Die Grenze wird überschritten

 

Ich lief nervös im Wohnzimmer der Phynix auf und ab. Seit drei Tagen war das märchenhafte Haus komplett leer, wenn man einmal von mir und Ayden absah. Zur Schule ging ich natürlich nicht und diesbezüglich hatte sich Sophie auch schon mit der Sekretärin der Golden Bay High School auseinandergesetzt. Ich habe eine schwere Grippe und könne daher nicht zum Unterricht erscheinen. Auf die Frage, weshalb sich die Mutter von Ayden mit mir befasste, antwortete diese nur unterkühlt, dass ich doch niemanden in der Nähe hätte, der sich um mich kümmern könnte. Da ihr Sohn und ich sehr gute Freunde seien, wäre es nur natürlich, sich um mich zu kümmern. Daraufhin hatte die Sekretärin meine Krankmeldung eingetragen und nicht weiter gefragt. Nun waren wir beide allein in dem riesigen Haus und warteten und warteten und warteten. Von Kenneth wussten wir, dass er sich in Amerika herumtrieb, um alte Bekannte aufzutreiben, so auch Sophie. Kira hingegen suchte die Verbündeten in Europa auf, Antonius ebenfalls und Cináed machte China und Japan unsicher.

Ich kam nicht darum herum, mein Los bitterlich zu bereuen und zu verfluchen. Nichts konnte schlimmer sein, auf einen Kampf zu warten, von dem man wusste, dass er heraufziehen würde, dessen genauen Zeitpunkt man aber nicht kannte. Da lobte ich mir die Philosophie der Offensive, in der man den Zeitpunkt der Kämpfe wenigstens selbst bestimmen konnte. Größtenteils zumindest. Aufgrund meiner inneren Unruhe und Ängste war ich auch nicht wirklich zu Zärtlichkeiten oder den taktisch eigentlich gut gewählten Ablenkungsmanövern bereit, mit denen Ayden zu mir kam, sodass er immer seltener damit anfing. Stattdessen recherchierte er im Internet nach den Engeln, ohne wirklich Hoffnung darauf zu haben, tatsächlich etwas zu finden. Einmal hatte ich ihm über die Schulter geschaut, als er die verschiedensten Schlüsselwörter in die Suchmaschine eingegeben hatte. Unter ‚Engel‘ waren die üblichen Definitionen aufgeführt gewesen oder Listen der Engel und Erzengel Gottes. Die Gemeinschaft der Blutrose wurde natürlich überhaupt nicht angezeigt, gerade einmal einige Bilder zum Stichwort 'Blutrose' wurden aufgeführt. Da mich diese aber zu sehr an die Banner im Thronsaal erinnerten, hatte ich Ayden daraufhin wieder alleine suchen lassen und mir das nächstbeste Buch geschnappt, in dem ich versinken wollte. Meine Rechnung ging nur halb auf, da ich, obwohl ich mit meinem ganzen Bewusstsein in die Geschichte eintauchte, immer noch im Hinterkopf meine Probleme behielt. Manche Dinge konnte man eben nur aufschieben und nicht vollständig verbannen.

Seufzend ließ ich mich auf dem bequemen Sofa nieder und starrte hoch an die Decke. Meine innere Unruhe hatte einen neuen Höchstwert erreicht und jagte meine Gedanken in einem grausamen Kreis, ohne ihnen eine Pause zu gönnen. Ayden sah ab und an bei mir vorbei, verzog sich dann aber wieder hinter seinen Computer, um weiter nach irgendwelchen Informationen zu suchen. Ich war versucht, ihn nach allen Regeln der Kunst auszulachen. Er konnte doch nicht ernsthaft darauf hoffen, etwas über Geschöpfe zu erfahren, die eine Geheimorganisation auf die Welt gebracht haben, die niemandem, außer den Angehörigen geläufig ist. Mein Blick glitt wie so oft aus dem Fenster, wo ich jedes Mal aufs Neue leuchtende Flügel in der Ferne erwartete. So fühlte es sich also an, gejagt zu werden. Es genügte schon fast, um Vegetarier zu werden, einfach nur aus Mitleid mit dem Wild, das gejagt wurde, oder die Tiere, die zum Schmaus der Menschen getötet wurden.

Ich habe eindeutig zu viel Zeit zum Nachdenken, dachte ich mit gemischten Gefühlen. Ich ballte meine Hand zur Faust. Nicht zum ersten Mal spielte ich mit dem Gedanken, wieder meine Kräfte zu gebrauchen, nur, um vertrauter mit ihnen zu werden und sie effektiver einzusetzen, wenn sie am Nötigsten gebraucht werden würden. Aber der junge Phynix schmetterte diesen Grund ab und hielt nur dagegen, dass der Preis des Trainings viel zu hoch sei: mein Blut. Ich entkam nicht mehr aus dem Teufelskreis meiner Gedanken und auch dieses Gefühl des Gefangenseins zerrte an meinen Nerven.

„Möchtest du etwas essen?“, kam Ayden freundlich ins Wohnzimmer.

„Nein“, antwortete ich wie gehabt. Ich hatte überhaupt keinen Appetit.

