Die Dunkelheit des Lichts

 

„Ayden, vielleicht sollten wir einfach wieder gehen“, schlug ich vorsichtig dem jungen Phynix vor, der angespannt die Gegend absuchte.

„Ja, vielleicht hast du recht“, lenkte er zu meiner maßlosen Überraschung ein und wandte sich ab – was sich als Fehler erweisen sollte. Innerhalb einer Millisekunde war er bei mir, hatte seine Arme um mich geschlungen und sprang nach vorn, eine weitere Millisekunde später hörte ich es krachen und Erdbrocken flogen durch die Luft. Ayden setzte mich vorsichtig, aber schnell ab und stellte sich schützend vor mich, die ich wiederum an ihm vorbei sah, um zu sehen, was oder wer uns angegriffen hatte. Und mir stockte der Atem, als ich eine junge Frau erblickte – die zwei Meter über dem Boden schwebte. Sie hatte grüne Haare und – das ließ mein Blut gefrieren – zwei Flügel, gebildet aus grün leuchtenden Ornamenten. Sie trug ein niedliches, unschuldiges Kleid, das im grotesken Widerspruch zu ihrer hinterhältigen Attacke auf uns stand, und sah mit ihren grünen Augen aufmerksam zu uns herüber.

„Wer bist du und was willst du von uns?“, wollte Ayden aggressiv von ihr wissen, woraufhin sie nur süßlich lächelte und den Kopf ein wenig schief legte. „Ich glaube nicht, dass ihr das zu wissen braucht“, meinte sie nur. Und schwebte ein wenig näher zu uns heran, sodass sie – vorher noch halb im Schatten der Bäume – vollständig in das Licht der Sonne kam. Sie wirkte wie eine Figur aus einem Fantasy-Roman, vor allem, weil ihre Flügel, Augen und Haare die gleiche Farbe hatten. Mein Blick glitt zu dem Ort, an dem Ayden und ich vorher gestanden hatten, und machte ein mittelgroßes Loch in der Erde aus, das mich an eine Granaten-Explosion erinnerte. Was zur Hölle …?, dachte ich geschockt und sah von dem Loch zu der jungen Frau – besser bezeichnet als Mädchen – und konnte mir beim besten Willen einfach nicht vorstellen, dass sie dieses Loch zu verantworten hatte. Aber: Wer hätte es sonst sein können?

„Warum greifst du uns an?“, bohrte der junge Phynix weiter.

„Warum? Warum?!?“, wiederholte das Mädchen und brach in schallendes, überhebliches Lachen aus.

„Weil du ein Vampir bist, darum.“ Ich sah zu Ayden, der wie vom Donner gerührt zu der Grünhaarigen starrte. Auch ich musste mich wundern. Die Phynix waren so gut getarnt und so gut integriert, dass ich so lange gebraucht habe, um zu bemerken, dass sie anders waren – und der Zufall hatte seine Finger zugegebenermaßen ebenfalls im Spiel – und diese Fremde schien auf den ersten Blick gesehen zu haben, was der Schwarzhaarige war. Doch im selben Moment, wie mir dieser Gedanke kam, kroch noch ein weiterer hervor: Was, wenn sie es nicht gesehen, sondern schon vorher gewusst und ihn gesucht hatte? So abgedreht das selbst für mich mit meiner enormen Fantasie klingen mochte, dieses Mädchen mit den Flügeln aus grün leuchtenden Ornamenten war genauso unwirklich und dennoch war es vor mir.

„Und alle Vampire ...“, nahm das Mädchen den Faden nach einer kurzen Pause auf und hob die Hand in Richtung Ayden. „… müssen vernichtet werden!“ Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass, obwohl Ayden zuvor wohl intuitiv ausgewichen war, er jetzt nicht wirklich daran dachte, wohl vom Erscheinungsbild des Mädchens in falscher Sicherheit gewogen. Ich dagegen – woher auch immer – wusste, dass seine fehlende Reaktion ihm das Leben kosten könnte, und reagierte meinerseits, ohne darüber nachzudenken. „NEIN!“, schrie ich und warf mich vor den Schwarzhaarigen, ehe er sich halb zu mir hatte umdrehen können. In dem Augenblick verließ ein langer, hellgrüner Blitz die Hand des Mädchens und zischte auf uns zu.

