Die Gemeinschaft der Blutrose
Der Geburtstag von Ayden ging relativ ruhig zu Ende – wobei ich immer noch nicht wusste, der wievielte es war – und es verstrichen noch weitere zwei Tage, bis Kenneth plötzlich ins Wohnzimmer trat, in dem Ayden und Cináed eine Partie Schach spielten, beobachtet von Kira und mir. Wir sahen alle ruckartig auf und erblickten schräg hinter Kenneth einen weiteren Mann mit langen, schwarzen zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren. Seine Haut war blass und die unglaublichen, violetten Augen sahen mit einer Schärfe umher, die der Schneide eines Schwertes nachempfunden sein musste. Seine Kleidung war altmodisch und fremdländisch, strahlte aber – zusätzlich zu den anderen Dingen – eine Eleganz und verführerische Anziehung aus, die man von einem Lord oder einem Kaiser erwarten würde. Ich befand binnen Sekunden, dass vor mir der Inbegriff des Namens und Begriffs ‚Dracula‘ stehen musste.
„Schön, euch gesund und munter wiederzusehen“, begrüßte Kenneth uns und deutete mit einer Hand auf seinen Gast. „Das ist mein alter Freund Antonius.“ Ich überlegte gerade fieberhaft, aus welcher Sprache der Name stammte, da beantwortete Aydens Vater meine Frage auch schon. „Er ist ein sehr alter Vampir aus Rumänien.“
Also doch die Dracula-Personifikation, dachte ich unwillkürlich. Würde mich nicht wundern, wenn die ganze Dracula-Saga dadurch entstanden ist, weil ihn jemand mal gesehen hat – und seine Fangzähne, sponn ich den Gedanken weiter.
„Sehr erfreut, dich kennenzulernen“, nahm Ayden den Faden auf. Ich blieb lieber stumm. „Kann man fragen, warum du ihn hergeholt hast?“
„Wir haben beide ein paar Nachforschungen angestellt“, erläuterte Kenneth knapp. „Über Gruppierungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Vampire auszulöschen.“
„Diese Tendenz der Menschen geht schon in die frühesten Jahrhunderte zurück“, schaltete sich Antonius mit einem starken Akzent ein. „Die ältesten Vampire – so wie ich – können uns noch sehr gut daran erinnern. Diese törichte Spezies hat besonders athletische Kinder trainiert und zu einer Art Bluthund umfunktioniert, die uns wiederum erfolgreich jagten, weshalb wir uns gezwungen sahen, in den Untergrund zu verschwinden. Lange Jahre blieb uns ein Rache-Schlag verwehrt, bis auf einmal eine neue Generation von Vampiren erschaffen wurde – ihr“, übernahm der Fremde die Erklärung und umfasste mit seiner Handbewegung die Familie Phynix, die durch das unbemerkte Auftauchen von Sophie vollständig beisammen war. „Ihr seid mit untypischen Kräften gesegnet, die es euch erlauben, jeweils ein Element zu befehligen. Es war nicht klar, warum erst die neuen Vampire, die in den letzten hundert Jahren erschaffen wurden, diese Fähigkeit besaßen, aber es kümmerte niemanden mehr, da eine Chance zum Gegenschlag gesehen wurde. Man versammelte die neuen Vampire und ließ sie wiederum auf die Jäger los. Jeder von ihnen wurde getötet, es scheint aber, dass wir zu nachlässig mit den Hinterbliebenen dieser Jäger umgegangen sind. Kinder, Frauen, Geschwister – ihr Groll gegen uns, angestachelt durch die Lehren der Jäger und deren Tode – wuchs ins Unermessliche und so gründeten sich auf ihrer Seite wieder Untergrundorganisationen, die es sich zur Aufgabe machten, einen Weg zu finden, die erneute Überlegenheit der Vampire außer Kraft zu setzen.“
Ich hatte resigniert die Augen geschlossen. Allmählich wurde die Geschichte dieses Vampirs so ziemlich deckungsgleich zu der, die mir Rupert berichtet hatte ...
„Glücklicherweise haben Menschen seit jeher einen Hang dazu, ihr Heil in den Waffen zu suchen, gegen die die Kräfte der neuen Vampire jedoch erhaben waren, sodass die Bewegungen sich bald verloren haben oder abermals ausgelöscht wurden“, berichtete Antonius weiter.
„Das hilft uns nicht wirklich“, bemerkte Kira trocken.
„Kenneth und ich haben uns an den richtigen Stellen umgehört und sind zu den richtigen Orten gereist, um von einer Gruppe zu hören, die sich bis jetzt noch nicht aktiv an der Jagd der Vampire beteiligt hat und daher in Ungnade bei den anderen gefallen ist“, fuhr der Rumäne ungeniert fort. „Anscheinend hat sich diese Gruppierung auf irgendwelche Nachforschungen spezialisiert, die in der Genforschung anzusiedeln sind.“
„Nein ...“, konnte ich nicht mehr an mich halten und lenkte so die Aufmerksamkeit der feinsinnigen Vampire auf mich. Ich zitterte leicht, wich aber der beruhigenden Hand Aydens aus, die er daraufhin verwirrt sinken ließ. Meine Augen waren geweitet und Terror breitete sich wie Gift in mir aus. Das darf ich wahr sein, dachte ich fieberhaft.
„Diese Gruppe“, nahm Antonius wieder den Faden auf, „nennt sich selbst ‚Die Gemeinschaft der Blutrose‘. Ihr Emblem ist eine blutrote Rose, deren Blüten in Blut übergehen“, beschrieb der Fremde und holte aus einer Falte seiner Gewänder ein Blatt Papier, auf der die Blutrose abgebildet war. Unter einem anderen Kontext hätte ich es als schönes Tattoo oder dergleichen empfunden, so allerdings musste ich nach einer Sekunde den Blick abwenden und den Brechreiz niederkämpfen. So viel Symbolik und Sarkasmus war selbst für mich zu viel. „Ich habe schon von Freunden aus anderen Ländern gehört, dass seltsame Wesen, die sie als Engel mit leuchtenden Flügeln beschrieben, sie angegriffen und in die Flucht geschlagen haben. Kenneth und ich suchten diese Versprengten auf, die trotz ihrer Fähigkeiten diesen Wesen nicht viel entgegenbringen konnten, und brachten noch einige Details über sie in Erfahrung. Die Anzahl ihrer Flügel scheint proportional zu ihrer Kraft und dementsprechend Gefahr für uns zu sein.“ Nun starrten Ayden, Kira und Sophie ohne, dass ich einen Ton von mir gegeben hatte, zu mir und ich vergrub mein Gesicht in den Händen.
Ich ging in Gedanken alles durch, was in den letzten drei Tagen geschehen war, und zu meinem Entsetzen fügte sich diese Information gut ins Gesamtbild ein. Als Erstes war das Mädchen mit den zwei Flügeln, die ich – oder wohl eher der Wolf – leicht hatte zurückschlagen können. Dann die Zwei mit den vier Flügeln, für die ich deutlich mehr Kraft aufbieten musste, und der noch stärkere Engel mit den sechs Flügeln – den ich trotzdem in die Flucht hatte schlagen können ... weil ich acht Flügel hatte und somit die Stärkste von ihnen war.
„Das Problem bei diesen Wesen ist allerdings, dass wir nur vermuten können, dass die Menschen sie irgendwo gefunden haben, und dass wir nicht wissen, wie man sie besiegen kann“, schloss Antonius von der geladenen Atmosphäre im Raum ein wenig irritiert.
„Sie haben diese Engel nicht gefunden“, widersprach ich dann monoton und nun konnte ich die Blicke der restlichen Anwesenden auf mir spüren, ich behielt mein Gesicht jedoch in den Händen. „Sie haben sie erschaffen.“
„Erschaffen?!“, wiederholte Kenneth. „Wie?“
„Genforschung“, nahm Ayden den Faden auf und bezog sich auf die Informationen von Rupert.
„Woher weißt du das?!“, schaltete sich Antonius ein. Ayden zögerte. „Sprich!“, verlangte der Rumäne mit einer unterschwelligen Drohung.
