Lange Ferien – eine zweite Chance

 

Ich wunderte mich schon, warum Ayden und seine Geschwister nicht zum letzten Tag des Semesters erschienen. Doch so ungewöhnlich war es eigentlich nicht, dass man sich ein, zwei Tage vor den eigentlichen Ferien zurückzog, um beispielsweise in den Urlaub zu fahren. Tatsächlich hörte ich dann von Vivian in Englisch, dass Kenneth mit seiner Familie schon heute losgefahren sei, um die Ferien in Australien zu verbringen. Das passte alles zusammen, doch dieses eigenartige Gefühl wurde ich trotzdem nicht so recht los, sodass ich es einfach in den hintersten Teil meines Unterbewusstseins schob. Ich musste erst zwei volle Wochen überstehen, ohne die geringste konkrete Beschäftigung …

Seufzend warf ich mich auf mein Sofa und starrte die Decke des Wohnzimmers an. Ich hasste es, untätig zu sein, denn dann hatte ich für gewöhnlich zu viel Zeit zum Nachdenken und das war wiederum nicht gut. Meine Gedanken kreisten gefährlich oft um unangenehme Ereignisse, die lieber im Hintergrund meines Lebens blieben. Also sprang ich auf und beschloss, mir im sogenannten Zentrum einige Sachen zu holen.

Eine Stunde später war ich dummerweise schon wieder zu Hause und stand wieder vor dem Abgrund, balancierte jedoch weiterhin auf dem schmalen Grat, da mir einfiel, dass ich mir etwas zu Essen machen könnte, wo ich schon so viel eingekauft hatte. Ich traute mich schon gar nicht mehr, mir bei der Bank einen Ausdruck von meinem momentanen Kontostand zu machen, so wenig gebrauchte ich das Geld meiner Eltern.

Ich wusch nach dem Essen das Geschirr per Hand, obwohl diese Hightech-Küche natürlich über einen Geschirrspüler verfügte, und warf mich wieder auf die Couch. Da mir nichts Besseres einfiel, machte ich den Fernseher an und sah mir irgendeine schwachsinnige Soap an. Als es endlich einigermaßen Zeit war, sich ins Bett zu legen, badete ich ausgiebig, zog meinen Satin-Schlafanzug an und wickelte mich in die Bettdecke. So wenig ich gegen das Alleinsein hatte, die 14 Tage würden eine harte Prüfung für mein geschädigtes Gefühlsleben sein.

 

Frag mich einer, wie ich es geschafft hatte, aber ich lebte noch, als ich mich am Morgen des 27. Aprils auf den Weg zur Golden Bay High School machte. Bei der Vollversammlung achtete ich nicht wirklich auf das, was die Lehrer und der Schulleiter erzählten, ich wollte einfach nur in den Chemieunterricht. Die Zeit zog sich und zog sich und doch kam mein Lieblingsfach – haha – letztendlich. Ich betrat den Raum und sah sofort, dass mein Sitznachbar bereits da war, wobei er den Blick überall zu haben schien, nur nicht bei mir. Ich seufzte. Seit der Geschichte am Farewell Spit war er befangen in meiner Gegenwart und ich konnte ihm noch nicht einmal böse deswegen sein. Umso stärker wurde meine Selbstkritik, was wiederum tödlich für meine Selbstsicherheit war … verdammter Teufelskreis.

„Hallo“, grüßte Ayden mich, ohne mich anzusehen, als ich mich setzte.

„Hi“, gab ich knapp zurück und schürzte die Lippen. Ich focht schon einige Tage den inneren Kampf mit mir aus, ob ich mich so weit aus dem Fenster lehnen sollte und mich richtig bei ihm entschuldigen sollte – wieder einmal – oder nicht. Wenn ich es nicht tat, würde mir in jeder Sekunde, wenn ich ihn sah, ein leiser Stich durch mein Innerstes fahren, was auf die Dauer alles andere als angenehm war. Wenn ich es jedoch tat, dann würde ich das Risiko eingehen, dass er irgendwann und irgendwie Zugang zu meinem Herzen finden würde. Hat er das nicht schon?, meldete sich die leise, unerwünschte Stimme. Eine berechtigte Frage. Den Rest der Stunde verbrachte ich weniger mit dem Stoff, der mir immer noch von letztem Jahr geläufig war, sondern mit dem Für und Wider. Letzten Endes hatte die Partei gewonnen, die sich entschuldigen wollte, jetzt galt es, eine geeignete Art auszumachen. Doch instinktiv hatte ich die richtige Idee …