Dann brach etwas in mir. Ich war urplötzlich in dieser Schwärze, die auf einmal Tausende Risse um mich herum bekam, durch die gleißendes, weißes Licht schien, bis auf einmal die schwarze Kugel, in der ich mich zu befinden schien, brach, in Milliarden Scherben zerfiel, die wie ein Schneegestöber um mich herum ins Nichts unter mir fielen, und mich dem Licht preisgaben, das mich blendete. Langsam gewöhnten sich meine Augen daran und ich traute mich, sie zu öffnen. Zunächst nur einen Spalt breit, dann, als ich eine Kontur erkennen konnte, öffnete ich sie schlagartig. Direkt vor mir leuchtete ein Gebilde, das aus vielen verschnörkelten Ornamenten bestand und gleichzeitig mystisch und wunderschön aussah. Während ich es so betrachtete, fiel mir auf einmal die Ähnlichkeit zu den leuchtenden Flügeln des grünhaarigen Mädchens auf, und als ich mir das Gebilde noch etwas genauer besah, konnte ich an ihm ebenfalls so etwas wie Flügel ausmachen, die an der hell leuchtendsten Stelle ihren Anfang nahmen. Im Gegensatz zu denen des Mädchens jedoch, konnte ich nicht nur ein Paar, sondern fünf Paar Flügel ausmachen. Wie eine Art zehn-zackiger Stern leuchtete das Ornament-Gebilde mystisch und schweigsam vor mir, unbewegt und doch irgendwie dynamisch. Dann erschienen dahinter für einen kurzen Augenblick die zwei blau leuchtenden Raubtieraugen, ihr Blick kreuzte den meinen und schon waren sie wieder verschwunden. Dafür falteten sich die Flügel wie die eines Schmetterlings, sodass ich sie von meinem Standpunkt aus nur noch als leuchtende Linie ausmachen konnte, die ohne Vorwarnung verschwand. Nichtsdestotrotz war es um mich herum noch immer hell. Auf einmal spürte ich etwas in meiner Nähe und ich drehte mich um. Zu meiner Überraschung fiel ich nicht in das Nichts, wie es sonst immer der Fall war. Ich hielt meinen Atem an. Mir gegenüber stand ein wunderschöner, schneeweißer Wolf mit azurblauen Augen. Auf seinem Rücken konnte ich die zehn weißen Flügel ausmachen, die sich elegant wiegten. Ich reichte dem Wesen gerade einmal bis zur Schulter und seine Zähne mussten wohl so lang sein wie mein Zeigefinger. Er neigte den Kopf, sodass seine Augen direkt in meine sehen konnten und plötzlich hörte ich eine angenehme, männliche Stimme in meinem Kopf. Sie fragte: „Willst du diesen Vampir so sehr retten?“ Ich war etwas irritiert, dass er mir ausgerechnet diese Frage stellte, und dass sie so seltsam in meinen Gedanken widerhallte. „Ja“, antwortete ich. Die Augen des Wolfes wurden schmaler.

„Wenn das dein Wunsch ist, so werde ich es tun“, ertönte die Stimme und ich wurde ruckartig aus dieser märchenhaften Sphäre in die kalte Realität katapultiert. Ich sah wie in Zeitlupe, wie der grüne Blitz auf mich zukam, hörte die langsam verzerrte Stimme Aydens hinter mir, der 'NEIN!' schrie und bemerkte, dass ich in meinem eigenen Körper nur zu Gast zu sein schien. Ich hatte keine Kontrolle mehr über ihn, dennoch bewegte er sich. Ich sah zu, wie sich meine rechte Hand hob, sich ausrichtete, sodass auf deren Innenfläche der Blitz auftraf. Ich hatte mich schon auf Schmerzen eingestellt, doch nichts geschah. Der Blitz schien auf meine Hand wie auf eine Art Spiegel zu treffen und wurde zu seinem Urheber zurückgeschickt. Langsam sank meine Hand, und als wenn ein Schalter umgelegt worden war, sah ich alles wieder in der normalen Geschwindigkeit.