„Durch meinen Ziehvater haben wir das erfahren, auch wenn wir es bis jetzt nicht wirklich geglaubt haben“, nahm ich dem Schwarzhaarigen die Bürde ab.
„Ziehvater? Seit wann???“, wollte nun Kenneth verwirrt von mir wissen.
„Rupert ist nicht mein Vater. In Wahrheit ...“, antwortete ich und eine grausame Erkenntnis stieg dabei in mir auf. „... ist er ein Mitglied der Blutrose.“ Ich sah mitfühlend zu dem Vampir auf, der mich fassungslos anblickte, als wenn ich ihm mit einer Pfanne eins übergezogen hätte. „Es tut mir leid“, flüsterte ich dann.
„Ich werde es erklären“, erbot sich Ayden neben mir und holte schon Luft, da unterbrach ich ihn auch schon. „Nein, ich mache das“, sagte ich nur und holte tief Luft, ehe ich am Anfang, mit den seltsamen Visionen anfing, damit sich dem Rest von Aydens Familie alles so erschließen konnte, wie mir und ihm. Als ich nach dem Telefonat mit Rupert endete, herrschte Totenstille im Raum.
„Nun, das erklärt alles aus einem sehr interessanten Blickwinkel“, meinte Antonius dann. „Und wirft gleichzeitig neue Fragen und vor allem Probleme auf. Das Größte dürfte sein, dass diese Gemeinschaft dich sicherlich so schnell wie möglich wieder in Gewahrsam wissen will. Jetzt, da sie weiß, dass deine Kräfte erwacht zu sein scheinen. Immerhin dürftest du mit deinen acht Flügeln eine ihrer mächtigsten Geschöpfe sein.“ Ich zuckte bei seiner sachlichen und zweifelsfrei richtigen aber unglaublich verletzenden Wortwahl zusammen.
„Hättest du das nicht anders sagen können?!“, knurrte Ayden und auch Cináed wirkte nicht einverstanden mit den Worten des Fremden, weil er seine Handknöchel bedrohlich knacken ließ. „Sie ist kein Geschöpf!“, grollte Ayden weiter.
„Willst du mir etwa sagen, dass du den Eingriff dieser Gemeinschaft im Erbgut der Menschen nicht als ‚erschaffen‘ bezeichnen willst?“, hielt Antonius trocken dagegen. Ich spürte, wie Aydens Muskeln sich anspannten, daher ging ich dazwischen.
„Ist schon gut, ich sehe es ja selbst genauso.“ Der Schwarzhaarige sah mich nur ungläubig an, entspannte sich dann aber wieder gezwungenermaßen.
„Kannst du uns etwas über deine Limits erzählen?“, bohrte der Rumäne an mich gewandt weiter.
„Nein. Für mich gelten nicht wirklich dieselben Regeln wie für die anderen. Ich scheine mich immer noch von ihnen zu unterscheiden ... und damit meine ich nicht die Anzahl der Flügel“, erwiderte ich langsam. Ich hatte den Wolf, von dem noch nicht einmal Ayden wusste, nicht erwähnt und dementsprechend schwierig war es für mich, alles in die richtigen Worte zu fassen.
„Umso mehr werden sie dich zurückhaben wollen.“
„Bleibt aber die Frage, warum die Blutrose sie dann überhaupt unbeaufsichtigt in die Welt gelassen hat“, schaltete sich Sophie mitfühlend ein.
„Sie hatten einen triftigen Grund, so viel steht fest“, meinte Kenneth sofort. „Auch wenn der sich unserem Wissen noch entzieht.“
Ich hatte der Unterhaltung nur noch halbherzig gefolgt, da sie immer mehr in die Richtung ging, was am besten mit mir zu tun war, da schoss mein Kopf in die Höhe und ich starrte durch ein Fenster in den Wald hinein. Schlagartig war es wieder still im Wohnzimmer geworden. „Sie sind hier“, stellte ich monoton fest und eine Millisekunde später sprang alles auf, was gesessen hatte und schwärmte aus. Ayden hob mich in seine Arme und sprintete mit mir in die entgegengesetzte Richtung. Offenbar wollte der Rest seiner Familie inklusive Antonius die Engel hinhalten, während er mich wegbrachte.
„Halt an!“, rief ich und kämpfte mich irgendwie aus seinen Armen, bevor er mich aus dem Haus gebracht hatte. „Ich werde bestimmt nicht wegrennen. Falls du es vergessen haben solltest, bin ich so ziemlich die Einzige, die es mit den Engeln aufnehmen kann. Ich weigere mich, deine unterlegene Familie vorzuschicken, während ich mich irgendwohin verkrieche!“
„Aber sie sind doch hinter dir her!“, widersprach Ayden aufgeregt und wollte mich wieder packen, ich wich ihm allerdings aus.
„Und sie wollen alle Vampire vernichten. Ich bin da, glaube ich, eher ein Bonus, wenn man bedenkt, dass die Blutrose sogar die Gene der Menschen verändert, um eine Waffe gegen euch zu haben! Das große Ziel ist, euch zu vernichten! Und das werde ich nicht zulassen, nachdem ihr mich in eure Familie aufgenommen habt! In einer Familie hilft man sich gegenseitig und genau das habe ich vor!“
„Leyla“, erwiderte der Schwarzhaarige nur überrascht und berührt von meinen Worten. Ich wirbelte herum und rannte los. Der junge Mann holte mich schnell wieder ein, machte aber keine Anstalten mehr, mich wegzubringen. Auf der anderen Seite half er auch nicht, mich schneller zum Ort des Geschehens zu bringen ...
Wieder einmal fand der Showdown der übermenschlichen Kräfte im Wald statt, der unter ihnen zu leiden hatte. Ich bemerkte von Eis überzogene Baumstämme, verkohlte Überreste und eine Schneise umgeknickter Stämme. Es knisterte und krachte aus der Richtung, in die ich lief, und es dauerte nicht lange, da überholte mich Ayden und schirmte mich halb ab. Kurz darauf kam seine Familie in Sicht, die reichlich mitgenommen wirkte und mehreren Engeln gegenüberstand, unter ihnen der gelbe mit den sechs Flügeln. Was mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte, war die Anzahl der Engel, die sechs Flügel aufwiesen. Es waren ihrer fünf. Irgendwie bezweifelte ich langsam, dass ich erneut die Dinge zum Guten würde wenden können. Außerdem wurde jeder dieser Engel von einem Vierflügeligem scheinbar zusätzlich geschützt, sodass zehn Engel gegen fünf Vampire – mit Ayden nun sechs – kämpften.
Ziemlich übertrieben diese Übermacht, wenn man bedenkt, dass sie ohnehin stärker sind, als die Vampire, dachte ich angewidert. Sie sind nur wegen dir so zahlreich hier. Viel mehr von ihnen wird es auf der Welt nicht geben, schaltete sich der Wolf von irgendwoher ein.
Wegen mir?, wiederholte ich ungläubig, doch der Weiße war wieder verstummt. Inzwischen war meine und Aydens Ankunft bemerkt worden. Der gelbe Engel sah sich um und rief in dem Moment, da er mich sah: „Das ist sie!“ Alle anderen Engel bis auf die mit den vier Flügeln drehten sich um und schwebten angeführt vom gelben auf mich zu.
Bist du bereit?, wollte ich in Gedanken wissen und hoffte, dass mein Adressat antworten würde.
Ja, auch wenn ich es als seltsam empfinde, dass du gegen deinesgleichen kämpfst, erwiderte der Wolf.
Mag sein, dass ich eine von ihnen bin, aber das bin ich nicht freiwillig. Freiwillig werde ich aber für Ayden und seine Familie kämpfen, also bitte, leih mir deine Kraft, dachte ich zurück.