Die Mittagspause verlief so wie immer. Ich war am Tisch mit Vivian und Co gefangen, während er bei seinen Geschwistern saß. Auch Sport verlief nicht außergewöhnlich. Bei 15° C draußen konnte man gut körperliche Arbeit verrichten, aber ich musste mich darauf konzentrieren, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Da ich ihn nach dem Unterricht nie sah, musste ich es jetzt tun und ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, als Mr. Warner sagte, dass wir uns heute im Ausdauerlauf üben sollten. Das war wohl die einzige Disziplin, die ich wie die Pest hasste. Es war eine Sache, durch die Wälder zu laufen, aber eine andere, ständig im Kreis und ohne jedes erkennbare Ziel. Doch dieses ziellose Rennen würde mir die Gelegenheit geben, mit ihm zu reden.

Wie zu erwarten, war Ayden der Schnellste und das, obwohl er nicht im Mindesten Probleme mit seinem Atem oder seiner Kondition hatte – was mich vor das erste Problem stellte: Wie sollte ich ihn erreichen? Wenn ich zu ihm wollte, müsste ich sprinten und niemand würde mir dann garantieren können, dass ich mein Anliegen ohne Atemnot würde vorbringen können, so schnell, wie er lief. Dann fiel mir noch eine andere Möglichkeit ein: Einfach warten, bis er mich überrundete. Indem ich so tat, als wäre mein Schuh offen, und als wenn ich Probleme mit meinem Knöchel hätte, schlug ich genug Zeit tot, dass er gleichauf mit mir war. „Ayden?“, sprach ich ihn vorsichtig an. Er warf mir einen Seitenblick zu, presste die Lippen zusammen und nickte zum Zeichen, dass ich sprechen sollte, drosselte jedoch nicht das Tempo, schien im Gegenteil sogar noch zuzulegen. „Ich wollte dich fragen, ob du heute – ähm – schon etwas vorhast.“ Es war schwieriger als befürchtet, die Worte laut auszusprechen, doch sie hatten die gewünschte Wirkung. Der Schwarzhaarige blieb fast stehen und starrte mich ungläubig an.

„Wieso?“ Man konnte die Skepsis in seiner Stimme deutlich heraushören.

„Nun, ich – ich wollte …“ Verflucht, warum war das so schwer?! Geduldig wartete Ayden und blieb dann am äußersten Rand unserer Strecke stehen, damit ich zu Atem kommen konnte. Ich riss mich zusammen. „Ich wollte dich fragen, ob du heute Nachmittag etwas mit mir unternimmst.“ Aydens Augenbrauen schossen nur so in die Höhe.

„Und – was?“, fragte er irritiert. Offenbar hatte er die Sache vom Farewell Spit noch genauso lebhaft in Erinnerung wie ich. Verdammt.

„Ich dachte … na ja … vielleicht an ein Picknick … oder einfach bei mir zu Hause … ich meine … OH VERFLUCHT!“, brach ich auf einmal heraus. Es war für mich die reinste Folter, dass ich auf einmal Angst davor hatte, zu sagen, was ich wollte.

„Ich will mich für mein bescheuertes Verhalten entschuldigen und ich will, dass wir Freunde sind.“ Gleich darauf biss ich mir auf die Zunge. Jetzt hatte ich zu viel gesagt. Dem jungen Mann stand der Mund leicht offen, als er mich berechnend ansah. Offenbar schien er zu dem Schluss zu kommen, dass ich mir keinen Scherz erlaubte, sondern es ernst meinte. „Ich – ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre“, sagte Ayden dann schließlich. Mir sank irgendwie der Mut.

„Was?“, fragte ich.

„Dass wir Freunde sind“, kam die von mir gefürchtete Antwort.

„Und warum?“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinen schönen Zügen.

„Du hast doch gesehen, dass es nicht so gut ist, wenn ich in deiner Nähe bin …“ Er sagte das mit einer Zweideutigkeit, die ich nicht verstand.

„Das ist meine Sache. Es tut mir leid, dass ich mich so bescheuert verhalten habe, aber die Wunden meiner Seele brauchen Zeit, um zu verheilen, wenn sie das überhaupt können“, sagte ich, und merkte, wie ich gleich darauf blass wurde. Ich drehte mich sofort weg und kämpfte mit dem Drang wegzulaufen.