„Ich frage mal anders“, erwiderte der Schwarzhaarige und ich konnte ihn mit seinen Augen fast schon rollen hören. „Was möchtest du essen, denn essen wirst du.“ Er blieb seiner ‚Aufgabe‘ treu, darauf zu achten, dass ich richtig aß, jetzt mehr denn je. Ich seufzte theatralisch. „Ich habe keinen Hunger“, murrte ich nur und sah auf meine Knie herab, auf denen plötzlich zwei Hände lagen. Mein Blick schoss hoch und kreuzte den Aydens. Es quälte ihn, mich so fertig zu sehen, das konnte ich erkennen, aber ich konnte schlecht etwas daran ändern.

„Mag sein, aber deinem Körper zuliebe musst du essen, sonst klappst du mir noch zusammen. Und solltest du dich immer noch weigern, dann werde ich dich eben füttern“, drohte der junge Mann neckend. Ich machte ein skeptisches Gesicht.

„Wie willst du das denn machen? Wenn ich den Mund nicht aufmache, kannst du mich schlecht füttern“, hielt ich dagegen.

„War das eine Herausforderung?“, wollte er mit einem drohenden Unterton in der Stimme von mir wissen.

„Vielleicht ... aber wohl eher pure Neugierde“, lenkte ich ein bisschen ein. Mir schwante, dass selbst das noch zu viel gewesen sein könnte.

„Ich habe definitiv einen Weg, deinen Mund auf zu bekommen“, wisperte Ayden plötzlich so dicht an meinem Gesicht, dass ich mein überraschtes Gesicht in der Spiegelung in seinen Augen sehen konnte. Um sich weitere Erklärungen zu sparen, ließ der Schwarzhaarige einfach Taten sprechen und küsste mich leidenschaftlich, wobei er mit seiner Zunge meine Lippen aufzwang. Er ließ wieder von mir ab und sah liebevoll auf mich herab, wobei auch Schalk in seinen Augen glitzerte.

„Ist ja schon gut, so weit musst du nicht gehen“, gab ich also klein bei.

„Ich hätte mir eigentlich mehr Widerstand erhofft“, kicherte der junge Phynix und mir schoss die Röte ins Gesicht, während er gut gelaunt Richtung Küche verschwand.

Er ist eben auch nur ein Mann ..., dachte ich aufgebend und fuhr mir gedankenverloren mit meinen Fingerspitzen über meine Lippen, auf denen ich immer noch seine spürte. Ich war froh, ihn an meiner Seite zu haben, mehr als ich ihn wissen und spüren ließ.

Keine zehn Minuten später kam Ayden auch schon mit einem dampfenden Teller Nudeln mit Käsesoße zu mir, setzte sich neben mich und überwachte meine Mahlzeit. Ich konnte nicht anders, als verhalten zu kichern. Er blickte mich fragend an, ich schüttelte aber nur den Kopf. „Das schmeckt sehr gut, danke“, meinte ich schließlich versöhnlich, als nur noch ein Drittel der Riesenportion übrig war, die er mir gebracht hatte.

„Dafür nicht ...“, meinte Ayden nur mit einem Blick aus dem Fenster.

„Was hast du?“, fragte ich und stellte den Teller beiseite.

„Ach ... nichts ...“, wehrte der Schwarzhaarige ab und erhob sich schon, ich tat es ihm aber zu seiner Überraschung gleich.

„Du weißt doch, dass ich dich mittlerweile viel besser kenne. Also: Was bedrückt dich?“, ließ ich nicht locker. Er sah mich gequält an.

„Weißt du ... ich habe so das Gefühl, wenn ich dich damals einfach in Ruhe gelassen, meinen inneren … Trieb besser unterdrückt und mich von dir ferngehalten hätte, dann wäre alles gar nicht so weit gekommen“, wand sich der junge, starke Vampir um Worte, unfähig mir in die Augen zu sehen. Ein sanftes Lächeln entstand auf meinen Lippen, als ich ihm zögerlich mit meinen Fingerspitzen über die Wange strich, sodass er mich mit großen Augen ansah. „Willst du damit sagen, du bereust alles, was du getan hast? Du bereust, um mich gekämpft zu haben?“, bohrte ich sanft weiter.

„Nein ... das nicht ... aber ... ich glaube es hätte dir viel erspart, wenn ich …“ Ich unterbrach ihn, indem meine Finger über seine Wange bis hin zu seinen Lippen wanderten und sie sacht am Bewegen hinderten. „Selbst wenn du dich von mir ferngehalten hättest, so wäre es doch unvermeidlich gewesen, dass diese ... Kräfte irgendwann in mir erwacht wären. Nur ... wenn du nicht da gewesen wärst, dann hätte ich das psychisch nicht überstanden. Wahrscheinlich wäre ich den feigen, aber einfachen Weg des Selbstmords gegangen, weil ich einfach genug von einem Leben gehabt hätte, das mir nichts außer Schmerz und Einsamkeit geboten hat. Durch dich habe ich aber wieder etwas, wofür es sich zu leben lohnt“, beschwichtigte ich ihn und seine Augenbrauen verschwanden unter seinen schwarzen Haaren, während seine Augen sich weiteten.

„Weißt du ... was du gerade gesagt hast?“, fragte der junge Mann, als ob er glaubte, sich verhört zu haben oder als ob er an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelte.