Gut. Aber vergiss nicht, dass es nicht auf Dauer so geht. Die Kraft gehört dir, irgendwann musst du dir einen Ruck geben und sie aus deinem eigenen Ermessen benutzen. Ich wurde stutzig wegen dieser Worte, spürte aber im selben Moment, wie sich die stechenden Ornamente auf meinem Rücken bildeten, konnte mir vorstellen, wie sie sich zu den acht azurblauen Flügeln ausbreiteten, und fühlte, wie meine Muskeln sich wieder ohne mein Zutun bewegten. An meiner Hand bildete sich wieder die Peitsche, aber bevor ich sie schwingen konnte, verschwammen die Engel vor meinen Augen und schwebten plötzlich in einem perfekten Kreis um mich herum. Ayden knurrte und beschwor sein Eis herauf, während ich die Peitsche zu einer Art Schwert umwandelte und lauernd auf die Attacken der Gegner wartete.
Ayden war des Wartens Leid und griff den gelben Engel mit seinen Eissplittern an, mit demselben Ergebnis wie wenige Tage zuvor. Der Gelbe wehrte die Splitter mit einer unsichtbaren Wand ab und reagierte auf den Angriff in der Art, dass er kräftig mit seinem Arm ausschlug. Ein orkanartiger Wind zog aus dem Nichts herauf und schleuderte den Schwarzhaarigen aus dem Kreis, in dem ich nun allein stand. Ohne ersichtlichen Grund war das Schwert wieder eine Peitsche, die ich in einer ausholenden Geste so schwang, dass sie theoretisch alle Engel am Bauch treffen musste. Meine Gegner streckten die Hände aus, sodass deren Innenflächen zu mir zeigten, und blockten alle gleichzeitig meinen Peitschenhieb.
Verdammt!, wetterte der Wolf. Sie haben sich extra darauf vorbereitet, uns außer Gefecht zu setzen! Ich sah mich hektisch um und bemerkte die konzentrierten, aufmerksamen Gesichter der anderen Engel. Ich sah den hitzigen Kampf zwischen der Familie Phynix und den vierflügeligen Engeln, ebenso die Versuche Aydens, wieder zu mir zu gelangen, die jedoch wirksam durch einen der Engel mit sechs Flügeln vereitelt wurden. Die verbleibenden vier, die sich noch voll und ganz mit mir beschäftigten, führten komplizierte Bewegungen mit ihren Händen aus.
NEIN!, rief der Wolf erbost und ich bemerkte, wie mein Körper zu einem hektischen Angriff ausholte, jedoch mitten in der Bewegung erstarrte. VERDAMMT!!!, rief der Weiße, sodass es in meinen Ohren klingelte. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb ich mich nicht mehr bewegen konnte, als auf einmal kristalline Ketten um mich herum erschienen, die meinen kompletten Körper so umschlangen, dass ich wie in einer Zwangsjacke an so gut wie jeder noch so kleinen Bewegung gehindert wurde. Ich versuchte, mich aus den Ketten zu kämpfen, was jedoch sinnlos war. Die Engel schienen sich allesamt ausschließlich auf deren Aufrechterhaltung zu konzentrieren und ich musste mich der geballten Kraft von vier sechsflügeligen Engeln selbst als Engel mit acht Flügeln geschlagen geben. Von Verzweiflung und der drohenden Niederlage geplagt, suchte mich die Müdigkeit nach dem Einsetzen meiner Kräfte früher als sonst heim, sodass ich in den Ketten kraftlos in die Knie sank. Ich sah an dem abebbenden blauen Leuchten von meinem Rücken her, dass meine Flügel verschwanden und mit ihnen meine Kraft. Ob es die Ketten waren, die mir die Kraft nahmen, oder ob ich bereits zu viel Kraft aufgewandt hatte, wusste ich nicht, aber das schreckliche Ergebnis blieb dasselbe. Ich war von den Engeln gefangen genommen wurden.
„LEYLA!!!“, schrie Ayden entsetzt und kämpfte mit allem, was er hatte, um zu mir zu gelangen – Bemühungen, die fruchtlos blieben und nur das Ergebnis hervorriefen, dass er von seinem Gegner an der Schulter verwundet und weiter fortgedrängt wurde. Auch der Rest seiner Familie konnte nicht zu mir gelangen. Es war vorbei.
„Lasst die Vampire, wir müssen dafür sorgen, dass die Frau sicher zu unserem Meister kommt“, befahl der gelbe Engel und schon gruppierten sich innerhalb eines Augenblicks alle zehn Engel um mich, nahmen sich bei der Hand und konzentrierten sich. Ich spürte am Rand der Bewusstlosigkeit, wie mein Körper vom Boden gezogen wurde und durch die Luft zu fliegen schien. Dann ließ ich mich in die Schwärze fallen, die sich wie ein Raubtier herangeschlichen und sich auf mich gestürzt hatte ...
Ich war wieder in der Sphäre mit dem Wolf. Er lag ruhig, aber mit wütend hin- und herwedelndem Schwanz vor mir, seine blauen Augen leicht verengt auf mich gerichtet. „Was ist passiert?“, wollte ich fast schon anklagend von ihm wissen.
„Du warst noch nicht bereit, es mit dieser Anzahl von Gegnern aufzunehmen. Du bist noch nicht stark genug“, antwortete der Weiße ebenfalls unzufrieden.
„Und wie soll ich das ändern? Falls du es vergessen hast, bist DU derjenige, der meine Kräfte steuern kann!“, gab ich verzweifelt zurück.
„Nein. Ich helfe dir, aber das geht nur in einem gewissen Maß. Diese Grenze ist unter anderem der Grund, weshalb du noch immer relativ schwach bist. DU musst deine Kräfte einsetzen wollen, und zwar von ganzem Herzen. Du musst sie erwecken, um sie einsetzen zu können. Aber in deiner Angst, etwas Unmenschliches zu sein, unterdrückst du sie nur. Verstehst du, was das Problem ist?“, widersprach das Wesen eindringlich, woraufhin ich ihn nur fragend ansah. „Du verleugnest dich selbst! Du willst dich zum Wohle deines bisherigen Lebens, das du ohnehin nicht mehr zurückbekommen kannst, als etwas ausgeben, was du nicht bist! Wenn du dich und deine Kräfte wirklich von Herzen akzeptieren würdest, würdest du auch auf die volle Kraft in dir zurückgreifen können. Bedenke: So und nur so wirst du deine Vampire in Zukunft retten können. Das heißt, wenn du hier jemals wieder herauskommst.“
„Wo heraus?“, wollte ich verwirrt wissen und wurde als Antwort von dem Wolf in mein Bewusstsein geschoben ...
Das Erste, was ich wieder wahrnahm, war mein Tastsinn. Ich fühlte blankes, kaltes Metall an meinen Hand- und Fußgelenken, dem unterschiedlichen Druck zur Folge wohl eine Kette.
Sie schnitt stark in mein Fleisch und sie zerrte irgendwie an meinem kompletten Körper.
„Verzeichne erhöhte Aktivität“, hörte ich eine weibliche Stimme sagen und mit einem Mal war ich hellwach und ich schlug meine Augen auf. Zu meinem Entsetzen bekam ich das zu sehen, was ich erwartete: Ich war in der großen, gläsernen Kugel – jedoch nicht mit der Flüssigkeit gefüllt, wie in meinen Erinnerungen – durch die ich mehrere Menschen mit weißen Kitteln sehen konnte, die an unzähligen hochmodernen Geräten oder Apparaturen standen und arbeiteten oder von einem Arbeitsplatz zum anderen huschten. Alle bis auf einen, der auf die Kugel zuschritt, in der ich an den Ketten hing wie gekreuzigt. Ohne die seltsame Flüssigkeit war ich endlich in der Lage, den Mann richtig zu sehen, der dort auf mich zukam und der mein Leben ohne Zweifel in diesen Albtraum verwandelt hatte. Er war groß, muskulös und seine Gesichtszüge waren hart und gröber als die von Ayden. Lange, leicht gewellte weiße Haare umrahmten sein Gesicht und hingen ihm in die blutroten Augen.