„WAS-?!“, rief das Mädchen, ehe es von seinem Blitz getroffen wurde. Die grünen Flügel auf ihrem Rücken zersprangen in tausend Teile, als wären sie aus Glas und sie lag mit dem Bauch auf dem Gras. Mit einer letzten Anstrengung sah sie noch zu mir, murmelte 'Ist ... das ... etwa ...‘, dann fiel ihr Kopf zurück auf die Pflanzendecke und sie bewegte sich nicht mehr.

„Wie hast du das gemacht?“, tönte es hinter mir in einem eigentümlichen Tonfall. Ich reagierte zunächst einmal nicht darauf, weil ich es selbst nicht wusste. Dann beschloss ich, es dem Schwarzhaarigen einfach zu sagen. „Ganz ehrlich, das sah nicht im Mindesten so aus, als wenn du nicht gewusst hättest, was du tust. Du bist im Gegenteil sehr sicher aufgetreten“, kommentierte Ayden nur und trat langsam um mich herum, um mich von vorn kritisch zu mustern.

„Es ist mir so ziemlich egal, ob du mir glaubst oder nicht“, fauchte ich dann. „Ich habe gerade andere Probleme.“ Ich drehte mich um und wollte schon loslaufen, da schlangen sich die starken Arme des Schwarzhaarigen um mich.

„Tut mir leid“, flüsterte er mir von hinten ins Ohr. „So unfassbar das für mich sein mag, so beängstigend muss es für dich sein.“

„Ja“, gab ich trocken zurück. „Schön, dass wir darüber gesprochen haben.“

„Du weißt, wie ich das meine“, hielt Ayden sofort dagegen. Ich schwieg nur, tief in Gedanken versunken und im Schrecken, was da gerade passiert war. „Wir sollten zurück zum Haus und dort in Ruhe alles noch einmal Revue passieren lassen“, schlug der junge Phynix versöhnlich vor und ich ließ mich wortlos von ihm zurück zu seinem Haus bugsieren. Die Familie feierte ausgelassen, bis sie bemerkten, dass wir zurückkamen. Sie unterbrachen ihr Tun und sahen uns aufgeregt entgegen, dann wandelten sich ihre Gesichtsausdrücke von erwartend zu besorgt. „Was ist passiert?“, kam uns Kenneth entgegen. „Vor allem mit dir“, sprach er zu meiner Überraschung mich an, die ich ihn verwirrt anblickte. „Du bist leichenblass“, informierte mich der Vater von Ayden und sah seinen Sohn kritisch an. „Er hat nichts damit zu tun“, sagte ich gleich und Kenneth sah wieder zu mir, aber ich verstummte erneut.

„Ich erzähle es dir drinnen“, beschwor Ayden seinen Vater, der daraufhin nickte und zum Wohnzimmer lief, wir und der Rest der mittlerweile angespannten Familie hinter ihm. Drinnen drückte mich der Schwarzhaarige bestimmend auf die bombastische Couch, ließ sich neben mir nieder und berichtete Kenneth, was geschah. „Das sind beunruhigende Neuigkeiten“, kommentierte der Polizist schließlich. „Sie wusste, dass du ein Vampir bist, gleich, nachdem sie dich sah“, wiederholte er das Gehörte in Gedanken.

„Oder sie wusste es schon vorher und hat explizit nach ihm gesucht“, warf ich ein und aller Augen waren auf mir. „Ich habe lange darüber nachgedacht und kam eindeutig zu dem Schluss, dass dieses seltsame ... Wesen nicht zufällig hier war. Und vor allem nicht zufällig gewartet hat, dass wir uns von euch entfernen.“

„Sie könnte recht haben“, schaltete sich Sophie daraufhin ein. „Das würde zumindest erklären, wie sie es geschafft hat, sich so lange vor unseren Sinnen zu verbergen.“

„Dass sie es überhaupt geschafft hat, setzt ein enormes Wissen unserer Fähigkeiten voraus“, meinte Cináed grollend.

„Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit einem organisierten Feind zu tun“, schloss Kira düster.

„Das erinnert an die Vampirjäger aus dem Mittelalter“, kommentierte ich zynisch in den Raum hinein.