„Ja, das weiß ich“, bestätigte ich lächelnd. Seine Augen wurden noch ein wenig größer. Ich konnte es einfach nicht sagen, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und sagen ‚Ich liebe dich‘, so, wie er es getan hatte, aber dafür konnte ich versuchen, ihm diese Botschaft durch meinen Blick zu geben. Ich ließ meine Hand sinken und sah einfach nur zu ihm auf. An seinem sich verändernden Gesichtsausdruck konnte ich hautnah verfolgen, wie er langsam verstand. Sein Blick wechselte von überrascht und verständnislos zu verstehend und liebevoll, wodurch er mir mal wieder weiche Knie bescherte. Seine eine Hand fasste meinen Rücken knapp oberhalb der Hüfte, die andere strich über meine Wange und daraufhin weiter durch meine Haare bis zu meinem Hinterkopf, wo sie schließlich verweilte. Als er sich langsam zu mir hinunterbeugte, meldete sich mein altbekannter Instinkt, mich abzuwenden oder noch besser wegzurennen, den ich jedoch unterdrückte. Um ihm wirklich die Botschaft komplett mitteilen zu können, durfte ich mich nicht abwenden. Stattdessen schloss ich nur ein wenig zitternd die Augen und wartete. Seine Lippen spürte ich wie einen elektrischen Schlag, der meinen Körper durchfuhr – auf der anderen Seite war mir das nicht mehr fremd. Er hatte mich jetzt schon unzählige Male geküsst, allerdings hatte ich ihm die Sache nie zuvor so leicht gemacht. Eigentlich konnte man sagen, dass ich ihn jetzt zum ersten Mal aus eigenem Verlangen heraus küsste, und dieser Umstand schien ihm sehr zu gefallen, so innig, wie er den Kuss werden ließ. Nach einigen Minuten, wie es mir vorkam, brachte Ayden wieder ein wenig Distanz zwischen unsere Gesichter und sah mich durchdringend an, da wandte er sich plötzlich angespannt ab und sah in Richtung Hauseingang. Da ich nichts von den Engeln gespürt hatte, musste das bedeuten, dass jemand von seiner Familie zurückgekehrt war.

„Wer ist es?“, wollte ich von ihm wissen.

„Kira“, antwortete er knapp, ließ mich komplett los und lenkte seine Schritte zur Eingangshalle, ich direkt hinter ihm. Die schöne Vampirin unterhielt sich angeregt mit einer Gruppe von vier anderen Vampiren. Sie sprach französisch, und als einer der anderen dazwischen plapperte, wies sie diesen auf Deutsch zurecht.

„Können sie etwa kein Englisch?“, wollte ich ganz leise von Ayden wissen, aber zu meinem Entsetzen bemerkten mich auch die anderen. Kira lächelte mich freundlich an.

„Doch können sie“, klärte sie freundlich auf. „Aber sie bevorzugen natürlich ihre Muttersprache.“

„Oh, ja Entschuldigung“, gab ich etwas kleinlaut zurück und verkroch mich halb hinter Aydens doch recht breitem Rücken.

„Sind die anderen schon da?“, wollte die Blonde wissen und ihr ‚Bruder‘ schüttelte den Kopf.

„Du warst anscheinend die Schnellste“, neckte er sie mit einem Zwinkern.

„Gut, dann werde ich unseren Gästen mal ihre Quartiere zeigen“, sagte Kira dann und wandte sich wieder ihren Schützlingen zu, die sie daraufhin fortführte.

„Wenn die anderen auch jeweils vier mitbringen, haben wir schon mal eine ganz ansehnliche kleine Armee“, meinte Ayden mit Hoffnung in der Stimme.

„Ja ... aber es ist immer noch unklar, mit wie vielen Engeln die Gemeinschaft angreifen wird“, hielt ich düster dagegen.

„Musst du eigentlich immer so pessimistisch sein?“, beschwerte sich der junge Mann mit einem tadelnden Blick bei mir.

„Ich bin nicht pessimistisch, sondern realistisch; das ist ein Unterschied“, berichtigte ich ruhig. „Ich erinnere nur an mögliche Eventualitäten, die aufkommen können.“

„Eine Angewohnheit, die du unbedingt ablegen solltest“, lachte Ayden befreit und schloss mich in seine Arme. „Es wird schon alles gut gehen, vertrau mir“, wisperte er mir dann ins Ohr. Unfähig etwas zu sagen, nickte ich nur gegen seine Brust.

 

Später am Tag – als wenn sie sich abgesprochen hätten – kamen noch andere Familienmitglieder mit ihren Verbündeten zurück. Sophie hatte sechs Freundinnen dabei, Cináed fünf Kumpel, Kenneth drei alte, weise Vampire, ebenso Antonius, dessen Begleiter noch wesentlich edler aussahen, als die von Kenneth. Ich fühlte mich reichlich fehl am Platz so zwischen den ganzen langlebigen ‚Kreaturen‘, die allesamt aus einem Film entsprungen zu sein schienen, so schön und mysteriös, wie sie alle waren.

Nun, ich selbst bin ja auch bereits jenseits von allem, was man als Durchschnittsmensch bezeichnen könnte, dachte ich düster und zog mich zurück. Das Wohnzimmer war mittlerweile ziemlich voll, selbst für seine übergroßen Ausmaße, sodass ich mich noch lieber zurückzog – natürlich ließ Ayden nicht lange auf sich warten. „Ich nehme an, es ist jetzt sehr schwierig für dich da drin“, sprach er mich in seinem Zimmer an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ausgerechnet dorthin hatte laufen können, aber ich schob es einfach darauf, dass ich mich immer noch nicht hundertprozentig in dem Haus der Phynix auskannte.

„Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte ich mit schneidendem Sarkasmus.

