Nona Pars

Ich komme nunmehr zu jenem Abschnitt unserer Geschichte, da wir Mexíca, nachdem wir seit vielen Schock Jahren den Berg der Größe erstiegen hatten, endlich seinen Gipfel erreichten, was bedeutet, daß wir, ohne es zu ahnen, uns auf der anderen Seite an den Abstieg machten.

Auf meinem Weg nach Hause, nachdem ich ziellos noch etliche weitere Monde im Westen umhergewandert war, gelangte ich nach Tolócan, einer angenehmen, auf einer Bergkuppe gelegenen Stadt im Land der Matlaltzínca, einem der kleineren Volksstämme, welche zum Dreibund gehörten. Ich nahm mir eine Kammer in einer Herberge, und nachdem ich gebadet und gespeist hatte, begab ich mich auf den Marktplatz besagter Stadt, um mir für die Heimkunft neue Kleider und für meine Tochter ein Geschenk zu kaufen. Während ich damit beschäftigt war, kam aus Tenochtitlan ein Schnellbote über den Markt von Tolócan gelaufen, welcher zwei verschiedene Umhänge trug. Der eine war weiß, also in der Farbe der Trauer, denn Weiß ist die Farbe, welche dem Westen zugeordnet ist, wohin die Toten sich begeben. Darüber jedoch trug er einen grünen Umhang, also einen von jener Farbe, welche gute Nachrichten verheißt. Infolgedessen überraschte es mich nicht, daß der Tecútli von Tolócan öffentlich verkündete: Der Verehrte Sprecher Ahuítzotl, welcher im Geiste bereits seit zwei Jahren gestorben war, sei nunmehr auch im Körper gestorben. Und daß der bisherige Regent, Motecuzóma der Jüngere, vom Staatsrat offiziell in den erhabenen Rang des Uey-Tlatoáni der Mexíca erhoben worden sei.

Diese Nachricht versetzte mich in eine Stimmung, daß ich am liebsten gleich wieder kehrt gemacht hätte, Tenochtítlan den Rücken zugekehrt und wieder den fernen Horizonten zugestrebt wäre. Doch tat ich es nicht. Viele Male in meinem Leben habe ich der Autorität gespottet und bin in meinen Handlungen unbesonnen gewesen, doch habe ich mich nicht immer wie ein Feigling oder wie ein Narr verhalten. Ich war immer noch ein Mexícatl und damit Untertan des Uey-Tlatoáni, wer immer das sein und wo immer ich mich auch aufhalten mochte. Ja, nicht nur das, ich war ein Adlerritter und hatte einem Verehrten Sprecher Treue geschworen, den ich persönlich nicht besonders hochschätzte.

Ohne den Mann jemals kennengelernt zu haben, hegte ich eine Abneigung gegen Motecuzóma Xocóyotzin und mißtraute ihm – um seines Versuchs willen, seines Verehrten Sprechers Bündnis mit den Tzapotéca vor vielen Jahren scheitern zu lassen und wegen der unedlen und abartigen Weise, in welcher er damals Zyanyas Schwester Béu mitgespielt hatte. Dabei hatte Motecuzóma vermutlich noch nicht einmal von mir gehört und konnte nicht wissen, was ich von ihm wußte, hatte also keinerlei Grund, meine Abneigung gegen ihn zu erwidern. Ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich ihm dazu irgendwelchen Anlaß gegeben und ihm meine Gefühle gezeigt, ja, mich überhaupt in irgendeiner Weise so verhalten, daß ich ihm auffiel. Sollte ihm aus irgendeinem Grund der Gedanke kommen, die Adlerritter, welche seiner Thronbesteigung beiwohnten, zu zählen, könnte er sich durch das unentschuldigte Fehlen eines Ritters namens Dunkle Wolke beleidigt fühlen.

Folglich zog ich von Tolócan aus weiter nach Osten, die steilen Hänge hinunter, welche sich von dort bis zum Becken des Sees und den darin liegenden Städten hinunterziehen. Bei meiner Ankunft in Tenochtítlan begab ich mich sogleich in mein Haus, wo ich von den Sklaven Türkis und Stern Sänger sowie meinem Freunde Cozcatl überschwenglich begrüßt wurde und nicht ganz so begeistert von seiner Frau, welche mit Tränen in den Augen sagte: »Jetzt wirst du uns zwingen, unsere geliebte kleine Cocóton herzugeben.«

Ich erklärte: »Sie und ich, wir werden dich immer lieben, Que-quelmiqui, und ihr könnt einander besuchen, sooft ihr wollt.«

»Aber es wird doch nicht dasselbe sein, wie sie ganz für sich zu haben.«

Ich sagte zu Türkis: »Sag dem Kind, sein Vater sei wieder daheim. Bitte es, zu mir zu kommen.«

Sie kamen Hand in Hand herunter. Mit ihren vier Jahren stand Cocóton immer noch in einem Alter, da Kinder unbekleidet im Haus herumlaufen, und das machte mir die Veränderung, welche mit ihr vorgegangen war, überdeutlich. Ich freute mich, daß sie, wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte, immer noch schön war; ja, die Ähnlichkeit ihrer Züge mit denen ihrer Mutter trat womöglich noch mehr zutage als früher. Aber sie war nicht mehr ein formlos-pummeliges Kleinkind mit zu kurzen Gliedmaßen, sondern vielmehr deutlich als kleines Menschenkind zu erkennen, das richtige Arme und Beine hatte, welche in schönem Verhältnis zu ihrer sonstigen Körpergröße standen. Ich war zwei Jahre lang fortgewesen, eine Zeitspanne, die ein Mann Mitte Dreißig bedenkenlos verschwenden kann. Doch war das die Hälfte des Lebens meiner Tochter, in welcher diese wunderbarerweise von einem Baby zu einem bezaubernden kleinen Mädchen herangewachsen war. Plötzlich tat es mir leid, nicht Zeuge ihres Erblühens gewesen zu sein, und selbiges muß sich auf unvergleichlich wunderbare Weise von Augenblick zu Augenblick sichtbarlich vollzogen haben wie bei einer Wasserlilie, welche sich im Zwielicht entfaltet. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich mir das hatte entgehen lassen, und schwor mir insgeheim, es nicht wieder zu tun.

Türkis stellte uns einander mit stolzer Gebärde vor: »Meine kleine Herrin Ce-Malinali, genannt Cocóton. Das hier ist dein endlich heimgekehrter Tete Mixtli. Begrüße ihn hochachtungsvoll, wie es dich gelehrt worden ist.«

Zu meiner freudigen Überraschung ließ Cocóton sich anmutig auf die Knie nieder, um die Geste des Erdeküssens vor mir zu vollführen. In dieser knienden Haltung verharrte sie, bis ich sie beim Namen rief. Dann winkte ich sie zu mir heran, sie bedachte mich mit ihrem bezaubernden Grübchenlächeln, kam in meine Arme geflogen, gab mir einen schüchternen, feuchten Kuß und sagte: »Tete, ich bin glücklich, daß du von deinen Abenteuern wieder heimgekehrt bist.«

Ich sagte: »Und ich freue mich darüber, daß ich hier von einer kleinen Dame erwartet werde, die weiß, was sich gehört.« Zu Kitzlig gewandt, sagte ich: »Ich danke dir, daß du dein Versprechen eingelöst hast, du würdest nicht zulassen, daß sie mich vergißt.«

Cocóton löste sich aus meiner Umarmung, blickte sich suchend um und sagte: »Ich habe aber auch meine Tene nicht vergessen. Sie möchte ich auch begrüßen.«

Den anderen im Raum gefror das Lächeln auf den Lippen, und sie wandten unauffällig den Blick ab, während ich tief Atem holte und sagte:

»Voller Trauer muß ich dir sagen, kleines Mädchen, daß die Götter die Hilfe deiner Mutter bei einigen ihrer eigenen Abenteuer benötigt haben. An einem fernen Ort, wohin ich ihr nicht folgen konnte, an einem Ort, von dem sie nicht zurückkehren kann. Man kann den Göttern ein solches Ansinnen nicht abschlagen. Sie wird also nicht wieder heimkehren nach Hause; du und ich, wir müssen mit unserem Leben ohne sie fertig werden. Trotzdem darfst du aber deine Tene nicht vergessen.«

»Nein«, erklärte das Kind ernsthaft.

»Doch um sicher zu sein, daß du sie auch wirklich nicht vergißt, schickt Tene dir ein Andenken.« Womit ich eine Halskette hervorholte, welche ich in Tolócan gekauft hatte, rund zwanzig kleine, auf Silberdraht aufgezogene Glühwürmchensteine oder Opale, wie ihr sagt. Ich ließ sie Cocóton kurz in der Hand halten und sich in höchsten Tönen darüber ergehen, dann legte ich sie ihr um den schlanken Hals. Als ich sie nur mit der Opalkette bekleidet dastehen sah, mußte ich lächeln, doch die Frauen hielten vor Entzücken die Luft an, und Türkis lief, Cocóton einen Tezcatl-Spiegel zu bringen.

Ich sagte: »Cocóton, jeder dieser Steine strahlt, wie deine Mutter gestrahlt hat. An jedem Geburtstag werden wir einen neuen, noch größeren hinzufügen. Wenn so viele Glühwürmchen um dich herum blitzen, wird ihr Licht dich daran erinnern, deine Tene Zyanya nicht zu vergessen.«

»Das wird sie ohnehin nicht tun«, sagte Cozcatl und zeigte auf Cocóton, die sich in dem Spiegel bewunderte, den Türkis ihr hinhielt. »Sie braucht ja nur in den Spiegel zu blicken, wenn sie den Wunsch verspürt, ihre Mutter zu sehen. Und du, Mixtli, du brauchst bloß Cocóton anzusehen.« Als mache es ihn verlegen, seine Gefühle so sehr zu zeigen, räusperte er sich und sagte mit einem Nachdruck, der wohl hauptsächlich für Kitzlig bestimmt war: »Ich glaube, diejenigen, welche vorübergehend Mutter und Vater für sie gewesen sind, ziehen sich jetzt besser zurück.«

Es war deutlich zu spüren, daß Cozcatl viel daran gelegen war, aus meinem Haus in sein eigenes, neu erbautes überzusiedeln, von wo aus er seine Dienerschule besser leiten konnte. Eben so sehr war jedoch auch zu spüren, daß Kitzlig Cocóton nachgerade die Liebe einer Mutter entgegenbrachte, die sonst kinderlos war. Der Abschied an diesem Tag hatte einen Kampf zur Folge – einen buchstäblich körperlichen Kampf –, bei dem es darum ging, Cocóton aus den Armen dieser Frau zu befreien, welche sie um meine Tochter geschlungen hatte. In den folgenden Tagen kamen Cozcatl und Kitzlig und ihre Träger wiederholt zu uns, um ihre Sachen abzuholen, und es war dann jedesmal Cozcatl, der die nötigen Anweisungen gab und alles überwachte. Für seine Frau war das ganze jedesmal ein Vorwand, um »ein letztes Mal« mit Cocóton zusammen zu sein.

Selbst nachdem Cozcatl und seine Frau sich ganz behaglich in ihrem eigenen Haus niedergelassen hatten und sie ihm bei der Leitung der Schule half, erfand Kitzlig immer noch kleine Besorgungen, welche ihr den Vorwand boten, in unser Viertel zu kommen und eine Möglichkeit zu haben, kurz bei meiner Tochter hereinzuschauen. Wie wäre ich dazu gekommen, mich darüber zu beklagen! Ich verstand, daß, während ich bemüht war, Cocótons Liebe zu gewinnen, Kitzlig versuchte, sich diese aus dem Herzen zu reißen. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, das Kind dazu zu bringen, einen Mann als Tete anzuerkennen, der fast ein Fremder für sie war. Infolgedessen hatte ich Verständnis für die Schmerzen, welche es Kitzlig kostete, aufzuhören, eine Tene zu sein, nachdem sie diese Rolle zwei Jahre hindurch gespielt hatte.

Ich kann von Glück sagen, daß in den ersten Tagen nach meiner Heimkehr keine anderen Anforderungen an mich gestellt wurden und es mir freistand, meine ganze Zeit der Erneuerung meiner Bekanntschaft mit meiner Tochter zu widmen. Wiewohl der Verehrte Sprecher Ahuítzotl zwei Tage vor meiner Rückkehr gestorben war, konnte seine Bestattung – und Motecuzómas Krönung – selbstverständlich nicht stattfinden, ohne daß jeder andere Herrscher und Adlige und jede Person von Rang noch aus den entferntesten Völkern sich in Der Einen Welt versammelte, und viele von ihnen kamen von weither angereist. In dieser Zeit, da die Festteilnehmer sich versammelten, wurde Ahuítzotls Leichnam dadurch vor dem Verfall bewahrt, daß er ständig in Schnee eingehüllt wurde, den Schnellboten von den Vulkangipfeln heruntergebracht hatten.

Der Tag der Bestattung kam, und ich, angetan mit dem Kampfanzug und den Insignien eines Adlerritters, gehörte zu der Menge, welche den Großen Platz füllte und Eulenschreie ausstieß, als die Sänftenträger unseren verblichenen Uey-Tlatoáni ein letztes Mal durch die Obere Welt trugen. Die ganze Insel schien von unserem langgezogenen »Hoo-oo-oooo!« der Klage und des Abschieds widerzuhallen. Der tote Ahuítzotl saß auf seinem Tragstuhl, allerdings gebeugt, die Knie an die Brust herangezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Seine Erste Witwe und die nicht ganz so hochstehenden ehemaligen Gattinnen hatten seinen Körper in Wasser gewaschen, welches nach Klee und anderen Kräutern duftete und hatten ihn mit Copáli parfümiert. Seine Priester hatten ihn in siebzehn Umhänge gekleidet, alle aus so feiner Baumwolle, daß es gar nicht unförmig wirkte. Über dieser rituellen Umhüllung trug Ahuítzotl eine Maske und ein Gewand, welche ihm das Aussehen Huitzilopóchtlis verliehen, des Kriegsgottes und Obersten Gottes der Mexíca. Da die Farbe, welche Huitzilopóchtli auszeichnete, das Blau war, war auch Ahuítzotls Gewand blau, freilich, nicht nur von Farbe und Farbstoff so gemacht. Die Maske über seinem Gesicht zeichnete seine Züge wunderbar nach in Linien aus Türkisplättchen, welche in Gold gefaßt waren, die Augen aus Obsidian und Perlmutt, die Lippen aus Blutjaspis. Seine Robe war über und über mit jener Jadesteinart benäht, die mehr zum Blau als zum Grün neigt.

Die wir den Trauerzug bildeten, waren wir je nach Rang aufgestellt und zogen unter gedämpftem Trommelklang, welcher einen leisen Kontrapunkt zu dem Klagesang bildete, den wir sangen. Ahuítzotl auf seinem Tragstuhl bildete den Anfang; das ständige »Hoo-oo-oooo!« der Menge begleitete ihn; neben dem Tragstuhl schritt sein Nachfolger Motecuzóma einher, jedoch nicht triumphierend ausschreitend, sondern gramgebeugt und schweren Schritts, wie es dem Anlaß entsprach. Er ging barfuß und trug nichts Prächtiges, sondern nur die zerrissenen schwarzen Gewänder des Priesters, der er einst gewesen. Sein Haar hing ihm ungekämmt und zerzaust um die Stirn, er hatte sich Kalkstaub in die Augen gerieben, um sie zu röten und dazu zu bringen, unablässig Tränen zu weinen.

Als nächste kamen die Herrscher aller anderen Völker, darunter ein paar alte Bekannte von mir: Nezahualpíli von Texcóco und Kosi Yuela von Uaxyácac und Tzimtzicha von Michihuácan anstelle seines Vaters Yquingare, der zu alt war zum Reisen. Aus demselben Grund hatte der uralte und blinde Xicoténca von Texcála seinen Sohn und Erben, Xicoténca den Jüngeren entsandt. Beide letztgenannten Völker waren, wie ihr wißt, Rivalen und Feinde von Tenochtítlan, doch der Tod eines Herrschers erlegte allen einen Waffenstillstand auf und verpflichtete sämtliche anderen Herrscher, in die öffentliche Trauer um den Verblichenen mit einzustimmen, mochten sie im Herzen auch noch so frohlocken über sein Hinscheiden. Sie konnten die Stadt unbehindert betreten und auch wieder verlassen; bei der Bestattung eines Herrschers war ein Mord, ein Attentat oder irgendein anderer Verrat undenkbar.

Hinter den Würdenträgern, die von auswärts angereist gekommen waren, kam Ahuítzotls Familie; seine Erste Gemahlin, dann die weniger hochstehenden legitimen Gattinnen samt zugehörigen Kindern, dann die vielen Konkubinen mit ihrer auffallend viel größeren Kinderschar. Ahuítzotls ältester anerkannter Sohn Cuautémoc führte an einer goldenen Kette den kleinen Hund, welcher den Toten auf seiner Reise in die Gegenwelt begleiten sollte. Andere Kinder Ahuítzotls trugen die anderen Dinge, die ihr Vater brauchte oder vielleicht begehrte: seine verschiedenen Banner, Herrscherstab, Federkopfputz und andere Insignien seines Amtes, darunter eine Menge Schmuck; seine Kampfanzüge, Waffen und Schilde; etliche seiner anderen symbolischen Besitztümer, die zwar keinen offiziellen Charakter hatten, ihm jedoch teuer gewesen waren – darunter jenes furcht gebietende Grizzly-Bärenfell mit dem Kopf und dem aufgerissenen Rachen, das so viele Jahre hindurch seinen Thron geschmückt hatte.

Der Familie folgten die alten Männer des Staatsrats und viele andere Weise Ratgeber des Verehrten Sprechers, Zauberer, Seher und Wahrsager. Dann kamen die ranghöchsten Edelleute seines Hofes und diejenigen Adligen, welche mit den ausländischen Abordnungen gekommen waren. Ihnen wieder folgten die Krieger aus Ahuítzotls Palastwache und alte Krieger, welche ihm gedient, längst ehe er Uey-Tlatoáni geworden war, dazu etliche seiner Lieblingsdiener und Lieblingssklaven vom Hofe sowie selbstverständlich die Angehörigen der drei Ritterorden: Adler, Jaguare und Pfeile.

Der Trauerzug mußte den See überqueren, denn es war beschlossen worden, Ahuítzotl zu Füßen des Felsens von Chapultépec zu bestatten, unmittelbar unter der Stelle, wo sein überlebensgroßes Abbild aus dem Felsen herausgemeißelt worden war. Nahezu jedes Acáli, von den eleganten des Hofes bis hinunter zu den schlichten Kanus der Frachtbeförderer, Vogelsteller und Fischer hatte Befehl erhalten, uns, die wir im Trauerzug mitmarschierten, hinüberzubringen, und so konnten nicht viele Bürger von Tenochtítlan uns folgen. Als wir jedoch das Festland erreichten, erwartete uns dort bereits eine ähnlich große Menge aus Tlácopan und Coyohuácan und anderen Städten, dem verblichenen Herrscher die letzte Ehre zu erweisen. Wir zogen zu dem bereits ausgehobenen Grab zu Füßen des Chapultépec und standen schwitzend da, daß es uns unter unseren Zeremonialgewändern juckte, während die Priester ihre endlosen Anweisungen herunterleierten, die Ahuítzotl befolgen mußte, um durch jenen Schreckensbereich hindurchzukommen, welcher zwischen unserer Welt und der Gegenwelt lag.

In den letzten Jahren habe ich Seine Exzellenz, den Herrn Bischof, und eine ganze Menge anderer christlicher Väter bei ihren Predigten gegen unsere barbarischen Bestattungsriten bei hochgestellten Persönlichkeiten wettern hören – daß nämlich viele von seinen Frauen und Dienern getötet worden seien, auf daß sie ihm in der anderen Welt gebührend aufwarten könnten. Diese Kritik verwirrt mich. Ich meine zwar, daß man eine solche Praxis zurecht verdammen würde, doch frage ich mich, wo ihr christlichen Väter dieser Sitte begegnet seid. Ich dachte, ich kennte mich in etwa unter allen Völkern und Stämmen und ihren verschiedenen Sitten und Gebräuchen in der gesamten Einen Welt aus, habe aber noch nie gehört, daß es zu einer solchen Massenbestattung gekommen wäre.

Ahuítzotl war der ranghöchste Adlige, dessen Bestattung ich jemals beigewohnt habe, doch wenn irgendeine andere Persönlichkeit ihr Gefolge im Tode mit sich genommen hätte, wäre das allgemein bekannt gewesen. Und ich habe die Begräbnisstätten anderer Länder gesehen: alte, freigelegte Gräber in den verlassenen Städten der Maya, die uralten Krypten der Wolkenmenschen in Lyobáan, doch in keinem einzigen habe ich jemals etwas anderes gesehen als die Überreste dessen, welcher rechtens hier bestattet worden war. Selbstverständlich hatte jeder von ihnen die Zeichen seines Ranges und Ruhms mitgenommen wie etwa edelsteinbesetzte Insignien und dergleichen. Aber tote Frauen und Sklaven? Nein. So etwas wäre schlimmer als barbarisch gewesen, nämlich töricht. Wenn auch ein sterbender großer Herr sich nach seiner Familie und seiner Dienerschaft gesehnt haben mochte, er hätte so etwas nie angeordnet, wußte er doch wie jedermann sonst, daß Menschen geringeren Stands in eine völlig andere Gegenwelt eingingen.

Das einzige Geschöpf, das an Ahuítzotls Grab an diesem Tag starb, war der kleine Hund, den Prinz Cuautémoc mitgebracht hatte, und diesen zu töten, gab es einen verständlichen Grund. Das erste Hindernis in der Gegenwelt – so wurde uns jedenfalls erzählt – war ein schwarzer Fluß, welcher durch schwarzes Land floß, und diesen erreichte ein Toter immer ausgerechnet im dunkelsten Augenblick der schwarzen Nacht. Diesen Fluß konnte er nur überqueren, indem er sich an einem Hund festhielt, welcher das gegenüberliegende Ufer riechen und direkt darauf zuschwimmen konnte. Und dieser Hund mußte auch noch von einer mittleren Farbe sein. War er weiß, würde er sich dieser Aufgabe verweigern und sagen: »Herr, ich bin so sauber, weil ich schon zulange im Wasser gewesen bin. Ich will nicht noch einmal baden.« War er schwarz, würde er sich weigern, indem er sagte: »Herr, in dieser Dunkelheit könntet Ihr mich nicht sehen. Würdet Ihr mich unterwegs loslassen, wäret Ihr verloren.« Infolgedessen hatte Cuautémoc ein zirkonfarbenes Hündchen beschafft, ebenso rotgelb wie die rotgelbe Kette, an der er es führte.

Nach dem schwarzen Fluß galt es, noch zahlreiche andere Hindernisse zu überwinden, doch die mußte Ahuítzotl allein bezwingen. Er mußte zwischen zwei riesigen Bergen hindurch, die sich in nicht vorhersehbaren Abständen einander zuneigten und sich aneinander rieben. Dann mußte er über einen anderen Berg hinweg, der aus nichts anderem bestand denn aus scharfen, ins Fleisch schneidenden Obsidianplättchen. Er mußte sich den Weg durch einen nahezu undurchdringlichen Wald aus Bannerstangen hindurchwinden, in welchem die flatternden Banner ihm die Sicht auf den Weg versperren und ins Gesicht klatschen, um ihn blind zu machen oder ihn zumindest irrezumachen. Sodann durch ein Gebiet, in welchem unablässig Regen fiel und jeder Regentropfen eine Pfeilspitze war. Und zwischen diesen Gebieten mußte er lauernden Schlangen und Jaguaren, die nur darauf warteten, sein Herz zu fressen, aus dem Wege gehen oder sie bekämpfen.

Wenn er und falls er obsiegte, gelangte er zuletzt ins Mictlan, wo der regierende Herr und seine Dame ihn bereits erwarteten. Dort würde er den Jadestein aus dem Mund herausnehmen, mit dem er bestattet worden war – falls er nicht so feige gewesen war, zu schreien und ihn dadurch unterwegs schon zu verlieren. Überreichte er diesen Stein dem Míctlantécutli und der Mictlanciuatl, würden dieser Herr und die Dame ihn lächelnd willkommen heißen und ihn in jene Gegenwelt weisen, die er verdiente, wo er in Üppigkeit und Glückseligkeit für immer weiterlebte.

Es war später Nachmittag, als die Priester mit ihren Ermahnungen und Abschiedsgebeten fertig waren, Ahuítzotl zusammen mit dem rotgelben Hündchen in sein Grab gesetzt, die Erde hineingeschaufelt und festgeklopft und von den bereitstehenden Steinmetzen die schlichte Steinabdeckung darübergelegt wurde. Es war bereits dunkel, als die Flotte der Acáltin wieder in Tenochtítlan festmachte, wo unser Zug sich formierte wie zuvor, und zurückmarschierte zum Herzen Der Einen Welt. Der Große Platz hatte sich mittlerweile geleert. Von einfachen Bürgern der Stadt war niemand mehr zu sehen, doch wir mußten, unserem Rang entsprechend, Aufstellung nehmen, während die Priester von der fackelerhellten Spitze der Großen Pyramide herunter noch mehr Gebete sprachen, rings auf dem Platz in besonderen Urnen besonderen Weihrauch abbrannten und den in Lumpen gekleideten, barfüßigen Motecuzóma feierlich in den Tempel des Tezcatlipóca, Glühender Spiegel, geleiteten.

Ich sollte noch erwähnen, daß der Wahl dieses bestimmten Gottes keinerlei besondere Bedeutung zukam. Wenn Tezcatlipóca in Texcóco und in einigen anderen Städten als allerhöchste Gottheit verehrt wurde, so wurde er in Tenochtítlan nicht ganz so hoch in Ehren gehalten. Es war nur so, daß sein Tempel der einzige auf dem Platz war, der einen mauerumwehrten Hof aufwies. Sobald Motecuzóma eingetreten war, schlossen die Priester die Tore hinter ihm. Vier Nächte und vier Tage hindurch mußte der neugewählte Verehrte Sprecher dort allein zubringen, fasten, dürsten und sich versenken, sich von der Sonne verbrennen oder vom Regen durchweichen lassen, wie die Wettergötter es wollten, auf dem harten Steinboden des Hofes schlafen und sich nur in ganz bestimmten Abständen ins Tempelinnere selbst hineinbegeben, um dort zu beten – zu allen Göttern, einem nach dem anderen – um gütige Lenkung in dem Amte, welches er binnen kurzem antreten sollte.

Wir anderen machten uns müde und abgespannt nach unseren Palästen, Herbergen, eigenen Häusern oder Kriegerhäusern auf, dankbar, daß wir uns nicht sogleich wieder feierlich kleiden und eine weitere, einen ganzen Tag andauernde Feier über uns ergehen lassen mußten, bis Motecuzóma aus seiner Zuflucht wieder hervorkam.

Ich schleppte die schweren, adlerklauenbesetzten Sandalen die Stufen zur Haustür hinauf, und selbst wenn ich nicht so abgespannt gewesen wäre, hätte es mich doch nicht wenig erstaunt, daß nicht Türkis, sondern Kitzlig mir die Tür aufmachte. Eine einsame Ölfunzel brannte auf der Diele.

Ich sagte: »Es ist sehr spät. Cocóton ist doch bestimmt schon längst schlafen gelegt worden. Warum bist du mit Cozcatl nicht nach Hause gegangen?«

»Cozcatl ist in Schulangelegenheiten nach Texcóco hinüber. Kaum, daß nach der Bestattung wieder Acális zu haben waren, hat er eines gemietet, ihn hinzubringen. Ich war daher froh, ein bißchen freie Zeit für meine … für deine Tochter zu haben. Türkis bereitet dir schon Bad und Schwitzbad.«

»Gut«, sagte ich. »Nun, dann will ich Stern Sänger rufen, dich mit einer Lampe heimzubegleiten. Und ich werde mich beeilen, mich gleichfalls schlafen zu legen, damit die Diener ihre Decken ausrollen können.«

»Warte«, sagte sie nervös. »Ich möchte nicht heimgehen.« Ihr für gewöhnlich leicht kupferfarbenes Gesicht war tief errötet, gleichsam als leuchtete die Öllampe nicht hinter ihr, sondern in ihr. »Cozcatl kann frühestens morgen abend wieder zu Hause sein. Heute nacht möchte ich, daß du mit mir schläfst, Mixtli.«

»Was soll das heißen?« sagte ich und tat so, als begriffe ich nicht. »Stimmt zu Hause etwas nicht, Kitzlig?«

»Ja, und du weißt auch, was.« Sie erglühte womöglich noch mehr. »Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und seit über fünf Jahren verheiratet, und doch weiß ich immer noch nicht, was ein Mann ist.«

Ich erklärte: »Cozcatl ist genau so sehr ein Mann wie jeder andere.«

»Bitte, Mixtli, tu nicht so, als ob du schwer von Begriff wärest«, flehte sie mich an. »Du weißt sehr wohl, was ich noch nicht kennengelernt habe.«

Ich sagte: »Falls es dir hilft, das Gefühl zu ertragen, etwas versäumt zu haben – ich habe Grund zu der Annahme, daß unser neuer Verehrter Sprecher in dieser Beziehung fast genauso übel dran ist wie dein Mann Cozcatl.«

»Das ist schwer zu glauben«, sagte sie. »Sobald Motecuzóma zum Regenten ernannt worden war, hat er zwei Frauen genommen.«

»Dann sind sie vermutlich genauso unbefriedigt, wie du es zu sein scheinst.«

Ungeduldig schüttelte Kitzlig den Kopf. »Offenbar schafft er es immerhin, sie zu schwängern. Sie haben beide ein Baby. Und das ist mehr, als ich mir jemals erhoffen kann! Wäre ich die Frau des Verehrten Sprechers, könnte ich zumindest ein Kind empfangen. Aber ich bin nicht wegen Motecuzómas Frauen hergekommen. Ich gebe keinen kleinen Finger für Motecuzómas Frauen.«

»Ich auch nicht«, versetzte ich bissig. »Aber ich rate ihnen, sich an ihr eheliches Bett zu halten und nicht meines zu belagern.«

»Sei nicht herzlos, Mixtli!« sagte sie. »Wenn du nur wüßtest, was mich das gekostet hat! Fünf Jahre, Mixtli! Das fünf Jahre über mich ergehen zu lassen und immer so zu tun, als wäre ich befriedigt! Ich habe gebetet und Xochiquétzal Opfer dargebracht, habe sie angefleht, mir zu helfen, mich mit dem zufriedenzugeben, was mein Mann mir bieten kann. Aber es hilft nichts. Die Neugier quält mich unablässig! Wie ist das wirklich, mit einem richtigen Mann und einer Frau? Sich das ständig zu fragen, die Versuchung und Unentschlossenheit, und zuletzt die Erniedrigung, darum zu bitten.«

»Und da bittest du mich, ausgerechnet mich, meinen besten Freund zu betrügen? Und mich und die Frau meines besten Freundes in Gefahr zu bringen, zur Würgschlinge verurteilt zu werden?«

»Ich frage dich ja gerade deshalb, weil du sein bester Freund bist. Du würdest nie irgendwelche üblen Andeutungen fallen lassen, wie es irgendein anderer Mann möglicherweise täte. Selbst wenn Cozcatl irgendwann dahinterkäme – er liebt uns beide, dich und mich, viel zu sehr, um uns zu verraten!« Sie schwieg, um dann noch hinzuzufügen: »Wenn Cozcatls bester Freund es nicht tut, dann erweist er Cozcatl einen schlechten Dienst. Ich spreche die Wahrheit. Wenn du mich abweist, werde ich mich nicht weiter demütigen und mich an irgendeinen Mann aus unserem Bekanntenkreis wenden. Dann kaufe ich mir einen Mann für eine Nacht. Dann mache ich mich an irgendeinen Mann in einer Herberge heran. Überlege mal, was das für Cozcatl bedeuten würde.«

Ich überlegte es. Und dabei fiel mir ein, daß er mir einmal gesagt hatte, wenn diese Frau ihn nicht haben wolle, würde er seinem Leben irgendwie ein Ende setzen. Damals hatte ich ihm geglaubt, und ich glaubte immer noch, daß er genau das tun würde, wenn er jemals erführe, daß seine Frau ihn betrog.