Ein Albino?, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, als ich bemerkte, dass ein großer Teil der Haare eine fleischige Narbe auf seiner Wange nur unzureichend verdeckte. Die bleiche, dünne Haut, durch die man stellenweise die feinen, blauen Blutgefäße durchschimmern sehen konnte, wirkte trotz allem gesund und weich. Der Mann schien ein Inbegriff der Widersprüche zu sein. Manch eine Frau würde ihn vielleicht sogar trotz seines ausgefallenen Äußeren als schön bezeichnen, für mich hatte seine Erscheinung allerdings eher den Effekt eines roten Tuchs vor einem Bullen. Wut und Hass stiegen bei seinem Anblick in mir auf, die von den Schmerzen, die allmählich durch die Ketten von meinen Gelenken aufkamen, nur geschürt wurden.
„Du bist ganz schön vom rechten Weg abgekommen“, kommentierte der Mann und seine Stimme durchzuckte mich wie ein Blitz. Diese verhasste Stimme aus der Vergangenheit, der Mann, der den Befehl gab, mich von meinen leiblichen Eltern zu trennen und sie zu töten, nachdem meine Mutter mich einmal besucht hatte.
„Das finde ich überhaupt nicht“, fauchte ich mit verengten Augen.
„Du bist die ultimative Waffe gegen diese untoten Monster namens Vampire. Und was machst du? Du tötest deine Brüder und Schwestern, um eben jene verabscheuungswürdigen Wesen zu beschützen“, fuhr der Mann ungehalten fort.
„Sie sind keine verabscheuungswürdigen Wesen, du bist eins!!!“, wetterte ich und zog instinktiv an den Ketten. Nichts hätte ich lieber getan, als diesem Mann an die Gurgel zu springen, aber das Metall gab meinen kläglichen Versuchen keine Chance. Ich war nach wie vor gefesselt.
„Herrje ...“, schüttelte der Mann seufzend den Kopf. „Du hast eindeutig zu viel Freiheiten genossen. Ich war zu nachsichtig mit dir, das sehe ich ein, aber glaube mir, diesen Fehler begehe ich nicht noch mal. Ivy“, sprach er eine Frau in befehlendem Tonfall an.
„Ja, Sir?“, antwortete die Angesprochene.
„Löschen Sie die Erinnerungen von Leyla, und zwar komplett bis zu dem Zeitpunkt, wo sie von ihren Eltern fortzog und nach Neuseeland kam. Alles, was mit den Vampiren zu tun hat, soll im Nichts verschwinden.“
„WAS? NEIN!!“, rief ich hellauf entsetzt. All die Dinge, die ich erlebt hatte, die Erinnerungen, die ich unter diesen Qualen wiedererlangt hatte, all die Erkenntnisse, all die Gefühle – Ayden – sollten ausgelöscht werden? Ich weigerte mich, das zu akzeptieren, und die Angst, dass ich das alles, dass ich Ayden und meine Gefühle verlieren sollte, ohne, dass ich sie ihm mitteilen konnte, lähmte mich. Ich bemerkte einen Stich am Arm und die erzwungene Narkose, die mich in ihre kalten, schwarzen Arme zerrte und verhinderte, dass ich mich weiter aktiv wehren konnte.
Als ich erwachte, fühlte ich mich seltsam. So befreit und doch geplagt ... so leicht und doch so schwer ... mein Herz ...
„Guten Morgen“, begrüßte mich eine Frauenstimme neben mir und ich wandte den Kopf, um diejenige ansehen zu können. Es war eine Frau in einem weißen Kittel.
„Guten Morgen“, erwiderte ich, den Manieren treu, die mir meine Eltern eingetrichtert hatten.
„Wie geht es dir?“, wollte die Frau wissen.
„Sind Sie eine Ärztin?“, fragte ich mit einem seltsamen dumpfen Gefühl in meinem Kopf, einer undefinierbaren Leere, die ich mir nicht erklären konnte.
„Ja, du hast recht. Du bist zusammengebrochen und du bist daraufhin hierher gebracht worden. Eine glückliche Fügung“, erwiderte die Frau.
„Warum eine glückliche Fügung?“, wollte ich müde und mit stechender Migräne wissen.
„Weil dich der Meister ohnehin sehen wollte. Es ist Zeit“, gab die Frau in dem weißen Kittel kryptisch zurück. „Wenn du mir jetzt bitte folgen würdest.“ Ich schwang meine Beine über die Bettkante, erhob mich und lief der Frau nach, auch wenn mich für eine Sekunde Schwindel überfiel. Sie führte mich durch sterile Flure und Gänge, in denen noch wesentlich mehr Menschen mit Kittel umherliefen, manche eilig, manche entspannt, wiederum andere etwas verunsichert. Schließlich kamen wir in eine Art Thronsaal, von hohen Säulen umsäumt. Das Licht in sämtlichen Räumen wurde von Lampen gespendet, Tageslicht erreichte diesen Ort nicht. An den Säulen hingen lange Teppiche oder Flaggen, auf denen eine rote Rose prangte, deren Blüten in Blut übergingen, das nach unten tropfte. Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte so ein Gefühl, dieses Emblem schon einmal gesehen zu haben und mein Körper schien sich nicht angenehm daran zu erinnern. Es fühlte sich an wie Angst, die sich meiner bemächtigte, war aber nur ein flaues Gefühl in meinem Magen, das ich letztlich meinem Zusammenbruch zuschrieb. Die Frau führte mich zwischen den Säulen auf einem langen, roten Teppich weiter, bis wir zur Stirnseite des langen Saals kamen, wo auf einer Art Thron ein Mann mit schwarzem Sweatshirt, schwarzen, eng anliegenden Hosen und einem bodenlangen, pechschwarzen Mantel saß und uns entgegenblickte. Bei seinem äußeren Erscheinungsbild baute sich ein wenig Ekel in mir auf. Die weißen Haare, die blutroten Augen und die Narbe auf der Wange ... Ohne die Farbe der Augen und die Narbe hätte er vielleicht sogar sehr schön aussehen können, wenn sein stechender, berechnender und kalter Blick nicht noch gewesen wäre.
„Leyla“, begrüßte er mich, indem er hoheitsvoll das Haupt neigte und ich nickte als Antwort. „Willkommen in meinem Heiligtum“, fuhr der Mann mit seiner durch Mark und Bein gehenden tiefen, rauen Stimme fort und wies mit einer ausladenden Handbewegung auf den Säulensaal. Ich schwieg, da ich beim besten Willen nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. „Willkommen zu Hause“, sagte er dann mit einem Grinsen und leicht verengten Augen.
„Wie bitte?“, wiederholte ich perplex.
„Ja, das hier ist dein Zuhause“, tönte es hinter mir und Rupert und Konstanze traten aus dem Schatten einer Säule. „Wir haben dich großgezogen, weil der Meister verhindert war.“ Ich sah von den Beiden zu dem Albino und wieder zurück.
„Es freut mich, dass du wieder hier bist – mich und deine Brüder und Schwestern“, fuhr der Weißhaarige fort, während sein Grinsen immer breiter und böser wurde, als auf einmal hinter ihm zwei Engel mit leuchtenden Flügeln herangeschwebt kamen. Eigentlich hätte ich wegen dieser Übernatürlichkeit in Panik verfallen müssen, aber seltsamerweise war ich vollkommen ruhig. Ich wusste innerlich, dass er recht hatte, dass ich zu ihnen gehörte ... Aber woher? Ein schmerzhafter Stich durchfuhr meinen Kopf, als ich der Frage auf den Grund gehen wollte, daher ließ ich es lieber sein.
„Weißt du, was du bist?“, wollte der Mann dann von mir wissen. Ich starrte die Engel an.
„Dasselbe, wie sie?“, fragte ich mehr, als dass ich antwortete.
„Ja. Und was musst du tun?“ Die Antwort wurde mir durch eine seltsam flimmernde Erinnerung gegeben, die sich wie ein Fremdkörper in meinem Kopf anfühlte. Ein Mensch, der auf einmal einen anderen überfiel und seine langen Reißzähne in das Fleisch des anderen schlug, um daraufhin genüsslich das aus den Wunden tretende Blut zu trinken. Ein Engel, der daraufhin aus dem Nichts zu erscheinen schien und mit dem Angreifer kämpfte und diesen tötete.