„Nur so ein Gefühl“, grinste mich der junge Mann an.

„Die sind ziemlich skeptisch, dass ich mitten zwischen euch zu leben scheine, wobei mich brennend interessiert, wer ihnen erzählt hat, dass ich hier wohnen würde“, gab ich mit verschränkten Armen zurück, und wie von mir erwartet, wandte der Schwarzhaarige schuldbewusst seinen Blick ab, allerdings nicht ohne ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel. „Aber offensichtlich scheinen sie eure … Selbstbeherrschung zu bewundern.“

„Ja, nun ...“, rang Ayden ein wenig um Worte. „Es gibt eben solche und solche Vampire ... Was glaubst du, warum ich deine Seite nicht verlasse? Unter unseren Freunden sind auch welche, die ... nun ...“

„Ich verstehe schon. Die keine Erfüllung in tierischem Blut sehen“, umschrieb ich den Sachverhalt galant und der junge Mann nickte nur. „Nun, nicht so schlimm, solange du mich beschützt“, zuckte ich mit den Schultern und zauberte so ungewollt ein einnehmendes Lächeln auf das Gesicht des jungen Mannes.

„Vielen Dank für ihr Vertrauen, holde Maid“, sagte er dann plötzlich und verneigte sich elegant vor mir.

„Lass den Blödsinn“, fauchte ich nur mit geröteten Wangen, da ich den Seitenhieb auf mein schwer zu bekommendes Vertrauen voll bemerkte.

„Tut mir leid“, kicherte der junge Mann, sodass ich zurecht an der Wahrheit seiner Worte zweifelte. „Ich bin nur erleichtert.“

„In unserer jetzigen Situation erleichtert?!“, fuhr ich ihn an. „Meine Güte, deine Nerven möchte ich haben“, seufzte ich und ließ mich in einen bequemen Sessel am Fenster fallen.

„Das kommt schon noch, und zwar, wenn du noch ein wenig mehr vertraust, zum Beispiel in unsere Fähigkeiten“, hockte sich Ayden direkt vor mich und stützte sich an den Armlehnen des Sessels ab. Ich war nicht überzeugt, aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Er wandte auf einmal den Kopf und lauschte angestrengt – ich vermutete, die im Wohnzimmer besprachen etwas Wichtiges – weshalb ich mich so still wie möglich verhielt. Ich war ziemlich gut darin geworden, meine innere Unruhe zu verbergen, wenn Ayden nicht gemerkt hatte, dass ich geistig eigentlich nur halb bei ihm war. Eine innere Unruhe hatte mich mal wieder heimgesucht, die partout nicht verschwinden wollte. Es hatte nichts mit dem Haus voller Vampire zu tun, von denen einige wohl nur zu gern ihre Fangzähne in mich schlagen würden wollen ... Vielmehr war es etwas anderes, schwerer zu erfassen, wie Rauch. Man sieht ihn, kann ihn sogar spüren, aber fangen kann man ihn nicht.

Ich blickte aus dem großen Fenster und hing weiter diesem undefinierbaren Gefühl nach, als mich die Erkenntnis wie ein Blitz durchzuckte. Ein einzelnes, kleines Blatt von einem der vielen Bäume segelte unschuldig vorbei, quer durch mein Blickfeld. Meine Augen stellten sich automatisch auf den neuen, sich bewegenden Fremdkörper scharf und ich folgte seinen Bewegungen, bis es zu weit auf der linken Seite war. Ich lenkte meinen Blick nirgendwo anders hin, sondern blieb mit einem tauben Gefühl im Körper an der Stelle hängen, wo ich das Blatt zuletzt gesehen hatte. Meine Augen stellten sich wieder auf die Fernsicht ein, aber da war das sanfte, gut getarnte grüne Leuchten weit hinten zwischen den Bäumen auch schon wieder verschwunden.

„... und – Leyla?“, brach Ayden mitten in dem ab, was auch immer er gesagt oder erzählt hatte. „Hast du mir überhaupt zugehört?“, lachte er, doch sein Lachen verklang sehr schnell, als er meinen angespannten Gesichtsausdruck sah. „Alles in Ordnung?“, fragte er daher, aber meine Gedanken schossen zu schnell in meinem Kopf umher, als dass ich auf ihn geachtet hätte. Hatte ich mir dieses Leuchten eingebildet, weil ich schon so lange darauf ‚wartete‘, es zu sehen? War es nur ein Hirngespinst gewesen oder Realität? Sollte ich es Ayden sagen, auch wenn es möglicherweise blinder Alarm war?

Überdenke alles noch einmal genau, schaltete sich unerwarteterweise auch noch der weiße Wolf in meinen Gedanken ein.

Ich weiß nicht, was ich noch bedenken soll, gestand ich müde. Die Angst machte mich mürbe, das konnte ich deutlich spüren. Besser ein falscher Alarm, als gar keiner, denn einen Hinterhalt würden diese Vampire mit Sicherheit nicht überleben. Ich sah Ayden an, der mich wiederum nicht aus den Augen ließ, und gab mir einen Ruck. „Ayden, ich glaube sie sind hier“, flüsterte ich, was ich eigentlich hatte laut sagen wollen.

„Du glaubst?“, hakte er nach.