Ich sagte: »Mal von all diesen Dingen abgesehen, Kitzlig – ich bin in diesem Augenblick dermaßen erledigt, daß ich keiner Frau Lust bereiten könnte. Du hast fünf Jahre gewartet. So kannst du auch noch warten, bis ich gebadet und geschlafen habe. Und du sagst selbst, wir hätten morgen noch den ganzen Tag. Geh jetzt nach Hause und überleg dir die Sache noch einmal genau. Und wenn du morgen immer noch entschlossen bist …«

»Das werde ich sein, Mixtli. Und werde morgen wieder hier sein.«

Ich rief Stern Sänger, er entzündete eine Fackel, und er und Kitzlig verschwanden in der Nacht. Ich war bereits ausgekleidet, hatte geschwitzt und lag in meinem Badebecken, als ich ihn zurückkommen hörte. Ich hätte ohne weiteres im Badebecken einschlafen können, nur wurde das Wasser so kalt, daß es mich zwang herauszusteigen. Folglich schleppte ich mich in meine Kammer hinüber, fiel auf mein Lager, zog die Decke über mich und machte mir nicht einmal mehr die Mühe, die Ölfunzel auszublasen, die Türkis angezündet hatte, so müde war ich.

Doch selbst in meinem tiefen Schlaf muß ich die stürmische Rückkehr der ungeduldigen Kitzlig halb freudig erwartet halb gefürchtet haben, denn meine Augen gingen im selben Augenblick auf, da auch die Tür meiner Schlafkammer aufging. Der Docht war ziemlich heruntergebrannt und erleuchtete den Raum nur noch schwach, doch zeigte sich das erste Grau der Morgendämmerung am Fenster, und was ich sah, ließ mir die Haare zu Berge stehen.

Ich hatte kein Geräusch unten vernommen, mich vor der unerwarteten und unglaublichen Erscheinung zu warnen – und ganz bestimmt würden Türkis oder Stern Sänger einen schrillen Schrei ausgestoßen haben, hätte einer von ihnen dieses ganz bestimmte Gespenst erblickt. Wiewohl für die Reise noch in Kopftuch und schweren Mantel aus Kaninchenfell gekleidet, wiewohl das Licht schwach war und wiewohl mir die Hand zitterte, als ich meinen Topas ans Auge hielt … es war Zyanya, die ich dort stehen sah.

»Záa!« flüsterte sie leise, offensichtlich jedoch freudig erregt, und es war Zyanyas Stimme. »Du schläfst nicht, Záa.«

Doch ich war mir sicher. Es mußte so sein. Ich sah das Unmögliche, und das war mir noch nie widerfahren, nur in meinen Träumen.

»Ich habe nur kurz hereinschauen wollen. Ich wollte dich nicht stören«, sagte sie immer noch flüsternd – flüsternd, um mich den Schrecken weniger spüren zu lassen, wie ich annahm.

Ich wollte sprechen, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen – etwas, was mir bisher gleichfalls nur im Traum jemals geschehen war.

»Ich gehe in die andere Kammer«, sagte sie. Sie fing an, den Schal abzunehmen, und tat das so langsam, als wäre sie müde von einer langen, unvorstellbar langen Reise. Ich dachte an die Hindernisse – die Berge, die sich aneinander rieben, den schwarzen Fluß in der schwarzen Nacht – und ein Schauder durchlief mich.

»Ich hoffe, du hast nicht schlaflos auf meine Ankunft gewartet«, sagte sie, »als du meine Nachricht erhieltest.« Ihre Worte ergaben keinen Sinn, bis der Schal ganz herunterfiel und das schwarze Haar ohne den weißen Blitz darin zum Vorschein kam. »Selbstverständlich hätte es mir geschmeichelt«, fuhr Béu Ribé fort, »wenn die Nachricht von meinem Kommen dich nicht hätte schlafen lassen. Es würde mich freuen, wenn du so darauf brenntest, mich zu sehen.«

Endlich fand ich meine Stimme wieder, und sie klang ganz heiser, als ich sagte: »Ich habe keine Nachricht erhalten! Wie kannst du es wagen, dich so heimlich in mein Haus zu schleichen? Wie kannst du es wagen, so zu tun als wärest du …?« Doch an dieser Stelle versagte mir die Stimme wieder; ich konnte sie nicht gut beschuldigen, absichtlich so aussehen zu wollen wie ihre verstorbene Schwester.

Sie schien aufrichtig bestürzt und stammelte, als sie zu erklären versuchte: »Aber ich habe einen Jungen vorausgeschickt … ich habe ihm eine Kakaobohne gegeben, dich zu benachrichtigen. Dann hat er es nicht getan? Aber unten … Stern Sänger hat mich herzlich begrüßt. Und dich finde ich wach vor, Záa …«

Ich knurrte: »Einmal hat Stern Sänger mich aufgefordert, ihn zu schlagen, und diesmal werde ich ihm den Gefallen tun.«

Abermals folgte ein kurzes Schweigen. Ich wartete, daß mein wild pochendes Herz sich beruhigte und dieses Gefühl der Überraschung, des Schreckens und der Freude sich legte. Béu schien sich vor Verlegenheit zu winden und sich größte Vorwürfe wegen ihres Eindringens zu machen. Schließlich sagte sie, fast zu kleinmütig für sie: »Ich werde in der Kammer schlafen, in der ich auch früher geschlafen habe. Vielleicht … vielleicht bist du morgen weniger zornig, daß ich hier bin …« Und war aus meiner Kammer verschwunden, ehe ich irgend etwas darauf hätte erwidern können.

Am Morgen hatte ich eine kleine Atempause von dem Gefühl, von Frauen belagert zu werden. Bis auf die beiden Sklaven, welche es mir vorsetzten, war ich beim Frühstück allein, und ich begann den Tag damit, daß ich knurrte: »Ich liebe keine Überraschungen vor Morgengrauen.«

»Überraschungen, Herr?« sagte Türkis erschrocken.

»Die unangemeldete Ankunft der Dame Béu.«

Sie schien womöglich noch verblüffter, als sie sagte: »Die Dame Béu ist hier? Im Haus?«

»Ja«, mischte Stern Sänger sich ein. »Für mich war es auch eine Überraschung, Herr. Aber ich nahm an, Ihr hättet nur vergessen, uns etwas davon zu sagen.«

Wie sich herausstellte, war der Junge, den Béu als Boten geschickt hatte, nie eingetroffen, uns alle von ihrer unmittelbar bevorstehenden Ankunft zu unterrichten. Stern Sänger war davon wach geworden, daß draußen auf der Straße Lärm laut geworden war. Türkis war nicht einmal davon aufgewacht, er jedoch war aufgestanden, um die Besucherin einzulassen, und diese hatte ihm aufgetragen, mich nicht zu stören.

»Da die Dame Wartender Mond mit einer Reihe von Lastträgern eintraf«, sagte er, »ging ich selbstverständlich davon aus, daß sie erwartet wurde.« Das erklärte, warum er nicht das Gefühl gehabt hatte, ein Gespenst vor sich zu haben, und warum er sie nicht fälschlich für Zyanya gehalten hatte wie ich. »Sie trug mir auf, Euch nicht zu wecken und überhaupt keinen Lärm zu machen, und hat gesagt, sie finde schon allein hinauf. Ihre Träger haben eine ganze Menge Gepäck gebracht, Herr. Ich habe alle Bündel und Körbe vorläufig in die Vorderkammer bringen lassen.«

Nun, ich konnte dankbar sein, daß zumindest keiner der Diener gemerkt hatte, wie sehr ich durch Béus plötzliches Auftauchen verstört worden war – und daß Cocóton nicht wach geworden war und sich geängstigt hatte. Folglich sagte ich nichts mehr. Friedlich aß ich weiter mein Frühstück – doch sollte das nicht lange dauern. Offenbar auf der Hut, nicht neuerlich meinen Zorn zu erregen, kam Stern Sänger und meldete in aller Form die Ankunft einer weiteren Besucherin, welche er freilich vor der Haustür hatte stehen lassen. Da ich wußte, um wen es sich handeln müsse, stieß ich einen tiefen Seufzer aus, trank den Rest meiner Schokolade und ging zur Haustür.

»Will man mich denn nicht wenigstens hereinbitten?« sagte Kitzlig schalkhaft. »Das hier draußen ist ja der reinste Marktplatz und nicht sonderlich geeignet für das, was wir …«

»Was wir vergessen müssen und worüber wir nie wieder reden dürfen«, fiel ich ihr in die Rede. »Die Schwester meiner verstorbenen Frau ist zu Besuch gekommen. Du erinnerst dich doch noch an Béu Ribé.«

Kitzlig schien einen Augenblick ganz aus der Fassung. Doch dann sagte sie: »Nun, wenn nicht hier, kannst du ja mit zu mir nach Hause kommen.«

Ich sagte: »Wirklich, meine Liebe. Es ist Béus erster Besuch seit drei Jahren, und es wäre schon außerordentlich unhöflich von mir, sie allein zu lassen – und außerordentlich schwierig zu erklären.«

»Aber Cozcatl wird heute abend wieder da sein!« rief sie wehklagend.

»Dann, fürchte ich, haben wir unsere Gelegenheit verpaßt.«

»Wir müssen dafür sorgen, daß es eine neue gibt«, sagte sie verzweifelt. »Wie kann ich eine andere Gelegenheit herbeiführen, Mixtli, und wann?«

»Wahrscheinlich nie«, sagte ich, nicht sicher, ob ich es bedauern oder ob ich erleichtert sein sollte darüber, daß die heikle Situation sich ohne mein Zutun in Wohlgefallen aufgelöst hatte. »Von jetzt an gibt es einfach zu viele Augen und zu viele Ohren. Wir können sie nicht alle hinters Licht führen. Das beste ist, du vergißt …«

»Du hast gewußt, daß sie kommt!« fauchte Kitzlig. »Die Müdigkeit gestern abend war nur gespielt, bloß, um mich hinzuhalten, bis du eine richtige Entschuldigung hattest, mich abzuweisen.«

»Glaub, was du willst«, sagte ich mit einer Müdigkeit, die keineswegs vorgeschützt war. »Aber ich muß ablehnen.«

Vor meinen Augen schien sie in sich zusammenzusacken. Den Blick abgewendet, sagte sie: »Du bist mir eine lange Zeit hindurch ein Freund gewesen, und meinem Mann Cozcatl noch länger. Aber das, was du jetzt tust, ist sehr unfreundlich, Mixtli. Für uns beide.« Womit sie langsam die Stufen hinunterstieg und schleppenden Gangs die Straße hinunterging.

Cocóton saß beim Frühstück, als ich wieder hineinging. Ich ließ daher Stern Sänger kommen, trug ihm eine völlig überflüssige Besorgung auf dem Markt von Tlatelólco auf und schlug ihm vor, das Mädchen mitzunehmen. Sobald sie mit dem Frühstück fertig war, zogen die beiden los, und ich wartete nicht sonderlich freudig auf Béus Erscheinen. Die Auseinandersetzung mit Kitzlig war nicht leicht für mich gewesen, aber immerhin war sie kurz gewesen; mit Wartender Mond konnte ich nicht so umspringen. Sie schlief bis in den Vormittag hinein und kam erst um Mittag herunter. Ihr Gesicht war faltig und vom Schlaf gedunsen. Ich saß ihr auf der anderen Seite des Speisetuchs gegenüber, und nachdem Türkis ihr das Frühstück vorgesetzt und sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte, sagte ich:

»Es tut mir leid, daß ich dich gestern so wenig zuvorkommend empfangen habe, Schwester Béu. Ich bin Besuch zu so früher Stunde nicht gewöhnt, und meine Umgangsformen sind vor Sonnenaufgang auch nicht gerade die besten. Dich hätte ich von allen Besuchern nun am allerwenigsten erwartet. Dürfte ich fragen, warum du hier bist?«

Fassungslos, erschrocken geradezu, sah sie mich an. »Da mußt du fragen, Záa? Die Familienbande unter den Wolkenmenschen sind stark ausgeprägt und verbinden. Ich dachte, ich könnte von Nutzen sein, ja, den Witwer meiner eigenen Schwester und das mutterlose Kind trösten.«

Ich sagte: »Was den Witwer betrifft, nun, so bin ich seit Zyanyas Tod auf Reisen gewesen und auf diese Weise über meinen Verlust hinweggekommen, soweit es ging. Und was Cocóton betrifft, so ist in diesen beiden Jahren gut für sie gesorgt worden. Meine Freunde Cozcatl und Que-quelmiqui sind ihr liebende Tete und Teñe gewesen.« Trocken fügte ich noch hinzu: »Von irgendwelcher Hilfe deinerseits hat man in diesen beiden Jahren nichts gemerkt.«

»Und woran liegt das?« wollte sie hitzig wissen. »Warum hast du mir nicht einen Schnellboten schicken können, mir von dem Furchtbaren zu berichten? Vor einem Jahr erst wurde mir von einem vorüberziehenden Händler sang- und klanglos ein zerknitterter und schmutzbefleckter Brief in die Hand gedrückt. Meine Schwester war bereits ein Jahr tot, ehe ich überhaupt davon erfuhr! Und dann habe ich fast ein ganzes Jahr dazu gebraucht, einen Käufer für meine Herberge zu finden, alles für die Überschreibung in die Wege zu leiten und mich darauf vorzubereiten, für immer nach Tenochtítlan zu übersiedeln. Dann hörten wir, der Verehrte Sprecher Ahuítzotl werde immer schwächer und daher bald sterben, was bedeutete, daß unser Bishosu Kosi Yuela selbstverständlich an den Bestattungsfeierlichkeiten hier teilnehmen würde. Infolgedessen wartete ich, bis ich in seinem Gefolge mitreisen konnte; das war bequem für mich und bot mir gleichzeitig Schutz. Doch in Coyohuácan bin ich zurückgeblieben, weil ich nicht in das Gedränge derer hineingeraten wollte, die der Bestattung beiwohnten. Deshalb habe ich dem Jungen eine Kakaobohne gegeben, damit er herkomme und dir sage, daß ich bald eintreffen werde. Erst gestern morgen in aller Frühe bekam ich dann Träger für mein Gepäck. Ich entschuldige mich für den Zeitpunkt und die Umstände meiner Ankunft, aber …«

Sie mußte Atem holen, und da ich mich schämte, sagte ich aufrichtig: »Ich bin es, der sich entschuldigen muß, Béu. Du kommst gerade im richtigen Augenblick. Die Eltern, welche ich für Cocóton geborgt habe, mußten sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Infolgedessen hat das Kind nur mich, und als Vater bin ich schrecklich unerfahren. Wenn ich sage, daß du hier willkommen bist, ist das kein Lippenbekenntnis. Als Ersatzmutter für meine Tochter kommst du selbstverständlich gleich nach Zyanya selbst.«

»Gleich nach Zyanya«, sagte sie und zeigte sich nicht sonderlich begeistert von dem Kompliment.

»Jedenfalls«, fuhr ich fort, »kannst du ihr beibringen, Lóochi genauso fließend zu sprechen wie unser Náhuatl. Du kannst sie zu einem ebenso wohlerzogenen Kind machen wie die vielen, die ich unter euch Wolkenmenschen bewundert habe. Ja, du bist wirklich der einzige Mensch, der dafür sorgen kann, daß sie all das ist, was Zyanya gewesen ist. Du weihst dein Leben einer sehr guten Sache. Diese Welt wird besser sein, wenn wieder eine Zyanya darin lebt.«

»Wieder eine Zyanya. Ja.«

»Betrachte dieses Haus hier bitte fürderhin als dein Zuhause«, schloß ich. »Sieh in dem Kind dein Mündel, und die Sklaven stehen dir zur Verfügung, du brauchst nur zu befehlen. Ich werde sie sofort damit beauftragen, daß deine Kammer leer geräumt, vollständig gesäubert und nach deinem eigenen Geschmack neu eingerichtet wird. Was du auch brauchst oder dir wünschst, Schwester Béu, du brauchst es nur zu sagen, nicht darum zu bitten.« Ihr schien etwas auf der Zunge zu liegen, doch besann sie sich dann offenbar eines Besseren. Ich sagte: »Und jetzt … da kommt Krümelchen selbst, sie ist zurück vom Markt.«

Das kleine Mädchen betrat in einem strahlenden, sonnenscheingelben Umhang den Raum. Lange sah sie Béu Ribé an und legte dann den Kopf auf die Seite, gleichsam, als versuche sie sich zu erinnern, ob sie dieses Gesicht nicht schon einmal gesehen hätte. Ich weiß nicht, ob ihr aufging, daß sie es schon oft im Spiegel gesehen hatte.

»Willst du nichts sagen?« fragte Béu, und ihre Stimme klang ein wenig gebrochen. »Ich habe solange darauf gewartet …«

Ein wenig verlegen und zaghaft sagte Cocóton atemlos: »Tene …?« »Ach, mein Liebling!« rief Wartender Mond. Die Tränen flossen ihr über, sie kniete sich hin, breitete die Arme aus, und das kleine Mädchen stürzte sich glücklich hinein.

»Der Tod!« donnerte der Hohepriester Huitzilopóchtlis von der Spitze der Großen Pyramide herunter. »Der Tod war es, welcher Euch den Umhang des Verehrten Sprechers um die Schultern gelegt hat, Herr Motecuzóma Xocóyotl, und wenn es soweit ist, daß Ihr selbst sterben müßt, werdet Ihr den Göttern Rechenschaft ablegen müssen darüber, wie Ihr diesen Umhang getragen und auf welche Weise Ihr dieses höchste aller Ämter ausgeübt habt.«

In dieser Art ging es weiter, unter der üblichen priesterlichen Mißachtung der Ausdauer, welche die Zuhörer aufbringen konnten, und die ganze Zeit über schmorte ich zusammen mit meinen Ritterkameraden und den vielen Mexíca-Adligen und den fremden Würdenträgern, welche mit ihren Edelleuten angereist gekommen waren – wir alle schwitzten und litten unter unseren Helmen und Federn und Fellen, unseren Kampfanzügen und anderen farbenprächtigen Gewändern. Die vielen tausend anderen Mexíca, welche sich im Herzen Der Einen Welt eingefunden hatten, trugen nichts Unbequemeres als Baumwollumhänge und haben die Krönungsfeierlichkeiten bestimmt mehr genossen als wir anderen.

Der Priester sagte: »Motecuzóma Xocóyotzin, vom heutigen Tag an müßt Ihr Euer Herz zu dem Herzen eines alten Mannes machen, auf daß Ernst und Strenge darin wohnen, aber keine Leichtfertigkeit. Denn wisset, Hoher Gebieter, daß der Thron eines Uey-Tlatoáni kein sanftes Kissen ist, sich behaglich und lustvoll darauf zu rekeln, sondern vielmehr ein Sitz der Sorgen, der Arbeit und der Qual.«

Ich bezweifle, daß Motecuzóma genauso schwitzte wie wir anderen, obwohl er zwei Umhänge trug, einen schwarzen und einen blauen, beide bestickt mit Totenschädeln und anderen Symbolen, welche ihn daran erinnern sollten, daß selbst ein Verehrter Sprecher eines Tages sterben muß. Ich bezweifle, daß Motecuzóma überhaupt jemals geschwitzt hat. Selbstverständlich habe ich seine Haut nie im Leben berührt, doch wirkte sie immer kühl und trocken.

Und der Priester sagte: »Von diesem Tage an, Hoher Gebieter, müßt Ihr ein Baum großen Schattens sein, auf daß die Menschen Schutz finden unter Euren starken Ästen und sich auf die Kraft Eures Stamms verlassen können.«

Die Krönung war feierlich und durchaus eindrucksvoll, vielleicht jedoch um ein Geringes weniger feierlich und eindrucksvoll als andere Krönungen, deren Zeuge ich in meinem Leben geworden war – die Krönungen von Axayácatl und Tixoc und Ahuítzotl –, denn Motecuzóma wurde eigentlich nur in einem Amt bestätigt, welches er inoffiziell bereits seit zwei Jahren bekleidete.

Und der Priester sagte: »Jetzt, Hoher Gebieter, müßt Ihr Euer Volk regieren und verteidigen und gerecht behandeln. Die Bösen müßt Ihr bestrafen und die Ungehorsamen zurechtbiegen. Mit Eifer müßt Ihr die notwendigen Kriege führen. Euer besonderes Augenmerk gelte den Bedürfnissen der Götter, ihrer Tempel und ihrer Priester, auf daß es ihnen niemals an blutigen und unblutigen Opfern mangele. Dann werden die Götter mit Freude über Euch und Euer Volk wachen, und die Mexíca werden blühen und gedeihen.«

Von dort aus gesehen, wo ich stand, schienen die sanft wogenden Federbanner, welche die Treppe der Großen Pyramide säumten, oben zusammenzulaufen, einem Pfeil gleich, welcher auf die hoch oben stehenden winzigen Gestalten unseres neuen Verehrten Sprechers und des altehrwürdigen Oberpriesters hinzuweisen schien, welcher ihm gerade in diesem Augenblick die edelsteingeschmückte rote Lederkrone aufs Haupt setzte. Endlich war der Priester fertig, und Motecuzóma ergriff das Wort:

»Großer, hochgeehrter Priester! Eure Worte könnten von dem mächtigen Huitzilopóchtli selbst gesprochen worden sein. Eure Worte haben mir viel gegeben, darüber nachzudenken. Ich bete darum, mich des weisen Rates würdig zu erweisen, welchen Ihr mir habt zuteil werden lassen. Ich danke Euch für Euren leidenschaftlichen Ernst und die Liebe, mit welcher Ihr gesprochen habt. Wenn ich der Mann sein soll, den mein Volk sich wünscht, muß ich für immer Eurer weisen Worte eingedenk sein, Euren Warnungen und Ermahnungen …«

Um bereit zu sein, am Schluß von Motecuzómas Rede die Wolken am Himmel erbeben zu lassen, hoben die Reihen der Priester ihre Muschelhörner, die Musikanten die Trommelschlegel, und hielten die anderen ihre Flöten bereit.

Und Motecuzóma sprach: »Ich bin stolz, den geschätzten Namen meines verehrten Großvaters wieder auf den Thron zu bringen. Ich bin stolz darauf, Motecuzóma der Jüngere zu heißen. Und um das Volk zu ehren, welches zu führen ich aufgerufen bin – ein Volk, welches heute noch mächtiger ist als zu meines Großvaters Zeiten –, ist die erste Verfügung, welche ich erlasse, daß das Amt, welches ich bekleide, nicht länger Verehrter Sprecher der Mexíca genannt, sondern mit einem treffenderen Titel bezeichnet werde.« Er drehte sich um und wandte sich zum überfüllten Großen Platz hin, reckte den Stab aus Gold und Mahagoni in die Höhe und rief mit weithin hallender Stimme: »Fürderhin, mein Volk, wirst du regiert und verteidigt und zu noch größeren Höhen emporgeführt werden von Motecuzóma Xocóyotzin, Cem-Anáhuac Uey Tlatoáni.«

Selbst wenn wir alle unten auf dem Platz durch die vielen Reden, die wir über uns hatten ergehen lassen müssen und welche nunmehr einen halben Tag andauerten, in den Schlaf gewiegt gewesen wären – wir wären erschrocken zusammengefahren bei diesem Geschmetter, welches scheinbar die ganze Insel erzittern ließ. Es war das gleichzeitige Aufbranden von Pfeifen und Flöten und Muschelhörnern sowie des unglaublichen Donners einiger zwanzig Trommeln, welche das Herz herausreißen. Doch die Musikanten hätten auch schlafen und ihre Instrumente stumm bleiben können; wir wären dennoch hellwach gewesen, mit solcher Wucht trafen uns die Worte, mit denen Motecuzóma seine Rede schloß.

Die anderen Adlerritter und ich tauschten aus dem Augenwinkel heraus lange Blicke, und ich sah, daß die vielen Herrscher von auswärts gleichfalls finstere Blicke wechselten. Selbst den Gemeinfreien muß tief in die Knochen gefahren sein, was der neue Herrscher dort oben verkündet hatte, und keiner von ihnen kann sonderlich erbaut gewesen sein von der Kühnheit, die darin lag. Jeder Herrscher unseres Volkes war es bisher zufrieden gewesen, sich Uey-Tlatoáni der Mexíca zu nennen. Doch Motecuzóma hatte seinen Herrschaftsanspruch soeben in allen Himmelsrichtungen bis an den weitesten Horizont ausgedehnt.

Er hatte sich selbst seinen neuen Titel zugelegt: Verehrter Sprecher Der Einen Welt.

Ah, Euer Exzellenz kommen …

Motecuzóma? Wie er war?

Nun, der Hohe Gebieter Motecuzóma, an welch vergessenem Ort er heute auch ruhen mag, ist nichts weiter als ein verscharrter Haufen verwester Materie; vielleicht ist die Stelle nur dadurch zu erkennen, daß das Gras dort, wo er liegt, grüner sprießt als woanders. Mir scheint daß unserem Herrgott mehr daran gelegen ist, das Gras grün zu halten als die Erinnerung an die größten Edelleute.

Ja, ja, Euer Exzellenz, ich höre schon auf mit meiner nutzlosen Sinniererei. Ich will mich im Geiste zurückversetzen, um Eure Neugier in bezug auf Wesensart und Charakter des Menschen Motecuzóma Yocóyotzin zu befriedigen.

Denn ein Mensch war er, nichts weiter als ein Mensch. Wie ich schon sagte, war er etwa ein Jahr jünger als ich, was bedeutet, daß er fünfunddreißig Jahre alt war, als er den Thron der Mexíca bestieg – oder den der ganzen gesamten Einen Welt, wie er meinte. Er war für einen Mexícatl von durchschnittlicher Größe, hatte aber einen schlanken Körper, und sein Kopf war ein wenig zu groß, und dieses kleine Mißverhältnis ließ ihn irgendwie kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Seine Haut var von einem schönen warmen Kupferton, die Augen leuchteten kalt, and wäre nicht die ein wenig platte Nase gewesen, deren Flügel etwas zu sehr in die Breite gingen – man hätte ihn durchaus schön nennen können.

Bei seiner Krönung, als Motecuzóma den schwarzen und den blauen Jmhang der Demut ablegte, war er in überwältigend reich geschmückte Gewänder gekleidet, welche bereits den Geschmack verrieten, den er fürderhin beweisen sollte. Bei jedem öffentlichen Auftreten trug er ein Gewand, welches niemals in jeder Einzelheit einem anderen glich, doch was die Prächtigkeit betrifft, so blieben sie sich wohl immer gleich und ähnelte folgender, die ich jetzt beschreiben will:

Er trug entweder einen Maxtlatl aus rotem Leder oder aus reich bestickter Baumwolle, dessen Schöße ihm vorn wie hinten bis unters Knie reichten. Dieses übertrieben weite Schamtuch, so vermute ich, trug er wohl, um jede zufällige Entblößung seines mißgebildeten Gemächts zu vermeiden, auf welches ich bereits angespielt habe. Seine Sandalen waren vergoldet und die Sohlen manchmal, wenn er nur dastehen oder nur wenige Schritte gehen mußte, sogar aus purem Gold. Meistens trug er eine ganze Reihe von Schmuckstücken: eine goldene Halskette mit einem Medaillon daran, welches den größten Teil seiner Brust bedeckte; eine Lippenscheibe in der Unterlippe aus einem Kristall, in dem die Feder eines Eisvogels eingeschlossen war; Ohrenpflöcke aus Jade und Gold mit buschigen Federn daran oder einen großen, bogenförmigen Kopfputz aus den armlangen Schwanzfedern des Quetzal-Tototl-Vogels.