„Das stimmt …“, gab Ayden nachdenklich zurück, fasste mich an der Schulter und drehte mich zu ihm herum, sodass er die Verzweiflung in meinen Augen sehen konnte. „Ich glaube, langsam verstehe ich, was dein Problem ist. Du hast Angst, dass irgendjemand zu viel von deinen Gefühlen erfährt und dieses Wissen dann gegen dich verwenden kann.“ Voll ins Schwarze. Ich wollte mich wieder abwenden und dieses Mal rennen, doch jetzt packte er mich auch mit der anderen Hand. „Oh Gott“, sagte er nach einer Weile, in der er mir durchdringend in die Augen gesehen hatte. „Wer hat dir das angetan?“ Ich schwieg und sah zur Seite. War es möglich, dass ich ein derart durchschaubarer Mensch war? Oder war er nur so unglaublich gut darin, andere zu durchschauen?

Ayden verharrte so, ihm schienen die Blicke der anderen Schüler völlig egal zu sein und auch ich hatte im Moment dringlichere Probleme. Der Schwarzhaarige schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Seine Muskeln zuckten unter seiner Haut, als wollte er sich bewegen, doch er hielt sich davon ab.

„Ich würde es vorziehen, zu dir nach Hause zu kommen“, sagte er schließlich. Mein überraschter Blick traf auf zwei blaue Augen, die von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt waren. Ich schluckte und nahm mich zusammen. „Gut, dann bei mir zu Hause. Wann kommst du?“

„Wenn ich Kira und Cináed nach Hause gefahren habe, komme ich“, antwortete Ayden ruhig, ließ mich jedoch noch nicht los. Er schien sich wohl immer noch nicht so recht im Klaren darüber zu sein, was er tun wollte oder sollte, doch der Pfiff von Mr. Warner unterbrach seine Überlegungen – ob es nun ein Glück für mich war oder nicht, das würde ich wohl nie erfahren.

 

Noch während ich die kurze Strecke zu Fuß zurücklegte, fragte ich mich, ob es richtig gewesen war. Der Teil meines Körpers, der nach Gefühlen lechzte, seit ich sie eigentlich verbannt hatte, war logischerweise dafür, mein Kopf, der mich nur vor Schmerz schützen wollte, allerdings nur halbherzig dagegen. Ich gab mich geschlagen. Ayden war nett, das wusste ich tief in meinem Inneren, das warf jedoch die Frage auf, warum alle anderen ihn mieden, mal abgesehen von seinen Geschwistern.

Ich stapfte die Auffahrt hoch und schloss die Haustür auf. Da ich nicht wusste, wo das Haus der Phynix’ war, konnte ich auch nicht einplanen, wann Ayden kommen würde. Ich warf daher meinen Rucksack ungeachtet neben die Couch und eilte gleich in die Küche, um etwas zu kochen. Ich dachte an selbst gemachte Pizza und holte schon alle Zutaten und das Kochbuch heraus, als es klopfte. Schnell ging ich zur Tür, öffnete sie und ließ einen misstrauischen Ayden eintreten. „Ich werde dich schon nicht abstechen“, bemerkte ich halb trocken, halb neckend und verschwand wieder in der Küche.

„Und warum sonst solltest du mich einladen?“, hielt er sogleich dagegen, während er sich an den Torbogenrahmen lehnte.

„Das sagte ich bereits“, gab ich sofort zurück.

„Das ist aber sehr untypisch von dir, Einzelgänger.“

„Der Mensch ist eben letzten Endes doch ein Herdentier“, zuckte ich mit den Schultern. Ein Schmunzeln seinerseits war die Antwort.

„Ach ja?“ Ich nickte zur Antwort und konzentrierte mich darauf, die Zutaten für den Teig richtig zu verrühren.

Ich gebe zu, ein Italiener hätte es besser gekonnt, aber dafür, dass ich nun mal keiner war, war es akzeptabel, was ich da zusammenrührte. Ayden beobachtete mich eine Weile schweigend, dann stieß er sich von dem Rahmen ab, ging zu mir und nahm mir unbeirrbar das Messer aus der Hand, mit dem ich die Salamischeiben in Viertel schneiden wollte.