„Ich muss die Vampire vernichten“, antwortete ich tonlos, weil sich diese Worte irgendwie fremd anfühlten, aber die einzige Schlussfolgerung waren. Der Albino begann grausam zu lachen, immer lauter, dann wandte er sich den beiden Engeln mit den sechs Flügeln zu. Einer besaß gelbe, der nächste rubinrote.
„Bringt sie zu ihrem ersten Einsatzort. Ihre ‚Freunde‘ werden sich sicherlich freuen, sie wiederzusehen“, sagte der Mann mit einem bösen Grinsen, die Engel verneigten sich und schwebten dann zu mir.
„Komm mit uns“, sagte der Gelbe und schwebte an mir vorbei den Gang wieder hinab, fort von dem Albino und seinem Thron.
Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich meine Flügel dazu bekommen sollte, sich zu zeigen, daher lief ich ihnen ganz normal hinterher, auch wenn irgendetwas in mir vor Qualen schrie.
Einige Stunden später – die Engel hatten mir während unserer Reise erklärt, wie ich meine Kräfte einsetzen konnte und wie wir vorgehen würden, um die etwas größere Vampir-Familie zu vernichten – landete unser Flugzeug. Wir würden es mit vier Männern und zwei Frauen zu tun bekommen, von denen die Männer größere Kräfte besaßen und daher zuerst ausgeschaltet werden mussten. Ich sollte mich dabei um einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen kümmern, der Wasser beziehungsweise Eis kontrollieren konnte. Die beiden nahmen mich, als wir das Festland Neuseelands betraten, jeweils einer an der Hand und ich wurde mit einer unglaublichen Kraft gezogen. Keine Sekunde später waren wir in einem Wald und nicht mehr auf dem Privatflughafen, auf dem wir gelandet waren.
„Du weißt, was du zu tun hast“, sagte der gelbe Engel und ich nickte. „Deine Kräfte sind noch ein wenig instabil und verletzen dich noch. Daher wirst du dich erst später an dem Kampf beteiligen. Du musst die Menschentöter so schnell wie möglich ausschalten.“ Ich nickte wieder und die beiden anderen verschwanden. Wir hatten abgemacht, dass sie die Vampire in den Wald nicht weit von mir locken würden, damit ich mich im richtigen Moment zeigen konnte. Daher blieb mir vorerst nur das Warten, bei dem ich mich bereits auf meine Kräfte konzentrierte und sie anrief. Dabei huschte jedoch ein Bild vor mein geistiges Auge – ein Wolf mit zehn weißen Flügeln, und schon war es um meine Konzentration geschehen. Abermals hatte ich das Gefühl, als wenn mir dieser Wolf etwas sagen müsste, und wieder durchzuckten höllische Schmerzen meinen Kopf, als ich versuchte, nach diesem Wesen in meinen Erinnerungen zu suchen.
Was soll denn das?, dachte ich verwirrt. Warum bekomme ich Kopfschmerzen, wenn ich versuche, mich an etwas zu erinnern? Ohne gefragt worden zu sein, huschten verzerrte Bilder vor mein geistiges Auge. Ein Haus. Ein Wald. Engel, die einer Gruppe Menschen gegenüberstanden. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen ... Ich schüttelte kräftig den Kopf, um die verwirrenden Bilder wieder loszuwerden. Ich musste mich auf den anstehenden Kampf konzentrieren, der gleich losbrechen würde, da ich bereits Kampfgeräusche vernahm, die allerdings noch fern erklangen, aber immer näher kamen. Ich schloss meine Augen und rief meine Kräfte an die Oberfläche. Ich konnte förmlich spüren, wie sich meine Flügel bildeten und meiner Neugier folgend sah ich sie mir an. Ich hatte acht und nicht sechs wie meine beiden Begleiter. Aber warum war das so? Die beiden anderen hatten mir so viel erzählt, aber nie ein Wort darüber verloren, dass ich zwei Flügel mehr als sie besaß. Oder hatten sie es etwa nicht gewusst?
Mir blieb keine Zeit darüber zu grübeln, da die krachenden Geräusche des Kampfes sich nicht mehr näherten, was mein Stichwort war. Ich rannte los, dem Geschehen entgegen und kam so zu einem kleinen See, über dem die Engel schwebten, wobei die Vampire an seinem Ufer standen. Ich zählte sechs Vampire, die sich alle ihrer speziellen Fähigkeiten bedienten, um gegen meine Brüder zu kämpfen. Ich hob meine Hand, um aus dem Hinterhalt eine Attacke zu starten, da verkrampfte sich ein Muskel und ich keuchte leise auf vor Schmerz. Es war aber laut genug, um von den Vampiren gehört zu werden. „LEYLA!“, rief einer von ihnen und mein Blick, der auf meiner schmerzenden, pochenden und sich verkrampfenden Hand ruhte, schnellte nach oben. Woher kannten sie meinen Namen? Der Vampir, der gesprochen hatte, rannte mit seiner übermenschlichen Geschwindigkeit zu mir.
„Was tust du denn da, wehre dich gefälligst, der Vampir greift dich an!!!“, rief der gelbe Engel und ich hob meine Hand.
„AYDEN, PASS AUF!!“, rief der andere schwarzhaarige Vampir, der am Ufer zurückgeblieben war und der Angesprochene reagierte, indem er schlitternd anhielt und mich mit großen Augen anstarrte. „Was tust du denn?“, wollte er von mir wissen und seine bebende Stimme ging mir durch Mark und Bein.
„TÖTE IHN!“, rief der gelbe Engel und machte Anstalten, den Vampir namens Ayden anzugreifen, da gingen ihm die anderen Vampire dazwischen. Ich sah sofort, dass sie meine Brüder schlichtweg hinhalten und am Einmischen hindern wollten.
„Leyla ...“, sprach mich der Vampir wieder an. Ich bekam wieder dieses nagende Gefühl, diesen jungen Mann kennen zu müssen. Innerlich in komplettes Chaos gefallen, da sich nun auch wieder die verzerrten Bilder von ihm vor mein geistiges Auge schoben, zog ich meine Hand an und wich einen zitternden Schritt vor dem Schwarzhaarigen zurück.
„Wer bist du? Woher kennst du mich??“, wollte ich mit bebender Stimme von ihm wissen.
„Ich bin es“, antwortete der junge Mann und ich konnte in seinen Augen unglaublichen seelischen Schmerz glitzern sehen. Warum? Weil sein Tod bevorstand oder weil ich ihn nicht erkannte? Warum glaubte ich sofort, dass es Letzteres war? „Ayden Phynix“, fuhr er fort und trat langsam zu mir.
„Bleib weg von mir!“, fauchte ich und streckte wieder meine Hand aus. Laut den anderen beiden Engeln wussten die Vampire bereits, dass wir in der Regel stärker waren als sie. Daher erwartete ich, dass der Schwarzhaarige stehen bleiben oder gar zurückweichen würde, doch er hielt nur kurz inne und kam dann weiter auf mich zu. 15 Meter waren noch zwischen uns. „Ich warne dich!“, fauchte ich wieder, aber meine leicht zitternde Hand strafte meiner Worte Lügen.
„Leyla ...“, begann der junge Mann mit rauer Stimme, die mir ohne Grund einen Schauer den Rücken hinabjagte. „Du kannst mich nicht vergessen haben.“ Meine Augen weiteten sich.
Vergessen? Was meint er damit?, dachte ich und fiel nun in vollendete Verwirrung.
„Du kannst meine Liebe nicht vergessen haben“, fuhr er fort und meine Augen weiteten sich entsetzt.
„Deine ... Liebe?“, wiederholte ich monoton und meine Hand zitterte gefährlich. Der Schwarzhaarige ließ sich nicht beirren und kam immer näher. Nur noch fünf Meter trennten uns.