Das auffälligste an seinem ganzen Aufzug war der Umhang, der stets von seinen Schultern bis auf den Boden reichte, immer aus den herrlichsten Federn der seltensten und kostbarsten Vögel gearbeitet und unweigerlich von allerfeinster, mühseligster Federarbeit. Er besaß Umhänge ganz aus scharlachroten Federn oder ganz aus gelben oder blauen oder grünen oder aus einem Gemisch von allen möglichen Farben. Derjenige jedoch, an den ich mich am lebhaftesten erinnere, war ein weit fallender Umhang ganz aus schillernden, vielfarbenen Kolibrifedern. Wenn ich Euch ins Gedächtnis zurückrufe, daß die größte Feder eines Kolibris kaum länger ist als die kleine, buschige Augenbraue eines Falters, vermögen Euer Exzellenz das Können des Federarbeiters und die Mühe und den Einfallsreichtum abzuschätzen, welche bei der Fertigung eines solchen Umhanges aufgewendet wurden – und von welch unschätzbarem Wert ein solches Kunstwerk war.

Während seiner beiden Jahre als Regent hatte Motecuzóma nicht im geringsten einen solchen Hang zu Üppigkeit und Prachtentfaltung erkennen lassen; jedenfalls nicht, solange Ahuítzotl noch am Leben war – oder halb am Leben. Motecuzóma und seine beiden Frauen hatten ein schlichtes Leben geführt und nur ein paar Räume des alten und damals bereits recht baufälligen Palastes bewohnt, den sein Großvater, Motecuzóma der Ältere, hatte erbauen lassen. Er hatte sich unauffällig gekleidet und allen Pomp und Aufwand von sich gewiesen; außerdem hatte er sich gehütet, alle Macht, welche mit der Regentschaft vermacht war, voll auszuüben. Er hatte keine neuen Gesetze erlassen, keine neuen Grenzsiedlungen gegründet und keine neuen Kriege begonnen. Er hatte sich ganz auf die Erledigung der alltäglichen Regierungsgeschäfte im Reich der Mexíca beschränkt, auf Dinge, die keinerlei gewichtige Entscheidungen und Bekanntmachungen erforderten.

Doch bei seiner Inthronisierung als Verehrter Sprecher, als Motecuzóma die düsteren blauen und schwarzen Gewänder ablegte, streifte er damit gleichzeitig auch alle Bescheidenheit ab. Das läßt sich vermutlich am besten dadurch beweisen, daß ich Euch berichte, wie es mir bei meiner ersten Unterredung mit ihm erging, ein paar Monate nach seiner Thronbesteigung, da er nacheinander alle Adligen und Ritter kommen ließ, um persönlich jene Untertanen kennenzulernen, die für ihn bis dahin nur Namen auf einer Musterrolle gewesen waren; allerdings glaube ich, daß er im Grunde damit die Absicht verfolgte, uns alle einzuschüchtern und mit seiner neuen Majestät- und Prachtentfaltung zu beeindrucken. Doch wie dem auch sei: Nachdem er sich endlich durch sämtliche Ränge von Höflingen, Edelleuten und Weisen Männern, Priestern, Sehern und Zauberern hindurchgearbeitet hatte, langte er schließlich bei den Adlerrittern an, und so erhielt denn auch ich zu gegebener Zeit eine Aufforderung, mich am Vormittag eines bestimmten Tages im Palast einzufinden. Ich tat es und litt neuerlich unter all meinen gefiederten Insignien und dem Kampfanzug, und der Kämmerer vor dem Thronsaal sagte:

»Würde der Adlerritter Mixtli bitte seine Uniform ausziehen?«

»Nein«, sagte ich entschieden. Es war schon mühevoll genug gewesen, hineinzukommen.

»Gebieter«, sagte er und schien ängstlich wie ein Kaninchen, »es hat auf ausdrückliche Anordnung des Verehrten Sprechers höchstpersönlich zu geschehen. Wenn Ihr bitte den Adlerhelm, den Umhang und die klauenbewehrten Sandalen ausziehen würdet? Über den Kampfanzug könnt Ihr dann dies hier ziehen.«

»Lumpen?« rief ich aus, als er mir ein formloses Gewand aus Agavenfasertuch reichte, wie wir es für die Herstellung von Säcken benutzen. »Ich komme nicht als Bittsteller, Mann! Wie könnt Ihr es wagen!«

»Bitte, Gebieter!« flehte er händeringend. »Ihr seid nicht der erste, dem das wider den Strich geht. Es ist aber Weisung ergangen, daß fürderhin alle, die vor den Verehrten Sprecher hintreten, barfuß und in Bettelkleidung kommen. Ich kann sonst nicht wagen, Euch vorzulassen. Es würde mich den Kopf kosten.«

»Das ist doch Unsinn«, knurrte ich, doch um das arme Kaninchen nicht in Ungelegenheiten zu bringen, nahm ich immerhin meinen Adlerhelm ab, legte Schild und Umhang ab und zog das Sackkleid über.

»Wenn Ihr jetzt eintretet …« schickte er sich an zu sagen.

»Danke«, schnitt ich ihm schnell das Wort ab, »aber ich weiß, wie ich mich in der Gegenwart hochstehender Persönlichkeiten zu betragen habe.«

»Es gibt aber einige neue Protokollvorschriften«, sagte der Unglückliche. »Ich flehe Euch an, Gebieter, weder Euch noch mir den Unmut des Verehrten Sprechers zuzuziehen. Ich erkläre Euch ja nur die neuen Vorschriften.«

»Dann sprecht!« sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Zwischen der Tür und dem Thron des Verehrten Sprechers sind drei Kreidestriche gezogen worden. Den ersten seht Ihr gleich hinter der Tür. Dort bleibt Ihr stehen und vollführt die Geste des Tlalqualiztli – Finger auf den Boden und ihn dann an die Lippen führen – und sagt: ›Gebieter!‹, und schreitet weiter bis zum zweiten Kreidestrich, verneigt Euch abermals und sagt: ›Mein Gebieter‹, schreitet noch weiter bis zum dritten, küßt wieder die Erde und sagt: ›Erhabener Gebieter‹. Erhebt Euch nicht, bis er Euch ein Zeichen gibt, und nähert Euch ihm nicht weiter als bis zum dritten Kreidestrich.«

»Das ist unglaublich!« sagte ich.

Der Kämmerer mied meinen starren Blick und fuhr fort: »Ihr habt nur dann das Wort an den Verehrten Sprecher zu richten, wenn er Euch eine direkte Frage stellt, welche eine Antwort erfordert. Erhebt nie laut die Stimme. Die Unterredung ist beendet, sobald der Verehrte Sprecher das sagt. Tut er das, vollführt augenblicklich dort, wo Ihr steht, den Tlalqualiztli und zieht Euch rückwärts gehend …«

»Das ist doch heller Wahnsinn.«

»Zieht Euch rückwärts gehend zurück, die Augen ständig ehrerbietig auf den Thron gerichtet, küßt bei jedem Kreidestrich die Erde und geht rückwärts schreitend weiter, bis Ihr durch die Tür hindurch seid und wieder im Korridor steht. Dann dürft Ihr Euer Gewand und Eure Insignien wieder anlegen …«

»Und meine menschliche Würde«, erklärte ich säuerlich.

»Ayya, ich flehe Euch an, Gebieter«, sagte das verängstigte Kaninchen. »Macht bloß drinnen, in seiner Gegenwart, nicht solche Späße. Ihr würdet dann nicht rückwärts schreitend wieder herauskommen, sondern in Stücke gehackt.«

Nachdem ich mich auf die vorgeschriebene, demütigende Weise dem Thron genähert und in den richtigen Abständen »Gebieter … mein Gebieter .,. erhabener Gebieter« gesagt hatte, ließ Motecuzóma mich lange Zeit in meiner unterwürfigen Haltung verharren, ehe er sich herabließ, schwerzüngig zu sagen: »Du kannst dich erheben, Adlerritter Chicóme-Xochitl Tliléctic-Mixtli.«

Hinter ihm hatten die alten Herren des Staatsrats Aufstellung genommen; die meisten von ihnen hatten dieses Amt selbstverständlich auch schon in früheren Regierungen bekleidet, doch waren auch zwei oder drei neue Gesichter darunter. Eines davon gehörte der neuernannten Weiblichen Schlange, Tlácotzin. Alle Männer gingen barfuß, und anstelle der üblichen vornehmen gelben Umhänge trugen sie das gleiche Sackkleid wie ich auch und machten dieserhalb allesamt ein unglückliches Gesicht. Der Thron des Verehrten Sprechers war ein ganz gewöhnlicher niedriger Icpáli-Stuhl, der noch nicht einmal auf einem Podest stand, doch die Eleganz seines Aufzugs strafte – zumal im Gegensatz zu den anderen im Raum – jede Demut in ihm Lügen. Eine Reihe von Borkenpapieren lagen der Länge nach aufgeklappt auf seinem Schoß und reichten zu beiden Seiten bis auf den Boden hinunter; offensichtlich hatte er meinen vollen Namen gerade daraus abgelesen. Jetzt blätterte er wichtig in verschiedenen Papieren und sagte:

»Es scheint, daß mein Onkel Ahuítzotl mit dem Gedanken gespielt hat, dich eines Tages in den Staatsrat zu berufen, Ritter Mixtli. Ich nehme von diesem Gedanken Abstand.«

»Vielen Dank, Verehrter Sprecher«, sagte ich, und das war ganz aufrichtig gemeint. »Ich habe nie den Ehrgeiz besessen …«

Mit schneidender Stimme unterbrach er mich: »Du hast nur dann zu sprechen, wenn ich durch eine Frage zu erkennen gebe, daß ich eine Antwort wünsche.«

»Jawohl, Hoher Gebieter.«

»Und diese Antwort war überflüssig. Gehorsam braucht nicht betont zu werden, er gilt als selbstverständlich.«

Wieder vertiefte er sich in seine Papiere, während ich – weißglühend vor Zorn – stumm dastand. Einst hatte ich Ahuítzotl für übertrieben großspurig gehalten, doch in der Rückschau wollte er mir warmherzig und mitteilsam erscheinen im Vergleich zu seinem eisig zurückhaltenden und verschlossenen Neffen.

»Die Karten und Tagebücher über deine Reisen sind ausgezeichnet, Ritter Mixtli. Die über Texcála werden uns sogleich von Nutzen sein, da ich einen neuen Krieg plane, der diesen Texcaltéca für immer ihren Trotz brechen wird. Außerdem habe ich hier deine Karten der südlichen Handelsrouten bis hinunter ins Maya-Land. Hervorragend ausführlich, alle. Wirklich, sehr gute Arbeit.« Er hielt inne und richtete dann seine kalten Augen auf mich. »Du darfst ›danke schön‹ sagen, wenn dein Verehrter Sprecher dir ein Kompliment macht.«

Wie es sich offenbar gehörte, sagte ich: »Danke schön«, und Motecuzóma fuhr fort:

»Soviel ich gehört habe, hast du, seit du meinem Onkel diese Karten übergabst, andere Reisen unternommen.« Er wartete, und als ich mich in Schweigen hüllte, fuhr er mich an: »Sprich!«

»Ich bin nicht gefragt worden, Hoher Gebieter!«

Lächelnd, jedoch ohne Humor, fragte er höchst präzise: »Hast du während dieser jüngsten Reisen auch Karten angefertigt?«

»Jawohl, Verehrter Sprecher, entweder unterwegs oder aber gleich nach meiner Heimkehr, solange mir die Einzelheiten noch vor Augen standen.«

»Diese Karten wirst du hier im Palast abliefern. Ich werde sie gebrauchen können, wenn ich nach Texcála auch noch woanders Krieg führe.« Ich sagte nichts; Gehorsam galt als selbstverständlich. Er fuhr fort: »Wie ich gehört habe, beherrschst du auch bewundernswert verschiedene provinzielle Sprachen.«

Wieder wartete er. Ich sagte: »Vielen Dank, Verehrter Sprecher.«

»Das war kein Kompliment«, versetzte er bissig.

»Ihr habt ›bewundernswert‹ gesagt, Hoher Gebieter.«

Manche vom Staatsrat rollten mit den Augen, andere schlossen sie.

»Schluß mit dieser Unverfrorenheit! Welche Sprachen sprichst du?«

»Vom Náhuatl beherrsche ich sowohl die gebildete Form als auch die gewöhnliche Mundart, wie sie hier in Tenochtítlan gesprochen wird. Desgleichen das noch verfeinertere Náhuatl von Texcóco und die verschiedenen rohen Dialekte, wie sie in solchen fernen Landen wie Texcála gesprochen werden.« Ungeduldig trommelte Motecuzóma mit den Fingern auf sein Knie. »Des weiteren spreche ich fließend das Lóochi der Tzapotéca, nicht ganz so fließend viele der Poré-Dialekte Michihuácans. Ich kann mich in der Sprache der Mixtéca verständlich machen, in etlichen der Olméca-Sprachen, der Sprache der Maya und in den verschiedenen Dialekten der Mayasprache. Des weiteren beherrsche ich ein paar Worte Otomite und …«

»Genug«, erklärte Motecuzóma scharf. »Es ist gut möglich, daß ich dir Gelegenheit geben werde, deine Begabungen zu nutzen, wenn ich irgendein Volk mit Krieg überziehe, dessen Wort für ›Waffenstrecken‹ ich nicht kenne. Doch fürs erste genügen deine Karten. Beeile dich, sie abzuliefern.«

Ich sagte nichts: Gehorsam galt als selbstverständlich. Einige von den alten Männern bewegten lautlos aber eindringlich den Mund in meine Richtung. Ich fragte mich schon, warum, da schrie Motecuzóma fast:

»Damit warst du entlassen, Ritter Mixtli.«

Wie vorgeschrieben, verließ ich rückwärts schreitend den Raum, zog mir im Korridor das Sackgewand des Bettlers über den Kopf und sagte zu dem Kämmerer: »Der Mann ist wahnsinnig. Aber ist er ein Tlahuéle oder nur ein Xolopitli?« Im Náhuatl gibt es zwei Wörter für einen Wahnsinnigen: Als Xolopitli bezeichnet man den harmlosen Irren, wohingegen ein Tlahuéle ein gefährlicher Wahnsinniger ist. Bei beiden Worten zuckte der Kämmerer zusammen und wand sich innerlich.

»Bitte, Gebieter, mäßigt Eure Stimme.« Dann murmelte er: »Zugegeben, er hat seine Absonderlichkeiten. Wißt Ihr was? Er nimmt nur eine Mahlzeit am Tag zu sich, und zwar abends, aber bestellen tut er zwanzig verschiedene, manchmal hundert Gerichte, so daß er, wenn er speisen möchte, sich kommen lassen kann, worauf er in diesem Augenblick gerade Appetit hat. Es kommt vor, daß er von den vielen zubereiteten Speisen nur eine zu sich nimmt und von zwei oder drei anderen nur kostet.«

»Und der Rest wird weggeworfen?«

»O nein. Zu jeder Mahlzeit lädt er all seine bevorzugtesten und höchststehenden Herren ein, alle, die sich durch Boten erreichen lassen. Und die Herren treffen ein, zwanzig auf einmal, manchmal sogar Hunderte, selbst wenn das bedeutet, daß sie von ihrem eigenen Speisentuch aufstehen und ihre Familien verlassen müssen, und – und essen, was der Uey-Tlatoáni verschmäht.«

»Merkwürdig«, murmelte ich. »Ich hätte nie gedacht, daß Motecuzóma die Gesellschaft vieler Menschen liebt, nicht einmal beim Essen.«

»Das tut er auch nicht. Die anderen Herren speisen im selben großen Speisesaal, aber jede Unterhaltung ist verboten. Und vom Verehrten Sprecher bekommen sie überhaupt nichts zu sehen. Die Ecke, in welcher er sitzt, wird von einem hohen Wandschirm abgeschirmt, und so sitzt er ungesehen und unbelästigt da. Die anderen Herren wissen noch nicht einmal mit Gewißheit, ob er überhaupt da ist. Das merken sie höchstens dann, wenn Motecuzóma ein Gericht besonders mundet und er es herumschickt im Saal und jeder davon kosten muß.«

»Dann ist er doch nicht wahnsinnig«, sagte ich. »Erinnere dich, gerüchteweise hat es immer geheißen, der Uey-Tlatoáni Tixoc sei vergiftet worden. Was du da eben erzählt hast, klingt verschroben und überspannt, könnte aber auch eine kluge Vorsichtsmaßnahme von Motecuzóma sein, um zu verhüten, daß er so endet wie sein Onkel Tixoc.«

Längst, bevor ich Motecuzóma kennenlernte, hatte ich eine tiefe Abneigung gegen ihn gefaßt. Wenn sich an diesem Tag, als ich aus dem Palast heimkehrte, etwas Neues in mir regte, dann nur ein leises Gefühl des Mitleids. Jawohl, Mitleid. Ich fand, ein Herrscher solle andere dazu anstacheln, daß sie seine Erhabenheit überall verkündeten, es jedoch nicht selber tun; daß andere die Erde vor ihm küßten, weil er das verdiente, nicht, weil er es forderte. Für meine Begriffe hatte das ganze Protokoll und Zeremoniell und Brimborium, mit dem er sich umgab, nichts Majestätisches, sondern eher Großspuriges, wo nicht gar Armseliges. Genauso diente sein Übermaß an Schmuck nur dazu, Größe vorzuspiegeln, und das war ein Mittel, dessen ein Mann sich bediente, der voller Unbehagen und innerer Unsicherheit daran zweifelte, ob er denn überhaupt irgendwelche Größe besitze.

Als ich nach Hause kam, stellte ich fest, daß Cozcatl zu Besuch gekommen war und mir unbedingt die letzten Neuigkeiten von seiner Schule erzählen wollte. Während ich mich meines Kampfanzugs und meiner Insignien entledigte und etwas Bequemeres anzog, rieb er sich gutgelaunt die Hände und verkündete:

»Der Verehrte Sprecher Motecuzóma hat mich verpflichtet, die gesamte Dienerschaft und alle Sklaven des Palastes auszubilden, von den höchsten Kämmerern bis hinunter zu den Küchenmädchen.«

Das war eine so gute Nachricht, daß ich Türkis auftrug, sie solle uns einen Krug kühles Octli bringen, damit wir sie feierten. Stern Sänger kam gesprungen, uns eine Poquietl anzuzünden.

»Aber ich komme gerade vom Palast«, sagte ich zu Cozcatl. »Und ich habe den Eindruck, daß Motecuzómas Bedienstete schon genug geschliffen – oder zumindest zu kriecherischer Ergebenheit erniedrigt – sind, genauso wie sein Staatsrat und jeder andere, der mit seinem Hof zu tun hat.«

»O gewiß, seine Bedienung versteht ihr Handwerk«, sagte Cozcatl. Er saugte an seinem Röhrchen und blies einen Rauchring. »Aber er möchte, daß sie so poliert und verfeinert werden, daß sie es mit Nezahualpìlis Dienerschaft in Texcóco aufnehmen können.«

Ich sagte: »Es sieht so aus, als ob unser Verehrter Sprecher nicht nur auf die eleganten Umgangsformen der Diener des Hofes von Texcóco neidisch ist und damit wetteifert. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, was ihn erfüllt, ist ein ausgesprochener Haß. Motecuzóma hat mir heute gesagt, er habe vor, einen neuen Krieg gegen Texcála zu führen, was nicht weiter verwunderlich ist. Was er nicht sagte, ich jedoch anderweitig gehört habe, ist, daß er versucht hat, Nezahualpíli zu befehlen, den Angriff anzuführen, und daß das Gros des Heeres von den Acólhua gestellt werden solle. Auch habe ich gehört, Nezahualpíli habe diese Ehre sehr entschieden abgelehnt, und das freut mich – schließlich ist er nicht mehr jung. Aber es sieht mir ganz danach aus, als ob Motecuzóma gern das tun möchte, was Ahuítzotl in unseren Kriegstagen versucht hat, Cozcatl. Er möchte, daß die Acólhua ausgemerzt werden, oder Nezahualpíli gar zwingen, im Kampf zu fallen.«

Cozcatl sagte: »Es könnte sein, daß Motecuzóma das aus demselben Grund möchte wie seinerzeit Ahuítzotl, Mixtli.«

Ich nahm einen kräftigen Schluck Octli und sagte: »Solltest du dasselbe meinen, was auch ich meine, Cozcatl?«

Cozcatl nickte. »Diese Kinderbraut von Nezahualpíli, deren Namen nicht mehr genannt wird. Da sie Ahuítzotls Tochter war, war sie Motecuzómas Cousine … und vielleicht war sie ihm mehr als nur eine Cousine. Was immer es bedeuten mag, jedenfalls hat Motecuzóma unmittelbar nach ihrer Hinrichtung die schwarze Robe der Priester angezogen und das Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt.«

Ich sagte: »Ein Zufall, über den nachzudenken sich wirklich lohnt«, und trank meinen Becher Octli aus. Immerhin gab das Getränk mir einen Gedanken ein, den ich dann auch ausdrückte: »Nun, seinem Priestertum hat er schon vor langer Zeit entsagt, und jetzt hat er zwei rechtmäßige Frauen und wird sich noch mehr nehmen. Hoffen wir, daß er irgendwann seine Abneigung gegen Nezahualpíli aufgibt. Und hoffen wir auch, daß er niemals erfährt, welche Rolle wir beim Sturz seiner erlauchten Cousine gespielt haben.«

Fröhlich meinte Cozcatl: »Keine Sorge. Der gute Nezahualpíli hat darüber nie auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Ahuítzotl hat uns mit dieser Angelegenheit nie in Zusammenhang gebracht, und Motecuzóma tut es auch nicht, sonst würde er wohl kaum meine Schule fördern.«

Erleichtert sagte ich: »Du hast wahrscheinlich recht.« Dann lachte ich und sagte: »Dir können Sorgen und sogar Schmerz anscheinend nichts anhaben.« Ich zeigte auf seine Poquietl. »Tust du dir nicht selbst ernstlich weh?«

Er hatte offensichtlich gar nicht gemerkt, daß er die Hand, mit welcher er sein angezündetes Rauchröhrchen hielt, soweit gesenkt hatte, daß die Glut seine nackte Haut des anderen Arms berührte. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, riß er die Poquietl mit einem Ruck fort und betrachtete mißmutig den roten Brandfleck, den sie auf seiner Haut hinterlassen hatte.

»Manchmal denke ich angestrengt an etwas ganz anderes«, murmelte er, »und dann merke ich … Kleinigkeiten wie diese gar nicht.«

»Kleinigkeiten?« sagte ich. »Das muß doch mehr schmerzen als ein Wespenstich. Ich rufe Türkis, damit sie eine Salbe bringt.«

»Nein, nein, ich merke … ich spüre das kaum«, sagte er und stand auf. »Ich komme dich bald wieder besuchen, Mixtli.«

Er verließ gerade das Haus, als Béu Ribé von irgendeiner Besorgung heimkehrte. Cozcatl begrüßte sie herzlich wie immer, doch das Lächeln, mit dem sie ihn ansah, wirkte recht gezwungen, und nachdem er fort war, sagte sie zu mir:

»Ich habe seine Frau auf der Straße getroffen, und wir haben ein paar Worte gewechselt. Quequelmiqui muß wissen, daß ich über Cozcatls Geschichte Bescheid weiß und seine Wunde und ihre Vernunftehe. Sie schien jedoch strahlend glücklich und sah mich an, als wollte sie mich zu einer Bemerkung herausfordern.«

Ein wenig müde vom Ocli-Genuß, sagte ich: »Eine Bemerkung worüber?«

»Darüber, daß sie schwanger ist. Das sieht jede Frau.«

»Du mußt dich irren«, sagte ich. »Du weißt doch, daß das unmöglich ist.«

Sie bedachte mich mit einem ungeduldigen Blick.

»Unmöglich vielleicht, aber irren tue ich mich nicht. Selbst eine alte Jungfer sieht so etwas sofort. Es kann nicht mehr lange dauern, bis auch ihr Mann etwas merken muß. Und was dann?«

Auf so eine Frage gab es keine Antwort. Béu erwartete wohl auch keine, denn sie verließ den Raum und ließ mich nachdenklich zurück. Ich hätte mir darüber klar sein sollen, daß Kitzlig, als sie zu mir kam und mich aufforderte, ihr zu der einen Erfahrung zu verhelfen, welche ihr Mann ihr nicht geben konnte, an etwas Dauerhafteres gedacht hatte als nur dieses eine Mal. Sie wollte ein Kind – wollte selber eine Cocóton haben –, und wer war besser geeignet, es ihr zu geben, als Cocótons geliebter Vater? Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte Kitzlig, als sie zu mir kam, bereits Fuchsfleisch gegessen oder vom Cihuapátli-Kraut genossen, welches als sicheres Mittel gilt, daß eine Frau auch wirklich empfängt. Nun, ums Haar wäre ich auf ihre Schmeicheleien hereingefallen. Nur Béus unerwartetes Eintreffen hatte mir einen Vorwand geliefert, sie abzuweisen. Infolgedessen war ich nicht der Vater, und da Cozcatl es nicht sein konnte, mußte es ein anderer Mann sein. Kitzlig hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß sie auch noch zu anderen Mitteln greifen würde. Ich sagte mir: Als ich sie von hier fortschickte, blieb ihr noch der ganze Tag …

Ohne Zweifel hätte ich die ganze Angelegenheit ernster nehmen sollen, doch war ich damals vollauf damit beschäftigt, Motecuzómas Befehl nachzukommen, sämtliche Karten abzuliefern, welche ich auf meinen Reisen angefertigt hatte. Ich nahm mir in Befolgung dieses Befehls einige Freiheiten heraus und lieferte nicht die Originalkarten im Palast ab, sondern nahm mir die Zeit, Kopien von allen anzufertigen, die ich eine nach der anderen ablieferte, sobald sie fertiggestellt waren. Die Verzögerung entschuldigte ich damit daß viele von den früher gezeichneten Originalen bruchstückhaft und durch die Reisen selbst mitgenommen und verschmutzt wären, einige auf schlechtem Papier und manche sogar auf die Blätter von Schlingpflanzen gezeichnet und mir daran gelegen sei, dem Verehrten Sprecher frische, saubere und haltbare Karten zu übergeben. Meine Entschuldigung beruhte nicht ganz auf Unwahrheit, doch mein eigentlicher Grund war, daß die Originalkarten mir zu kostbar waren als Erinnerungen an meine Wanderungen, von denen ich einige in Begleitung meiner geliebten Zyanya gemacht hatte, und ich sie einfach für mich aufbewahren wollte.

Außerdem konnte es sein, daß ich dieselben Straßen noch einmal entlangziehen wollte, möglicherweise, um nicht zurückzukehren, falls die Herrschaft Motecuzómas mir Tenochtítlan verleiden sollte. Eine mögliche Auswanderung im Kopf, unterschlug ich ein paar bedeutsame Einzelheiten auf den Kopien, welche ich dann dem Uey-Tlatoáni übergab. Zum Beispiel unterließ ich es, die entsprechenden Hinweise bei dem schwarzen See einzutragen, wo ich durch Zufall auf die gigantischen Eberhauer gestoßen war; sollte es dort noch weitere Schätze dieser Art geben, konnte es sein, daß ich eines Tages auf sie angewiesen war.