„Lass mich das machen“, wisperte er, trat mit einem Abstand von einem Meter an meine Seite und begann, künstlerisch die Scheiben zu schneiden.

„Danke“, sagte ich völlig baff. Ich war es nicht gewohnt, dass ein Mann in der Küche half. Das hatte ich nie zuvor beobachten können. Der Schwarzhaarige sah kurz auf und lächelte einnehmend, dann wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu, die ihm auffällig leicht von der Hand ging. Ich konzentrierte mich auf meinen Teil: den Teig auf dem Blech zu verteilen. Sobald ich damit fertig war, verteilte ich die Soße gleichmäßig auf der Fläche, doch bevor ich mich um das Belegen kümmern konnte, schob mich Ayden ganz sanft zur Seite und tat es selbst. Champignons, Schinken, Salami und den geriebenen Käse verteilte er derart geschickt auf dem viereckigen Blech, dass es mehr einem Kunstwerk denn etwas Essbarem glich. Der Backofen war vorgeheizt und ich schob die Pizza vorsichtig hinein, dann wusch ich mir die Hände. Ayden war schon ins Wohnzimmer gegangen, das Geräusch des Fernsehers verriet ihn. Doch als ich ebenfalls in das Zimmer trat, saß er nicht auf der Couch und schaute sich die Sendung an, er war nirgendwo zu sehen.

Ich wollte gerade dazu ansetzen, nach ihm zu rufen, da hörte ich seine Stimme direkt und sehr nahe neben mir leise sagen: „Hier bin ich.“ Erschrocken fuhr ich herum und sah ihn gelassen an der Wand zum Flur lehnen. Er hatte sich ein wenig vorgebeugt und musterte mich mit unverhohlenem Interesse. „Hab keine Angst“, wisperte er mit einem verunsicherten Lächeln auf den Lippen, das mich wieder so fühlen ließ, als ob ich etwas nicht mitbekommen hätte.

„Du hast mich erschreckt, deswegen habe ich noch lange keine Angst“, erwiderte ich trotzig und nahm mir vor, keinen Schritt vor ihm zurückzuweichen.

„Willst du mir etwa weismachen, dass du keine Angst vor mir hast, wo ich doch dein Gefühlsleben zu durchschauen scheine?“, gab er mit samtener Stimme zurück. Ich schluckte und mein Entschluss, stehen zu bleiben, wo ich war, geriet gefährlich ins Wanken. „J – ja“, antwortete ich, wobei ich mir sicher sein konnte, dass er mein Stottern richtig deuten würde, was er auch tat. Ob nun unbewusst oder nicht, jedenfalls beugte er sich noch tiefer zu mir hinab. „Bist du sicher?“ Seine Stimme war gerade so noch im Bereich des Hörbaren, umso lauter erschien mir daraufhin das Piepen des Backofens, das es mir ermöglichte, unauffällig Distanz zwischen uns zu bringen. Mir entging jedoch nicht, dass Ayden ob dieses Umstands ausgesprochen missgelaunt aussah, was mich wieder schlucken ließ. Ich begann es zu bereuen, dass ich ihn eingeladen hatte. Mein Herz schlug beinahe schon schmerzhaft schnell …

Wir saßen uns am Mahagoniholzesstisch gegenüber und aßen schweigend die Pizza. Sie schmeckte besser, als ich erwartet hatte, nur wusste ich nicht so recht, ob es an meinen oder seinen Kochkünsten lag. Wahrscheinlich an beidem. „Willst du mir vielleicht erzählen, warum du derart verbissen darauf bedacht bist, deine Gefühle zu verbergen?“, wollte Ayden wie nebenbei wissen. Ich schluckte den Bissen Pizza schwer herunter und sah ihn wütend über den Tisch hinweg an. Er erwiderte meinen Blick unbeirrbar.

„Nein, will ich nicht“, gab ich verbissen zurück und biss demonstrativ wieder von meinem Stück ab.

„Und warum? Vertraust du mir nicht?“ Der leise Hauch von Traurigkeit ließ mich beinahe schon erschrocken aufhorchen und verleitete mich dazu, ihn wieder anzusehen. Der Bissen blieb mir förmlich im Halse stecken, als ich die Qual in seinem Blick sah. Und doch war es nicht nur Schmerz darüber, dass ich ihm möglicherweise nicht vertraute, da war wieder dieser unbekannte Faktor, der ihm zusätzlich zu schaffen machte.