„Nun ... ich habe wieder dieses seltsame, unbestimmte Gefühl der Angst ... Außerdem meine ich, gerade im Wald ein schwaches Leuchten gesehen zu haben“, präzisierte ich meine Aussage und schon stand der junge Phynix aufrecht, nahm meine Hand, zog mich ebenfalls auf die Füße und eilte mit raschen Schritten durch die Villa bis ins Wohnzimmer, wo er Kenneth nur anzusehen brauchte und schon wurde regelrecht mobilgemacht. „Wissen sie schon, wie man die Engel töten kann?“, fragte ich vorsichtig.

„Ja, das habe ich ihnen gerade eben erklärt, kurz bevor ihr gekommen seid“, antwortete Kenneth mit einem milden Lächeln. Er schien ebenso wie Ayden darauf bedacht, mir ein Gefühl der Sicherheit vermitteln zu wollen. Allerdings brachte es bei ihm, wie auch bei seinem Sohn, nicht viel, da sein besorgter Blick alles wieder zunichtemachte. Die ganzen Vampire teilten sich in etwa gleich große Gruppen auf, ein jeder angeführt von einem Ältesten, der die meiste Kampferfahrung besaß. Sie wussten also, dass sie sich auf einen harten Kampf einließen, der nicht nur Stärke, sondern vor allem Finesse und Wendigkeit voraussetzte. Sie stellten sich dieser immensen Gefahr, um ihre Gefallenen zu rächen und ihre noch lebenden Freunde zu schützen. Das war mehr Solidarität, als bei den meisten ‚normalen‘ Menschen zu finden war, wie ich nicht ohne Bitterkeit feststellen musste.

Ich bemerkte, dass sich Ayden keiner der Gruppen anschloss, weshalb ich ihn fragend von der Seite her ansah. „Ich bleibe bei dir und beschütze dich“, meinte er nur schlicht.

„Glaubst du nicht, dass sie jede Hilfe brauchen könnten?“, hielt ich verstört dagegen.

„Und glaubst du nicht, dass zumindest einer hierbleiben und darauf aufpassen sollte, dass du nicht wieder entführt wirst? Tut mir leid, aber ich werde nur über meine Leiche erneut zulassen, dass du von diesen Monstern gefangen genommen wirst, nur um dir dann urplötzlich gegenüberzustehen und zu sehen, wie du dich überhaupt nicht mehr an mich erinnerst. Tut mir leid, aber das erträgt mein Herz einfach nicht noch ein weiteres Mal“, erwiderte Ayden mit zu Fäusten geballten Händen. Ein Stich der Reue durchfuhr mein Herz. Ich hatte sein inneres Leid eindeutig unterschätzt. „Tut mir leid“, sagte ich daher.

„Ist schon gut“, wehrte der Schwarzhaarige nur ab. „Solange du zumindest nicht wieder mit ähnlichen Sprüchen kommst“, fügte er ein wenig gekränkt an. Ich schwieg und sah den Vampiren nach, die gerade in diesem Moment in den Wald hinausgetreten und von einem zum anderen Augenblick meinem Blick entschwunden waren.

„Wissen sie denn schon, wo sich die Engel aufhalten?“, konnte ich mir die Frage einfach nicht verkneifen, weshalb Ayden ergeben seufzte. Offenbar sah er in mir etwas Unverbesserliches.

„Sie suchen sie, aber keine Angst, sie sind untereinander in Kontakt, sodass sie nicht überrascht werden können. Wir beide sollten uns jetzt zurückziehen, am besten in den Keller“, überlegte der junge Mann laut.

„In einen Keller?“, wiederholte ich skeptisch und schon brach Ayden in verhaltenes Lachen aus.

„Keinen Keller, wie man ihn sich allgemein vorstellt. Glaube mir einfach und komm mit“, gab er zurück und führte mich wieder durch dieses unvorstellbar große Haus, bis wir zu einer Wendeltreppe in die Tiefe kamen, die wir hinabstiegen. „Was kommt jetzt? Eine Reihe von Särgen, Pentagramme und Kerzen, die mit grüner Flamme leuchten?“, sann ich laut und erreichte eine maßlose Erheiterung Aydens, der nur „Nicht ganz“ antwortete und einfach weiter die Treppen hinabstieg. Ich folgte ihm einfach, bis sich schließlich das Rätsel löste. Ich unterdrückte mit aller Macht ein Lachen, einfach weil ich es mir hätte denken können. Es war ein Partykeller, in den mich Ayden geführt hatte. Aber nicht nur Partys konnte man hier feiern, sondern eine komplette Familie konnte man hier ebenfalls unterbringen. Der Stil des Hauses wurde selbst hier fortgeführt: Eleganz und Moderne ergänzten sich zu einem angenehmen Gesamtbild mit Wohlfühlgarantie. Ich sah mich kurz um und lenkte meine Schritte sofort in Richtung eines bequemen Sofas in der Nähe einer Minibar. „Ihr trinkt wohl gern Alkohol?“, wollte ich mit einem fragenden Blick zum Schwarzhaarigen wissen.

„Gern ist nicht der richtige Ausdruck“, grinste Ayden und setzte sich neben mich. „Viel wäre passender.“

„Süchtige Vampire?“, kicherte ich.

„Auch wieder falsch. Es ist nicht so, als dass wir süchtig wären, aber ... hm ... wie erkläre ich das am besten? Wir versuchen, betrunken zu werden, aber da wir unempfindlich gegen die Auswirkungen von Alkohol sind, ist das eine schwierige Aufgabe. Deswegen verbrauchen wir eben sehr viel davon.“

„Aber wenn ihr sowieso unempfindlich seid?“, hakte ich ein wenig verwirrt nach.