Wenn ich nicht arbeitete, verbrachte ich soviel Zeit wie möglich mit meiner Tochter. Ich hatte es mir zur angenehmen Gewohnheit gemacht, ihr jeden Nachmittag eine Geschichte zu erzählen, und selbstverständlich erzählte ich ihr solche Abenteuer, von denen ich meinte, daß sie mich in ihrem Alter am meisten interessiert hätten. Die meisten der Geschichten beruhten selbstverständlich auf meinen eigenen Erlebnissen: Geschichten, in denen etwas passierte, in denen es gewalttätig und höchst abenteuerlich zuging. Die meisten beruhten ja auf eigenen Erlebnissen. Ich schmückte sie nur ein wenig aus oder rückte die Wahrheit ein wenig zurecht, wie es sich gerade ergab. Bei solchen Geschichten mußte ich oft aufbrüllen wie ein gereizter Jaguar, zetern wie ein zorniger Klammeraffe oder heulen wie ein schwermütiger Kojote. Wenn Cocóton bei den Lauten, die ich ausstieß, in Angst und Schrecken geriet, war ich stolz auf mein Talent, ein Abenteuer so lebendig zu erzählen, daß ein Zuhörer fast meinte, dabeizusein. Doch eines Tages kam mein Töchterchen zur gewohnten Stunde und erklärte feierlich:

»Können wir sprechen, wie Erwachsene es tun, Tete?«

Mich erheiterte dieser förmliche Ernst bei einem Kind, das noch keine sechs Jahre alt war, entgegnete jedoch nicht minder ernst: »Das können wir, Krümelchen. Woran denkst du?«

»Ich möchte sagen, daß meiner Meinung nach die Geschichten, die du erzählst, für die Ohren eines jungen Mädchens nicht gerade geeignet sind.«

Etwas überrascht, sogar ein wenig gekränkt, sagte ich. »Sag mir, was du an meinen Geschichten auszusetzen hast.«

Gleichsam als gälte es, ein womöglich noch kleineres Kind als sie selbst zu besänftigen, sagte sie: »Ich bin sicher, es sind sehr gute Geschichten. Und ich bin auch sicher, ein Junge würde sie bestimmt sehr gern hören. Ich glaube, Jungen haben es gern, wenn ihnen angst und bange wird. Mein Freund Chacalín« – sie machte eine entsprechende Handbewegung zum Haus unserer Nachbarn hinüber – »stößt manchmal Tierlaute aus, und seine eigenen Laute bringen ihn dann zum Weinen. Wenn du möchtest Tete, bringe ich ihn jeden Nachmittag her, damit er sich an meiner Stelle deine Geschichten anhört.«

Vielleicht ein wenig verstockt sagte ich: »Chacalín hat selbst einen Vater, der ihm Geschichten erzählen kann. Zweifellos schrecklich aufregende Geschichten, die Erlebnisse eines Töpfereiwarenhändlers auf dem Tlaltelólco-Markt. Aber Cocóton, ich habe nie gemerkt, daß du bei meinen Geschichten geweint hättest.«

»Oh, das würde ich auch nicht. Jedenfalls nicht, solange du dabei bist. Ich weine nachts im Bett, wenn ich allein bin. Denn dann erinnere ich mich an die Jaguare und die Schlangen und die Räuber, und sie werden in der Dunkelheit womöglich noch lebendiger und jagen im Traum hinter mir her.«

»Mein liebes Kind«, rief ich aus und zog sie an mich. »Warum hast du mir das nie gesagt?«

»Ich bin nicht sehr tapfer.« Sie barg ihr Gesicht an meiner Schulter. »Jedenfalls nicht großen Tieren gegenüber. Und großen Vätern gegenüber wahrscheinlich auch nicht.«

»Von jetzt an«, versprach ich, »werde ich versuchen, kleiner zu erscheinen. Und ich werde dir auch nicht mehr von wilden Tieren und lauernden Räubern erzählen. Wovon möchtest du denn, daß ich dir erzähle?«

Sie sann ein wenig darüber nach und fragte dann mit schüchterner Stimme: »Tete, hast du eigentlich jemals irgendwelche unbeschwerten Abenteuer erlebt?«

Darauf wußte ich nicht sogleich eine Antwort. Ich konnte mir so etwas wie ein unbeschwertes Abenteuer nicht einmal vorstellen, höchstens wenn es um Dinge ging, wie sie vielleicht Chacálins Vater erlebte – wenn er einem Kunden einen Krug mit einem haarfeinen Riß darin andrehte und nicht dabei erwischt wurde. Doch dann fiel mir etwas ein, und ich sagte:

»Einmal habe ich ein närrisches Abenteuer erlebt. Ginge das auch?«

Sie sagte: »Ayyo, ja. Eine närrische Geschichte würde mir gut gefallen.«

Ich legte mich rücklings auf den Boden und zog die Knie an. Dann zeigte ich darauf und sagte: »Das ist ein Vulkan, ein feuerspeiender Berg, der Tzebóruko heißt, was soviel heißt wie Wutschnauber. Aber ich verspreche, ich werde nicht schnauben. Du setzt dich drauf, mitten auf den Krater.«

Als sie sich auf meine Knie gehockt hatte, sprach ich die traditionellen Worte »Oc ye nechca« und erzählte ihr, wie der Ausbruch der Vulkanlava mich erwischt hatte, gerade, als ich blöde mitten auf einer Meeresbucht gesessen hätte. Ich enthielt mich im Laufe der Geschichte, das Geräusch des Feuerspeiens und Dampfblasens zu machen, doch auf dem Höhepunkt der Geschichte stieß ich plötzlich ein »Uiuióni« aus, wackelte mit den Knien und stieß damit in die Höhe. »Und o-o-ompa! Ich schoß mit dem Wasser davon!« Durch das Gerüttel rutschte Cocóton von meinen Knien herunter, und bei dem O-o-ompa landete sie auf meinem Bauch, daß mir die Luft wegblieb und sie vor Vergnügen quietschte und gluckste.

Offenbar war ich auf eine Geschichte und auf eine Art des Geschichtenerzählens gestoßen, die einem kleinen Mädchen ganz besonders gut gefiel. Jeden Nachmittag spielten wir eine lange Zeit hindurch Vulkanausbruch. Obwohl mir noch andere Geschichten einfielen, die ihr nicht angst und bange machten, mußte ich Cocóton immer wieder erzählen, wie Tzebóruko mich einst vom Rand Der Einen Welt hinuntergestoßen hatte. Ich erzählte es ihr immer und immer wieder, und immer wieder nahm sie aktiv daran teil – saß vor Erwartung zitternd auf meinen Knien, während ich die Geschichte immer mehr ausschmückte und immer weiter in die Länge zog, um die Spannung zu erhöhen, jauchzte dann vor Freude, wenn ich sie in die Höhe hopsen ließ, kreischte vor Vergnügen, wenn sie herunterrutschte, und lachte von Herzen, wenn sie auf meinem Bauch landete und mir die Luft aus der Lunge fuhr. Wir spielten jeden Tag Vulkanausbruch, bis Cocóton alt genug war, daß Béu anfing, ihr Vorhaltungen wegen ihres »undamenhaften« Verhaltens zu machen und Cocóton selbst das Spiel »kindisch« fand. Irgendwie tat es mir leid, daß meine Tochter ihrer Kindheit entwuchs, doch war ich es selbst schon ein wenig leid geworden, daß sie mir immer wieder auf den Bauch plumpste.

Unweigerlich kam der Tag, da Cozcatl mich wieder besuchte, mit rotgeränderten Augen und heiserer Stimme, die Hände verschränkt und verdreht, als ob sie miteinander kämpften.

Liebevoll fragte ich ihn: »Du hast geweint, mein Freund?«

»Dazu habe ich zweifellos Grund«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Doch nein, habe ich nicht. Worum es geht …« Er löste die Hände voneinander und machte eine fahrige Bewegung. »Seit einiger Zeit scheinen meine Augen und meine Zunge – sich zu verdicken – sich mit einer Schicht zu überziehen.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Bist du bei einem Arzt gewesen?«

»Nein, und ich bin auch nicht gekommen, um darüber mit dir zu reden. Mixtli, bist du es gewesen, der es gemacht hat?«

Ich gab nicht vor, ahnungslos zu sein und sagte: »Ich weiß, was du meinst. Béu hat vor einiger Zeit so etwas angedeutet. Aber nein, tut mir leid, ich habe nichts damit zu tun.«

Er nickte und sagte kläglich: »Ich glaube dir. Aber das macht es nur noch um so schwerer. So werde ich nie erfahren, wer es war. Selbst wenn ich sie halb tot prügelte, glaube ich nicht, daß sie es mir sagen würde. Und ich könnte Quequelmiqui einfach nicht schlagen.«

Ich dachte einen Moment nach und sagte dann: »Ich muß es dir sagen. Sie wollte, daß ich der Vater würde.«

Er nickte abermals, wie ein hinfälliger alter Mann. »Das hatte ich mir gedacht. Bestimmt wollte sie ein Kind, das deiner Tochter so ähnlich wäre wie möglich.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wenn du es getan hättest, wäre ich zwar verletzt gewesen, aber ich hätte es ertragen.«

Mit einer Hand strich er sich über einen sonderbar bleichen, fast silbrigen Fleck auf der Wange. Ich überlegte schon, ob er sich wohl, ohne es zu merken, wieder verbrannt hatte, doch dann fiel mir auf, daß die Finger, mit denen er es tat, an den Kuppen ganz farblos waren. Er fuhr fort: »Meine arme Quequelmiqui. Ich glaube, sie hätte die Ehe mit einem geschlechtslosen Mann ausgehalten. Aber nachdem sie eine solche mütterliche Liebe für deine Tochter entwickelt hatte, war es ihr unmöglich, eine unfruchtbare Ehe zu ertragen.«

Er blickte zum Fenster hinaus und machte ein unglückliches Gesicht. Mein Töchterchen spielte mit einigen ihrer Freunde draußen auf der Straße.

»Ich hatte gehofft … ich habe versucht ihr eine Ersatzbefriedigung zu verschaffen. Ich habe eine Sonderklasse für die Kinder jener Diener eingerichtet, die meine Schule bereits besuchen, und wollte sie darauf vorbereiten, als Dienstboten in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Das eigentliche Ziel, das ich damit verfolgte, war jedoch, die Sehnsucht meiner Frau abzulenken und sie dazu zu bringen, diese Kinder lieb zu gewinnen. Aber es waren die Kinder anderer Leute … und sie kannte sie auch nicht von klein auf, wie das bei Cocóton der Fall war …«

»Schau, Cozcatl«, sagte ich. »Dieses Kind in ihrem Schoß stammt nicht von dir. Das hätte nie sein können. Aber bis auf den Samen ist es ihr Kind. Und sie ist deine geliebte Frau. Stell dir doch vor, du hättest eine Witwe mit einem kleinen Kind geheiratet. Hättest du denn Qualen ausgestanden, wenn das der Fall gewesen wäre?«

»Dasselbe hat sie mir auch schon gesagt«, erwiderte er rau. »Aber verstehst du, das wäre kein Betrug gewesen. Nach all diesen Jahren einer glücklichen Ehe. Glücklich zumindest für mich.«

Ich rief mir die Jahre ins Gedächtnis, da Zyanya und ich einander alles gewesen waren, und versuchte mir vorzustellen, wie mir zumute gewesen wäre, wäre sie mir jemals untreu gewesen, und so sagte ich schließlich: »Ich habe aufrichtig Verständnis für dich, mein Freund. Aber es ist nun mal Sache deiner Frau. Sie ist eine schöne Frau, und das Kind wird bestimmt reizend. Ich kann dir fast versprechen, daß du es bald anerkennen und in dein Herz schließen wirst. Ich kenne dein freundliches Wesen, und ich weiß, daß du ein vaterloses Kind genauso innig lieben kannst wie eine mutterlose Tochter.«

»Nun, von vaterlos kann ja wohl gerade nicht die Rede sein«, knurrte er.

»Es ist das Kind deiner Frau.« Ich ließ nicht locker. »Du bist ihr Mann. Du bist sein Vater. Wenn sie nicht einmal dir gegenüber einen Namen nennt, plaudert sie es bestimmt nirgendwo anders aus. Und was die körperlichen Umstände betrifft – wer sonst weiß das noch? Béu und ich, gewiß, aber du kannst versichert sein, daß wir nie ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen würden. Blut Schwelger ist längst tot, und der alte Palastarzt, der dich nach dem Unfall behandelt hat, auch. Ich wüßte niemand, der …«

»Ich aber wohl«, fiel er mir verbittert in die Rede. »Der Mann, welcher der Vater ist. Wer weiß, vielleicht ist es ein Trunkenbold, der schon seit Monaten in jeder Hafenschenke mit seiner Eroberung herumprahlt. Wer weiß, vielleicht klopft er eines Tages an unsere Tür und verlangt …«

Ich sagte: »Man sollte schon meinen, daß Kitzlig sich genau überlegt hat, wen sie sich aussucht, und mit der gebotenen Vorsicht vorgegangen ist«, wiewohl ich mir dessen insgeheim nicht so sicher war.

»Da ist noch etwas«, fuhr Cozcatl fort. »Sie hat jetzt das natürliche Geschlechtsleben kennengelernt … Kann sie jemals noch von … von meiner Art befriedigt werden? Steht nicht zu befürchten, daß sie sich wieder einen Mann sucht?«

Streng sagte ich: »Du quälst dich mit Möglichkeiten, zu denen es vermutlich nie kommen wird. Sie wollte ein Kind, das ist alles, und jetzt bekommt sie dieses Kind. Ich kann dir versichern, daß junge Mütter kaum Zeit haben, Männern nachzulaufen.«

»Yya ouiya«, seufzte er heiser. »Wärest du doch bloß der Vater, Mixtli! Wenn ich wüßte, daß es mein ältester und bester Freund gewesen ist … gewiß, es hätte eine Zeitlang gedauert, aber irgendwann wäre ich darüber hinweggekommen …«

»Hör auf damit, Cozcatl!« Er flößte mir das Gefühl ein, doppelt schuldig zu sein – daß nicht viel gefehlt haben würde, und ich hätte tatsächlich seiner Frau beigewohnt … und daß ich es dann doch nicht getan hatte.

Aber er wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen. »Da sind noch andere Dinge zu berücksichtigen«, erklärte er unbestimmt. »Aber gleichviel. Wenn es dein Kind wäre, das sie trägt, könnte ich es über mich bringen zu warten … hätte zumindest eine Zeitlang Vater sein können …«

Er schien sich in sinnlosem Geplapper zu verlieren. Ich suchte verzweifelt nach Worten, um ihn wieder in die Wirklichkeit zurückzubringen. Doch plötzlich brach er in Tränen aus – in das harte, trockene Schluchzen eines Mannes; nicht in das sanfte, schmelzende, fast melodische Weinen einer Frau – und lief aus dem Haus.

Ich sollte ihn nie wiedersehen. Und der Rest ist häßlich, deshalb will ich ihn rasch erzählen. Noch am selben Nachmittag ließ Cozcatl alles stehen und liegen, sein Haus, seine Schule und seine Schüler – darunter alle ihm anvertrauten Palastbediensteten – und meldete sich freiwillig bei den Verbänden des Dreibunds, die in Texcála kämpften, und ließ sich von irgendeinem feindlichen Speer durchbohren.

Seine jähe Abreise und sein plötzlicher Tod stifteten ebensoviel Verwirrung wie Trauer im großen Kreis von Cozcatls Freunden und Kollegen, doch als Ursache dafür wurde allgemein seine übertrieben große Treue seinem Gönner, dem Verehrten Sprecher gegenüber, angenommen. Weder Kitzlig noch Béu noch ich ließen je irgend etwas verlauten, was Zweifel daran hätte aufkommen lassen oder – oder an der fraglos hingenommenen Annahme, daß er es war, welcher seiner Frau einen dicken Bauch gemacht hatte, ehe er in den Krieg gezogen war.

Was mich betrifft, so sagte ich nie ein Sterbenswörtchen zu unseren Bekannten; nicht einmal Béu gegenüber äußerte ich irgendeinen Verdacht. Ich erinnerte mich an Cozcatls nie zu Ende gesprochene Sätze: »Ich könnte es über mich bringen zu warten … Könnte zumindest eine Zeitlang Vater spielen …« Und ich sann über die Brandwunde nach, welche ihm seine Poquietl gemacht hatte, von der er nichts gespürt, über die heisere Stimme, seine verglasten Augen und den silbrigen Hautfleck auf seinem Gesicht …

Die Gedächtnisfeier wurde über seinem Maquáhuitl und seinem Schild gehalten, welche vom Schlachtfeld nach Hause gebracht worden waren. Dabei sprach ich genauso wie zahllose andere Trauergäste seiner Witwe kalt mein Beileid aus, doch hinterher vermied ich es mit Bedacht, sie wiederzusehen. Statt dessen suchte ich den Mexícatl-Krieger auf, welcher Cozcatls Waffen und andere Habseligkeiten nach Hause gebracht hatte, und wohnte ihrer Bestattung bei. Dann stellte ich ihm direkt eine Frage, und nachdem er zuerst von einem Fuß auf den anderen getreten war, rückte er mit der Wahrheit heraus:

»Jawohl, Gebieter. Als unser Truppenarzt den Kampfanzug aufschnitt und die Wunde freilegte, stellte er fest, daß sein Körper weitgehend mit Schwären und schuppigen Flecken auf der Haut übersät war. Ihr habt richtig vermutet, Gebieter. Er litt am Teococoliztli.«

Dieses Wort heißt: Von den Göttern gefressen werden. Offensichtlich kennt man diese Krankheit auch in der Alten Welt, aus der ihr kommt, denn die ersten Spanier, die herkamen, nannten sie »Lepra«, als sie hier Männern und Frauen ohne Finger, Zehen,. Nase und – im letzten Stadium – auch ohne einen Großteil ihres Gesichts begegneten.

Er hatte gewußt, was ihn erwartete, doch liebte er seine Quequelmiqui so sehr, daß er das Von-den-Göttern-gefressen-Werden solange ertragen, ja, ihm getrotzt hätte, wie er es aushielt – oder vielmehr wie sie es aushielt, ohne bei seinem Anblick vom schieren Entsetzen gepackt zu werden. Selbst als ihm klar wurde, daß seine Frau ihn betrogen hatte, hätte Cozcatl es noch fertiggebracht, die Geburt abzuwarten und das Kind zu sehen – zumindest eine Zeitlang sein Vater zu sein, wie er es mir gegenüber ausgedrückt hatte –, wäre das Kind von mir gewesen. Doch das war es nicht; seine Frau hatte ihn mit einem Fremden betrogen. Infolgedessen verspürte er weder den Wunsch noch sah er irgendeinen Grund, das Unvermeidliche hinauszuschieben – ging hin und ließ sich einen Texcaltéca-Speer in die Brust jagen.

Ich empfand über den Verlust meines Freundes Cozcatl mehr als nur einfachen Schmerz. Immerhin war ich während eines Großteils seines Lebens für ihn verantwortlich gewesen – seit der Zeit, da er neun Jahre alt und in Texcóco mein Sklave gewesen war. Selbst damals schon wäre er meinetwegen ums Haar hingerichtet worden, weil ich ihn in meinen Racheplan gegen den Herrn Freude hineingezogen hatte. Später war er seines Mannestums verlustig gegangen, als er versuchte, mich vor Chimáli zu schützen. Dadurch, daß ich Kitzlig gebeten hatte, Mutterstelle an Cocóton zu vertreten, hatte ich in ihr das heftige Begehren geweckt, selbst Mutter zu werden. Dem Umstand, an ihrem Ehebruch unmittelbar beteiligt zu sein, war ich nur durch äußere Umstände knapp entgangen, nicht aber wegen meiner Redlichkeit oder meiner Treue Cozcatl gegenüber. Und selbst damit hatte ich ihm keinen guten Dienst erwiesen. Hätte ich ihr beigewohnt und sie geschwängert, Cozcatl hätte noch länger leben können und wäre womöglich sogar glücklich gewesen, ehe er ganz von den Göttern gefressen wurde …

Wenn ich darüber nachsinne, frage ich mich manchmal, warum Cozcatl mich überhaupt jemals seinen Freund genannt hat.

Cozcatls Witwe führte die Schule, das Lehrerkollegium und die Schüler noch ein paar Monde allein weiter. Dann kam ihre Zeit, und sie wurde ihres verfluchten Bankerts entbunden. Denn verflucht war er: Das Kind kam tot zur Welt, und ich erinnere mich nicht, auch nur gehört zu haben, welchen Geschlechts es war. Als Kitzlig wieder aufstehen konnte, verließ sie – genauso wie zuvor Cozcatl es getan – Tenochtítlan und kehrte nie wieder zurück. In der Schule ging alles drunter und drüber, und die Lehrer, welche nicht mehr bezahlt wurden, drohten, sie gleichfalls zu verlassen. Erbost von der Aussicht, seine Dienstboten nur halb ausgebildet wieder zurückzubekommen, befahl Motecuzóma, daß das zurückgelassene Vermögen eingezogen werde. Die Leitung übertrug er Priester-Lehrern, die er von einer Calmécac abzog, und so gab es die Schule, solange es die Stadt gab.

Etwa um diese Zeit feierte meine Tochter Cocóton ihren siebenten Geburtstag, wonach wir alle selbstverständlich aufhörten, sie Krümelchen zu nennen. Nach vielen Überlegungen, In Erwägung ziehen und wieder Verwerfen, beschloß ich, ihrem Geburtsnamen – Ein Gras – den Erwachsenennamen Zyanya-Nochipa anzufügen, was Immer Immer bedeutet, zuerst im Lóochi ihrer Mutter, und dann noch einmal auf Náhuatl. Abgesehen davon, daß er an ihre Mutter erinnerte, fand ich, daß der Name eine sehr sinnvolle Verwendung der Wörter darstelle. Zyanya-Nochipa ließ sich, wenn man wollte, als »Immer und Ewig« übersetzen, stellte also durchaus eine Steigerung des ohnehin schon bezaubernden Namens ihrer Mutter dar. Man konnte darin aber auch die Bedeutung von »immer Immer« sehen in dem Sinne, daß die Mutter in der Person ihrer Tochter weiterlebte.

Mit Béus Hilfe richtete ich zur Feier des Tages ein Fest, an welchem unser kleiner Nachbar Chacalín und sämtliche Gespielen meiner Tochter samt ihren Eltern teilnahmen. Zuvor begleiteten Béu und ich das Geburtstagskind zur Eintragung ihres neuen Namens in die Liste jener Bürger, die den Namensgebungstag gefeiert hatten. Freilich begaben wir uns nicht zu dem Mann, welcher den Auftrag hatte, für die Vollständigkeit der Liste der gewöhnlichen Bevölkerung zu sorgen. Da Zyanya-Nochipa die Tochter eines Adlerritters war, begaben wir uns zum Palast-Tonalpóqui, welcher die Liste der erlauchteren Bürger führte.

Der alte Archivar brummelte: »Es ist mir eine Pflicht und eine Ehre, mein Tonálmatl-Buch und mein Talent als Deuter einzusetzen, um den Namen des Kindes auszusuchen. Es steht schlimm um uns, wenn Eltern einfach herkommen können und mir sagen, wie der neue Bürger heißen soll. Das ist an sich schon ungehörig, Ritter Mixtli, doch nun wollt Ihr dem armen Ding auch noch einen Namen geben, der aus zwei völlig bedeutungsgleichen, wenn auch aus zwei verschiedenen Sprachen stammenden Wörtern besteht, und überdies bezeichnen diese Wörter auch noch nicht einmal ein Ding. Könntet Ihr sie denn nicht zumindest Immer Juwelenbedeckt oder etwas ähnlich Verständliches nennen?«

»Nein«, erklärte ich mit Entschiedenheit. »Sie soll Immer Immer heißen.«

Völlig außer sich sagte er: »Warum nicht gleich Nie Nie?

Wie soll ich auf ihre Seite im Namensregister ein Namenssymbol aus abstrakten Begriffen malen? Wie soll ich ein Bild von bedeutungslosen Lauten malen?«

»Sie sind keineswegs bedeutungslos«, erklärte ich gefühlvoll. »Allerdings habe ich einen solchen Einwand vorhergesehen, Herr Tonalpóqui. Deshalb habe ich mir erlaubt, die Wortbilder selbst auszudenken. Denn wißt, ich bin zu meiner Zeit selber ein Schreiber gewesen.« Ich reichte ihm das Wortbild, welches ich selbst entworfen hatte: eine Hand, welche einen Pfeil umfaßte, auf dem ein Schmetterling saß.

Laut las er die Worte für Hand, Pfeil und Schmetterling: »Noma, Chi-chiquíli, Papálotl. Oh, ich sehe, Ihr seid vertraut mit der Methode, etwas durch den Klang allein wiederzugeben. Ja, in der Tat, die ersten Laute der drei Wörter ergeben No-Chi-Pa. Immer.«

Er sagte das voller Bewunderung, doch schien ihn das gleichwohl einige Überwindung zu kosten. Schließlich begriff ich, daß der alte Weise fürchtete, um seine volle Bezahlung gebracht zu werden, da ich ihm nichts anderes zu tun gelassen hatte, als etwas abzumalen. Deshalb bezahlte ich mit einem Betrag in Goldstaub, für welchen er sich für etliche über seinen Seherbüchern verbrachte Tage und Nächte reichlich hätte belohnt fühlen müssen. Mit der nötigen Feierlichkeit und Sorgfalt und unter Verwendung von mehr Pinseln und Schreibrohren als nötig, malte er auf die für meine Tochter bestimmte Seite seines Namensregisters die Symbole: Den einen Punkt für Eins und das Grasbüschel und danach zweimal die von mir ersonnenen Symbole für Immer: Vollständig hieß meine Tochter also: Ce-Malinali Zyanya-Nochipa, wurde jedoch für gewöhnlich Nochipa gerufen.

Als Motecuzóma den Thron bestieg, hatte seine Hauptstadt Tenochtítlan sich erst zur Hälfte von den Verheerungen erholt, welche die Große Überschwemmung angerichtet hatte. Tausende von Einwohnern lebten immer noch auf engstem Raum mit jenen Verwandten zusammen, welche das Glück gehabt hatten, ihr Dach über dem Kopf zu behalten; oder hausten in rasch zusammengezimmerten Hütten aus den Trümmern, oder solchen, die aus den Blättern der Schwarzgrünen Agave zusammengesetzt wurden, welche man eigens vom Festland herübergebracht hatte; oder unter noch elenderen Umständen in Einbäumen, welche an den erhöhten Straßen der Stadt festgezurrt worden waren. Tenochtítlans Wiederaufbau samt Wohnhäusern für die Bevölkerung sollte unter Motecuzómas Leitung noch zwei volle weitere Jahre in Anspruch nehmen.

Und wo er schon einmal dabei war, baute er auch gleich für sich selbst am Ufer des Kanals an der Südseite Des Herzens Der Einen Welt einen schönen neuen Palast. Es war der größte, luxuriöseste und der am üppigsten geschmückte und ausgestattete Palast, der je in diesen Landen errichtet worden war, weit großartiger und prächtiger noch als Nezahualpílis Stadt-und Landpalast zusammengenommen. Motecuzóma tat alles, um Nezahualpíli auszustechen, und baute sich gleichzeitig auch noch einen eleganten Landsitz am Rande jener bezaubernden Bergstadt Quaunáhuac, welche ich schon des öfteren bewundernd erwähnt habe. Wie ihr vielleicht wißt, ehrwürdige Patres, falls der eine oder andere von euch dort gewesen ist, weil euer Capitán-General Cortés diesen Palast zu seiner Residenz gemacht hat, müssen die zugehörigen Gärten immens sein, die prächtigsten und mit der größten Vielfalt bepflanzten Gärten, welche ihr jemals habt sehen können.

Der Wiederaufbau von Tenochtítlan hätte schneller vonstatten gehen können – ja, überhaupt hätte das Wohlergehen des Mexíca-Reiches besser gesichert werden können –, wäre Motecuzóma nicht fast von dem Augenblick seiner Thronbesteigung an damit beschäftigt gewesen, einen Krieg nach dem anderen, manchmal sogar mehrere zugleich zu führen. Wie ich bereits berichtet habe, überzog er zunächst das oft angegriffene, vielbedrängte, aber immer unbeugsame Texcála neuerlich mit einem Krieg. Das freilich war zu erwarten gewesen. Ein neu inthronisierter Uey-Tlatoáni ließ bei Regierungsantritt fast immer seine Muskeln spielen, und Texcála war aufgrund seiner Nähe und seiner starren Feindseligkeit den Mexíca gegenüber das natürlichste Opfer, wenn es auch, hätten wir es wirklich erobert, kaum von irgendwelchem Nutzen für uns gewesen wäre.

Gleichzeitig jedoch – Motecuzóma hatte gerade begonnen, die Gärten seines Landsitzes zu planen – hörte er von irgendeinem Reisenden von einem ganz besonderen Baum, welcher nur in einem kleinen Gebiet im Norden von Uaxyácac wuchs. Der Reisende nannte ihn recht einfallslos den »Baum mit den rotgefärbten Blüten«, doch ließ Motecuzóma sich von seiner Beschreibung bezaubern. Die Blüten dieses Baumes, sagte der Mann, wüchsen dergestalt, daß sie genauso aussahen wie kleine Menschenhände; ihre roten Blütenblätter bildeten gleichsam Finger, denen ein Daumen gegenüberliege. Unglücklicherweise wußte der Reisende außerdem zu berichten, wachse dieser Baum ausschließlich im Gebiet eines unbedeutenden Unterstamms der Mixtéca. Dessen Häuptling oder Ältester, ein betagter Mann namens Suchix, habe diesen Baum mit den rotgefärbten Blüten nur sich persönlich vorbehalten – drei oder vier wüchsen im Umkreis seiner schäbigen Hütte – und halte seine Stammesangehörigen unentwegt an, jeden Schößling, der irgendwo aus dem Boden hervortreibe, auszureißen.

»Er frönt nicht nur der Leidenschaft, Dinge zu besitzen, die kein anderer sonst hat«, soll der Reisende gesagt haben. »Die handförmige Blüte ergibt eine Medizin, welche Herzkrankheiten heilt, bei der sonst keine andere Behandlung fruchtet. Der alte Suchix heilt die Siechen im Land ringsum und läßt sich hoch dafür bezahlen. Deshalb liegt ihm soviel daran, daß dieser Baum eine Seltenheit bleibt, die nur er allein besitzt.«

Motecuzóma soll nachsichtig gelächelt haben. »Ach, wenn es nur um Habgier geht, werde ich ihm einfach mehr Gold bieten, als er mit seinen Bäumen jemals verdienen könnte.«

Folglich schickte er einen mixteca-sprechenden Schnellboten nach Uaxyácac, welcher ein Vermögen an Gold bei sich trug und den Auftrag hatte, einen dieser Bäume zu kaufen und jeden Preis zu zahlen, den Suchix verlange. Doch dieser alte Mixtecatl-Häuptling kann nicht nur habgierig gewesen sein; es muß auch noch eine Spur von Stolz und Redlichkeit in ihm gesteckt haben. Der Schnellbote kehrte bis auf das letzte Körnchen mit dem gesamten Gold wieder zurück und meldete, Suchix habe es hochmütig abgelehnt, auch nur einen Zweig von seinen Bäumen herzugeben. Als nächstes schickte Motecuzóma daher einen Trupp Krieger, die kein Gold, sondern nur Obsidian mit sich trugen. Suchix samt seinem ganzen Stamm wurde ausgerottet, und jetzt könnt ihr den Baum mit den handähnlichen Blüten in jenen Gärten außerhalb von Quaunáhuac bewundern.

Doch kümmerte der Verehrte Sprecher sich nicht ausschließlich um auswärtige Angelegenheiten. Brütete er nicht über neuen Kriegsplänen oder versuchte er nicht gerade, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen, oder genoß es, ein Heer persönlich anzuführen oder sich um die Fertigstellung eines seiner neuen Paläste zu kümmern, hockte er daheim herum und machte sich Sorgen um die Große Pyramide. Wenn euch das überspannt und verschroben erscheint, ehrwürdige Patres, so erging das vielen von uns, seinen Untertanen, nicht anders, als Motecuzóma sich in den Gedanken verrannte, das Bauwerk »stehe falsch«. Offenbar war es so, daß die Pyramide an zwei Tagen im Jahr, im Frühling und im Herbst, wenn Tag und Nacht genau gleich waren, genau zur Mittagszeit nach einer Seite hin einen kleinen, aber immerhin wahrnehmbaren Schatten warf. Nach Motecuzóma hätte die Tempelpyramide an diesen beiden Augenblicken im Jahr überhaupt keinen Schatten werfen dürfen. Daß das dennoch der Fall war, bedeute, so behauptete er, daß die Große Pyramide ganz leicht – vielleicht um die Breite eines Fingers oder zwei – von ihrer richtigen Lage in bezug auf Tonatíus Bahn am Himmel abweiche.