„Das – ich – so kann man das nicht ausdrücken …“, wehrte ich halbherzig ab und sah nachdenklich aus dem Fenster. „Schließlich bist du hier, oder?“

„Was bedeutet es, dass ich hier bin in deiner Skala?“, wollte Ayden vorsichtig wissen.

„Viel“, antwortete ich nur und bemerkte, wie sich ein Schatten auf mein Gesicht stahl. Meine Gedanken schweiften schon wieder zu meiner wenig erfreulichen Vergangenheit ab.

Auf einmal wurde ich mir bewusst, dass der Schwarzhaarige mich immer noch ansah. Ich riss mich zusammen und versuchte, möglichst ungeniert zu essen, doch das war schlecht möglich, wenn man von den Blicken seines Gegenübers quasi aufgespießt wurde. „Kannst du es nicht einfach als irgendetwas Unwichtiges abtun?“, wollte ich flehend wissen.

„Ich fürchte, das geht nicht“, antwortete Ayden ruhig.

„Und warum?“

„Weil ich es nicht ertrage, dich zu sehen, wie du dich quälst, ohne wenigstens versucht zu haben, dir zu helfen“, kam die eindringliche Antwort. Ich wurde reflexartig rot. Ich musste mich einfach verhört haben. Langsam schob ich den Teller von mir weg und schüttelte nur den Kopf. „Tut mir leid, dass ich dir solche Sorgen bereite, wirklich, aber ich kann auch nichts daran ändern. Das ist nun mal meine Art, mich zu schützen“, sagte ich, stand auf und ging zur Couch, nur, um dort den Fernseher auszumachen und mich seufzend hinzusetzen. Wie bereits von mir befürchtet und erwartet gab Ayden jedoch nicht so schnell auf. Er räumte die Teller ab und stellte sie, den Geräuschen nach zu urteilen, in den Geschirrspüler. Doch dann ließ er sich neben mir nieder und sah mich lange schweigend an, während ich darauf bedacht war, meinen Blick nicht in die tödliche Falle seiner Augen tappen zu lassen. Mein Innerstes krümmte sich. Wenn ich jetzt etwas Falsches sagte oder tat, dann hätte ich seine Freundschaft oder zumindest seine Freundlichkeit, die mir mehr bedeutete, als ich mir selbst eingestehen wollte, wahrscheinlich für immer verloren. Doch wenn ich mich wirklich so weit aus meinem Panzer, in dem ich mich verkrochen hatte, herauswagen würde, wie er es wollte, gäbe es vermutlich kein Zurück mehr … und ich hätte mich wieder verwundbar gemacht. Beide Aussichten waren nicht besonders rosig und zerrissen mich innerlich, doch zu einem Entschluss konnte ich einfach nicht kommen.

Plötzlich spürte ich einen kühlen Arm, der sich um meine Schulter legte und mich zu einem ebenso kühlen Körper zog. „Du bist schon seltsam“, murmelte Ayden mir ins Ohr. „Völlig anders als alle anderen … und doch wirkst du so … verletzlich.“ Volltreffer. Ich war verletzlich, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, was hieß, dass ich mich unbewusst schon so weit aus meinem Panzer gewagt hatte, dass er es hatte bemerken können. Dementsprechend gab es schon längst kein Zurück mehr – also eine qualvolle Entscheidung weniger.

„Tut mir leid“, wisperte ich kaum hörbar.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Wofür auch? Du bist so, weil dich dein Umfeld so gemacht hat … aber umso dringender möchte ich wissen, was vorgefallen ist!“, fuhr Ayden auf einmal auf und drückte mich noch fester an seine Brust. „Es gehört schon einiges dazu, ein so sanftes Wesen wie dich zu dem zu machen, was du jetzt bist.“

„Was bin ich deiner Meinung denn jetzt?“, stellte ich die Frage, die mich tatsächlich am meisten beschäftigte. Der Schwarzhaarige packte meine Schultern mit je einer Hand und sah mir tief in die Augen. „Eine zutiefst verletzte, reine Seele, die Angst davor hat, dasselbe durchleben zu müssen, wie in der Vergangenheit. Mein Problem ist, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie schlimm dein Erlebtes sein muss“, erklärte der junge Mann ruhig.