„Leyla ...“, sagte er wieder meinen Namen, dieses Mal gequält und er hob seinerseits eine Hand. Wollte er mich jetzt angreifen oder ... mich berühren??? Warum hatte ich das Gefühl, ihn kennen zu müssen??? Warum zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken, ihn anzugreifen, geschweige denn zu töten?!? Ich zögerte immer noch, wusste nicht, was ich machen sollte, zumal mich wieder die grausamen Kopfschmerzen am klaren Denken hinderten. Ich zog meine Hand ein wenig zurück, als ich bemerkte, dass mich der junge Mann tatsächlich berühren wollte – und nur noch drei Meter von mir entfernt war. Er ließ sich nicht beirren, kam weiter langsam und ruhig und mit diesen grausamen, blauen, glitzernden Augen auf mich zu, die mich in ihren Bann zogen und bewegungsunfähig machten. Zwei Meter. Seine Finger berührten meine Fingerkuppen und gleich darauf verschränkte sich seine linke Hand mit meiner rechten. Ein Meter. Ich konnte mich nicht bewegen, noch nicht einmal den Blick von ihm abwenden. Fünfzig Zentimeter. „Lass mich ...“, bat ich jetzt nur noch und zitterte am ganzen Leib. Fünfzehn Zentimeter.
„Ich kann nicht ...“, erwiderte er leise und wieder mit dieser rauen Stimme, die mich beinahe um den Verstand brachte, und irgendwie meine Knie ein wenig weich werden ließ. Es huschte erneut ein Bild vor mein geistiges Auge, und zwar, wie dieser junge Mann sich über mich beugte, seine Augen nicht von mir lassend, wie er sich zu mir hinunterbeugte ...
Seine freie Hand legte sich sanft auf meinen Rücken, knapp oberhalb meiner Hüfte und drückte mich sacht zu ihm. Ich war schon lange nicht mehr fähig, mich zu bewegen, jetzt war ich zu allem Überfluss noch sprachlos und sah einfach mit großen Augen zu ihm auf. Irgendwo in mir hatte ich bereits erwartet, was er tun würde, trotzdem war es ein Schock, vom Ziel meines Auftrags so innig geküsst zu werden, dass mir nahezu schwindelig wurde. Ich hätte ihn so leicht töten können ... er war vollkommen ungeschützt, so nahe ... aber ich konnte nicht. Das Einzige, was mich noch dazu trieb, Hand an den Schwarzhaarigen zu legen, war die Stimme des Meisters in meinem Unterbewusstsein, die wie eine Beschwörungsformel immer und immer wieder von mir verlangte, Vampire zu töten. Der Rest: Mein Herz, meine Muskeln und mein Bewusstsein machten keine Anstalten, dem Vampir vor mir auch nur ein Haar zu krümmen. Ich konnte nicht mehr und schloss kapitulierend, aber auch irgendwie genießend meine Augen und der Griff dieses Mannes um mich wurde enger. Ich konnte ihn durch seine bloße Körperhaltung schreien hören ‚ERINNERE DICH!‘
„LEYLA! Was tust du da??? Ich wusste, dass es zu früh war, sie loszuschicken!“, wetterte einer der Engel und ich wusste, dass die restlichen Vampire ihn nicht mehr lange würden hinhalten können. Ich riss mich von dem Schwarzhaarigen los, in dessen Augen ich mir einbildete, Tränen glitzern zu sehen, und ließ meinen Blick zu meinen Begleitern wandern. Der Engel mit den roten Flügeln war vollauf mit den Frauen beschäftigt, die einfach in einem unglaublichen Tempo um ihn herumrannten, sodass so gut wie alle seine Attacken ins Leere gingen. Der Mann mit den sechs gelben Flügeln focht einen hitzigen Kampf der Fertigkeiten mit den drei Männern der Vampir-Familie und brach ohne Vorwarnung aus dem Kampffeld aus und schoss auf mich zu. Der junge Mann, der bei mir stand und mich geküsst hatte, wandte mir den Rücken zu und spannte seine Muskeln. War er noch ganz bei Sinnen?? Ich war doch sein Feind, warum stellte er sich dann so bloß??? Aber ... konnte ich wirklich sein Feind sein? Das Gefühl auf meinen Lippen sagte eindeutig ‚Nein‘.
„Was habt ihr mit Leyla gemacht?!“, donnerte der Schwarzhaarige wütend und ließ Eissplitter in seiner Hand entstehen. Der Gelbe reagierte gar nicht erst darauf, sondern machte sich seinerseits zum Angriff bereit. „Jetzt reicht es, du hast dich zum letzten Mal eingemischt, du untotes Monster. JETZT SCHICKE ICH DICH ENDGÜLTIG INS JENSEITS!!!“, schrie der Engel und holte zum Angriff aus.
Es dauerte nur eine Millisekunde, da sah ich die drei anderen Vampire hinter ihm und eine weitere später rief ich ihnen entgegen: „Zerstört seine Flügel!“ Einen Augenblick huschten die Augen des Engels entsetzt zu mir, die Vampire ließen jedoch keine Zeit verstreichen und konzentrierten ihre Attacken auf den Rücken des Engels. Er gab einen qualvollen Schrei von sich, als seine sechs Flügel wie Glas zersprangen. Deren Scherben und sein lebloser Körper fielen schwer zu Boden, wo sie mit einem dumpfen Geräusch aufschlugen und liegen blieben. Ich war absolut fassungslos und musste in etwa dasselbe Gesicht machen wie der rote Engel. Warum hatte ich ihnen unsere Schwachstelle gesagt? Es war einfach ein Reflex gewesen ... ich ... ich wollte einfach nicht, dass der Schwarzhaarige Gefahr lief, auch nur verletzt zu werden.
„Helft uns mit dem hier!“, riefen die Frauen und zu fünft kamen sie auch an seine Flügel, die sie ebenfalls zerstörten. Mein leerer Blick war nirgendwohin gerichtet, ich sah einfach durch den Schwarzhaarigen hindurch, der mich hoffnungsvoll anlächelte.
„Leyla“, sprach er mich vorsichtig an und ich sprang nahezu mit einem Satz von ihm weg.
„Lass mich!“, bat ich und kauerte mich zitternd auf den Boden des Waldes. „Wer ... wer bin ich?“, murmelte ich und verkrallte meine Finger in meine Kopfhaut, als stechender Schmerz meinen Kopf durchfuhr. Ich konnte spüren, wie ich förmlich gegen eine Wand lief, hinter der die Antworten liegen mussten, die ich brauchte, um all das zu verstehen ... diese verwirrenden Gefühle ...
„Leyla!“ Das war wieder der Vampir und ich spürte seine kühlen Hände auf meinen Schultern. Das alles kam mir bekannt vor, aber dem drückenden Gefühl in meinem Herzen zur Folge konnten es keine angenehmen Erinnerungen sein. Wollte ich sie also wirklich wieder an die Oberfläche rufen? Ich zwang mich, zu dem besorgten, schönen Gesicht des jungen Mannes aufzusehen, und im selben Moment wusste ich die Antwort, die mir mein Herz zuschrie: Ja, ich wollte mich wieder erinnern, und sei es nur an ihn!
Der Schmerz, der daraufhin nicht nur durch meinen Kopf, sondern meinen gesamten Körper fuhr, war so unerträglich, dass ich mit zusammengebissenen Zähnen zur Seite hin wegkippte und mich mein Unterbewusstsein rettete, indem es mein Bewusstsein auszuschalten schien. Ich tauchte ein in völlige Schwärze, fernab von den Fragen und Schmerzen, aber auch diese Schwärze hatte etwas Vertrautes an sich. Ich sah mich um und konnte doch nichts sehen, erwartete aber immer noch, irgendwann etwas zu sehen zu bekommen. Und das bekam ich. Hinter mir breitete sich Licht aus. Ich wirbelte herum und sah schneeweißen Ornamenten dabei zu, wie sie sich langsam und elegant ausbreiteten, bis zehn Flügel vor mir die Dunkelheit erhellten. Dann verschwanden sie für einen Augenblick, ehe sie wieder in mein Blickfeld traten, allerdings nicht mehr freischwebend, sondern auf dem Rücken eines großen, weißen Wolfes. Ich starrte das wundersame Wesen fasziniert an, wusste aber gleichzeitig nicht, was ich tun sollte. Seine blauen Augen ließen nicht von mir ab, er blinzelte noch nicht einmal.