Nun, die Große Pyramide hatte seit rund neunzehn Jahren, seit ihrer Fertigstellung und Einweihung – und seit über hundert Jahren, nachdem Motecuzóma der Ältere mit dem Bau begonnen hatte – gelassen dort gestanden, und weder der Sonnengott noch irgendein anderer Gott hatte in dieser ganzen Zeit durch irgendein Zeichen zu erkennen gegeben, daß er dieserhalb ungehalten sei. Nur Motecuzóma den Jüngeren beunruhigte es, daß sie dieses winzige kleine Bißchen von der genauen Mittellinie abwich. Oft konnte man ihn mit finsterer Miene dastehen und das mächtige Bauwerk betrachten sehen, als sei er drauf und dran, einer der falsch ausgerichteten Ecken einen ärgerlichen und die Sache wieder ins richtige Lot bringenden Fußtritt zu versetzen. Selbstverständlich hätte man den Fehler des ersten ursprünglichen Baumeisters nur dadurch berichtigen können, daß man die Große Pyramide vollständig niedergerissen und von Grund auf neu wiederaufgebaut hätte – eine wahrhaft erschreckende Vorstellung. Gleichwohl glaube ich, daß Motecuzóma sich irgendwann dazu durchgerungen haben würde, genau das zu tun, wäre seine Aufmerksamkeit nicht mit Macht durch andere Ereignisse abgelenkt worden.

Denn in dieser Zeit kam es zu einer erschreckenden Reihe von Zeichen mit schlimmer Vorbedeutung: jenen merkwürdigen Geschehnissen, welche, wie heute jedermann fest überzeugt ist, den Sturz der Mexíca ankündigten, den jähen Niedergang aller Kulturen, welche in diesen Landen blühten, den Tod all unserer Götter, das Ende Der Einen Welt.

Eines Tages gegen Ende des Jahres Eins Kaninchen kam eine Page vom Palast außer Atem mit der Aufforderung zu mir, augenblicklich vor dem Uey-Tlatoáni zu erscheinen. Ich erwähne das Jahr, da dieses selbst, wie ich später noch erklären werde, Schlimmes verhieß. Motecuzóma forderte mich zwar nicht auf, diesmal die vorgeschriebenen Gesten des Erdeküssens beiseite zu lassen, trommelte jedoch ungeduldig mit den Fingern auf sein Knie, als wünschte er, ich solle mich mit meinem Näherkommen beeilen.

Freilich war der Verehrte Sprecher diesmal nicht von seinen Weisen Männern umgeben, und außerdem fielen mir zwei Dinge auf, die neu im Raum waren. Zu beiden Seiten seines Icpáli-Thronstuhles hingen in reich geschnitzten Rahmen an Ketten große Metallscheiben herunter. Die eine bestand aus Gold, die andere aus Silber; jede Scheibe wies dreimal den Durchmesser eines Kriegsschilds auf und beide waren über und über in erhabener und in gepunzter Arbeit mit Szenen aus Motecuzómas Triumphen sowie erklärenden Wortbildern bedeckt. Allein was das reine Gewicht des Metalls betrifft, waren die beiden Scheiben von unschätzbarem Wert; was ihren Wert jedoch noch unendlich erhöhte, waren der Kunstsinn und der Fleiß, welche auf ihre Herstellung verwendet worden waren. Erst viel später sollte ich erfahren, daß es sich dabei um mehr denn nur um Zierstücke handelte. Motecuzóma konnte den Arm ausstrecken und mit der Faust dagegenschlagen, woraufhin ein dumpfer Klang durch den gesamten Palast hallte. Da jeder einen leicht unterschiedlichen hohlhallenden Ton von sich gab, kam, wenn er gegen die Silberscheibe hieb, der Oberkämmerer zu ihm geeilt, während auf einen Schlag gegen die goldene Scheibe hin ein ganzer Trupp bewaffneter Wachen zu ihm stürzte.

Ohne jede förmliche Begrüßung und ohne seinen üblichen beißenden Spott, ja mit weit mehr weniger eisiger Ruhe als sonst sagte Motecuzóma: »Ritter Mixtli, du kennst die Mayavölker und -länder.«

Ich sagte: »Jawohl, Verehrter Sprecher.«

»Würdest du diese Menschen für leicht erregbar und unsicher halten?«

»Keineswegs, Hoher Gebieter. Im Gegenteil, die meisten von ihnen sind heutzutage genausowenig aus der Ruhe zu bringen und teilnahmslos wie Tapire oder Seekühe.«

Er sagte: »Das trifft auch auf viele Priester zu, was sie jedoch nicht daran hindert, Zeichen von böser Vorbedeutung zu schauen. Wie steht es in der Beziehung mit den Maya?«

»Ob sie Visionen haben? Nun, Hoher Gebieter, ich möchte meinen, die Götter vermögen auch noch dem stumpfsinnigsten aller Sterblichen eine Vision zu gewähren. Zumal dann, wenn er sich mit so etwas wie den Götterfleischpilzen in einen Rauschzustand versetzt hat. Aber die erbärmlichen Überreste der Maya nehmen kaum die wirkliche Welt um sie herum wahr, geschweige denn etwas Außergewöhnliches. Wenn der Hohe Gebieter mir vielleicht erklären würde, worum genau es geht … «

Er sagte: »Es ist ein Schnellbote von den Maya eingetroffen. Von welchem Volk oder welchem Stamm, weiß ich nicht. Er kam durch die Stadt gelaufen – und das alles andere als schwung- und teilnahmslos – und blieb nur lange genug, der Wache an meinem Palasttor schwer keuchend eine Botschaft zu übermitteln. Noch ehe man mir diese Botschaft überbringen konnte, war er bereits in Richtung Tlácopan weitergelaufen. Es scheint, daß die Maya Boten durch alle Lande eilen lassen, um von etwas Unerhörtem zu künden, das sie dort im Süden gesehen haben wollen. Es gibt dort eine Halbinsel, welche Uluümil Kutz heißt und weit in das Nord-Meer vorstößt. Du kennst sie? Nun gut, die Maya, welche an dieser Küste leben, sind in jüngster Zeit durch das Auftauchen von zwei Dingen überwältigt und in Schrecken versetzt worden, die sie nie zuvor gesehen haben.« Er ließ es sich nicht nehmen, mich durch eine Pause noch mehr in Spannung zu versetzen. »So etwas wie ein riesiges Haus, das auf dem Meer schwimmt. Etwas, was mit weit ausgebreiteten Flügeln dahingleitet.« Wider besseres Wissen mußte ich lächeln, woraufhin er die Stirn runzelte und sagte: »Willst du mir etwa erzählen, daß die Maya Wahnsinnsbilder sehen?«

»Nein, Hoher Gebieter«, sagte ich, immer noch lächelnd. »Aber ich glaube, ich weiß, was sie gesehen haben. Gestattet, daß ich eine Frage stelle?« Durch ein knappes Nicken gab er sein Einverständnis. »Diese Dinge, die erwähnt wurden – schwimmendes Haus, geflügeltes Wesen –, hat es sich dabei um ein und dasselbe Ding gehandelt oder um zwei verschiedene?«

Motecuzómas Miene verdüsterte sich noch mehr. »Der Bote war fort, ehe wir nähere Einzelheiten von ihm erfahren konnten. Immerhin hat er gesagt, daß zwei Dinge gesichtet worden seien. Ich würde meinen, das eine kann ein schwimmendes Haus, das andere ein Ding mit Flügeln gewesen sein. Aber was sie auch immer gewesen sein mögen, sie sollen ziemlich weit vom Ufer entfernt geblieben sein, so daß vermutlich niemand eine sehr zutreffende Beschreibung davon geben könnte. Warum behältst du dieses verfluchte Grinsen weiterhin bei?«

Ich versuchte, es zu unterdrücken und sagte: »Eingebildet haben die Leute sich diese Dinge nicht, Verehrter Sprecher. Sie sind nur zu träge, sie genauer untersucht zu haben. Wenn irgendein Beobachter zur Tat geschritten und beherzt hingeschwommen wäre, würde er erkannt haben, daß es sich um Meerestiere handelte – wunderschöne, wie man sie vielleicht nicht häufig zu sehen bekommt, aber nicht weiter geheimnisvolle – und dann würden die Maya-Boten jetzt keinen unnützen Schrecken verbreiten.«

»Soll das heißen, du hättest solche Dinge schon gesehen?« sagte Motecuzóma und blickte mich geradezu ehrfürchtig an. »Ein schwimmendes Haus?«

»Nein, kein Haus, Hoher Gebieter, aber einen Fisch – ehrlich und ohne Übertreibung größer als ein Haus. Die Fischer am Meer nennen ihn den Yeyemichi.« Ich erzählte ihm, wie ich einst hilflos in einem Kanu auf dem Meer getrieben sei und neben vielen anderen merkwürdigen Tieren auch ein Riesenschwarm von diesen Ungeheuern mich so nahe umschwommen hätte, daß mein zerbrechliches Boot in Gefahr gewesen sei. »Dem Verehrten Sprecher fällt es vielleicht schwer, mir Glauben zu schenken, aber wenn ein Yeyemichi mit dem Kopf gegen die Mauer vorm Fenster des Hohen Gebieters stieße, könnte sein Schwanz unter den Überresten des Palastes des verblichenen Verehrten Sprechers Ahuítzotl hin und her schlagen, welche sich auf der anderen Seite des Großen Platzes befinden.«

»Das sagst du?« murmelte Motecuzóma nachdenklich und schaute zum Fenster hinaus. Dann wandte er sich wieder mir zu und fragte: »Und während deines Aufenthaltes auf dem Meer, bist du da auch Meerestieren mit Flügeln begegnet?«

»In der Tat, Hoher Gebieter. Sie sind in Schwärmen um mich herum geflogen. Zuerst habe ich sie für riesige Meeresinsekten gehalten. Doch einer von ihnen ist in meinem Einbaum gelandet, und ich habe mich seiner bemächtigt und ihn verzehrt. Es war ganz unzweifelhaft ein Fisch, aber genauso unzweifelhaft besaß er Flügel, mit denen er flog.«

Motecuzómas starre Haltung entkrampfte sich ein wenig; offensichtlich war er erleichtert. »Nichts weiter als Fische«, murmelte er. »Sollen die Dummköpfe von Maya doch zur Mictlan fahren! Sie könnten mit ihrem zügellosen Gerede die ganze Bevölkerung in Schrecken versetzen. Ich werde dafür sorgen, daß die Wahrheit augenblicklich überall kundgemacht wird. Ich danke dir, Ritter Mixtli. Deine Erklärungen haben einen sehr guten Zweck erfüllt. Du verdienst eine Belohnung. Sei es diese: Ich lade dich und deine Familie ein, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, welche nächsten Mond zusammen mit mir die Huixáchi-Hügel hinaufsteigen werden, um dort die Neufeuer-Zeremonie zu feiern.«

»Es wird mir eine Ehre sein, Hoher Gebieter«, sagte ich, und das war ehrlich gemeint. Die Entzündung des Neuen Feuers erlebte ein Mensch im allgemeinen nur einmal im Leben, und der Durchschnittsbürger konnte die Zeremonie niemals ganz aus der Nähe mitansehen, denn auf dem Huixáchi-Hügel konnten neben den ihres Amtes waltenden Priestern nur vergleichsweise wenige Zuschauer Platz finden.

»Fische«, wiederholte Motecuzóma. »Doch du hast sie weit draußen auf dem Meer gesehen. Wenn sie nun aber zum erstenmal so nahe ans Ufer herangekommen sind, daß die Maya sie haben sehen können, könnte das trotzdem etwas zu bedeuten haben …«

Ich brauche auf das auf der Hand Liegende nicht besonders hinzuweisen, ehrwürdige Patres; ich kann nur erröten, wenn ich daran denke, zu welch einem übereilten Urteil ich mich habe hinreißen lassen. Bei dem, was die Maya an der Küste erblickt hatten – und was ich töricht als Riesenfisch und Geflügelten Fisch abtat – hat es sich selbstverständlich um seegängige spanische Segelschiffe gehandelt. Heute, wo ich mir darüber im klaren bin, in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse vor langer Zeit abspielten, weiß ich, daß es sich nur um die beiden Schiffe eurer Forschungsreisenden de Solis und Pinzón gehandelt haben kann, welche zwar die Küste von Uluümil Kutz erkundeten, dort jedoch nicht an Land gingen.

Ich irrte mich, und es war in der Tat ein bedeutungsschwangeres Zeichen.

Diese Unterredung mit Motecuzóma fand gegen Ende des Jahres statt, als die Nemontémtin näherkamen, die Hohlen Tage. Und ich wiederhole, daß es im Jahre Eins Kaninchen war – nach eurer Zeitrechnung das Jahr eintausendfünfhundertundsechs.

Wie ich bereits berichtet habe, lebten wir während der namenlosen leeren Tage am Ende eines jeden Sonnenjahres in der Furcht, daß die Götter uns mit irgendeinem Unheil heimsuchen würden, doch niemals lebte unser Volk in so krankhafter Angst wie damals. Denn das Jahr Eins Kaninchen war das letzte eines Xiumolpili oder eines aus zweiundfünfzig Jahren bestehenden Schocks Jahre, bei welchem uns Furcht vor dem schlimmsten Unheil überhaupt packte: der Vernichtung der gesamten Menschheit. Unseren Priestern, unseren Glaubensvorstellungen und Traditionen zufolge hatten die Götter bereits vier Male zuvor alle Menschen auf der Erde vernichtet und konnten es wieder tun, wenn ihnen der Sinn danach stand. Wir gingen mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, daß die Götter – falls sie beschlossen, uns auszurotten – dafür einen passenden Zeitpunkt wählen würden wie etwa eben jene letzten Tage des letzten Jahres, welches ein Schock Jahre zusammenband.

Infolgedessen war es während der fünf Tage zwischen dem Ende des Jahres Eins Kaninchen und dem Beginn seines Nachfolgers, Zwei Rohr – vorausgesetzt Zwei Rohr traf ein und wir erlebten es –, ebensosehr Furcht wie religiöser Gehorsam, welcher die meisten Menschen veranlaßte, sich auf die bewährte Weise kleinlaut und unauffällig zu verhalten. Die Menschen gingen zumeist buchstäblich auf Zehenspitzen. Jeder ungebührliche Laut verstummte, Lachen war verboten, und die Menschen sprachen nur im Flüsterton miteinander. Bellende Hunde, kollernde Truthähne und schreiende Babys wurden soweit wie möglich zum Schweigen gebracht. Sämtliche Herdfeuer und Lampen wurden gelöscht wie in den leeren Tagen am Ende eines gewöhnlichen Sonnenjahres auch, doch diesmal wurden auch noch sämtliche anderen Feuer gelöscht, selbst die in den Tempeln, auf den Altären und in den Urnen, die vor den Standbildern der Götter brannten. Selbst das Feuer auf der Spitze des Huixachi-Hügels, das die letzten zweiundfünfzig Jahre hindurch ständig unterhalten worden war – selbst dieses wurde ausgemacht. Im ganzen gesamten Land war in diesen fünf Nächten nirgends ein Lichtschimmer zu sehen.

Jede Familie, ob von Adel oder geringer Geburt, zerbrach sämtliches Tongeschirr zum Kochen, zum Aufbewahren von Speisen und zum Essen; die Metlatin-Steine zum Maismahlen und andere Gerätschaften aus Stein, Kupfer oder gar kostbarerem Metall wurden vergraben oder in den See geworfen; verbrannt wurden hölzerne Löffel und Teller, Schneebesen zum Schaumigrühren der Schokolade und anderes Gerät dieser Art.

Gekocht wurde in diesen fünf Tagen ohnehin nicht, man aß nur karg und benutzte als Teller Abschnitte der Schwarzgrünen Agave und aß mit den Fingern den kalten gebackenen Camótin, festgewordenen Atóli-Brei, oder was man sonst im Voraus an Speisen bereitet hatte. Es wurde weder gereist noch Handel getrieben oder irgendwelche anderen Geschäfte getätigt, man kam nicht gesellig zusammen, trug keinen Schmuck und keine Federn, sondern nur die einfachsten Kleidungsstücke. Kein Mensch – vom Uey-Tlatoáni bis herunter zum niedrigsten Tlacotli-Sklaven – tat etwas anderes als warten und sich während des Wartens so unauffällig wie nur irgend möglich zu verhalten.

Wiewohl während dieser düsteren Tage nichts Bemerkenswertes geschah, wurde unsere Angst und wurden unsere Befürchtungen verständlicherweise immer größer und erreichten ihren Höhepunkt, als Tonatíu sich am Abend des fünften Tages zur Ruhe begab. Wir konnten uns nur eine Frage stellen: würde er am nächsten Tage wieder aufstehen und einen weiteren Tag, ein weiteres Jahr, ein weiteres Schock Jahre bringen? Freilich würde ich meinen, nur dem gemeinen Volk blieb nichts anderes übrig, als sich dies zu fragen, denn Aufgabe der Priester war es, jedes Mittel der Überredung und Überzeugung einzusetzen, welches ihnen zur Verfügung stand. Kurz nach Sonnenuntergang, als die Nacht ganz dunkel geworden war, zog eine ganze Prozession – die Oberpriester eines jeden Gottes und einer jeden Göttin, ganz gleich, ob bedeutend oder unbedeutend, und jeder Priester bekleidet, maskiert und angemalt, daß er der Gottheit glich, welcher er diente – von Tenochtítlan über den südlichen Damm zum Huixáchi-Hügel hinüber. Hinter ihnen her zogen der Verehrte Sprecher und seine geladenen Gäste, alle in formlose Sackkleider gekleidet, so daß sie weder als hochstehende Herren, noch als Weise Männer, Zauberer und andere Würdenträger zu erkennen waren. Unter ihnen befand diesmal auch ich mich und rührte meine Tochter Nochipa an der Hand.

»Du bist jetzt gerade neun Jahre alt«, hatte ich zu ihr gesagt, »und es bestehen gute Aussichten, daß du auch noch die nächste Neufeuer-Zeremonie miterlebst. Allerdings ist es fraglich, ob du dann eingeladen wirst, sie von nahem zu verfolgen. Du kannst von Glück sagen, daß du bei dieser dabei sein darfst.«

Sie war von dieser Aussicht ganz aufgeregt, denn es war die erste bedeutende religiöse Feier, zu welcher ich sie mitnahm. Hätte es sich nicht um einen so feierlichen und ernsten Anlaß gehandelt, sie wäre fröhlich an meiner Seite einhergesprungen. Statt dessen schritt sie jetzt gemessen, wie es sich gehörte, in einem unauffälligen Gewand und mit einer Maske, die ich ihr aus einem Agavenblatt gefertigt, neben mir dahin. Als wir dem Rest der Prozession durch eine Dunkelheit folgten, welche nur durch eine schmale Mondsichel dämmerig erhellt wurde, mußte ich an jene längst vergangene Zeit denken, da ich wie gebannt meinen eigenen Vater über ganz Xaltócan begleitet hatte, um der Zeremonie zu Ehren des Gottes der Vogelsteller, Atláua, beizuwohnen.

Die Maske, die ihr ganzes Gesicht verdeckte, trug Nochipa deshalb, weil in dieser besonders heiklen und bedenklichen Nacht jedes Kind eine trug. Der Glaube – oder die Hoffnung – ging dahin, daß die Götter, falls sie beschlossen, die Menschheit auf der Erde zu vertilgen, die verkleideten Kinder fälschlich für irgendwelche andere als menschliche Geschöpfe halten und daher verschonen könnten, damit zumindest ein paar überlebten, unsere Rasse weiter fortzupflanzen. Erwachsene unternahmen keine solchen schwachen Versuche, sich zu verkleiden, doch legten sie sich auch nicht schicksalsergeben schlafen. Überall in dem lichtlosen Land verbrachten die Menschen diese Nacht auf den Hausdächern und knufften und zwickten sich, um sich wach zu halten; aller Augen waren dabei auf den Huixáchi-Hügel gerichtet, und man betete um das Auflodern des Neuen Feuers, welches ihnen sagte, daß die Götter die schlimmste aller Heimsuchungen noch einmal aufgeschoben hatten.

Der in unserer Sprache Huixáchtlan genannte Hügel liegt auf dem vorspringenden Bergzug zwischen Texcóco-und Xochimilco-See, südlich der Stadt Ixtapalápan. Der Name geht auf das Dickicht von Huixáchi-Sträuchern zurück, welche um diese Zeit der Jahreswende gerade ihre winzigen gelben Blüten öffneten, die einen unverhältnismäßig starken und betäubend süßlichen Duft verströmten. Ansonsten zeichnet den Hügel nichts Besonderes aus, war er wirklich nur ein kleiner Erdbuckel, verglichen mit den weiter entfernten Bergen. Doch unversehens aus dem Flachland um die Seen herum aufsteigend, war er hoch genug und lag er auch nahe genug, daß er von allen Einwohnern der am See gelegenen Gemeinwesen gesehen werden konnte – bis hin nach Texcóco im Osten und Xaltócan im Norden – und das war der Grund, warum man ihn irgendwann in der Frühzeit unserer Geschichte einmal erkoren hatte, als Stätte der Neufeuer-Zeremonie zu dienen.

Als wir den Pfad hinanstiegen, welcher sich sanft bis zum Scheitel des Hügels in die Höhe schraubt, ging ich dicht genug hinter Motecuzóma her, um ihn besorgt murmeln und leise zu einem seiner Berater sagen zu hören: »Die Chiquacéntetl wird doch heute nacht aufgehen, oder?«

Der Weise Mann, ein ältlicher Astronom, der allerdings noch sehr gut sehen konnte, sagte achselzuckend: »Bisher hat sie es immer getan, Hoher Gebieter. Nichts in meinen Beobachtungen deutet darauf hin, daß sie es nicht immer tun wird.«

Chiquacéntetl bedeutet soviel wie Sechsergruppe. Motecuzóma sprach also von jener dicht beieinander stehenden Gruppe von sechs schwach leuchtenden Sternen, deren Aufstieg am Himmel zu beobachten wir hergekommen waren – jedenfalls hofften wir, sie zu sehen. Der Astronom, dessen Aufgabe darin bestand, Dinge wie Sternenbewegungen zu errechnen und vorauszusagen, sprach so zuversichtlich, daß jedermanns Befürchtungen zerstreut wurden. Auf der anderen Seite war der alte Mann bekannt dafür, nicht an die Religion zu glauben und in dieser Beziehung auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er hatte schon so manchen Priester erbost indem er mit einer Entschiedenheit wie auch gerade jetzt wieder sagte: »Kein Gott von all den uns bekannten Göttern hat jemals bewiesen, daß er die Macht hätte, den geordneten Gang der Himmelskörper unterbrechen zu können.«

»Wenn die Götter sie dort hingesetzt haben, alter Ungläubiger«, erklärte einer der Seher bissig, »können die Götter mit ihnen umspringen, wie sie wollen. Nur haben sie in all den Jahren, da wir den Himmel beobachten, noch keinerlei Anzeichen erkennen lassen, daß sie das auch wollen. Doch gleichviel: Es geht weniger um die Frage, ob die Chiquacéntetl aufgeht, als vielmehr darum, ob die Sechsergruppe genau um Mitternacht an der richtigen Stelle am Himmel aufgeht.«

»Was nicht so sehr von den Göttern abhängt«, erklärte der Astronom trocken, »als vielmehr von dem Zeitgefühl des Priesters, welcher die Mitternachtstrompete erschallen läßt, und ich wette, daß er schon lange vorher betrunken sein wird. Doch was ich noch sagen wollte, Freund Zauberer, wenn Ihr Eure eigenen Prophezeiungen immer noch auf das sogenannte Sechsergestirn gründet, überrascht es mich nicht, daß Ihr Euch so oft irrt. Wir Astronomen wissen schon lange, daß es sich nicht um eine Sechsergruppe handelt, sondern um ein Chicóntetl, eine Siebenergruppe.«

»Ihr wagt es, die Richtigkeit der Seher-Bücher anzuzweifeln?« ereiferte der Seher sich speichelsprühend. »In allen steht und hat immer gestanden, daß es sich um ein Chiquacéntetl handelt.«

»Deshalb sprechen auch die meisten Menschen von einer Sechsergruppe. Der Himmel muß schon klar sein, und man muß auch ein sehr scharfes Auge haben, sie zu sehen – aber es befindet sich in der Tat ein blasser siebter Stern in dieser Gruppe.«

»Werdet Ihr nie mit Euren unehrerbietigen Verdächtigungen aufhören?« knurrte der andere. »Ihr wollt mich nur irremachen, Zweifel auf meine Vorhersagen werfen und meinen ehrwürdigen Beruf in Verruf bringen.«

»Nur mit Tatsachen, ehrwürdiger Zauberer«, erklärte der Astronom. »Nur mit Tatsachen.«

Motecuzóma gluckste angesichts dieses Wortgefechts vor Vergnügen und schien nicht mehr besorgt, was die Nacht bringen werde. Dann entfernten die drei Männer sich, und ich konnte nicht mehr hören, was sie weiter sprachen, als wir den Scheitel des Huixáchi-Hügels erreichten.

Eine Reihe von Jungpriestern war vor uns dorthingezogen und hatte alles vorbereitet. Säuberlich aufgeschlichtet lag ein Stapel von Kienholzfackeln da, ein hoher Haufen Anmachholz und dicke Scheite, welche das Signalfeuer abgeben sollten. Des weiteren lagen Dinge zum Feuermachen bereit: ein Feuerbohrer und die Unterlage, leicht entflammbarer Zunder, fein zerfaserte Borke, ölgetränkte Baumwollbäusche. Der für diese Nacht vorgesehen Xochimíqui, ein wohlgestalter junger Krieger, der vor kurzem in Texcála gefangengenommen worden war, lag bereits nackt mit durchgedrücktem Rücken auf dem Opferstein. Da es unumgänglich war, daß er während der gesamten Zeremonie still liegen blieb und sich nicht rührte, war ihm ein Getränk mit irgendeinem nur den Priestern bekannten Betäubungsmittel eingegeben worden. Infolgedessen lag er ganz entspannt mit geschlossenen Augen und lockeren Gliedern da; selbst sein Atem war kaum zu hören.

Das einzige bißchen Helligkeit stammte von den Sternen und dem schmalen Mond in der Höhe; und der Mondschein ließ den See zu unseren Füßen aufschimmern. Unsere Augen hatten sich allerdings mittlerweile so sehr an das Dunkel gewöhnt daß wir Faltenwurf und Gestalt des Landes ringsum erkennen konnten: Städte und Ortschaften lagen wie ausgestorben da; dabei war man dort hellwach und wartete ebenso angespannt wie ängstlich auf das, was kommen sollte. Über dem östlichen Horizont lag eine Wolkenbank, und so dauerte es eine Zeitlang, bis die heiß erwarteten und herbeigeflehten Sterne dahinter aufstiegen und sich zeigten. Doch endlich erschienen sie, eine blasse Sternengruppe, und gleich darauf der leuchtend rote Stern, welcher ihr immer folgt. Wir warteten, wie sie langsam den Himmel hinaufwanderten, und warteten atemlos, doch verschwanden sie unterwegs nicht, stoben nicht auseinander und wichen auch sonst nicht von ihrer gewohnten Bahn ab. Endlich atmeten die auf dem Hügel Versammelten vernehmlich auf, als der die Zeit zählende Priester in sein Muschelhorn stieß, um Mitternacht zu verkünden. Etliche Leute erklärten leise: »Sie stehen an der richtigen Stelle und kommen zur richtigen Zeit.« Der Oberste Priester aller versammelten Priester, der Hohepriester Huitzilopóchtlis, befahl dann mit weithin hallender Stimme: »Das Neue Feuer – es werde entzündet!«

Ein Priester legte die Bohrunterlage auf die Brust des rücklings daliegenden Xochimíqui und häufte locker den Zunder darauf. Ein zweiter Priester auf der anderen Seite des Steins lehnte sich mit dem Bohrstab darüber und fing an, den Stab zwischen den Handflächen zu zwirbeln. Aufgeregt warteten wir Zuschauer alle, denn immer noch konnten die Götter uns den Lebensfunken versagen. Doch dann stieg ein feines Rauchwölkchen vom Zunder auf. Gleich darauf glomm es zaghaft auf. Der Priester, welcher die Unterlage mit einer Hand festhielt, benutzte die andere, um die winzigen Flämmchen weiter anzufachen und ihnen Nahrung zu geben: ölgetränkte Baumwollbäusche, trockene Borkenfasern – und dann war es in der Tat eine zwar noch kleine, flackernde, aber unverkennbar eine Flamme. Der Xochimíqui schien aus seinem Schlummer zu erwachen; seine Augen öffneten sich weit genug und erblickten das erwachende Neufeuer auf seiner Brust. Aber er sollte nicht lange hinsehen.

Behende zog einer der Priester die Unterlage mit dem Feuer darauf beiseite. Ein anderer zückte sein Messer und vollführte seinen Schnitt mit solcher Kraft, daß der junge Mann kaum zuckte. Als der Brustkorb freigelegt war, griff einer der Priester hinein, löste das pochende Herz und hob es heraus, während der andere die flammende Unterlage anstelle des Herzens in die klaffende Wunde legte und gleich darauf rasch, aber geübt mehr und immer mehr Baumwolle und Borke darauf häufte. Als in der Brust des sich nur noch schwach regenden Opfers eine nunmehr ansehnliche Flamme aufloderte, legte der andere Priester das Herz vorsichtig in die Mitte des Feuers. Für einen Augenblick wurden die durch das Herzblut gedämpften Flammen wieder kleiner, um gleich darauf wieder kraftvoll aufzulodern, während das Herz darin zischte.