„In der Tat“, stimmte Kenneth mir todernst zu. „Mit dem Unterschied, dass die Vampirjäger damals mit gewöhnlichen Waffen auf Vampire losgegangen sind und nicht mit einer Art Magier oder Engel oder was auch immer.“

„Schon eine Idee, wer es sein könnte?“, wollte Ayden von seinem Vater wissen.

„Nein. Aber ich werde einen alten Freund von mir konsultieren. Ich breche sofort auf, es ist ein langer Weg und ich kann mir nicht unbegrenzt lange freinehmen“, erwiderte der Kopf der Familie und eilte davon.

„Dann liegt es erst einmal an uns, die Stellung zu halten, bis Kenneth wieder da ist“, schloss Sophie die Unterhaltung in einem beendenden Tonfall ab und verschwand ebenfalls.

„Ich will nach Hause“, murmelte ich und schlang meine Arme um meinen Oberkörper. Ich fühlte mich übel und was noch schlimmer war: Ich spürte ein leises Ziepen an meinem Rücken.

„Ich lasse dich bestimmt nicht gehen“, schaltete sich Ayden sofort in heller Aufregung ein. „Es ist wirklich nicht sehr gut, wenn du dich jetzt allein irgendwo aufhältst. Wer auch immer hinter uns her ist, weiß, dass du mit uns zu tun hast. Du wirst da mit reingezogen werden und es wäre leichter, dich zu beschützen, wenn du einfach gleich bei uns bleibst“, meldete sich Cináed zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, sehr erwachsen und reif zu Wort. Gegen so viel Logik konnte selbst ich nichts ausrichten und ich gab mich geschlagen. „Also gut ...“

„Ich hole dir ein paar Sachen aus deinem Kleiderschrank“, erbot sich Kira und schon war auch sie verschwunden.

„Wo ist euer Bad?“, wollte ich nach einer Weile in die entstandene Stille hinein wissen.

„Komm mit“, sagte Ayden, erhob sich und führte mich durch das märchenhafte Anwesen seiner Familie, dem ich nicht einmal annähernd so viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte, wie es verdient hätte. Ich konzentrierte mich voll und ganz darauf, mir nichts anmerken zu lassen, weder mein Gefühl der Übelkeit, noch den stetig größer werdenden Schmerz in meinem Rücken. Endlich trat ich durch eine Tür in ein riesiges, wundersames Badezimmer. Ich schlug sie hinter mir zu und lehnte mich auf das marmorne Waschbecken, sodass ich mein blasses, vor Schweiß glänzendes Gesicht in dem riesigen Spiegel sehen konnte, der darüber hing. In meinem Kopf drehte sich alles und ich ging krampfhaft geräuschlos in die Knie. Der Schmerz an meinem Rücken wurde unerträglich und ich konnte spüren, wie mein Bewusstsein mir wieder entglitt, dieses Mal jedoch, um mich vor dem Schmerz zu beschützen. „Leyla!“, rief Ayden bestürzt und fegte wie ein Wirbelwind in das Badezimmer. Mittlerweile lag ich auf dem Boden, leicht eingekugelt und geistig weit weg. Ich fühlte die Hände des jungen Phynix, die mich hochhoben und forttrugen. Ein Gefühl von Behagen überfiel mich und ließ mich abdriften in den rettenden ‚Schlaf‘.

 

Als ich mich wieder dazu überwand, meine Augen zu öffnen, merkte ich sofort, dass ich nicht in der Realität sein konnte. Es war zu hell und ich lag auf einer glatten Oberfläche. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich, wo ich war. „Du wolltest ihn retten“, bemerkte eine männliche Stimme aus dem Licht und im nächsten Moment tapste der große, schöne, weiße Wolf mit den zehn leuchtenden weißen Flügeln auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen, die glitzernden blauen Augen auf mich gerichtet, da ich aufgestanden war.

„Ja“, bestätigte ich.

„Bist du mit den Konsequenzen denn einverstanden?“, wollte das wundersame Wesen skeptisch wissen.

„Konsequenzen?“, hakte ich ein wenig verwirrt nach.

„Dein Rücken“, erwiderte der Wolf nur.