Ich bildete mir ein, dass er eine Reaktion oder Ähnliches von mir erwarten musste, nur ... Welche?
„Du hast dich also entschlossen, dich wieder zu erinnern?“, wollte das Wesen dann mit einer ruhigen Stimme von mir wissen, die im Nichts um uns her wie ein Echo immer wieder zu vernehmen war, jedoch immer leiser.
„Ich ... weiß nicht ...“, gestand ich, als meine immense Verwirrung wieder in mir hochkam.
„Wenn du nicht weißt, was du willst, kann ich dir auch nicht helfen“, kam es schlicht von dem Wolf und er wandte sich zum Gehen.
„Warte!“, rief ich und er hielt inne. „Ich ... ich will wissen, woher ich diesen Vampir kenne! Jedes Mal, wenn ich mich zu erinnern versuche, plagen mich Schmerzen, aber trotzdem …!“
„Die Schmerzen kommen, weil du ihn aufgrund spezieller Medikamente vergessen hast.“
„Wie bitte?“ Ich war entsetzt.
„Dein Gedächtnis wurde manipuliert, da ist es kein Wunder, dass dein Körper protestiert“, gab der Wolf sachlich zurück. „Dein Meister meinte, dass du keine Verwendung für deine Erinnerungen hast.“
„Mein ... der Albino? Der Oberste der Gemeinschaft?“
„Ja, genau der“, bestätigte der Weiße und bewegte sich nun wieder: Er ging auf mich zu.
„Aber ... wieso?“, wollte ich vollkommen verstört von dem Wolf wissen. Warum sollte der Albino zu solchen Mitteln greifen?
„Warum wohl?“, erwiderte der Weiße ungehalten. „Mit deinen Erinnerungen wärst du ihm nicht treu ergeben, darum. Mir ist es im Prinzip egal, auf wessen Seite ich stehe – aber da ich ja in dir bin, werde ich zugegebenermaßen von deinem Gefühlsleben nicht unwesentlich beeinflusst.“ Der Wolf stand jetzt so dicht vor mir, dass ich seinen warmen Atem auf der Haut meines Gesichts spürte. „Ich frage dich das ein einziges Mal, also überlege dir deine Antwort gut“, beschwor er mich, sodass ich nicht umhin kam, mich ein wenig unwohl und vor allem klein und unterlegen vorzukommen. „Willst du, dass ich dir deine gestohlenen Erinnerungen zurückgebe, trotz des Risikos, dass es schlechte sein können?“
Ich hörte die Frage und sah das lauernde Glitzern in den blauen Augen des Wolfes. Ich benötigte nur einen kurzen Moment, um mich zu entschließen.
„Ja“, antwortete ich fest und straffte meine Schultern. Die Augen des Wolfes verengten sich.
„So sei es“, sprach der Weiße und senkte sein Haupt, sodass er es irgendwie schaffte, dass sich unsere Stirnen berührten. Dann schloss er seine Augen und einem inneren Drang folgend tat ich es ihm gleich. Schmerz zuckte wieder durch meinen Kopf, jedoch nur einmal und extrem stechend, dann brach eine Flut von Bildern, Dialogen und Gefühlen über mich ein. Ich wankte aufgrund der Reizüberflutung, fing mich aber nach einer knappen Minute und starrte den weißen Wolf an. Ich wusste wieder alles. Der Schwarzhaarige war Ayden, Ayden Phynix, dieser unsäglich seltsame junge Mann, der es geschafft hatte, die Tür zu meinem Herzen zu öffnen und mir durch so Vieles hindurchgeholfen hatte. Seine Familie hatte mich bei sich aufgenommen und gemeinsam hatten wir das Geheimnis um die Gemeinschaft der Blutrose gelüftet. Ich schlug meine Augen auf und starrte den weißen Wolf an, der mich aufmerksam beobachtete. „Danke“, sagte ich leise.
„Kein Grund zum Dank“, wehrte das Wesen nur ab und schritt an mir vorbei in die Dunkelheit.
„Wo willst du hin?“, wollte ich verwirrt von ihm wissen, woraufhin der Wolf nur über die Schulter zu mir zurückblickte.
„Ich entlasse dich wieder in dein Bewusstsein, andernfalls wird dein Freund noch wahnsinnig vor Sorge“, meinte er nur und gleich darauf war er verschwunden. Einen Moment geschah nichts, dann spürte ich meinen Körper immer deutlicher, die lädierten Muskeln, meinen ziependen Rücken und meine schweren Augenlider.
Ich zwang sie mit einem Schlag auf, als mir bewusst wurde, dass ich in einem bequemen, warmen Bett lag. Zunächst war meine Sicht verschwommen und zu viele Farben gingen fließend ineinander über, dann trennten sie sich langsam und ich konnte einzelne Konturen ausmachen, bis ich endlich meinen Kopf ein wenig drehte und mein Blick auf den von Ayden traf. „Du bist also wieder wach.“ Das war eine Feststellung. Er saß direkt an dem Bett, in dem ich lag, und hielt seine Hände verkrampft auf seinen Knien, als wenn er sich die ganze Zeit über mit Gewalt daran gehindert hatte, mich zu berühren, und sei es auch nur, um mich beruhigend zu streicheln. Ich kam um ein Lächeln nicht umhin, ehe ich mich halb aufrichtete und mich ihm freundlich zuwandte. Ich konnte in seinen Augen die Hoffnung glitzern sehen, nichtsdestotrotz hielt er sie ihm Zaum, um im schlimmsten Fall keine allzu schwere Enttäuschung erfahren zu müssen. In Anbetracht dessen, was alles geschehen war, konnte ich es ihm nicht verdenken, so zu reagieren, auch wenn es ihm wohl alle Willenskraft abverlangen musste, sich so zusammenzureißen. All das zusammengenommen gab ich mir unbewusst einen Ruck, beugte mich ein wenig zu ihm und griff nach einer seiner Hände, meinen freundlichen, warmen Blick nur in seine blauen Augen gerichtet. „Danke“, flüsterte ich. „Dass du mich nicht aufgegeben hast, Ayden.“ Seine Augen weiteten sich, dann wechselte mein Blickwinkel und ich sah nicht mehr sein Gesicht, sondern die Zimmerdecke und fühlte seine starken Arme um mich herum, sein Gesicht an meiner Schulter und damit halb in meinen Haaren. Er hatte mich so stürmisch umarmt, dass ich wieder im Bett auf dem Rücken lag. Einen Augenblick lang rührte ich mich nicht, dann ließ ich meine Hände langsam und zaghaft über seinen Rücken gleiten, bis ich seine Umarmung vollständig erwiderte.
„Leyla!“ Ich schauderte kurz. In seiner Stimme war so viel Erleichterung und Zuneigung, so unendlich viel Wärme, dass ich nicht umhin kam, mich zum einen vollendet wohl in seinen Armen zu fühlen und zum anderen mich den Gefühlen zu ergeben, die er in mir auslöste. „Wie geht es dir?“, wollte er direkt an meinem Ohr wissen, sodass ich mich sehr zusammennehmen musste, um nicht allzu offensichtlich zu schaudern.
„In meinem Rücken ziept es noch, aber sonst geht es mir gut ... jetzt wieder, da ich meine Erinnerungen zurückhabe“, antwortete ich dann. Wie aufs Stichwort ließ er von mir ab, brachte ein wenig Abstand zwischen sich und mich, die ich unter ihm im Bett lag und sah mit leicht gerunzelter Stirn auf mich herab. „Wie hast du deine Erinnerungen eigentlich zurückerlangt?“, fragte er.
„Das ... nun, ich habe die innere Mauer durchbrechen können, hinter der mein ‚Meister‘ meine Erinnerungen verbannt hatte“, erwiderte ich absichtlich um den weißen Wolf herumredend. Ich wollte dem Schwarzhaarigen immer noch nichts von dem Wesen in meinen Gedanken erzählen und ich vermutete, dass das im Sinne des Wolfes war.
„Dein Meister???“, wiederholte Ayden daraufhin entsetzt.