Ein Schrei entrang sich allen Umstehenden. »Das Neue Feuer ist entzündet!« ertönte es, und die Menge, welche bis zu diesem Augenblick nahezu in Regungslosigkeit verharrt hatte, geriet in Bewegung. Je nach Rang ergriff ein Priester nach dem anderen eine der Fackeln, die aufgestapelt dalagen, hielt sie an die rasch verschmurgelnde Brust des Xochimíqui, um sie am Neufeuer zu entzünden, und trug sie dann im Laufschritt davon. Der erste benutzte seine Fackel, um die wartende Pyramide aus Holz in Brand zu setzen, auf daß jedes Auge, welches aus noch so großer Ferne auf den Huixáchi-Hügel gerichtet war, den Holzstoß aufflammen sah und wußte: Alle Gefahr war vorüber, mit Der Einen Welt war immer noch alles in Ordnung. Mir war, als hörte ich die Hochrufe, das Lachen und das glückliche Geschluchze, welches von den Wartenden auf den Dächern aller Orte am See aufstieg. Dann liefen die Priester den Weg entlang, welcher den Hügel hinunterführte, und die Fackeln loderten hinter ihnen wie in Flammen stehendes Haar. Am Fuße des Hügels warteten weitere Priester, welche aus den Gemeinwesen von fern und nah hier zusammengekommen waren. Sie ergriffen die Fackeln und liefen auseinander, um die kostbaren Brände des Neufeuers in die Tempel der verschiedenen Städte, kleineren Orte und Dörfer zu tragen.

»Nimm deine Maske ab, Nochipa«, gebot ich meiner Tochter. »Jetzt darfst du das tun. Nimm sie ab, dann kannst du besser sehen.«

Seite an Seite standen wir auf der Nordseite der Hügelkuppe und sahen zu, wie die winzigen Brände und hellen Funken uns zu Füßen nach allen Richtungen auseinanderfuhren. Dann kam es zu anderen lautlosen Bewegungen des Feuers. Die nächstgelegene Stadt, Ixtapalápan, war die erste, in deren Haupttempel das Feuer wieder anging, dann kam Mexicaltzinco. Und in jedem Tempel warteten zahllose Einwohner der jeweiligen Stadt, welche ihre eigenen Fackeln ins Tempelfeuer hielten und liefen, die längst erkalteten Herdfeuer ihrer Familien und Nachbarn wieder zu entfachen. So wurde jede Fackel, die sich flackernd vom Huixachi-Hügel entfernte, zu einem kaum noch erkennbaren kleinen Lichtpunkt in der Ferne, erblühte zu einem Tempelfeuer, welches seinerseits nach allen Seiten Funken versprühte, und jeder davonstiebende Funke ließ eine Spur von regungslosen Funken hinter sich. Dieses Vorgehen wiederholte sich immer und immer wieder, in Coyohuácan, in der großen Stadt Tenochtitlan, in weiter entfernten und weiter auseinanderliegenden Gemeinden, bis die gesamte riesige Seensenke zu neuem Licht und neuem Leben erwacht war. Es war ein herzerhebender, spannender und erheiternder Anblick – und ich bemühte mich, ihn mir dort einzuprägen, wo meine glücklicheren Erinnerungen saßen, denn ich konnte nicht hoffen, einen solchen Anblick je wieder zu erleben.

Als läse sie meine Gedanken, sagte meine Tochter leise: »Ach, hoffentlich lebe ich solange, daß ich eine alte Frau werde. Wie gern würde ich dieses Wunder nächstesmal noch einmal erleben.«

Als Nochipa und ich uns schließlich wieder dem großen Feuer zuwandten, hockten in seiner Nähe vier Männer und berieten sich sehr ernsthaft: der Verehrte Sprecher Motecuzóma, der Oberpriester Huitzilopóchtlis, der Seher und der Astronom, von denen ich schon vorher gesprochen habe. Sie beratschlagten, welche Worte der Uey-Tlatoáni am nächsten Tag sprechen sollte, um zu verkünden, was das Neue Feuer für die kommenden Jahre versprochen habe. Der Seher, welcher über etlichen Schaubildern hockte, die er mit einem Stecken in den Boden geritzt hatte, hatte offensichtlich gerade eine Prophezeiung von sich gegeben, der gegenüber der Astronom Zweifel anmeldete, denn dieser sagte spöttisch:

»Keine Trockenzeiten mehr, kein Elend, ein fruchtbares Schock Jahre, das da auf uns zukommt. Sehr tröstlich, Freund Zauberer. Aber seht Ihr denn überhaupt keine Zeichen von böser Vorbedeutung am Himmel auftauchen?«

Bissig versetzte der Seher: »Der Himmel ist Eure Sache. Ihr zeichnet die Karten, und ich komme dazu und werde verkünden, was die Karten uns zu sagen haben.«

»Ihr würdet mehr Anregung darin finden«, erklärte der Astronom erbost, »wenn Ihr ab und zu einmal zu den Sternen hinaufblicken würdet, statt auf die albernen Kreise und Winkel, die Ihr zeichnet.« Er zeigte auf die Krakel auf der Erde. »Dann lest Ihr also nichts von einer bevorstehenden Yqualóca?«

Das Wort bedeutet Sonnenfinsternis. Der Seher, der Priester und der Verehrte Sprecher wiederholten gemeinsam und mit unsicherer Stimme: »Sonnenfinsternis?«

»Eine Sonnenfinsternis!« sagte der Sternkundige. »Selbst dieser alte Narr könnte sie vorhersehen, wenn er sich nur einmal mit unserer Vergangenheit, mit unserer Geschichte beschäftigte, statt so zu tun, als kennte er die Zukunft.«

Der Seher saß da und schluckte; er war sprachlos. Motecuzóma funkelte ihn an, und der Sternkundige fuhr fort:

»Aus den Niederschriften geht hervor, Verehrter Sprecher, daß die Maya des Südens im Jahre Zehn Haus eine Yqualóca hungrig nach Tonatiu schnappen sahen. Im nächsten Mond, am Tage Sieben Eidechse, werden seit jenem Vorkommnis genau achtzehn Sonnenjahre und elf Tage vergangen sein. Und nach den Unterlagen, welche ich und meine Vorgänger in den Landen im Norden und im Süden zusammengetragen haben, kommt es irgendwo in der Der Einen Welt in regelmäßigen Abständen zu einer solchen Verfinsterung der Sonne. Ich kann mit Sicherheit vorhersagen, daß Tonatíu am Tage Sieben Eidechse wieder von einem Schatten verfinstert werden wird. Da ich kein Zauberer bin, kann ich Euch unglücklicherweise nicht sagen, wie nachhaltig diese Yqualóca sein wird und in welchen Gegenden man sie wird sehen können. Doch diejenigen, die Zeuge davon werden, könnten, da sie so bald nach der Neufeuer-Zeremonie auftritt, ein ganz besonders schlimmes Vorzeichen darin sehen. Ich würde vorschlagen, Hoher Gebieter, daß alle Menschen vorher von dem Ereignis unterrichtet und vorgewarnt werden, auf daß ihre Angst nicht zu groß werde.«

»Du hast recht«, sagte Motecuzóma. »Ich werde Schnellboten in alle Lande aussenden. Selbst in die unserer Feinde, damit sie das Zeichen nicht dahingehend deuten, daß unsere Macht im Sinken begriffen sei. Ich danke Euch, Herr Astronom. Und was Euch betrifft …«, kalt wandte er sich dem zitternden Seher zu. »Auch noch der weiseste und tüchtigste aller Seher kann einem Irrtum erliegen, und das ist verzeihlich. Einer jedoch, der überhaupt nichts versteht, stellt eine echte Gefahr für das Volk dar, und das ist unerträglich. Sobald wir in die Stadt zurückgekehrt sind, melde dich zur Hinrichtung bei der Palastwache.«

Am Morgen des nächsten Tages, Zwei Rohr, dem ersten Tag des neuen Jahres gleichen Namens – Zwei Rohr –, war auf dem Markt von Tlaltelólco wie auf jedem anderen Markt Der Einen Welt Hochbetrieb und wimmelte es dort von Menschen, welche neue Haushaltsgeräte kauften, um die alten zu ersetzen, die ja zerbrochen worden waren. Wiewohl die Menschen nach der Entzündung des Neuen Feuers kaum noch Schlaf bekommen haben konnten, waren alle fröhlich und heiter, innerlich erhoben sowohl von der Tatsache, daß sie wieder ihre besten Kleider anziehen durften, wie von der Tatsache, daß die Götter es für richtig befunden hatten, sie noch einmal davonkommen zu lassen.

Um die Mittagszeit hielt der Uey-Tlatoáni von der Spitze der Großen Pyramide herab die traditionelle Ansprache an sein Volk. Zum Teil gab er weiter, was der inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilende Seher vorausgesagt hatte – gutes Wetter, reiche Ernten und so fort –, doch versetzte er den allzu süßen Honig klug mit bitteren Warnungen, daß die Götter nur dann fortfahren würden, sich den Mexíca gegenüber wohltätig zu verhalten, wie diese Götter ihr Wohlgefallen an den Mexíca fänden. Deshalb, so erklärte Motecuzóma, müßten alle Männer hart arbeiten, alle Frauen sparsam sein, alle Kriege machtvoll geführt und zu gebotener Zeit alle Opfer und Opfergaben dargebracht werden. Alles in allem erfuhren die Menschen, daß das Leben weitergehen würde, wie es das immer getan hatte. Motecuzómas Ansprache enthielt nichts Neues und oder besonders Aufschlußreiches, außer, daß er – beiläufig, als habe er dafür gesorgt, daß es zur öffentlichen Belustigung geschehe – die bevorstehende Sonnenfinsternis ankündigte.

Während er vom Gipfel der Pyramide herab noch redete, verließen seine Schnellboten Tenochtltlan nach allen Himmelsrichtungen. Sie trugen die Nachricht von der bevorstehenden Sonnenfinsternis zu allen Herrschern, Tecútlis und Gemeindeältesten und strichen die Tatsache heraus, daß die Götter unseren Astronomen vorzeitig von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt hätten, auf daß sie weder schlechte noch gute Folgen zeitige und keine Unruhe verursache. Doch daß Menschen gesagt wird, sie sollten einem furchterregenden Phänomen keinerlei Aufmerksamkeit schenken, ist eine Sache; eine andere ist es, wenn diese Menschen selbigem Ereignis gegenüberstehen.

Selbst ich, der ich doch einer der ersten gewesen war, die von der bevorstehenden Yqualóca erfahren hatten, konnte sie nicht mit gähnendem Gleichmut betrachten, als sie schließlich stattfand. Gleichwohl mußte ich so tun, als beobachtete ich es mit Ruhe und wissenschaftlicher Gelassenheit, denn sowohl Nochipa und Béu als auch unsere beiden Diener standen an diesem Tag, Sieben Eidechse, mit mir auf unserem Dachgarten, und ich mußte ihnen allen ein Beispiel an Furchtlosigkeit sein.

Ich weiß nicht, wie es in anderen Teilen Der Einen Welt dabei zuging, aber hier in Tenochtítlan schien Tonatíu vollständig verschluckt zu werden. Wenn es wohl auch nur wenige Augenblicke dauerte, uns wollte es wie eine Ewigkeit vorkommen. Der Tag war wolkenbedeckt, die Sonne nur eine blasse und mondähnliche Scheibe, als sie noch voll erstrahlte, und wir konnten, ohne geblendet werden, zu ihr hinaufblicken. Wir konnten sehen, wie sie zuerst am Rand angenagt wurde wie eine Tortilla, und dann beobachten, wie das über ihr ganzes Antlitz weiterging. Der Tag verdunkelte sich, die Frühlingswärme verflüchtigte sich, und Winterkälte strich über die Welt. Vögel umkreisten verwirrt unser Dach, und wir hörten die Hunde unserer Nachbarn heulen.

Der Halbkreis, welcher aus Tonatíu herausgebissen wurde, wurde größer und immer größer, bis zuletzt sein ganzes Antlitz verschluckt und so dunkel wurde wie das Gesicht eines Mannes aus dem Chiapa-Land. Einen Augenblick war die Sonne womöglich noch dunkler ais die sie umgebenden Wolken, gleichsam als starrten wir durch ein Loch im Tag in die Nacht hinein. Dann verfärbten sich die Wolken, der Himmel und die ganze Welt nahmen die gleiche dunkle Färbung dieses Nachtdunkels an, und Tonatíu war unseren Blicken vollständig entschwunden.

Das einzig tröstliche Licht, welches man von unserem Dach herunter sah, waren die wenigen flackernden Flammen, die vor den Tempeln brannten, sowie ein rosiger Schimmer unter dem Rauch, welcher über dem Popocatépetl stand. Die Vögel hörten auf, hin- und herzuschießen, und nur ein scharlachköpfiger Fliegenschnäpper fuhr zwischen mir und Béu hernieder und flüchtete sich in einen der Büsche unseres Dachgartens, barg den Kopf unter seinen Flügeln und schlief offenbar ein.

Während dieser langen Augenblicke, da der Tag Nacht war, wünschte ich fast, ich könnte meinen eigenen Kopf irgendwo verstecken. Von den anderen Häusern in der Straße hörte ich Schreie, Gestöhn und Gebete. Doch Béu und Nochipa standen lautlos da, und nur Stern Sänger und Türkis wimmerten unterdrückt; offenbar ging von meiner unerschütterlichen Haltung eine beruhigende Wirkung aus.

Dann zeigte sich wieder eine schmale Sichel am Himmel und wurde langsam breiter und heller. Der Bogen der sonnenverschlingenden Yqualóca zog sich widerstrebend zurück und entließ Tonatíu aus ihren Fängen. Die schmale Sichel wurde dicker und der weggebissene Teil kleiner, bis Tonatíu wieder eine Scheibe war und ganz und die Welt wieder im Tageslicht dalag. Der Vogel auf dem Zweig neben mir hob sein Köpfchen, blickte sich drollig verwirrt um und schwirrte davon. Meine Frauen und Diener wandten mir ihre bleichen Gesichter und ihr zitterndes Lächeln zu.

»Das ist alles«, erklärte ich herrisch. »Es ist vorüber.« Damit stiegen wir hinunter und nahmen unsere gewohnten Tätigkeiten wieder auf.

Ob zu recht oder zu unrecht, viele Menschen behaupteten hinterher, der Verehrte Sprecher habe mit Bedacht die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, diese Sonnenfinsternis sei kein böses Vorzeichen. Denn nur wenige Tage darauf wurde der ganze Bereich der Seen von einem Erdstoß heimgesucht. Zwar handelte es sich nur um ein leichtes Beben, verglichen mit dem, welches Zyanya und ich einst durchstanden hatten, und wenn mein Haus auch erzitterte, wie alle anderen auch, hielt es doch so unerschütterlich stand, wie es der Überflutung standgehalten hatte. So gering ich persönlich es auch achtete, gehörte dieses Beben doch zu den heftigsten, zu welchen es jemals in diesen Landstrichen gekommen war, und viele Häuser in Tenochtítlan, Tlácopan, Texcóco und den kleineren Gemeinden stürzten zusammen und begruben viele der Bewohner unter sich, daß sie starben. Ich glaube, insgesamt kamen etwa zweitausend Menschen um, und der Zorn der Überlebenden auf Motecuzóma machte sich so lautstark Luft, daß er die darin liegende Warnung nicht in den Wind schlagen konnte. Womit ich nicht sagen will, daß er irgendwelche Entschädigungen zahlte. Vielmehr forderte er alle Menschen auf, sich im Herzen Der Einen Welt zu versammeln und Zeuge zu werden, wie jener Sternkundige, welcher die Sonnenfinsternis vorhergesagt hatte, öffentlich erwürgt wurde.

Doch damit hatten die schlimmen Vorzeichen, falls es wirklich Zeichen mit böser Vorbedeutung waren, noch kein Ende. Einige, das sage ich mit Entschiedenheit, waren es jedenfalls nicht. So fielen zum Beispiel in diesem einen Jahr Zwei Rohr mehr Sterne vom Himmel als in allen Jahren zuvor zusammengenommen, in denen unsere Sternkundigen solche Ereignisse gezählt hatten. In all diesen achtzehn Monden kam jedesmal, wenn ein Stern herabfiel, jeder, der es sah, in den Palast oder schickte einen Boten dorthin, es zu melden. Motecuzóma selbst durchschaute die trügerische Zählung, welche auf diesem Umstand beruhte, nicht, und da sein Stolz ihm nicht gestattete, sich noch einem weiteren Vorwurf auszusetzen, seine Untertanen in die Irre geleitet zu haben, ließ er diese offenbare Flut von fallenden Sternen, als die Zählungen erschreckende Ausmaße annahmen, öffentlich bekanntmachen.

Dieses fruchtlose Spiel, gefallene Sterne zu zählen, hätte auch unaufhörlich so weitergehen können, wäre unser Volk im folgenden Jahr, Drei Messer, nicht durch eine ganz andere Art von bösen Vorzeichen abgelenkt worden, welche wiederum mit Motecuzóma in Verbindung gebracht wurden. Seiner unverheirateten Schwester Pápantzin, der Dame Früh Vogel, beliebte es, in dieser Zeit zu sterben. An ihrem Tod war nichts weiter Bemerkenswertes, nur daß sie ziemlich jung starb und, wie es hieß, von einer typischen und unauffälligen Frauenkrankheit dahingerafft wurde. Was so unheilverkündend daran schien, war der Umstand, daß zwei oder drei Tage nach ihrer Bestattung zahlreiche Bürger von Tenochtitlan behaupteten, die Dame durch die Nacht wandern gesehen und beobachtet zu haben, wie sie die Hände rang und klagend Warnungen ausstieß. Den Berichten jener zufolge, welche ihr begegnet sein wollten – und deren Zahl von Nacht zu Nacht wuchs –, sei die Dame Papan ihrem Grab entstiegen, um eine Botschaft zu übermitteln. Und diese Botschaft aus der Gegenwelt laute dahingehend, sie habe große Eroberungsheere aus dem Süden auf Tenochtítlan vorrücken sehen.

Insgeheim kam ich zu dem Schluß, daß den Gerüchtemachern nichts weiter zuteil geworden war als der vertraute und leidige Anblick der Weinenden Frau, welche ewig klagend die Hände ringt, und sie ihre ermüdende alte Klage fälschlich oder willentlich fehlgedeutet hätten. Motecuzóma konnte jedoch nicht so ohne weiteres das Gespenst seiner eigenen Schwester leugnen, welches gesehen worden sein sollte. Er konnte dem zunehmenden Getuschel nur dadurch ein Ende bereiten, daß er befahl, Pápans Grab zu öffnen und bei Nacht zu beweisen, daß sie friedlich darin liege und durchaus nicht klagend durch die Stadt ziehe.

Ich war nicht unter jenen, welche diesen nächtlichen Ausflug mitmachten, doch die unheimliche Geschichte dessen, was bei dieser Gelegenheit geschah, war später in aller Munde. Motecuzóma begab sich in Begleitung einiger Priester und etlicher Höflinge als Zeugen zum Grab. Die Priester hoben die Erde aus, welche über sie geschaufelt worden war, und hoben den prachtvoll in Tücher eingewickelten Leichnam heraus; Motecuzóma stand, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, dabei. Die Priester wickelten die Tücher vom Kopf der Toten ab, um sich zu vergewissern, daß es sich auch wirklich um die Dame Papan handelte. Sie stellten fest, daß die Verwesung noch nicht sonderlich fortgeschritten war und kein Zweifel daran herrschen könne, daß es sich wirklich um die Dame Früh Vogel handelte und daß selbige wirklich tot war.

Dann, so heißt es, habe Motecuzóma einen Schreckensruf ausgestoßen, und selbst die unerschütterlichen Priester seien zurückgewichen, als die Lider der Dame sich langsam öffneten und ein unirdisches, grünlichweißes Leuchten von dort ausgegangen sei, wo zuvor ihre Augäpfel gesessen hätten. Nach den Berichten, die umgingen, habe sie starr ihren Bruder angesehen, welcher daraufhin, von Entsetzen gepackt, eine lange, aber unzusammenhängende Rede an sie gehalten habe. Manche behaupteten, er habe sich bei ihr entschuldigt, sie in ihrer Ruhe gestört zu haben. Andere hinwiederum, es sei ein Schuldgeständnis gewesen – und behaupteten hinterher, die Krankheit, welche Motecuzómas – wie es hieß: jungfräuliche – Schwester dahingerafft habe, sei in Wirklichkeit eine Fehlgeburt mit tödlichem Ausgang gewesen.

Von dem, was die Leute hinterher redeten, einmal abgesehen, bezeugten alle Anwesenden, der Verehrte Sprecher habe sich schließlich umgedreht und sei von dem offenen Grabe geflohen

– und zwar zu früh, um zu erkennen, daß die schimmernden grünlichweißen Augen der Leiche angefangen hätten, sich zu bewegen, sich zu entringeln und ihre eingefallenen Wangen herunterzugleiten. Dabei hatte es sich keineswegs um etwas Unnatürliches, sondern nur um zwei Petlazolcóatl gehandelt jene langen, mit unendlich vielen Beinen bewehrten, grauslich aussehenden Hundertfüßler, die – den Glühwürmchen gleich – im Dunkeln eigentümlich hell leuchteten. Zwei von diesen Geschöpfen hatten sich offensichtlich in dem Leichnam verkrochen, waren durch die am leichtesten zugänglichen Öffnungen hineingelangt, hätten sich jeder in einer Augenhöhle zusammengeringelt, um es sich darin Wohlergehen zu lassen und sich am Kopf der Dame gütlich zu tun. In dieser Nacht seien sie dann durch die unerwartete Bewegung langsam und blind aus den Höhlen gekrochen, wo zuvor die Augäpfel gesessen, hätten sich dann zwischen ihren Lippen gewunden und seien wieder verschwunden.

Pápantzin wurde, das ergeben zumindest die Unterlagen, nie wieder in der Öffentlichkeit gesichtet, doch wurde von anderen merkwürdigen Begebenheiten geredet, welche soviel zitternde Furcht erregten, daß der Staatsrat eine besondere Untersuchungskommission ernannte, um herauszufinden, was es mit der Sache auf sich habe. Soweit ich mich erinnere, konnte keine davon bestätigt werden, und die Mehrzahl davon wurde als Hirngespinste von Leuten abgetan, welche die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten, oder als Halluzinationen schwer Betrunkener.

Nachdem dieses aufregende Jahr geendet hatte, seine hohlen Tage vorüber waren und das nächstfolgende Jahr – Vier Haus – begann, traf unerwartet der Verehrte Sprecher Nezahualpíli von Texcóco ein. Wie es hieß, sei er einzig zu dem Zweck nach Tenochtítlan gekommen, um an unseren Feierlichkeiten zu Der Baum Wird Aufgerichtet teilzunehmen, da er die Art und Weise, wie dieses Fest in Texcóco begangen wurde, schon zu häufig erlebt habe. In Wahrheit kam er jedoch geheimer Beratungen mit Motecuzóma wegen. Doch hatten sich die beiden Herrscher nur einen kleinen Teil des Vormittags über hinter verschlossenen Türen beraten, als sie befahlen, daß noch ein dritter hinzugezogen werde. Zu meiner Überraschung war ich es, nach dem sie schickten.

Im vorgeschriebenen Sackkleid betrat ich den Thronsaal und gebärdete mich womöglich noch unterwürfiger, als im Protokoll vorgesehen, da an diesem Morgen ja zwei Verehrte Sprecher hier versammelt waren. Ich war einigermaßen erschrocken zu sehen, daß Nezahualpíli fast einen Kahlkopf bekommen hatte und dasjenige an Haar, was ihm noch verblieben war, ganz grau war. Erst als ich mich schließlich vor dem Podest mit den beiden Icpaltin-Thronstühlen darauf aufrichtete, die nebeneinander zwischen dem goldenen und dem silbernen Gong aufgestellt waren, erkannte der Uey-Tlatoáni von Texcóco mich. Geradezu hocherfreut sagte er:

»Mein ehemaliger Höfling Kopf Neiger! Mein einstiger Schreiber und Bildermacher Maulwurf! Mein einst so tapferer Krieger Dunkle Wolke!«

»Dunkle Wolke, wahrhaftig«, knurrte Motecuzóma. Das war das einzige Wort der Begrüßung, welches er an mich richtete; sonst bedachte er mich nur mit einem finsteren Blick. »Dann kennt Ihr diesen Elenden also, mein Herr Freund?«

»Ayyo, es hat Zeiten gegeben, da wir uns sehr nahegestanden haben«, erklärte Nezahualpíli und lächelte gutmütig. »Als Ihr von einem Adlerritter Mixtli spracht, brachte ich ihn nicht damit in Verbindung. Dabei hätte ich mir denken können, daß er von einer Ehre zur anderen aufsteigen würde.« Und zu mir gewandt, sagte er: »Ich begrüße dich und beglückwünsche dich, Ritter des Adlerordens.«

Ich hoffe, daß ich murmelnd die geziemende Antwort darauf vorgebracht habe. Für mich war ich nämlich froh darüber, den langen Sack zu tragen, denn meine Knie schlugen leicht zusammen.

Motecuzóma fragte Nezahualpíli: »Ist dieser Mixtli immer ein Lügner gewesen?«

»Ein Lügner? Mitnichten! Niemals, mein Herr Freund, darauf verpfände ich mein Wort. Mixtli hat immer die Wahrheit gesprochen, wie er sie sah. Unseligerweise hat seine Sicht der Dinge nicht immer im Einklang mit der anderer Leute gestanden.«

»Die eines Lügners aber auch nicht«, knurrte Motecuzóma mit zusammengebissenen Zähnen. Dann schrie er förmlich, als er zu mir sagte: »Du hast uns alle glauben machen, es stehe nichts zu befürchten von …«

Nezahualpíli fiel ihm in die Rede und sagte beschwichtigend: »Gestattet, mein Herr Freund. – Mixtli?«

»Ja, Verehrter Sprecher?« sagte ich heiser. In welchen Schwierigkeiten genau ich mich befand, wußte ich nicht, doch daß ich in Schwierigkeiten war, dessen war ich mir nur allzu bewußt.

»Es sind jetzt über zwei Jahre her, daß die Maya Schnellboten ausschickten in diese Lande, um von merkwürdigen Dingen zu künden, welche sie vor den Küsten der Uluümil Kutz genannten Halbinsel gesichtet hatten – schwimmende Häuser, wie sie sagten. Erinnerst du dich noch daran?«

»Lebhaft, Hoher Gebieter«, sagte ich. »So wie ich die Botschaft deutete, hatten sie einen gewissen Riesenfisch und einen gewissen Flügelfisch gesehen.«

»Ja, das war die beruhigende Erklärung, die euer Verehrter Sprecher Motecuzóma in allen Landen verbreiten ließ und die von allen Menschen geglaubt wurde – zu ihrer unendlichen Erleichterung.«

»Und zu meiner unendlichen Verlegenheit«, erklärte Motecuzóma verbissen.

Nezahualpíli machte eine beschwichtigende Handbewegung in seine Richtung und fuhr fort, zu mir zu sprechen. »Jetzt erst kommt es heraus, daß die Maya, welche diese Erscheinung sahen, Bilder davon malten, junger Mixtli, doch erst jetzt ist eines davon in meinen Besitz gelangt. Würdest du das Dargestellte immer noch einen Fisch nennen?«

Er reichte mir ein ziemlich mitgenommenes Stück Borkenpapier herab, welches ich mir genau betrachtete. Zu sehen war darauf eine typische Mayazeichnung, zu klein und im Stil zu verschnörkelt, als daß ich mehr tun konnte als erraten, was es wohl darstellen solle. Dennoch mußte ich sagen: »Ich gestehe, meine Hohen Gebieter, daß dies hier mehr einem Haus ähnelt denn dem riesigen Fisch, für welchen ich es hielt.«

»Oder dem Flügelfisch?« fragte Nezahualpíli.

»Nein, Hoher Gebieter. Die Flügel des Fisches stehen seitwärts ab. Soweit ich erkenne, scheint dieses Ding hier die Flügel auf dem Rücken zu tragen. Oder auf dem Dach.«

Er zeigte mit den Fingern darauf: »Und diese runden Punkte nebeneinander – zwischen den Flügeln oben und dem Dach unten. Wofür hältst du die?«

Voller Unbehagen sagte ich: »Es ist nach dieser rohen Zeichnung unmöglich, ganz sicher zu sein, aber ich würde vermuten, daß diese Punkte die Köpfe von Menschen darstellen sollen.«

Kläglich hob ich die Augen von dem Papier und blickte einem Verehrten Sprecher nach dem anderen gerade in die Augen. »Hohe Gebieter, ich nehme meine bisherige Deutung zurück. Als Entschuldigung kann ich nur vorbringen, daß ich höchst unvollständig unterrichtet worden war. Hätte ich damals dieses Bild gesehen, würde ich gesagt haben, daß die Maya zu Recht Angst hatten und uns anderen zu Recht eine Warnung haben zukommen lassen. Ich hätte gesagt, daß Uluümil Kutz von gewaltigen, bemannten und irgendwie mit Flügeln vorangetriebenen Acális besucht worden ist. Ich könnte weder sagen, welchem Volk die Männer angehören, noch woher sie kommen, nur daß sie Fremde und offensichtlich sehr tüchtig sind. Wenn sie derlei Kriegskanus zu bauen imstande sind, können sie auch Krieg führen – und zwar möglicherweise einen Krieg, schlimmer, als wir ihn jemals kennengelernt haben.«

»Na, also!« erklärte Nezahualpíli voller Befriedigung. »Selbst auf die Gefahr hin, sich den Unwillen seines Verehrten Sprechers zuzuziehen, schreckt Mixtli nicht davor zurück, die Wahrheit zu sprechen, wie er sie sieht – das heißt, wenn er sie sieht. Meine eigenen Seher und Sager lasen dieselben schlimmen Anzeichen heraus, als sie die Mayazeichnung sahen.«

»Wären diese Zeichen mit böser Vorbedeutung früher gedeutet worden«, murmelte Motecuzóma, »hätte ich mehr als zwei Jahre Zeit gehabt, die Küsten von Uluümil Kutz zu bemannen und zu befestigen.«

»Aber wozu?« fragte Nezahualpíli. »Wenn es den Fremden gefällt, hier zuzuschlagen – warum dann die nutzlosen Maya nicht die Hauptlast tragen lassen? Wenn sie jedoch, wie es aussieht, vom unendlichen Meer aus angreifen können, gibt es endlose Küsten, an welchen sie landen könnten, im Osten oder Norden, im Süden oder Westen. Wollte man alle Krieger aller Völker aufbieten, es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, jede verwundbare Küste zu verteidigen. Ihr tätet besser daran, Eure Verteidigungsstellungen in einem dichteren Ring und näher der Heimat anzulegen.«

»Ich?« fragte Motecuzóma. »Und was ist mit Euch?«

»Ah, ich werde tot sein«, erklärte Nezahualpíli, gähnte und streckte sich genüßlich. »Das haben mir meine Seher fest versichert, und darüber bin ich froh, gibt es mir doch Grund, meine letzten Jahre in Frieden und Ruhe zu verbringen. Von jetzt an bis zu meinem Tode werde ich keinen Krieg mehr führen. Und auch mein Sohn Schwarz Blume nicht, wenn er mir auf den Thron nachfolgt.«

Voller Unbehagen stand ich vor ihrem Podest, doch offenbar sahen sie mich schon gar nicht mehr oder hatten mich vergessen; ich erhielt kein Zeichen, daß ich entlassen sei.