„Oh ...“, machte ich verstehend. „Also habe ich die Schmerzen bekommen, weil ich diese ... diese Kräfte eingesetzt habe? Ohne dass ich es koordiniert hätte ...“

„Das habe ich für dich gemacht, schließlich habe ich vorher gefragt“, antwortete der Weiße und lief um mich herum, ehe er sich hinlegte, sodass sein Körper mit dem flauschigen, weißen Fell wie ein U um mich herumlag.

„Warum kannst du meinen Körper befehligen?“, wollte ich entsetzt von dem Wesen wissen.

„Weil ...“, begann es, doch ich wurde urplötzlich aus der Zwischensphäre gezogen. Ich merkte, wie der Schmerz sich wieder in mein Bewusstsein schlich und ich meinen Körper an sich schwerer empfand, als bei dem Wolf. Ich schlug die Augen auf und blickte gleich darauf in die besorgten Augen von Ayden. Besorgt, aber auch kritisch. „Was habe ich verpasst?“, fragte ich und ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken, gerade von ihm zurückgeholt worden zu sein, wo der Wolf etwas von meinem Interesse sagen wollte.

„Du hast am Rücken geblutet“, informierte der Schwarzhaarige schlicht. „Und die erschreckend großflächige Wunde ist jetzt nicht mehr zu sehen.“

„Oh nein ...“, stöhnte ich, als ich mich an die blauen Ornamente erinnerte, die sich in meinen Rücken gefressen hatten, als ich in meinem Haus der Sache auf den Grund gegangen war. Plötzlich ging mir etwas auf. Blaue Ornamente auf dem Rücken??? Ich schoss in dem weichen Bett, auf dem ich lag, in eine senkrechte Position, die Augen geweitet. „Leyla, was ist los?“, wollte der junge Phynix augenblicklich von mir wissen und hielt meine Schultern fest.

„Das ist nicht wahr ...“, flüsterte ich geistig völlig abwesend. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als wieder mit dem Wolf reden zu können, da mir eine Frage auf der Seele brannte, die wichtiger war als jede andere. Ich versuchte, wieder in die Zwischensphäre zu gelangen, in dem ich wie eine Beschwörungsformel in Gedanken alle möglichen Namen oder Bezeichnungen für den Wolf durchging, in der Hoffnung, er möge mich hören und zu sich holen. Aber es geschah nichts, mal abgesehen davon, dass Ayden mich fester an den Schultern gepackt hatte und kräftig schüttelte.

„Leyla, komm wieder zu mir zurück!“, rief er und ich sah ihn an. „Was ist nur los?!“, beschwerte sich der Vampir wütend. „Da bin ich schon ein übermenschliches Wesen und ich bin weder in der Lage, herauszufinden, was mit dir ist, noch kann ich dir helfen.“ Er war nicht nur wütend, er war augenscheinlich sogar verzweifelt wegen seiner Unwissenheit und der Tatsache, dass ihm die Hände gebunden waren. „Ayden, beruhige dich“, erwiderte ich überfahren von seinem Ausbruch.

„Beruhigen? Wie kann ich mich beruhigen, wenn ich hilflos mitbekommen muss, wie du von irgendwoher verletzt wirst? Wie kann ich mich beruhigen, wenn du Schmerzen hast und ich nichts gegen sie unternehmen kann? Wie soll ich mich beruhigen, wenn das, was auch immer mit dir gerade geschieht, mein Wissen übersteigt und mich zu einem Dasein als unnützer Betrachter von der Seite verdammt?!?“

„Du siehst nicht einfach nur zu. Du hilfst mir! Auch wenn ich dich darum bitten muss, mich beim nächsten Mal, wenn ich mein Bewusstsein verliere, mich nicht wieder wachzurütteln oder was du auch immer gemacht hast“, gab ich ruhig zurück.

„Wieso? Siehst du dir deine Vergangenheit jetzt etwa gern an?“, wollte der Schwarzhaarige skeptisch von mir wissen.

