier ist niemand außer uns und meiner Familie, glaube mir“, sagte Ayden dann beruhigend und strich mir sacht über den Kopf. Ich wollte ihm zwar gern glauben, aber das Gefühl blieb und ließ mir daher keine andere Wahl, als es zu überspielen und so zu tun, als wenn es mir wieder bestens ging und ich vollkommen ruhig war. „Geht es wieder?“, hakte Ayden noch einmal nach.
„Ja. Danke“, antwortete ich mit einem Lächeln.
„Nun ... dann ... würdest du einen Spaziergang mit mir machen?“, fragte er gleich darauf und ich sah ihn verwirrt und skeptisch an. „Ich möchte nicht, dass die Familie die ganze Zeit um mich herumhockt.“
„Eine völlig normale Ansicht bei seinem Geburtstag“, kommentierte ich zynisch.
„Komm einfach mit“, murrte er dann, nahm meine Hand und lief mit mir in den Wald. Die Sonne schien und zauberte die wunderbarsten Lichtspiele auf den Boden. Hier und da huschten Vögel zwischen den Ästen umher, einmal glaubte ich, ein Eichhörnchen zu sehen und überhaupt war alles ziemlich märchenhaft – und auch irgendwie romantisch. Zu meinem ohnehin seltsamen Gefühl schlich sich noch ein weiteres, welches ich lieber nicht kategorisieren wollte, selbst, als der Schwarzhaarige mich auf eine Lichtung führte, durch die fröhlich plätschernd und im Licht der Sonne glitzernd ein Bach floss.
„Was soll die Aktion jetzt?“, wollte ich reichlich taktlos nach einer Weile wissen, in der sich Ayden ein wenig umgesehen, meine Hand allerdings nicht losgelassen hatte.
„Ich hatte schon einen Grund, dich hierher zu bringen ... aber ich glaube jetzt auch zu spüren, dass etwas nicht stimmt“, erwiderte der junge Mann vorsichtig und sah sich aufmerksam in alle Richtungen um. Unruhe machte sich in mir breit, allein weil er – ein Vampir, ein übermenschliches Wesen – so angespannt nach dem Grund des unbehaglichen Gefühls suchte ...