„Es ist auch schwer, es sich vorzustellen“, murmelte ich und wich seinem eindringlichen Blick aus.

„Dann hilf mir!“, verlangte Ayden eindringlich und schüttelte mich sanft, damit ich ihn wieder ansah. Ich war kurz davor etwas zu sagen, ich holte bereits Luft, um mich endgültig von meiner Unverwundbarkeit zu verabschieden, da klopfte es an der Tür. Aydens Kopf fuhr herum und er sah mit gerunzelter Stirn nach Süden, gerade so, als könne er sehen und hören, wer um Einlass bat, und als ob ihn das misstrauisch werden ließ. Dieses Verhalten übertrug sich auf mich und ich wurde nervös. „Ich mache auf“, sagte ich bestimmt, erhob mich und lief zur Tür, der Schwarzhaarige gerade mal einen halben Schritt hinter mir. Draußen stand Kenneth in seiner Uniform. „Kenneth was – ich meine: Chief Phynix, was tun Sie denn hier?“, berichtigte ich mich gerade noch rechtzeitig. Ich erinnerte mich, dass ich ihn zwar duzen durfte, allerdings nur, wenn er außer Dienst war, und das war er im Moment definitiv nicht.

„Kira hat mir gesagt, Ayden sei hier zu finden“, erwiderte der Chief nur und sah seinen Sohn eindringlich an, als wenn er ihm etwas mitteilen wollte.

Seltsamerweise schien Ayden sogar zu verstehen, was er wollte … aber das war unmöglich, er konnte schließlich keine Gedanken lesen.

„Und was willst du von mir, Dad?“, wollte der junge Mann mit einem Grinsen wissen, gerade so, als wäre es unheimlich komisch, den Chief ‚Dad’ zu nennen, und das, obwohl Kenneth der Vater von ihm war, wenn auch nicht biologisch.

„Dich nach Hause holen“, war die schlichte Antwort.

„Wieso?“ Das kam abrupt und schneidend, sodass ich unwillkürlich zusammenzuckte.

„Ich möchte, dass du heute in deinem Zimmer bleibst, und Leyla, das gilt für dich auch. Schließ alle Fenster und Türen ab“, befahl der Chief.

„Warum?“, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.

„Nach den Informationen, die ich von der Polizei in Collingwood habe, scheint ein Serienmörder auf dem Weg hierher zu sein. Kann sein, dass er einfach nur auf seinem Fluchtweg hier vorbeikommt, kann aber auch sein, dass hier Weitere seinem Wahn zum Opfer fallen. Ich möchte Verluste in Takaka jedoch vermeiden“, erklärte Kenneth eindringlich, hielt jedoch nur Augenkontakt mit Ayden, der keine Miene verzog, mal abgesehen davon, dass er todernst aussah. Der junge Mann nickte. „Natürlich.“ Damit lief er seinem Vater hinterher, drehte sich noch einmal um und rief mir zu: „Pass auf dich auf! Verlass das Haus auf keinen Fall!“, und war auch schon aus meinem Blickfeld verschwunden. Kurz darauf hörte ich das Motorengeräusch zweier Autos, dann war es still. Ich schloss die Tür und lehnte mich nachdenklich von innen an sie. Die ganze Aktion war wirklich merkwürdig vonstattengegangen. Man hatte das Gefühl, dass Kenneth und Ayden sich stumm verständigen würden … Aber das war doch unmöglich …

Eine andere Frage warf ihre Eindringlichkeit auf. Sie hatten mehrere Male betont, dass ich das Haus nicht verlassen sollte aufgrund dieses Mörders. Aber warum hatten sie so eine große Sorge? Die Polizei hier in Takaka würde sich auf ihn vorbereiten, jetzt, da sie gewarnt war. Sie würde dem Typen auflauern, ihn in einen Hinterhalt oder so tappen lassen und damit wäre die Sache erledigt. Allerdings, so musste ich mir eingestehen, sollte ich darauf vertrauen, dass Kenneth die ganze Geschichte ein wenig besser beurteilen konnte als ich, wo es doch zu seiner Arbeit gehörte, und er war völlig aus dem Häuschen. Gedankenverloren drehte ich den Schlüssel im Schloss zweimal, sodass es klickte, nahm den Schlüssel raus und ging zur gläsernen Doppeltür, die auf die Terrasse führte, und schloss auch da ab, nur zur Sicherheit …