„Ich – nein“, antwortete ich. „Aber ich sehe auch keine Erinnerungen mehr.“

„Was dann?“, bohrte der junge Phynix weiter. Jetzt zögerte ich. Sollte ich ihm wirklich von diesem Wolf erzählen? Nein, noch nicht, tönte es in meinem Kopf, wieder mit diesem seltsamen Echo und ich wusste, dass der Wolf auf meine gedankliche Frage geantwortet hatte. „Nichts ... es ist ... als wenn ich schlafen würde“, gab ich Ayden zurück und fühlte mich irgendwie elend, ihn anzulügen, wo er sich doch so ehrlich um mich sorgte.

„Ah ja“, machte er nicht überzeugt. Da ich aber weiter nichts sagte, ließ er das Thema erst einmal fallen, wandte sich dann aber einem anderen zu. „Hattest du diese Wunde am Rücken schon einmal?“ Ich sah aus seinem Blick, dass er ein ‚Ja‘ erwartete, daher gab ich es ihm. „Und du bist noch nicht auf die Idee gekommen, damit zu einem Arzt zu gehen?“, kritisierte Ayden mit einem tadelnden Tonfall.

„Nein“, erwiderte ich fest. Wieder ließ der Schwarzhaarige das Thema fallen und allmählich wurde ich unruhig. Es war äußerst untypisch, dass der junge Mann ein Thema so schnell unter den Tisch fallen ließ, und nun hatte er es mehrere Male hintereinander getan. Ayden erhob sich von seinem Stuhl, der neben dem Bett stand, auf dem ich saß, und verließ schweigend den Raum. Unruhe machte sich in mir breit. Ich hatte seine unterdrückte Wut wie eine tonnenschwere Last auf mir gespürt. Anscheinend merkte er, dass ich ihm nicht alles – nicht die ganze Wahrheit erzählte.

Es ist besser so für ihn, meldete sich der Wolf in meinen Gedanken zu Wort. Könntest du mir jetzt einige Fragen beantworten?!, dachte ich gereizt zurück.

Nein. Manche Dinge ..., ich spürte, wie sich die Präsenz des Wolfes in eine weit entfernte Ecke meines Bewusstseins zurückzog, wo ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Ich schwang meine Beine über die Bettkante und stand auf. Ich wusste noch nicht so ganz, was ich nun tun wollte und wohin ich wollte, aber ich wusste mit Sicherheit, dass ich nicht in diesem Raum bleiben wollte. Ich trat hinaus in einen stilvoll eingerichteten Flur und sah mich der ersten Herausforderung gegenübergestellt: Wohin sollte ich gehen? Wo lang musste ich, um aus dem Haus zu gelangen?

Ich folgte meinem Bauchgefühl, lief nach rechts und tatsächlich gelangte ich nach einer Weile schweigsamen Laufens zum Eingangsfoyer, und zwar am oberen Absatz einer der beiden Treppen. Ich stieg diese hinunter und war schon an der Haustür angekommen, da durchzuckte mich wie ein Blitz wieder das eigenartige Gefühl. Ich wusste es genau. Es war exakt dasselbe Gefühl, das ich zuvor gehabt habe, als das Mädchen aufgetaucht war. So etwas wie Panik machte sich in mir breit und ich machte kehrt. Ich lenkte meine Schritte zum Wohnzimmer der Villa, wo ich vor der Tür allerdings unschlüssig stehen blieb, als ich durch die geschlossene Flügeltür hindurch Ayden wettern hören konnte.

„... sie hält es noch nicht einmal für nötig, mir das Wenige anzuvertrauen, was sie zu wissen glaubt!“, grollte er.

„Vielleicht will sie sich erst sicher sein, um zu vermeiden, dass du dir zu viele Sorgen machst“, erwiderte eine Frau – ich tippte im Stillen auf Kira.

„Zu viele Sorgen? Ich kann mir schon lange nicht mehr ‚zu viele‘ Sorgen machen, weil ich bereits in Sorgen um sie ertrinke! Ich meine: Was war das im Wald? Sie hat den grünen Blitz, der das monströse Loch, das ich euch gezeigt habe, in den Boden gesprengt hat, abgewehrt, als wäre er ein Windhauch! Und im Nachhinein kann sie noch nicht einmal den Ansatz einer Erklärung vorlegen?!“

„Ich gebe zu, es ist sehr ... mystisch, was da im Wald passiert ist, aber versetze dich doch mal in ihre Lage. Sie ist ihr ganzes Leben ein gewöhnlicher Mensch und auf einmal ist sie nicht nur mit einer Vampir-Familie befreundet – nein – sie besitzt auch noch unmenschliche Kräfte. Was glaubst du, wie sie sich fühlen muss?“, hielt Sophie nun dagegen.