„Ja ... es ist so eine Art persönlicher Witz“, schlug sein Versuch fehl, es zu erklären.

„Ah ja“, machte ich daher.

„Ja ... also eigentlich ist es ziemlich blöd, nicht wahr?“, ging Ayden darauf mit einem verlegenen Lächeln ein.

„Eigentlich?“, gab ich vernichtend zurück.

„Nun ... es ist ziemlich blöd“, gab er daraufhin zu, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen, woraufhin ich nur mit den Augen rollte. Bei solchen Dingen war es besser, gar nicht erst zu versuchen, es zu verstehen, weil man ohnehin kläglich daran scheitern würde. Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf, wandte dann aber den Blick ab und ließ mein Lächeln verschwinden.

„Sie werden das schon schaffen. Vergiss nicht: Wir leben ein bisschen länger als andere“, schien der junge Mann mal wieder meine düsteren Gedanken gelesen zu haben.

„Ein bisschen ist gut“, schnaubte ich.

„Na siehst du.“ Ich war nicht überzeugt. „Muss ich dich erst ablenken, damit du dir keine Gedanken mehr deswegen machst?“, lächelte der junge Mann und rückte auf dem Sofa dicht an mich heran.

„Versuche ruhig, mich so ‚abzulenken‘, wenn du mit Kratzspuren in deinem Gesicht leben kannst“, antwortete ich unterkühlt. Dafür hatte ich nun wirklich keine Nerven. Ayden hingegen blinzelte wie ein begossener Pudel und starrte mich perplex an. Offenbar hatte er nicht mit einer so spitzen Abfuhr gerechnet. Ich stand auf und lief zur Minibar, ohne wirklich den Wunsch zu verspüren, etwas zu trinken. Aber Ayden, der in seiner Gastgeberrolle wirklich perfekt aufging, sprang sofort auf, trat hinter die Bar und sah mich fragend an, was ich denn wollte. Ich schüttelte nur den Kopf. „Ich wollte mir die Bar nur ansehen, ich habe keinen Durst“, sagte ich.

„Ich kann uns aber einen schönen Cocktail mixen“, erbot sich der Schwarzhaarige, weshalb ich wieder mit den Augen rollte.

„Kennst du die Bedeutung des Wortes ‚nein‘?“, gab ich zurück.

„Ja. Aber Gerüchten zufolge soll eine Frau, wenn sie ‚nein‘ sagt, ‚ja‘ meinen“, grinste der Schwarzhaarige ganz unschuldig, schrumpfte jedoch merklich unter meinem vernichtenden Blick zusammen. „Es sind ja nur Gerüchte“, meinte er dann kleinlaut.

„Gerüchte sind Gerüchte und müssen daher nicht immer wahr sein“, erwiderte ich nur und wirbelte im nächsten Moment herum. Meine Augen suchten, fanden aber nicht, was mein ganzer Körper schon längst zu wissen schien.

„Wa…“

„Einer ist hier“, unterbrach ich den jungen Phynix, der mich sofort in die Ecke des Raumes zog, die gegenüber der Treppe lag und sich vor mich stellte. Ich versuchte derweil, Kontakt zu dem weißen Wolf in meinem Inneren aufzunehmen, der sich dann gnädigerweise bei mir meldete. Was möchtest du?, fragte er.

Wie viele sind hier und kannst du mir sagen, wie es den anderen geht?, kam ich gedanklich gleich zur Sache.

Im Haus ist nur einer, jemand mit nur vier Flügeln. Die anderen Vampire haben sich zusammengerottet und bekämpfen die ebenfalls versammelten Engel. Es sind derer zwanzig, davon sechs mit sechs Flügeln, einige mit nur zwei, ein Paar mit vier und sogar einer mit ... acht, erstattete der Weiße Bericht und wieder war da dieses Taubheitsgefühl.

Mit acht Flügeln? Aber ich dachte, ich sei die Einzige ..., dachte ich bestürzt und sah gleichzeitig ebenso angespannt zur Treppe wie Ayden. Jemand kam hinunter. Ayden spannte seine Muskeln und ich konnte förmlich spüren, wie er sich sammelte, um seine Eiskristalle zu beschwören.

Sollte ich mich nicht auch bereit machen?, sann ich fieberhaft und kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, auch wenn ich darauf achten musste, dass Ayden es nicht zu früh bemerkte. Für mich war es absehbar, dass er von meinem Plan, ihm zu helfen, sehr wenig halten würde. Sofort nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, erschien der Engel in unserem Blickfeld. Gleichzeitig schossen bereits die ersten Eiskristalle auf ihn zu und trafen den doch recht unvorbereiteten Engel an diversen Körperstellen und an den Flügeln. Es reichte aber nicht, um den Gegner zu töten, und nachdem der Regen der schneidenden Geschosse kurz abgeflaut war, ging das Wesen zum Gegenangriff über. Es schickte einen gleißenden Lichtstrahl zu Ayden, den ich mit meinen Kräften wiederum ablenkte, sodass der Schwarzhaarige ungehindert ein weiteres Mal angreifen und dem Engel den Rest geben konnte. Als der Kontrahent zu Boden sank, wandte sich der junge Mann mir zu und ich konnte an seinem Blick sehen, dass ihm aufgegangen sein musste, dass ich die Attacke von ihm abgelenkt hatte. „Könnten wir es dabei belassen, dass du dich nicht in die Kämpfe einmischst, sondern dich einfach nur beschützen lässt?“, grollte er sogar ein wenig. „Ich möchte vermeiden, dass dein Blut fließt.“ Ich kam nicht einmal dazu, etwas zu erwidern, weil sein stechender, durchdringender Blick mich einfach daran hinderte. Er wandte sich um, als er sich sicher sein konnte, dass ich nicht widersprechen würde, und lief zum leblosen Körper des Engels. „Sind noch mehr von ihnen im Haus?“, wollte er dann von mir wissen, ohne mich anzusehen. Ich runzelte ein wenig die Stirn, ließ dann aber alle Gedanken fahren und achtete auf mein Bauchgefühl, das mich schon so oft vor ihnen gewarnt hatte.