Motecuzóma starrte Nezahualpíli an, und sein Gesicht lief dunkel an. »Ihr nehmt Texcóco und die Alcólhua aus dem Dreibund heraus? Herr Freund, ich möchte nur höchst ungern von Verrat und Feigheit sprechen.«

»Dann tut es auch nicht«, versetzte Nezahualpíli bissig. »Ich will damit nur sagen, daß wir unsere Kriegskraft für die vorhergesagte Landung bewahren werden – ja, bewahren müssen. Und wenn ich sage, wir, meine ich damit alle Völker in diesen Landen. Wir dürfen unsere Krieger und unsere Mittel nicht mehr verschwenden, indem wir uns gegenseitig bekämpfen. Alle Fehden und Eifersüchteleien müssen ausgesetzt werden und alle unsere Kräfte und alle unsere Heere zusammengenommen, um den Eindringling wieder hinauszuwerfen. So sehe ich das, im Lichte der Zeichen mit böser Vorbedeutung und der Schlüsse, welche meine Weisen Männer daraus ziehen. Damit werde ich die mir noch verbleibenden Tage zubringen, und nach mir wird Schwarz Blume dasselbe tun – sich für einen Waffenstillstand und gegenseitiges Füreinander-Einstehen aller Völker einsetzen, damit wir eine vereinte Abwehrfront bieten, wenn die Fremden kommen.«

»Alles schön und gut für Euch und Euren gegängelten Kronprinzen«, sagte Motecuzóma verletzend. »Wir jedoch sind die Mexíca! Seit wir uns an die Spitze des Dreibunds haben stellen und die Oberhoheit in Der Einen Welt haben erringen können, hat kein Fremder ohne unsere Erlaubnis seinen Fuß auf unseren Boden gesetzt. So soll es immer bleiben, und wenn wir allein gegen alle bekannten und unbekannten Völker kämpfen müssen, wenn alle unsere Verbündeten uns im Stich lassen oder sich gegen uns wenden.«

Ich bedauerte nicht wenig, daß Nezahualpílis Gesicht sich angesichts dieser unverhohlen zum Ausdruck gebrachten Geringschätzung nicht seinerseits verdunkelte. Er sagte fast traurig:

»Dann werde ich Euch von einer Legende erzählen, Herr Freund. Vielleicht habt ihr Mexíca sie vergessen, doch in den Archiven von Texcóco kann sie noch nachgelesen werden. Laut dieser Legende hatten eure Aztéca-Ahnen, als sie aus ihrer Heimat Aztlan im Norden aufbrachen und ihre jahrelange Wanderung begannen, welche hier endete, keine Ahnung, welchen Schwierigkeiten sie unterwegs begegnen würden. Sie wußten nur, daß sie möglicherweise auf so abweisende Länder und so unfreundliche Völker stoßen würden, daß es sie weiser dünken könnte, umzukehren und nach Aztlan zurückzukehren. Wider diese Ungewißheit wappneten sie sich, indem sie dafür sorgten, sich unter Umständen rasch und sicher zurückziehen zu können. An acht oder neun Orten, an denen sie sich zwischen diesem Seenbereich und Aztlan länger aufhielten, legten sie gewaltige Vorräte an Kriegsmaterial und Vorräten an und versteckten sie. Würden sie gezwungen, den Rückzug in die ursprüngliche Heimat anzutreten, konnten sie das Tempo dafür selbst bestimmen, waren wohl dafür gerüstet und reichlich mit Proviant ausgestattet. Oder sie konnten an jeder dieser vorbereiteten Stellungen nochmals kehrt machen und dem Feind trotzen.«

Motecuzóma riß Mund und Nase auf; offensichtlich hatte er von dieser Legende noch nie etwas gehört. Ich allerdings auch nicht. Nezahualpíli schloß:

»Zumindest heißt es so in der Legende. Leider wird darin nicht verraten, an welchen Orten diese geheimen Lager angelegt worden sind. Ich schlage Euch mit allem Respekt vor, Herr Freund, daß Ihr Kundschafter in die nördlichen Wüstenländer ausschickt, sie zu suchen. Entweder diese zu finden, oder aber neue Vorräte anzulegen. Wenn Ihr zu dem Schluß kommt, daß Ihr nicht jedes Eurer Nachbarvölker zu Eurem Verbündeten machen könnt, wird die Zeit kommen, da keines mehr Euer Verbündeter sein will; ein Fluchtweg würde Euch dann sehr gelegen kommen. Wir Acólhua jedenfalls ziehen es vor, uns mit Freunden zu gürten.«

Lange saß Motecuzóma schweigend und in sich zusammengesunken da, geduckt, gleichsam als wappne er sich gegen einen aufkommenden Sturm. Dann setzte er sich kerzengerade auf, straffte die Schultern und sagte: »Angenommen, diese Fremden kommen gar nicht. Dann hätte man nutzlos auf der faulen Haut gelegen und würde womöglich von demjenigen seiner Freunde überrollt werden, der sich als erster stark genug dazu fühlt.«

Nezahualpíli schüttelte den Kopf und sagte: »Diese Fremden werden kommen.«

»Ihr scheint Euch sehr sicher zu sein.«

»Zumindest sicher genug, um eine Wette darauf einzugehen«, sagte Nezahualpíli plötzlich ganz aufgeräumt. »Ich fordere Euch heraus, Herr Freund. Spielen wir im Zeremonialhof Tlachtli. Keine Mannschaften, sondern nur Ihr und ich. Das beste von drei Spielen. Verliere ich, bin ich bereit, das als Zeichen zu nehmen, welches alle anderen Zeichen auslöscht. Ich nehme dann alle meine düsteren Warnungen zurück und stelle alle Waffen, Heere und Mittel der Acólhua unter Euer Kommando. Verliert Ihr …«

»Nun?«

»Gesteht Ihr mir nur eines zu. Daß Ihr mich und meine Acólhua aus allen Euren künftigen Verwicklungen herauslaßt, damit wir unsere letzten Tage friedlicheren und angenehmeren Dingen widmen können.«

Ohne zu zögern, sagte Motecuzóma: »Einverstanden. Das beste von drei Spielen«. Und er lächelte böse.

Das konnte er durchaus tun, denn er stand nicht allein da, wenn er Nezahualpíli für wahnsinnig hielt, ihn zu diesen Spielen herausgefordert zu haben. Selbstverständlich wußte außer mir – und mich hatte man schwören lassen zu schweigen – damals kein Mensch, worauf der Verehrte Sprecher von Texcóco sein Wort verpfändet hatte. Was die Bürger Tenochtitlans betraf, handelte es sich bei dem Spiel nur um eine weitere öffentliche Belustigung, welche ihnen geboten wurde, oder eine besondere Ehrung Tlalocs während der Feiern des Der-Baum-Wird-Aufgerichtet-Festes in der Stadt. Allerdings war es kein Geheimnis, daß Motecuzóma mindestens zwanzig Jahre jünger war als Nezahualpíli, wie auch daß Tlachtli ein hartes Spiel ist, das am besten von den Jungen, den Kräftigen und den Ausdauerndsten gespielt wird.

Das Tlachtli-Spielfeld war ringsum von Zuschauern umgeben, und selbst hinter der Umfassungsmauer Des Herzens Der Einen Welt standen die Menschen dicht an dicht, Adlige genauso wie Gemeinfreie, wiewohl nicht einer von hundert hoffen konnte, vom Spiel auch nur das geringste mitzubekommen. Doch wenn eine besondere Passage des Spiels die Zuschauer auf den Plätzen in ein bewunderndes »Ayyo« oder stöhnendes »Ayya« oder in ihr inständiges »Hoo-oo-ooo« ausbrechen ließ, nahmen alle Leute auf dem Platz und außerhalb der Mauer diese Laute auf und verstärkten den Freudenruf, den Klagelaut oder den Eulenschrei, ohne überhaupt zu wissen, warum.

Die stufengleich von den inneren Mauern des Spielfelds schräg ansteigenden Zuschauerränge waren dicht an dicht mit den ranghöchsten Edelleuten aus Tenochtítlan und aus Texcóco besetzt, welche Nezahualpíli begleitet hatten. Möglicherweise als Entschädigung oder auch als Bestechung dafür, ihr Geheimnis zu bewahren, hatten die beiden Verehrten Sprecher mir einen der kostbaren begehrten Sitze dort zugewiesen. Wiewohl Adlerritter, war ich doch der Rangniedrigste in dieser erlauchten Gesellschaft – bis auf Nochipa, welcher ich einfach dadurch einen Platz verschaffte, daß ich sie auf den Schoß nahm.

»Halt die Augen offen und präg dir alles gut ein, Tochter«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Was du jetzt zu sehen bekommst, hat es noch nie gegeben. Sperr die Augen auf und präg es dir ein, damit du es dein Leben lang nicht vergißt. Ein solches Schauspiel wirst du nie wieder zu sehen bekommen.«

»Aber Vater«, sagte sie, »der Spieler mit dem blauen Helm ist ja ein alter Mann.« Mit dem Kinn wies sie unauffällig auf Nezahualpíli, welcher im Mittelpunkt des Spielfelds stand, ein wenig entfernt von Motecuzóma und dem Hohenpriester Tlalocs, welchem die Leitung aller Feierlichkeiten in diesem Festmond oblagen.

Ich sagte: »Nun, der Spieler mit dem grünen Kopfputz ist ungefähr so alt wie ich, also ist er auch nicht gerade mehr ein Springinsfeld.«

»Das hört sich ja an, als ob du für den alten Mann wärest.«

»Ich hoffe, du läßt ihn hochleben, wenn ich es tu. Ich habe ein kleines Vermögen darauf gesetzt, daß er gewinnt.«

Nochipa drehte sich halb auf meinem Schoß herum und lehnte sich zurück, um mir in die Augen zu blicken. »Ach, du törichter Vater! Warum?«

Ich sagte: »Eigentlich weiß ich das gar nicht genau.« Und das stimmte. »Jetzt sitz aber still. Du bist auch so schon schwer genug.«

Wiewohl meine Tochter gerade erst zwölf geworden war, ihre erste Blutung bekommen hatte und infolgedessen die Kleidung einer erwachsenen Frau trug und auch die ersten hübschen weiblichen Schwellungen erkennen ließ, hatte sie – und dafür sagte ich den Göttern Dank! – die Größe ihres Vaters nicht geerbt, sonst hätte ich es wohl nicht ausgehalten, zwischen ihr und dem kalten Steinsitz eingeklemmt zu sitzen.

Der Tlaloc-Priester sprach passende Gebete, rief seinen Gott an und verbrannte Weihrauch – was das ganze schier unerträglich in die Länge zog –, ehe er den Ball hochwarf, um das erste Spiel für eröffnet zu erklären. Meine Herren Skribenten, ich werde gar nicht erst versuchen, jeden Wurf, jeden Lauf und jedes Aufprallen des Balls wiederzugeben, zumal ich weiß, daß ihr mit den verzwickten Regeln des Tlachtli-Spiels ohnehin nicht vertraut seid und daher auch die besonderen Feinheiten des Spiels nicht zu würdigen wüßtet. Der Priester verließ das Spielfeld trippelnd wie ein schwarzer Käfer, so daß nur Nezahualpíli und Motecuzóma zurückblieben – und die beiden Torhüter an den beiden Schmalseiten des Feldes, doch diese beiden Männer blieben reglos und unbemerkt stehen und rührten sich nur dann, wenn der Spielverlauf es erforderte, daß sie das eine oder andere Torjoch versetzten.

Diese Torjoche – bewegliche niedrige Bogen, durch welche die Spieler versuchen mußten, den Ball hindurchzubringen – waren nicht einfache steinerne Halbbögen wie auf gewöhnlichen Spielplätzen. Sie bestanden genauso wie die Umfassungsmauern des Spielfelds aus feinstem Marmor, und waren gleich den hoch in der Mitte an den seitlichen Umfassungsmauern angebrachten Siegesringen reich beschnitzt, geglättet und mit leuchtenden Farben bemalt. Selbst der Ball war für dieses Wettspiel aus schmiegsamstem Óli geflochten und die sich überschneidenden Streifen abwechselnd blau und grün gefärbt.

Jeder der beiden Verehrten Sprecher trug ein gestepptes und weich gepolstertes Lederband um Stirn und Ohren, welches mit Riemen auf dem Kopf und unter dem Kinn festgehalten wurde; an Ellbogen und Knien schwere Lederschützer sowie fest um den Leib gewunden noch ein ausladend gestepptes Schamtuch, über welchem sie einen ledernen Hüftgürtel trugen. Die Kopfschützer prangten, wie ich schon gesagt habe, in den beiden Farben Tlalocs – blau für Nezahualpíli und grün für Motecuzóma –, doch selbst ohne diese Unterscheidungsmerkmale, ja, sogar ohne meinen Topas hätte ich die beiden Gegner mühelos auseinandergehalten. Der Körper Motecuzómas unter Polstern und Steppschutz war fest und glatt und muskulös. Der von Nezahualpíli war hager und sehnig, so daß man seine Rippen hervorstehen sah. Motecuzóma bewegte sich behende, gewandt und federnd wie Óli, und der Ball gehörte ihm von dem Augenblick an, da der Priester ihn in die Höhe geworfen hatte. Nezahualpíli bewegte sich steif und unbeholfen: es war ein Jammer mit anzusehen, wie er seinen flüchtigen Gegner zu jagen versuchte, gleichsam als wäre er Motecuzómas Schatten, der sich von diesem gelöst hatte und nun versuchte, ihn wieder einzufangen. Mir wurde ein harter Ellbogenstoß auf den Rücken versetzt; als ich mich umdrehte, erkannte ich den Herrn Cuitláhuac, Motecuzómas jüngeren Bruder und Oberbefehlshaber aller Mexíca-Heere. Höhnisch grinste er mich an; er war einer der Männer, gegen welche ich ein erkleckliches Gewicht an Gold auf Nezahualpíli gesetzt hatte.

Motecuzóma lief, sprang, glitt und flog dahin. Nezahualpíli stapfte und keuchte, und seine kahle Kopfhaut glänzte unter den Riemen seines Kopfschutzes vor Schweiß. Der Ball flog hin und her – jedoch stets von Motecuzóma zu Motecuzóma. Vom einen Ende des Spielfelds trieb er den Ball mit der Hüfte hart gegen die Mauer, vor der unentschlossen Nezahualpíli stand, und Nezahualpíli war nie schnell genug, ihn abzufangen, so daß der Ball im spitzen Winkel von dieser Mauer bis ans äußerste gegenüberliegende Ende des Spielfelds sprang; und irgendwie schaffte Motecuzóma es – was schier unmöglich schien – immer, zur Stelle zu sein und ihn abermals mit dem Ellbogen, dem Knie oder dem Gesäß zurückzuschlagen. Er schoß den Ball wie einen Pfeil durch dieses Torjoch, wie einen Speer durch jenes, wie ein Blasrohrgeschoß durch das nächste, und der Ball flog durch jedes der niedrigen Torjoche, ohne jemals eine Seite des Steins zu berühren und erzielte damit jedesmal ein Tor gegen Nezahualpíli, was selbstverständlich Beifallsgeklatsche aller Zuschauer mit Ausnahme von mir, Nochipa und Nezahualpílis Höflingen zur Folge hatte.

Das erste Spiel gewann Motecuzóma. Dieser sprang wie ein junger Rehbock vom Spielfeld, augenscheinlich nicht im mindesten ermüdet, ohne heftig zu atmen, trat zu seinen Betreuern, welche ihn abrieben und ihm einen erfrischenden Schokoladentrank reichten; hoffärtig stand er da und hoffärtig wartete er auf das nächste Spiel, während der mühselig sich dahinschleppende, schweißtriefende Nezahualpíli kaum den Ruheplatz zwischen seinen eigenen Betreuern erreichte. Nochipa drehte sich um und fragte mich:

»Werden wir jetzt arm sein, Vater?« Was der Herr Cuitláhuac hörte und worüber er sich ausschütten wollte vor Lachen; doch als das Spiel weiterging, sollte ihm das Lachen vergehen.

Noch lange hinterher stritten altehrwürdige Tlachtli-Spieler sich mit unterschiedlichen und sich widersprechenden Erklärungen über das, was hinterher geschah. Manche sagten, Nezahualpíli habe einfach das erste Spiel gebraucht, um Gelenke und Muskeln zu lockern. Andere hingegen behaupteten, Motecuzóma habe das erste Spiel so atemlos gespielt, daß er sich vollständig verausgabt hatte. Und es gab noch viele andere Theorien. Ich jedoch machte mir meine eigenen Gedanken. Ich kannte Nezahualpíli seit langer, langer Zeit, und ich hatte schon zu oft einen ähnlich hinfälligen, humpelnden und mitleiderregenden alten Mann gesehen – einen verhutzelten, kakaobraunen alten Mann. Ich glaube, an diesem Tag des Tlachtli-Wettspiels habe ich Nezahualpíli das letztemal so tun sehen, als sei er alt und klapprig, als er das erste Spiel spöttisch an Motecuzóma gehen ließ.

Doch keine Theorie, meine eigene eingeschlossen, vermag das Wunder zu erklären, zu dem es dann kam. Motecuzóma und Nezahualpíli stellten sich für das zweite Spiel auf, und da Motecuzóma das erste gewonnen hatte, stand ihm der Anstoß zu. Er stieß den Ball mit dem Knie hoch in die Luft. Und das war das letzte Mal, daß er ihn berührte.

Nach dem, was beim ersten Spiel vor sich gegangen war, waren aller Augen auf Motecuzóma gerichtet und erwarteten, daß er davonspringen und gleich darauf dort stehen würde, wo der Ball herunterkommen mußte, ehe sein betagter Gegner seine knarrenden Gelenke überhaupt in Bewegung brachte. Nochipa jedoch hatte aus irgendeinem Grunde Nezahualpíli beobachtet, und ihr begeisterter Aufschrei war es, welcher alle anderen aufspringen ließ. Plötzlich schrieen alle gemeinsam, wie ein Vulkan, der ausgebrochen war. Der Ball sprang fröhlich durch den hoch an der Nordwand sitzenden Marmorring, schien dort gleichsam lange genug zu verweilen, um bewundert zu werden, und fiel dann auf der Nezahualpíli abgekehrten Seite herunter, welcher ihn mit dem Ellbogen dort hinaufgetrieben hatte.

Jubelnde Aufschreie unter den Höflingen und auf den Rängen, und es ging weiter und weiter. Motecuzóma stürzte hervor, um seinen Gegner zu umarmen und ihn zu beglückwünschen, und Torhüter und Betreuer quirlten aufgeregt durcheinander. Der Tlaloc-Priester kam tänzelnd und mit wallenden Gewändern auf das Spielfeld, fuchtelte mit den Armen und redete verzückt, wovon man in dem allgemeinen Aufruhr jedoch nichts hörte; offenbar verkündete er, dies sei ein glückverheißendes Zeichen von Tlaloc. Die jubelnden Zuschauer sprangen auf ihren Plätzen auf und ab. Das vielstimmige »Ayyo!« schwoll zu einem ohrenbetäubenden Getöse an, als die Menge auf dem Großen Platz hinter dem Spielfeld erfuhr, was geschehen war. Ihr werdet inzwischen schon gemerkt haben, ehrwürdige Patres, daß Nezahualpíli dieses zweite Spiel gewonnen hatte. Einen Ball durch diesen senkrecht sitzenden Ring oben an der Mauer zu treiben, hätte dieses Spiel auch dann für Nezahualpíli entschieden, wenn Motecuzóma ihm um viele Tore voraus gewesen wäre.

Doch müßt ihr verstehen, daß ein durch diesen Ring getriebener Ballwurf für die Zuschauer fast ein genauso großes Wunder war wie für den Mann, dem dies gelungen war. So etwas geschah so selten, ja, kam so unglaublich selten vor, daß ich euch gar nicht sagen kann, wie selten. Stellt euch vor, ihr hättet einen harten Óli-Ball, groß wie euer Kopf, und einen Steinring mit einer Öffnung, nur um ein ganz geringes größer als der Ball, einen senkrechtstehenden Ring, in doppelter Mannshöhe an der Mauer über euch angebracht. Versucht einmal, diesen Ball durch dieses Ringtor zu schießen, ohne dabei eure Hände zu benutzen, nur mit Hüften, Knien, Ellbogen oder Gesäß. Ein Mann konnte tagelang dastehen und nichts anderes tun, als es ununterbrochen und ohne sich durch irgend etwas ablenken zu lassen, immer wieder zu versuchen und doch nicht ein einziges Mal zu schaffen. Es bei den raschen Spielabläufen und der Verwirrung des echten Spiels geschafft zu haben, grenzte ans Wunderbare. Während die Menge innerhalb und außerhalb des Ballplatzes weiterhin laut Beifall klatschte, nippte Nezahualpíli an seiner Schokolade und lächelte bescheiden, während Motecuzóma ein anerkennendes Lächeln aufgesetzt hatte. Er konnte es sich leisten zu lächeln, brauchte er doch nur noch das letzte der drei Spiele zu gewinnen, um den Gesamtsieg davonzutragen; der durch das Ringtor getriebene Ball würde – wenn auch das Werk seines Gegners – dafür sorgen, daß der Tag seines Sieges für alle Zeiten unvergessen blieb, sowohl in den Annalen des Sports als auch in der Geschichte Tenochtítlans.

Und man hat ihn nicht vergessen, diesen Tag, bis heute nicht; freilich – eine freudige Erinnerung ist es nicht. Als der Tumult sich allmählich gelegt hatte, nahmen die beiden Gegner abermals Aufstellung auf dem Spielfeld; diesmal stand der Anstoß Nezahualpíli zu. Er stieß den Ball mit dem Knie steil in die Luft, sprang im selben Augenblick hinüber zu jener Stelle, wo, wie er genau wußte, dieser Ball wieder herunterkommen mußte, und trieb ihn abermals – und zwar abermals mit größter Genauigkeit – in die Höhe und hindurch durch den hochsitzenden Ring. Nicht einmal Nezahualpíli selbst schien recht zu glauben, was ihm gelungen war. Den Ball zweimal nacheinander durch den Siegesring getrieben zu haben, das war mehr als ein Wunder, mehr als alles, was je an Ruhmestaten in den Annalen des Spiels aufgezeichnet worden war – es war einfach eine unfaßliche Leistung!

Kein Laut löste sich von den Lippen der Zuschauer. Wir wagten es kaum, uns zu regen, nicht einmal unsere Augen, welche fassungslos auf diesen Verehrten Sprecher gerichtet waren. Dann hob ein vorsichtiges Raunen unter den Zuschauern an. Etliche von den Adligen tuschelten Hoffnungsvolles: Tlaloc müsse sich so mächtig über uns gefreut haben, daß er höchstpersönlich in das Spiel eingegriffen habe. Andere deuteten Verdächtigungen an: Nezahualpíli habe die Spiele durch verschlagene Zauberei gewonnen – doch sagten sie das nicht laut. Die Edelleute aus Texcóco wiesen diesen Vorwurf entrüstet von sich, jedoch nicht laut. Überhaupt schien niemand ein lautes Wort sagen zu wollen. Selbst Cuitláhuac knurrte nicht vernehmlich, als er mir den schweren Lederbeutel mit dem Goldstaub darin überreichte. Nochipa betrachtete mich mit sehr ernstem Gesicht, gleichsam als argwöhne sie, insgeheim sei mir eine Vision über den Ausgang des Spiels zuteil geworden.

Jawohl, ich gewann an diesem Tag eine große Menge Gold – weil meine Ahnung mich nicht trog, oder weil ich mir einen Rest von Treue meinem ehemaligen Gönner gegenüber bewahrt hatte, oder was mich sonst getrieben haben mag, auf meinen einstigen Herrn und Gebieter zu setzen. Doch würde ich all das Gold hergeben – wenn ich es noch hätte –, ja, würde mehr als nur das hergeben, ayya, tausendmal tausendmal mehr als das – wenn ich an diesem Tage nicht gewonnen hätte.

Ach, meine Herren Skribenten, nicht nur, weil Nezahualpílis Sieg die Gültigkeit von Nezahualpílis Vorhersage bestätigte, daß es eines Tages zu einer Bedrohung vom Meer her kommen werde. Das hielt ich damals selbst schon für wahrscheinlich; die rohe Zeichnung der Maya hatte mich davon überzeugt. Nein, der Grund, warum ich Nezahualpílis Sieg so bitter beklage, ist darin zu suchen, daß er schon viel früher ein Unglück herbeibrachte – und zwar für niemand anderen als für mich.

Ich geriet augenblicklich wieder in Schwierigkeiten, kaum daß Motecuzóma zornbebend das Spielfeld verlassen hatte.

Denn als die Zuschauer die Sitze und den Tlachtli-Platz an diesem Tag verließen, wußten sie irgendwie alle, daß es bei diesem Wettspiel um mehr als die beiden Verehrten Sprecher gegangen war – daß es ein Kräftemessen zwischen ihren jeweiligen Sehern und Sagern gewesen war. Alle begriffen, daß Nezahualpílis Sieg seinen schicksalschweren Prophezeiungen Glaubhaftigkeit verlieh – und wußten, um was es bei diesen Vorhersagen ging. Vermutlich war es einer von Nezahualpílis Höflingen, welcher diese Dinge durchsickern ließ, als er versuchte, im Keim das Gerücht zu ersticken, sein Herr habe die Spiele durch Zauberei gewonnen. Alles, was ich mit Gewißheit weiß, ist, daß die Wahrheit ans Licht kam und daß ich daran nicht beteiligt war.

»Wenn du nichts damit zu tun hattest«, erklärte der eisige Motecuzóma zornbebend, »wenn du also nichts getan hast, was eine Bestrafung verdient, dann bestrafe ich dich selbstverständlich auch nicht.«

Nezahualpíli hatte Tenochtítlan soeben verlassen. Die beiden Palastwachen hatten mich nahezu mit Gewalt vor Motecuzómas Thron gebracht, und der Verehrte Sprecher hatte mir gerade enthüllt, was mir blühte.

»Aber mein Hoher Gebieter befiehlt mir, ein kriegerisches Unternehmen zu leiten«, erhob ich Einspruch und verstieß dabei gegen jedes Protokoll. »Wenn das keine Bestrafung ist, so ist es eine Verbannung, und ich habe nichts getan …«

Er unterbrach mich. »Bei dem Kommando, welches ich dir übertrage, Adlerritter, geht es um eine Vorsichtsmaßnahme. Alle Vorzeichen deuten darauf hin, daß die einfallenden Horden, so sie überhaupt kommen, aus dem Süden kommen werden. Infolgedessen ist es unsere Pflicht und unsere Schuldigkeit, unsere südlichen Verteidigungsanlagen zu stärken. Wenn deinem Unternehmen Erfolg beschieden ist, werde ich andere Ritter ausschicken, weitere Auswanderer in jene Gebiete zu führen.«

»Aber Hoher Gebieter« – ich ließ nicht locker –, »ich habe keine Ahnung, wie man eine Kolonie gründet und befestigt.«

»Die hatte ich auch nicht, bis mir befohlen wurde, genau das zu tun, im Xoconóchco, vor vielen Jahren.« Dem konnte ich nicht widersprechen; in gewisser Hinsicht war das sogar auf mein Betreiben hin geschehen, war ich also verantwortlich dafür gewesen. Er fuhr fort: »Du nimmst etwa vierzig Familien, annähernd vierhundert Männer, Frauen und Kinder. Bauern, für die in der Mitte Der Einen Welt einfach nicht genug Land vorhanden ist. Diese Auswanderer wirst du auf neuem Land im Süden ansiedeln. Und dafür sorgen, daß sie ein anständiges Dorf bauen, das verteidigt werden kann. Hier liegt der Ort, den ich ausgewählt habe.«

Die Karte, die er mir zeigte, gehörte zu denen, die ich selbst gezeichnet hatte, doch das Gebiet, auf das er den Finger legte, enthielt überhaupt keine Einzelheiten, sondern war eine leere Stelle; noch nie war ich dort gewesen.