Einen Moment herrschte Stille, dann antwortete Ayden: „Ich nehme an, sie fühlt sich in ihrem eigenen Körper fremd. Aber trotzdem kann sie doch auf die Idee kommen, sich zumindest einem anzuvertrauen.“

„Was da aus dir spricht, scheint mir verletzter Stolz zu sein, dass du nicht derjenige bist, dem sie sich anvertraut“, stichelte Kira und ich drehte mich auf dem Absatz um und lief fort. Ich hatte genug gehört. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und es gab Tausende Gründe dafür. Meine Hand glitt zur Türklinke der größten Flügeltür, drückte sie nieder und ich huschte aus der Villa. Draußen an der frischen Luft sah ich zunächst einmal, dass es später Nachmittag war. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau ich mich befand, sodass mir der Ausweg, einfach zu meinem Haus zu laufen, schon einmal verwehrt war. Als ich mich genauer mit diesem Gedanken auseinandersetzte, kam ich zu dem Schluss, dass ich im Grunde genommen vollkommen aufgeschmissen war. Ohne einen von der Familie Phynix würde ich mich im umliegenden Wald vermutlich hoffnungslos verlaufen. Mein Blick wanderte zum Anfahrtsweg, der komplett aus Kieselsteinen bestand. Ich konnte ihm folgen, allerdings schlängelte er sich ein gutes Stück durch den Wald und wann und wo er auf eine größere Straße treffen würde, das wollte ich lieber nicht auf die harte Tour herausfinden. Es war frustrierend.

 

Das seltsame Gefühl wurde ohne Vorwarnung stärker und injizierte das Gift der Angst in mein Blut. Ich sah mich um, konnte aber nichts entdecken und erwartete auch nichts anderes. Ich war nur ein Mensch, der gegen eine Art Magier oder Engel oder was auch immer anging. Natürlich konnte er oder sie meine unterlegenen Sinne täuschen. Im Zwiespalt, ob ich wieder in die Villa gehen oder tiefer in den Wald laufen sollte, sah ich ein wenig verunsichert umher, den Reflex nicht ganz abstellen könnend, die Ursache für mein Unbehagen zu suchen.

„Leyla“, kam es schräg hinter mir und ich zuckte zusammen. „Was machst du hier?“ Es war – wie nicht anders zu erwarten war – Ayden.

„Keine weiteren Umstände machen“, erwiderte ich ein wenig zickiger als beabsichtigt. Der Schwarzhaarige trat in mein Blickfeld und musterte mich kritisch und fragend. Ich wandte mich nur ab.

„Du hast die Unterhaltung im Wohnzimmer mit angehört, habe ich recht?“, schloss der junge Phynix messerscharf aus den wenigen Indizien, die ich ihm unwissentlich gegeben hatte und ich verfluchte aufs Neue seine aufmerksame Art. Mein darauffolgendes Schweigen war ihm Antwort genug. „Hör mir bitte zu“, bat Ayden ruhig, fasste meine Schultern und bat mich mit seinem Blick, ihn anzusehen. Ich tat es, wenn auch widerwillig.

„Meine Worte ... waren schlecht gewählt. Aber du wirst doch wohl einsehen, dass es unerträglich für mich ist, dir nicht helfen zu können.“

„Nein, das kann ich nicht, weil ich mir beim besten Willen nicht denken kann, warum dich das so fertigmachen sollte“, giftete ich. Ayden machte ein gequältes Gesicht.