„Nein ... aber eine ziemlich große Anzahl von ihnen kämpft gegen eure Freunde und deine Familie. Einer von den Engeln dort ... ist extrem stark“, antwortete ich dann nach einer kurzen Pause, in der sich Ayden auf seine übermenschlichen Sinne konzentrierte.

„Stark sind sie in gewisser Hinsicht alle“, gab er daraufhin nur zurück.

„Das meine ich aber nicht. Unter ihnen ist ein Engel mit ... herausragender Kraft“, suchte ich nach passenden Worten, die den jungen Mann hoffentlich dazu bewegen würden, sich der Sache anzunehmen. Tatsächlich zuckten seine Muskeln ein wenig.

„Du glaubst also nicht, dass sie mit ihnen fertig werden?“, schloss der junge Phynix richtig, weshalb ich nur nickte. „Du willst also unbedingt dorthin?“, traf er den Nagel erneut auf den Kopf, woraufhin ich abermals nickte. Er seufzte. „Du weißt hoffentlich, dass ich dich eigentlich beschützen will und nicht der Gefahr aussetzen.“

„Ja. Aber sie brauchen mich. Deine Familie braucht unsere Hilfe, versteh das doch!“, drängte ich. Ich konnte sehen, wie schwer dem jungen Mann die Entscheidung fiel, doch letztlich gab er doch nach. Er sorgte sich eben auch um seine Familie. Und das war auch gut so. Er trat aus heiterem Himmel auf mich zu, schob seine Hände in meine Kniekehlen und hinter meinen Rücken, hob mich ohne viel Federlesen hoch und sprintete so die Treppe hinauf, weiter durch Flure, Türen, hinaus und durch den Wald. In der Luft lag das Krachen der verschiedenen Attacken, die Schreie der Verwundeten und das Rufen der Anführer, die ihren Untergebenen Befehle zubrüllten. Ich wunderte mich, weshalb dieses Getöse eigentlich nie eine Menschenseele hörte und der Sache auf den Grund ging, auf der anderen Seite wusste ich auch immer noch nicht, wie tief das Haus der Phynix in dem kleinen vom Wald überzogenen Gebirge lag, sodass es auch gut sein konnte, dass die Kämpfe schlichtweg zu weit von menschlichen Ohren weg stattfanden. Was der gegnerischen Seite zugutekam: Es konnte keine Zeugen geben.

 

Ayden ließ mich hinunter und trat wieder vor mich, die ich versteinert die Szene besah, die sich vor meinen Augen abspielte. Die verschiedenen Attacken der beiden Seiten hatten eine Lichtung in den dichten Wald geschlagen.

Die Bäume waren entweder abgebrannt, zerborsten, einfach nur umgeknickt oder weggeschleudert worden. Der Boden rauchte und glühte noch ein wenig von den Feuerattacken, die er hatte aushalten müssen, während keine zwei Meter weiter tiefe Risse das Erdreich teilten oder ein örtlicher Morast entstanden war. Hier waren die verschiedensten Elemente auf kleinstem Raum aufeinandergetroffen und man bekam zu sehen, was das Ergebnis davon war: vollendete Zerstörung. Mein Blick glitt zu den zahlreichen Engeln, die wohl koordiniert in einer Formation gegenüber den Vampiren schwebten. Es waren ihrer so viele, dass ich lieber nicht zählen wollte, da das Endergebnis auf einen Blick ersichtlich war. Die Vampire waren in der Unterzahl. Was meine Aufmerksamkeit daraufhin fesselte, war der Engel mit den blutroten Flügeln, der in der Mitte der Formation ganz vorn schwebte. Acht Flügel leuchteten dort an seinem Rücken und seine roten Augen sprühten nahezu vor Mordlust. Mit diesem Gegner war nicht zu spaßen.

Ayden war der Erste von uns beiden, der bemerkte, dass einige der Vampire bereits schwere Verletzungen davongetragen hatten, die sie praktisch am Weiterkämpfen hinderten. Die Engel bemerkten mich und den Schwarzhaarigen, der erneut seine Eissplitter beschwor. An der nicht veränderten Mimik des achtflügeligen Engels konnte ich sofort ausmachen, dass er den Angriff Aydens nicht als Bedrohung sah, ihn vielleicht gar nicht wahrnehmen würde. Ich konzentrierte mich und konnte sogar spüren, wie sich meine Flügel ausbreiteten und sich meine Kräfte sammelten. Ich würde diesen Engel selber zumindest vertreiben müssen, da die Phynix’ und ihre Freunde ihm wohl nichts entgegensetzen konnten. Acht Flügel waren einfach zu viel, selbst für sie. Ich sammelte meine Energie in meiner rechten Hand, wobei ich wieder das Zutun des weißen Wolfes in meinem Geist spürte. Dieses Mal war es eine blanke Energiekugel, mit der ich anzugreifen gedachte. Ich holte aus und schon zischte sie durch die Luft, auf den roten Engel zu, der wiederum ebenfalls eine solche Kugel beschwor und sie exakt auf meine zuwarf.