„Der Oberste in der Gemeinschaft der Blutrose“, informierte ich knapp, da die Erinnerung an den Albino durchaus nicht angenehm war.
„Und was für ein Unmensch ist er?“, wollte Ayden mit einem seltsam aggressiven Unterton von mir wissen, der mich auf eine irritierende Weise kichern ließ. Auf einmal wusste ich auch, warum diese Frage sich einer gewissen Komik nicht entzog: Ein Vampir, ein Untoter, den man mit gutem Recht auch als Unmensch bezeichnen konnte, erfragte Informationen über jemanden, den ausgerechnet er als Unmensch verurteilte. Der alte Spruch ‚Wenn man im Glashaus sitzt, sollte man keine Steine werfen‘ kam mir unwillkürlich in den Sinn, aber den behielt ich lieber für mich, um keine unangenehmen Reaktionen hervorzurufen. „Ein Albino“, antwortete ich, unter dem kritischen und auch ein wenig gekränkten Blick von seinen blauen Augen, zusammenschrumpfend.
„Was?“
„Ein Albino. Er hat rote Augen und weiße Haare. Und jetzt im Nachhinein fällt mir auf, dass er seine Person ziemlich vergöttern lässt. So gut wie jeder, mit dem ich zu tun gehabt habe, hat den Mann mit ‚Meister‘ angesprochen, und er war in einer Art Thronsaal, als ich ihm vorgeführt wurde“, bestätigte ich in den Erinnerungen versunken.
„Tse. Und da schimpfen sie uns Monster“, meinte der junge Phynix zerknirscht, ehe er mit einer Hand über meine Haare strich. „Nun, das Wichtigste ist erst einmal, dass du dich wieder an uns – an mich – erinnerst ... und bei uns in Sicherheit bist“, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
„Ja, aber viel Zeit zur Erholung werden sie uns nicht geben. Ich habe irgendwie so ein Gefühl, als wenn sie wiederkommen werden ... und sei es nur, um sich für ihre Gefallenen zu rächen“, sprach ich die Sorge meines Herzens aus.
„Und deinetwegen“, fügte Ayden düster an. „Sie waren auch schon beim letzten Mal hinter dir her. Kein Wunder. So weit ich das bis jetzt gesehen habe, bist du die Stärkste seiner ... Schöpfungen“, rang er mit sich um Worte. „Die wird er nicht so einfach gehen lassen.“
„Ja ... ich weiß ...“, seufzte ich und sah zur Seite.
„Mach dir keine Sorgen“, murmelte Ayden und ich war wieder in seiner starken Umarmung gefangen und sein Gesicht vergrub er sanft in meinen Haaren. „Wir wissen jetzt, wie wir diese Engel besiegen können – dank dir. Wir werden dich ihnen nicht kampflos überlassen.“
„Genau das ist das Problem!“, stöhnte ich und schob ihn von mir, was allein deswegen funktionierte, weil er sich freiwillig nach meinen Wünschen bewegte, andernfalls hätte ich ihn niemals auch nur um einen Millimeter verschieben können. Ich sah zu ihm hinauf, mir vollauf bewusst, dass meine innere Pein nach außen hin sichtbar sein musste. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Albino wirklich alles auffahren wird, was er in seinem Repertoire hat! Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass die Familie Phynix eben diesen Schlag überleben wird, ganz gleich, ob ihr jetzt wisst, wie man die Engel tötet oder nicht. Du vergisst wohl in deinem Hochgefühl des Sieges, dass ihr erst einmal den Rücken der Engel erreichen müsst, um ihre Flügel zu zerstören und sie somit zu töten. Glaubst du nicht, dass sie sich gegenseitig decken werden, wenn sie in großer Zahl kommen?“ Die Stirn des jungen Mannes zierten tiefe Falten, die immer mehr wurden, je mehr ich sagte.
„Das ist mir und meiner Familie klar“, sagte er dann etwas unterkühlt. „Aber es ist auch nicht so, als dass wir die einzigen Vampire auf dieser Erde sind. Denk doch nur an Antonius. Wenn wir die Zeit nutzen, die die Gemeinschaft braucht, um ihre Kräfte zu mobilisieren, kann uns nicht so viel geschehen, wie du befürchtest. Von Antonius wissen wir, dass die Gemeinschaft bereits vielerorts mit ihren Engeln Vampire gejagt hat. Dementsprechend hat der Groll gegen sie stark zugenommen. Meinst du nicht auch, dass sich die sich nach Rache verzehrenden Vampire uns anschließen werden, wenn wir ihnen eröffnen, dass es eine Chance gibt, die Engel zu vernichten?“, hielt Ayden dann entgegen. Ich musste im Stillen zugeben, dass er recht hatte, aber eine Kleinigkeit hemmte meinen Glauben an diese Möglichkeit.
„Und wie wollt ihr die besagten Vampire in einer unbestimmt kurzen Zeit finden und herbringen?“, wollte ich skeptisch von dem Schwarzhaarigen wissen, der sich mittlerweile aufgesetzt hatte, sodass ich mich auch wieder aufrichten konnte.
„Wir sind sechs. Abzüglich mir, da ich definitiv bei dir bleiben werde, sind es fünf, die sich auf den Weg machen können. Wenn wir uns geschickt aufteilen und auch nur zu denen gehen, deren Aufenthaltsorte wir genau kennen, sehe ich keine Probleme“, erklärte der junge Mann ruhig.
„Außer eines“, hielt ich dagegen, um auch ja keine Eventualität verstreichen zu lassen. „Und zwar, dass der Albino wesentlich schneller als erwartet seine Hauptkraft versammelt und uns angreift, bevor eure Freunde und deine Familienmitglieder wieder hier sind.“
„Dann werden wir einfach ein wenig Zeit schinden, indem wir ihnen nach allen Regeln der Kunst davonlaufen. Jetzt hör auf mit deinen Einwänden, zur Not kann ich immer noch improvisieren. Du solltest dich jetzt erst einmal wieder ausruhen“, schloss Ayden die Unterhaltung kühl ab und erhob sich. „Du hast wieder sehr viel Blut verloren, sogar noch mehr als beim letzten Mal. Anscheinend werden die Verletzungen an deinem Rücken nicht nur schlimmer, wenn du mächtige Attacken einsetzt, sondern auch, wenn du zu lange deine Flügel zeigst. Also tu mir bitte einen Gefallen und versuche, dich nie wieder in deiner Engelsgestalt zu zeigen. Ich weiß nämlich nicht, ob ich es ein weiteres Mal überstehe, dich bluten zu sehen und deinen Blutgeruch in der Nase zu haben.“ Damit verließ er den Raum und ich war mir ziemlich sicher, dass er sofort zu seinen Familienmitgliedern gehen würde, um ‚Kriegsrat‘ zu halten.
Er ist eben doch ein Vampir, auch wenn er eine beachtliche Selbstbeherrschung hat, dachte ich aufgrund seiner letzten Worte und streifte mir das mir völlig fremde Oberteil über den Kopf. Ich vermutete, dass Kira oder Sophie mich umgezogen haben musste. In dem Bestreben, meinen Rücken zu sehen, verrenkte ich mir beinahe den Kopf, aber wie erwartet bekam ich nur einen makellosen Rücken zu sehen und keine Wundmale oder Ähnliches. Das würde ich nie verstehen können. Warum war ich die Einzige unter den Engeln – die obendrein anscheinend samt und sonders aus Männern bestanden – die so zu leiden hatte, wann immer ich meine Kräfte einsetzte?
Die anderen, die ich bis jetzt kämpfen gesehen hatte, hatten allerhöchstens Ermüdungserscheinungen gezeigt, aber niemals am Rücken geblutet. Als ich das Oberteil wieder überzog, schob ich die Frage auf die lange Liste der Dinge, die ich lieber doch nicht wissen wollte, und schwang meine Füße aus dem Bett. Mein Rücken fühlte sich so an, als ob ich mehrere Tage gelegen hätte und ich nahm mir fest vor, Ayden bei unserer nächsten Begegnung gründlich darüber auszufragen, wie lange ich bewusstlos gewesen war.