„Weil ich dich liebe!“, kam es dann von seinen Lippen und in mir wurde alles taub. Ich starrte ihn an wie ein Wesen aus einer anderen Welt, während der Inhalt seiner Worte langsam bis in jede noch so kleine Ritze meines Bewusstseins drang. Seine Hand strich mir sanft über meine Wange und sein Blick bohrte sich eindringlich in meinen hinein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ein Scherz war das jedenfalls nicht gewesen, dafür sah er mich zu ernst, zu gefühlvoll an. Aber was sollte ich auch schon erwidern? ‚Ich liebe dich auch‘? Ich war mir ja noch nicht einmal sicher, ob dem wirklich so war. Gleichzeitig war ich wütend über mich selbst, weil mich dieser einfache Satz so sehr aus der Fassung brachte. Einfach? Nein, er war ganz und gar nicht einfach und das Schlimmste an ihm war: Mir war seine Bedeutung nicht voll und ganz klar, dessen war ich mir bewusst. Wie auch, wenn ich in einer Familie groß geworden war, die sich mehr um das Einkommen scherte, als um soziale Verbindungen, die aus puren Gefühlen heraus gebildet wurden und nicht aus Profitsucht? Sicherlich mochte das bei meinen leiblichen Eltern nicht so gewesen sein, aber daran konnte ich mich ja nicht erinnern ...

„Du musst darauf nicht antworten“, meinte Ayden schließlich und ließ seine Hände wieder sinken. „Aber ... ich fand es war an der Zeit, dass du es weißt ... da du es ja offensichtlich noch nicht selbst gesehen hast.“

„Ich ... wie lange?“, brachte ich endlich wieder Töne über meine Lippen.

„Wie lange, das weiß ich selber nicht so genau, aber spielt das denn eine Rolle?“, hielt der Schwarzhaarige mit einem verlegenen Lächeln dagegen.

„Nun ... nein“, gab ich dann mit erhitzten Wangen zurück.

„Na ja ...“, meinte er dann noch und fuhr sich mit der Hand über den Nacken, während er mich verlegen durch seine Wimpern hindurch ansah. „Ich wollte es dir eigentlich auf der Lichtung sagen ... du weißt schon, mit romantischem Ambiente und allem Drum und Dran, aber dieses grünhaarige Mädchen hat meine Pläne ein bisschen durcheinander geworfen“, gestand er. Ich starrte ihn an. „Wie gesagt, du musst nicht darauf antworten ... vorerst. Irgendwann hätte ich aber schon gerne eine Information oder einen Hinweis, welche Gefühle du für mich hegst.“

„Kannst du dir das nicht aus meinen bisherigen Aktionen denken?“, gab ich zurück, ehe ich mich daran hindern konnte, mit dem Ergebnis, dass eine Augenbraue des jungen Mannes hoch wanderte.

„Wie soll ich das verstehen?“, bohrte er tiefer in mein chaotisches Gefühlsleben hinein.

„Glaubst du allen Ernstes, ich hätte so manche Aktion von dir durchgehen gelassen, wenn ich dich nicht wenigstens ... mögen würde?“, umschrieb ich gekonnt die gefühlten Dutzend Male, in denen er mich geküsst, umarmt oder einfach nur zärtlich berührt hatte – und natürlich das gemeinsame Schlafen im Hotel in Wellington. Ein Glitzern trat in Aydens Augen, welches mir verriet, dass er eins und eins zusammengezählt hatte und zu einem Schluss gekommen war, der ihm gefiel. „Das ist noch keine richtige Antwort. Ich möchte es, wenn es möglich ist, deutlich von dir hören“, beharrte er dann und mir wurde klar, dass er sich keiner falschen Hoffnung hingeben wollte. Er befand sich so ziemlich genau in der Situation, in der ich mich befunden hatte, seit ich bemerkt hatte, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Ich wollte schon etwas sagen, mich möglicherweise outen, da ging mir der Wolf in Gedanken dazwischen: Sie sind hier.

„Wer?“, fragte ich unbedacht laut und Aydens Stirn zierten tiefe Falten. „Worauf bezog sich das?“, wollte er verwirrt wissen und ich bemerkte meinen Patzer.

„Ich – ähm ...“, stammelte ich und suchte fieberhaft nach einer guten Ausrede, die ich jedoch nicht fand. Die Furchen auf seiner Stirn wurden immer tiefer und sagten mir unmissverständlich, dass ich ihm bald zu antworten hatte. Da durchzuckte es mich wie ein Blitz und ich konnte ganz genau sagen: Wir waren nicht allein ...