„Wir werden dich schützen!“, erboten sich einige Engel, die der rote jedoch mit einer Handbewegung daran hinderte, vor ihn zu kommen. „Die Attacke von ihr würde euch zerreißen, ich selbst könnte sie nicht blocken. Aber man kann sie auch anderweitig ablenken.“ In dem Moment, als der rote Engel das sagte, trafen die beiden Kugeln aufeinander. Zuerst schienen beide minimal kleiner zu werden, dann explodierten sie mit einem ohrenbetäubenden Geräusch, wobei sie das Tausendfache ihres anfänglichen Volumens mit einer heftigen Druckwelle zunächst durchschüttelten, ehe eine Feuerwand die Luft ausfüllte. Ayden packte mich und sprang schnell aus dem Weg. Auch die Feinde flogen ein Stück weiter zurück, um von den kollidierenden Angriffen nicht getroffen zu werden, deren Stärken sich offenbar addiert hatten.

Intelligenter Bursche, räumte der Wolf in meinen Gedanken ein und mir wurde deswegen bang. Wenn das Wesen in meinem Geist so etwas sagte, dann musste unser Gegner nicht nur Stärke, sondern auch Intelligenz genug haben, um zu einer sehr ernsten Gefahr für uns zu werden. Das Ziepen in meinem Rücken sagte mir, dass ich mich beeilen und diesen Typen oder am besten noch die ganzen Engel irgendwie zum Rückzug zwingen musste, damit sich wenigstens die Vampire vorerst in Sicherheit bringen konnten, ihre Wunden versorgen und neu formieren konnten. Können wir das irgendwie schaffen?, richtete ich meine zunächst unbestimmten Gedanken an den Wolf.

Ja ... aber das wird dich eine Menge Kraft kosten ... vielleicht sogar zu viel, antwortete dieser langsam.

Tu es einfach. Ich will nicht, dass sie sterben ... sie brauchen Zeit. Ich wusste, dass sie sich überschätzen würden!, wetterte ich im Stillen.

Wenn ... wenn das dein Wunsch ist ..., erwiderte der Wolf und übernahm wieder die Kontrolle über meinen Körper. Ich kreuzte die Arme vor meiner Brust, ballte meine Hände zu Fäusten, aus denen ich dann Mittel- und Zeigefinger gerade abspreizte, sodass sie direkt in den Himmel deuteten, und senkte meinen Kopf.

„Sie wird doch nicht …?“, hörte ich einen der Engel sagen und ich spürte schon wieder Aydens Blick auf mir, aber auch den einiger anderer Vampire, ignorierte sie jedoch. Ich spürte, wie sich Kraft in dem Hohlraum, den meine Arme und mein Kopf direkt vor meiner Brust bildeten, sammelte, immer mehr und mehr, bis ich in einer plötzlichen, kraftvollen Bewegung mit meinen Armen nach vorne hin ausschlug und meinen Kopf ruckartig hob.

Eine gewaltige Druckwelle fegte über das gesamte Kampffeld, verschonte die Vampire von ihrer rohen Gewalt und traf dafür die schwebenden, sich verteidigenden Engel mit voller Wucht. Der Großteil von ihnen, unter anderem auch der rote mit den acht Flügeln, wurde einfach durch die Luft geschleudert, bis er nicht mehr zu sehen war, aber ein paar von ihnen krachten mit voller Wucht mit dem Rücken gegen Bäume, die unter dem Schlag umknickten wie Streichhölzer. Die Flügel zerbarsten bei jedem Einzelnen dieser Unglücklichen in Millionen Scherben, die sich über einen weiten Raum verteilten und fast schon wie unschuldiger Schnee hinabrieselten. Als sich wieder Stille über das Schlachtfeld wie ein samtenes Tuch legte, war von den Engeln nichts mehr zu sehen.

Ich sah, wie sich Ayden verwundert, aber gleichzeitig strahlend mir zuwandte, überglücklich, dass wir zumindest einen Teilsieg errungen hatten, konnte darauf aber nicht reagieren. Mein ganzer Körper schien taub zu sein ... irgendwie ... tot ... Ich blieb vielleicht noch fünf Sekunden aufrecht, dann knickten meine Beine unter mir weg und ich landete unsanft mit der Seite auf dem lädierten Boden. Selbst den entsetzten Schrei des Schwarzhaarigen hörte ich nicht mehr richtig. Es war so seltsam. Ich sah nur verschwommene Konturen, hörte alles nur, als wenn ich tief, tief unter Wasser wäre, und konnte keinen Muskel rühren. Ich konnte spüren, wie selbst mein Zwerchfell immer müder und langsamer seiner Tätigkeit nachging und auch, wie mein Herz immer langsamer und langsamer schlug. Ich spürte die Schmerzen in meinem Rücken nicht mehr. Und es wurde mir klar. Ich war auf der Schwelle zum Tod. Ich hatte zu viel Kraft gebraucht. Viel zu viel ...