Ich sagte: »Hoher Gebieter, dieser Fleck liegt im Land des Teohuacána-Volkes. Sie könnten etwas dagegen haben, wenn eine Horde Fremder bei ihnen einzieht.«

Mit einem Lächeln, das bar war jeden Humors, sagte er: »Dein alter Freund Nezahualpíli hat uns doch geraten, Freundschaft mit allen unseren Nachbarn zu schließen, oder? Eine deiner Aufgaben wird darin bestehen, die Teohuacána zu überzeugen, daß wir als gute Freunde kommen und es uns um die Verteidigung ihres Landes genauso geht wie um die unseres Landes.«

»Jawohl, Hoher Gebieter«, sagte ich unglücklich.

»Der Verehrte Sprecher Chimalpopóca von Tlácopan war so freundlich, eine Eskorte von Kriegern anzubieten. Du wirst eine Abordnung von vierzig seiner Tecpanéca-Krieger übernehmen.«

»Nicht einmal Mexíca?« entfuhr es mir voller Entsetzen. »Verehrter Sprecher, eine Truppe von Tecpanéca – unter dem Befehl eines Mexícatl-Ritters –, das muß Mord und Totschlag geben.«

Er wußte das genausogut wie ich; doch gehörte das zu seiner Bosheit, zu meiner Bestrafung, weil ich ein Freund von Nezahualpíli gewesen war. Ohne im geringsten darauf einzugehen, fuhr er fort:

»Die Krieger gewährleisten den Schutz bis nach Teohuacán hinein; sie werden bleiben und die Feste bemannen, die du dort bauen wirst. Und du, Ritter Mixtli, wirst gleichfalls dort bleiben, bis alle Familien ein festes Dach über dem Kopf haben und sich selbst versorgen können. Die Siedlung wirst du einfach Yanquitlan nennen, Den Neuen Ort.«

Ich überwand mich und brachte den Mut auf zu fragen: »Gestattet Ihr, daß ich ein paar gute altgediente Mexíca als Unterbefehlshaber mitnehme, Hoher Gebieter?« Wahrscheinlich hätte er mir das rundheraus abgeschlagen, doch fügte ich noch hinzu: »Ein paar alte Männer, die ich kenne und die längst aus Altersgründen entlassen wurden.«

Er ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen und sagte: „Wenn du dich sicherer fühlst, noch zusätzlich Krieger auszuheben, wirst du selbst für sie bezahlen.«

»Einverstanden, Hoher Gebieter«, sagte ich rasch. Da ich so schnell wie möglich fortkommen wollte, ehe er es sich anders überlegte, vollführte ich die Geste des Erdeküssens und murmelte dabei: »Hat der Verehrte Sprecher sonst noch etwas zu befehlen?«

»Daß du augenblicklich aufbrichst und dich auf dem Weg in den Süden beeilst. Die Tecpanéca-Krieger und die Familien deines Zugs werden im Augenblick in Ixtapalápan zusammengestellt. Ich will, daß sie in ihrer neuen Heimat

Yanquitlan früh genug eintreffen, um die Frühjahrssaat noch rechtzeitig in den Boden bringen zu können. So geschehe es!« »Ich breche sofort auf«, sagte ich und schlurfte barfuß zur Tür zurück.

Wenn es auch reine Rachsucht war, die Motecuzóma veranlaßte, mich zu einem Siedlungspionier zu machen, konnte ich mich doch nicht allzu sehr darüber beschweren. Schließlich war ich selbst es gewesen, der vor vielen Jahren Ahuítzotl dringlich auf die Notwendigkeit der Koloniebildung hingewiesen hatte. Außerdem hatte es mich, das muß ich ehrlich gestehen, in letzter Zeit ziemlich gelangweilt, das müßige Leben eines reichen Mannes zu führen.

Daher bereitete ich mich mit aller Kraft auf die Expedition vor und leitete alles in die Wege, so gut es mir möglich war. Als erstes rief ich die Frauen und die Bediensteten meines Haushalts zusammen und berichtete ihnen von dem Auftrag.

»Ich bin selbstsüchtig genug und möchte während dieses Jahres oder einer womöglich noch längeren Zeit nicht ohne meine Familie sein. Außerdem glaube ich, diese Zeit könnte vorteilhaft für dich, meine Tochter, genutzt werden, denn du bist ja noch nie weiter aus Tenochtítlan herausgekommen als über die Dammstraßen bis aufs Festland, und auch das nur selten. Die Reise mag beschwerlich sein, aber wenn du nichts dagegen hättest, mich zu begleiten – ich meine, es könnte dir nur von Nutzen sein, diese fernen Lande zu sehen und kennenzulernen.«

»Und du glaubst, du müßtest mich bitten?« rief sie begeistert und schlug entzückt die Hände zusammen. Dann wurde sie nüchterner und sagte: »Aber was ist mit meiner Ausbildung im Haus des Manierenlernens, Vater?«

»Sag deinen Lehrerinnen einfach, du gingest in die Fremde. Und dein Vater stehe dafür ein, daß du auf der Straße mehr lernst als in den vier Wänden.« Dann wandte ich mich Béu Ribé zu: »Ich würde es gern sehen, wenn auch du mitkämst, Wartender Mond, wenn du Lust hast.«

»Ja«, erklärte sie sich augenblicklich einverstanden, und ihre Augen blitzten. »Ich freue mich, Záa, daß du nicht mehr allein losziehen willst. Wenn ich dir eine gute …«

»Du kannst. Eine Jungfrau im Alter von Nochipa sollte nicht ohne die Obhut einer älteren Frau reisen.«

»Ach«, sagte sie, und der Glanz in ihren Augen erlosch.

»Ein Trupp Krieger und ungeschliffene Bauersleute, nun, da herrschen manchmal rauhe Sitten. Ich möchte, daß du Nochipa nie allein läßt und jede Nacht ihr Lager teilst.«

»Ihr Lager«, wiederholte Béu.

Ich sagte zu den Dienern: »Damit obliegt es euch, Türkis und Stern Sänger, dafür zu sorgen, daß das Haus nicht leer steht und ihr unseren Besitz bewacht.« Sie versprachen, es zu tun; mochten wir auch noch solange fort bleiben, wir würden bei unserer Rückkehr alles in vollkommener Ordnung vorfinden. Ich sagte, daran zweifelte ich nicht. »Aber zunächst einmal habe ich einen Auftrag für dich, Stern Sänger.«

Ich schickte ihn aus, die sieben alten Krieger aufzustöbern, welche mir auf meinen Handelsreisen als Privatheer gedient hatten. Zwar erfüllte es mich mit Trauer, aber ich war nicht sonderlich überrascht, als Stern Sänger heimkehrte und berichtete, drei von ihnen seien gestorben, seit ich ihre Dienste das letztemal in Anspruch genommen hatte.

Die vier, die noch am Leben waren und die kamen, waren schon nicht mehr ganz jung gewesen, als ich sie durch Blut Schwelger kennengelernt hatte. Zwar waren sie nicht jünger geworden, doch kamen sie ungesäumt. Sie bemühten sich um einen aufrechten Gang und um festes Auftreten, um mich von ihren knotigen Muskeln und knubbeligen Gelenken abzulenken. Mutig traten sie vor mich hin, mit dröhnenden Stimmen und erwartungsfreudigem Lachen, damit ich die Falten und Runzeln in ihrem Gesicht nur auf ihre gute Laune zurückführte. Ich hütete mich, sie zu kränken und eine Bemerkung zu machen darüber, daß sie sich übertrieben jugendlich und energiegeladen gaben. Sie kamen so freudig, was für mich Beweis genug war, daß sie immer noch fähige Männer waren; ich würde mich ihrer Dienste auch dann noch versichert haben, wären sie humpelnd und am Stock gehend gekommen. Ich setzte ihnen ganz allgemein auseinander, um was es ging, und wandte mich dann an den ältesten von ihnen, Qualánqui, dessen Name soviel bedeutete wie Zornig Auf Jedermann.

»Unsere Tecpaneca-Krieger und die zweihundert Bauern warten in Ixtapalápan. Begib dich dorthin, Freund Zornig, und sorge dafür, daß sie bereit sind aufzubrechen, sobald wir es sind. Ich vermute, du wirst sie in vieler Hinsicht unvorbereitet finden; schließlich sind sie keine erfahrenen Reisenden. Und ihr anderen – geht und kauft alle Ausrüstung und allen Proviant den wir benötigen, das heißt: ihr vier, ich, meine Tochter und meine Schwägerin.«

Wie meine Auswanderer den langen Weg schaffen sollten, bereitete mir mehr Sorge als der unfreundliche Empfang, welcher uns möglicherweise in Teohuacán bereitet werden würde. Genauso wie die Bauern, die ich begleitete, trieben auch die Bewohner von Teohuacán in der Mehrzahl Ackerbau, waren zahlenmäßig nicht stark und galten als nicht sehr kämpferisch. Ich erwartete sogar, daß sie meine Siedler freudig willkommen heißen würden als Nachbarn, mit denen sie sich anfreunden und mit deren Kindern sie ihre Kinder verheiraten könnten.

Wenn ich von Teohuacán und den Teohuacána spreche, verwende ich selbstverständlich die Náhuatl-Namen, welche wir Mexíca ihnen gegeben hatten. Eigentlich waren die Teohuacána ein Seitenzweig der Mixtéca oder Tya Nuü, die sich selbst und ihr Land Tya Nya nannten. Das Land war von uns Mexíca niemals mit Krieg überzogen oder tributpflichtig gemacht worden, denn außer den Erzeugnissen ihres Ackerfleißes gab es dort wenig zu holen. Eigentlich bestanden ihre Reichtümer nur in heißen Mineralquellen, die man ihnen nicht leicht wegnehmen konnte, und außerdem trieben die Tya Nya bereitwillig Handel mit ihren Krügen und Flaschen, die mit dem Wasser aus diesen Quellen gefüllt waren. Zwar schmeckte dieses Wasser abscheulich und roch auch noch schlecht, doch war es seiner Heilkraft wegen sehr gefragt. Und da Ärzte ihren Patienten oft verschrieben, nach Tya Nya zu ziehen und in diesen heißen, übelriechenden Quellen zu baden, lohnte es sich für die Bewohner auch noch, einige recht luxuriöse Herbergen in der Nähe dieser Quellen zu unterhalten. Alles in allem erwartete ich daher keine größeren Schwierigkeiten von einem Volk von Ackerbauern und Herbergswirten.

Zornig Auf Jedermann kehrte am nächsten Tag zurück, um mir Bericht zu erstatten. »Du hattest recht, Ritter Mixtli. Diese Bauerntölpel hatten alle ihre Mahlsteine für die Küche und die Statuen ihrer Lieblingsgötter mitgebracht, statt dasselbe Gewicht an Saatgut und Pinóli-Mehl als Proviant für unterwegs. Sie murrten zwar sehr, aber ich habe sie bewogen, alles, was überflüssig und hinderlich ist, zurückzulassen.«

»Und die Leute selbst, Qualánqui? Steht es zu erwarten, daß die sich als Gemeinwesen einmal selbst versorgen können?«

»Ich glaube, ja. Es sind alles Bauern, aber es sind auch Männer darunter, die als Ziegelstreicher, Maurer, Zimmerleute und dergleichen ihr Handwerk verstehen. Eigentlich beklagen sie sich nur darüber, daß eine Berufsgruppe unter ihnen fehlt.

Man hat ihnen keine Priester zugeteilt.«

Säuerlich erklärte ich: »Ich habe nie von einer Gemeinde gehört, die sich irgendwo angesiedelt hätte, ohne daß nicht plötzlich ein Haufen Priester unter ihnen aufgestanden wäre, die verlangten, ernährt und verehrt zu werden.« Trotzdem meldete ich es an den Palast weiter, und so wurden uns sechs oder sieben frisch gebackene Tlamacázque verschiedener unbedeutenderer Götter zugeteilt, Priester, die noch so jung waren, daß ihre schwarzen Gewänder gerade erst anfingen, von Blut und Schmutz zu starren.

Nochípa, Béu und ich zogen am Vorabend des Tages, an dem es losgehen sollte, über die Dammstraße und verbrachten die Nacht in Ixtapalápan, damit ich die mir anvertrauten Auswanderer in aller Frühe zusammenrufen und mich ihnen vorstellen könne. Es galt nachzuprüfen, ob alle Traglasten gleichmäßig unter allen gesunden Männern, Frauen und älteren Kindern aufgeteilt waren, und dafür zu sorgen, daß wir möglichst frühzeitig aufbrachen. Meine vier alten Kämpen ließen die Tecpanéca Aufstellung nehmen, ich hielt meinen Topas vors Auge und inspizierte sie genau. Daraufhin wurde im Glied verstohlen gelacht, und die Krieger nannten mich hinterher unter sich – wovon ich eigentlich nichts wissen sollte – Mixteloxixtli, eine recht geistreiche Verbindung meines Namens mit anderen Wörtern, welche ich ungefähr mit Urinaugen-Mixtli übersetzen würde.

Die Bauern belegten mich vermutlich mit noch weniger schmeichelhaften Namen, denn sie litten unter zahlreichen Kümmernissen, deren größtes wohl das war, nie vorgehabt oder den Wunsch verspürt zu haben, jemals auszuwandern. Motecuzóma hatte es wohlweislich unterlassen, mir zu sagen, daß es sich nicht um auswanderungsfreudige Freiwillige handelte, sondern um sogenannten Bevölkerungsüberschuß, Menschen also, die irgendwo von den Truppen aufgegriffen und zusammengetrieben worden waren. Mit einiger Berechtigung fanden sie daher, es sei ungerecht sie einfach in die Wildnis zu schicken. Und die Krieger waren nicht minder unglücklich. Sie hatten etwas dagegen, »Kindermädchen« zu spielen, so lange zu marschieren, sich soweit von ihrer Heimat Tlácopan zu entfernen und als Ziel nicht ein ehrenvolles Schlachtfeld vor sich zu haben, sondern langweiligen Garnisonsdienst. Hätte ich nicht meine vier alten Kämpfer mitgebracht, Zucht und Ordnung unter den Kriegern aufrechtzuerhalten, ich fürchte, Ritter Urinauge hätte mit Meuterei oder Desertionen fertigwerden müssen.

Nun, ja. Wie oft habe ich nicht gewünscht, einfach davonlaufen zu können. Die Krieger konnten jedenfalls marschieren. Die Bauern hingegen trödelten, sie verliefen sich, bekamen Blasen an den Füßen und erlahmten, sie murrten und wimmerten. Keine zwei von ihnen konnten jemals gleichzeitig Pause machen, um ihr Wasser abzuschlagen; die Frauen verlangten, daß wir anhielten, damit sie ihren kleinen Kindern die Brust geben konnten; und die Priester dieses oder jenes Gottes verlangten, daß wir zu bestimmten Zeiten des Tages Pause machten, damit sie bestimmte rituelle Gebete verrichten könnten. Gab ich ein flotteres Tempo zum Weiterziehen an, beklagten die Trägeren unter ihnen sich, ich hetzte sie zu Tode. Und ließ ich sie langsamer vorrücken, klagten die anderen, sie würden noch an Altersschwäche sterben, ehe wir das Ziel der Reise erreicht hätten.

Was mir die ganze Reise jedoch zu einem Vergnügen machte, war meine Tochter Nochipa. Genauso wie ihre Mutter Zyanya auf ihrer ersten Reise von daheim fort, stieß Nochipa nach jeder Wegbiegung, bei jedem neuen Ausblick auf die Landschaft freudige Schreie aus. Keine Landschaft war so gewöhnlich, daß nicht irgend etwas darin ihr Auge und ihr Herz erfreut hätte. Wir folgten der Haupthandelsroute in den Südosten, und dort gibt es in der Tat viel Schönes zu sehen, doch war die Straße mir und Béu und meinen vier alten Kriegern schon im Übermaße vertraut – und die Auswanderer waren außerstande, sich über irgend etwas zu freuen; sie konnten nur über ihre Leiden und Beschwerden klagen. Doch selbst wenn wir die öden und toten Landstriche Mictlans durchquert hätten, Nochipa würde alles neu und wunderschön gefunden haben.

Manchmal trällerte sie Lieder wie Vögel, aus keinem anderen erkennbaren Grund, als daß sie geflügelte Geschöpfe waren und froh darüber, es zu sein. (Wie einst meine Schwester Tzitzitlíni, hatte Nochipa in ihrer Schule so manchen Preis für Singen und Tanzen errungen.) Wenn sie sang, hörten selbst die sonst immer und ewig Unzufriedenen unter den mir Anvertrauten eine Zeitlang mit ihrem Murren auf und lauschten. Und wenn sie nicht zu müde war vom Tagesmarsch, erhellte Nochipa die dunklen Nächte für uns, indem sie nach der Abendmahlzeit für uns tanzte. Einer von meinen alten Männern konnte recht gut auf seiner Tonflöte spielen und hatte sie mitgebracht. An den Abenden, da Nochipa tanzte, legte die ganze Gesellschaft sich weniger klagend auf dem harten Boden zum Schlafen nieder.

Abgesehen davon, daß Nochipa uns die lange und ermüdende Reise erhellte, erinnere ich mich nur an ein Begebnis unterwegs, das mir aus dem Rahmen des Gewöhnlichen herauszufallen schien. Eines Abends, als wir unser Lager aufgeschlagen hatten, entfernte ich mich, um etliche Schritte aus dem Lichtkreis der Lagerfeuer an einem Baum mein Wasser abzuschlagen. Als ich später zufällig noch einmal an diesem Baum vorüberkam, sah ich Béu – welche mich ihrerseits nicht sah – etwas Einzigartiges tun. Sie kniete am Stamm dieses Baumes und scharrte ein wenig von der Erde zusammen, die ich mit meinem Wasser genetzt hatte.

Vielleicht, so dachte ich, will sie einen heilenden Breiumschlag machen für jemand, der sich die Füße wundgelaufen oder sich den Fuß verstaucht hat. Weder unterbrach ich sie bei ihrem Tun, noch spielte ich später jemals darauf an.

Gleichwohl sollte ich euch, ehrwürdige Patres, sagen, daß es unter uns gewisse Frauen gab, für gewöhnlich Greisinnen – ihr nennt sie Hexen –, welche sich in manchen Geheimkünsten auskannten. Eine ihrer Fähigkeiten besteht darin, ein rohes Abbild von einem Mann zu machen und dabei feuchte Erde von einem Fleck zu benutzen, wo er kurz zuvor sein Wasser abgeschlagen hatte, und diese Puppe dann bestimmten schmachvollen Behandlungen zu unterziehen, um auf diese Weise den Mann unerklärliche Schmerzen leiden zu lassen, eine Krankheit herbeizurufen, Wahnsinn oder Begierde oder Gedächtnisverlust, ja, selbst den Verlust all seines Habs und Guts, bis er völlig verarmt wäre. Ich hatte jedoch keinen Grund anzunehmen, daß Wartender Mond ihr Leben lang eine Hexe gewesen sei, ohne daß ich es jemals gemerkt hätte. Ich tat ihr Vorgehen an diesem Abend als reinen Zufall ab und vergaß es vollständig – bis es mir viel später wieder einfallen sollte.

Nachdem wir Tenochtltlan rund zwanzig Tagesmärsche hinter uns hatten – eine Strecke, die ein erfahrener und nicht durch schwere Traglasten behinderter Reisender in zwölf Tagen geschafft hätte –, langten wir in dem Dorf Huajuápan an, das ich von früher her kannte. Nachdem wir die Nacht dort verbracht hatten, bogen wir scharf nach Nordosten ab und folgten von jetzt an einem Handelsweg, den noch keiner von uns kannte und der für uns alle neu war. Der Weg führte uns durch angenehme Täler voller jungen Frühlingsgrüns, und wand sich zwischen niedrigen und bezaubernden blauen Bergen auf die Hauptstadt von Tya Nya zu, welche gleichfalls Tya Nya oder Teohuacán hieß. Freilich führte ich nicht den ganzen Auswandererzug bis ganz dorthin. Nachdem wir vier Tage lang dieser Route gefolgt waren, gelangten wir in ein ausgedehntes Tal und standen vor einer Furt, welche durch einen breiten, aber seichten Strom führte. Ich kniete nieder, schöpfte eine Handvoll Wasser, schnupperte daran und kostete es dann.

Zornig Auf Jedermann trat neben mich: »Was meinst du?«

»Nun, es stammt zumindest nicht aus einer der üblichen Quellen Teohuacáns«, sagte ich. »Das Wasser ist weder bitter, noch riecht es übel, noch ist es heiß. Es eignet sich gut zum Trinken und zum Bewässern von Feldern. Das Land sieht aus, als sei die Erde fruchtbar, und ich sehe auch keine anderen Siedlungen oder Pflanzungen. Ich meine, dies ist die richtige Stelle, unser Yanquitlan zu errichten. Sag ihnen das.«

Qualánqui drehte sich um und rief so laut, daß jeder es hören konnte: »Werft eure Lasten ab. Wir sind am Ziel!«

Ich sagte: »Laß sie sich für den Rest des Tages ausruhen. Morgen werden wir anfangen …«

»Morgen«, fiel mir einer der Priester ins Wort, der plötzlich neben mir stand, »und übermorgen und überübermorgen werden wir den Boden weihen. Mit Eurer Erlaubnis, versteht sich.«

Ich sagte: »Dies ist die erste Siedlung, die ich jemals gegründet habe, junger Priester, und ich kenne mich in den Formalitäten nicht aus. Doch tut unbedingt alles, was die Götter fordern.«

Jawohl, genau diese Worte sagte ich, ohne zu erkennen, wie diese Worte ausgelegt werden könnten – nämlich dahingehend, daß ich mein Einverständnis für jede Art religiösen Treibens gegeben hätte; ohne vorauszusehen, auf welche Weise diese Worte schließlich von den Priestern und den Leuten ausgelegt werden würden; und nicht im entferntesten zu ahnen, daß ich diese beiläufig geäußerten Worte mein Leben lang bedauern würde.

Das erste Ritual – die Weihe des Bodens ringsum – dauerte mit den Gebeten, den Anrufungen, dem Weihrauchverbrennen und dergleichen drei volle Tage. Manche von den Ritualen beschäftigten ausschließlich die Priester, an anderen mußten wir alle teilnehmen. Ich hatte nichts dagegen, denn Krieger wie Aussiedler erholten sich merklich in diesen drei Tagen der Ruhe und der Zerstreuung. Selbst Nochipa und Béu waren offensichtlich froh, daß die Feierlichkeiten ihnen Grund gaben, reicher geschmückte weibliche Gewänder anzuziehen als die Reisekleidung, welche sie so lange Zeit hindurch getragen hatten.

Und das bot einigen der Kolonisten eine weitere Zerstreuung – und mir selbst auch, da es mich erheiterte, dabei zuzusehen. Die meisten Männer unseres Zuges hatten Frauen und Kinder, doch befanden sich auch drei oder vier Witwer mit Kindern, aber ohne Frauen darunter, und diese nutzten die Gelegenheit der Festtage, einer nach dem anderen Béu den Hof zu machen. Unter den Männern befanden sich aber auch Knaben und junge Männer in einem Alter, da sie linkische Versuche machten, sich Nochipa zu nähern. Ich konnte das weder den jüngeren noch den älteren Männern verargen, denn Nochipa und Béu waren unendlich viel schöner, eleganter und begehrenswerter als die ungeschlachten, grobgesichtigen und paddelfüßigen Bauersfrauen und -mädchen des Zuges.

Wenn Béu Ribé meinte, daß ich nicht zusah, ließ sie die Männer, welche kamen, um sie zu bitten, einen der zeremoniellen Tänze mit ihnen zu tanzen, oder irgendeinen anderen Grund fanden, in ihrer Nähe zu sein, hochmütig abblitzen. Doch manchmal, wenn sie mich in der Nähe wußte, hielt sie die Einfaltspinsel fest, tauschte verliebte Blicke und schäkerte hemmungslos, lächelte verlockend und machte ihnen solche Augen, daß den Ärmsten der Schweiß ausbrach. Ganz offensichtlich ging es ihr darum, mich zu reizen, indem sie mir neuerlich vor Augen führte, daß sie immer noch eine sehr begehrenswerte Frau war. Doch daran brauchte ich nicht erinnert zu werden. Wartender Mond war in der Tat von Antlitz und Gestalt genauso schön wie Zyanya es gewesen war; doch im Gegensatz zu den Bauern, welche um sie herumscharwenzelten, war ich innerlich längst gegen ihre tückischen Listen gefeit, mit denen sie einen erst in Versuchung führte und dann von sich stieß. Ich strahlte und nickte nur wie ein wohlwollend zustimmender Bruder, woraufhin die Wärme aus ihren Augen wich und sie eiskalt wurden, ihre eben noch gurrende Stimme etwas Schneidendes bekam und der plötzlich abgewiesene Freier sich verwirrt zurückzog.

Nochipa trieb derlei Spiele nicht; sie war genauso keusch wie all ihre Tänze es gewesen waren. Jeden jungen Mann, der sich ihr näherte, bedachte sie mit einem so verwunderten, ja, erstaunten Blick, daß diesen – nachdem er ein paar schüchterne Worte gemurmelt hatte – aller Mut verließ und er mit brennendem Gesicht und wütend nach Steinen tretend von dannen zog. Sie war von einer Unschuld, der nichts etwas anhaben konnte, einer Unschuld, die offenbar jeden, der ihr sein fleischliches Begehren eingestand, in Verlegenheit brachte und ihm die Schamröte ins Gesicht trieb. Ich hielt mich abseits, und ein doppelter Stolz auf meine Tochter erfüllte mich: Stolz darauf, daß sie bezaubernd schön war, um viele Männer anzuziehen; und Stolz darauf, daß sie auf den einen Mann warten würde, den sie wirklich haben wollte. Viele Male seither habe ich gewünscht, die Götter hätten mich augenblicklich für meinen selbstgefälligen Stolz bestraft und mich niedergestreckt. Doch die Götter kennen grausamere Strafen.

Am dritten Abend, als die erschöpften Priester erklärten, die Weihe sei jetzt vollendet, es könne damit begonnen werden, das neue Gemeinwesen auf einem Boden aufzubauen, welcher nunmehr gastlich und sicher gemacht worden sei, sagte ich zu Zornig Auf Jedermann:

»Morgen sollen die Bauersfrauen beginnen, Äste für die Hütten abzuschlagen und Gras sammeln, ihr Dach damit zu decken, während die Männer anfangen sollen, unten am Fluß den Boden urbar zu machen, damit gepflanzt werden kann. Motecuzóma hat befohlen, daß die Saat so schnell wie möglich in den Boden kommt, und solange sie damit beschäftigt sind, brauchen die Leute nicht richtig ein Dach über dem Kopf. Später, jedoch noch vor Beginn der Regenfälle, werden wir Straßen und Grundstücke für ihre festen Häuser abstecken. Die Krieger haben in der Zwischenzeit nichts zu tun. Außerdem wird die Kunde von unserem Kommen bis in die Hauptstadt gedrungen sein. Ich meine, wir sollten uns beeilen, dem Uey-Tlatoáni oder wie immer die Teohuacána ihre Herrscher nennen, unsere Aufwartung zu machen und ihn von unserem Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Die Krieger nehmen wir mit. Sie sind zahlreich genug, um zu verhüten, daß wir ergriffen oder hinausgeworfen werden, und doch ist ihre Zahl nicht groß genug, daß man denken könnte, wir kämen in feindseliger Absicht.«

Qualánqui nickte und sagte: »Ich werde die Bauernfamilien davon in Kenntnis setzen, daß die Festtage morgen zu Ende sind, und den Tecpanéca sagen, daß sie sich abmarschbereit halten sollen.«

Als er ging, wandte ich mich an Béu Ribé und sagte: »Deine Schwester, meine Frau, hat einmal ihren ganzen Zauber für mich eingesetzt, einen anderen fremden Herrscher für uns einzunehmen, einen Mann, weit furchteinflößender als irgendeiner hier in diesen Landen. Wenn ich auf ähnliche Weise in Begleitung einer wunderschönen Frau am Hof von Teohuacán einziehe, könnte meine Mission auch dort weniger als tollkühn und mehr freundlich betrachtet werden. Dürfte ich dich bitten, Wartender Mond …?«

»Dich zu begleiten, Záa?« sagte sie eifrig. »Als deine Gemahlin?«

»Nur dem Anschein nach. Wir brauchen ja nicht zu sagen, daß du nur meine Schwägerin bist. Und in Anbetracht deines Alters würde niemand etwas dabei finden, wenn wir um getrennte Schlafkammern bitten.«

Sie überraschte mich damit, daß sie aufbrausend sagte: »unseres Alters!« Doch beruhigte sie sich ebenso rasch wieder und murmelte: »Selbstverständlich. Nichts sagen. Die Frau, die nichts weiter ist als deine Schwägerin, steht stets zu deinen Diensten.«

Ich sagte: »Vielen Dank.«

»Gleichwohl, Schwager – ursprünglich hast du befohlen, daß ich bei Nochipa bleibe, um sie vor dieser rohen Gesellschaft zu schützen. Wenn ich mitkomme – was ist mit Nochipa?«

»Ja, was ist mit mir?« fragte meine Tochter und zupfte mich an der anderen Seite am Umhang. »Komme ich gleichfalls mit, Vater?«

»Nein, du bleibst hier, Kind«, sagte ich. »Ich erwarte eigentlich keinerlei Schwierigkeiten auf der Straße in die Hauptstadt, doch die Gefahr besteht eben doch immer. Hier, unter den vielen, bist du sicher. Und sicher in der Obhut von Priestern, die bestimmt nicht von feindlichen Stämmen angegriffen werden. Diese Bauernlümmel werden so hart schuften, daß sie abends viel zu müde sein werden und kein heiratsfähiger Mann auch nur den Versuch machen wird, dir schöne Augen zu machen. Auf jeden Fall, Tochter, habe ich beobachtet, daß du durchaus imstande bist, sie in die Schranken zu weisen. Du bist hier sicherer, Nochipa, als unterwegs, und im übrigen bleibe ich ja nicht lange.«

Sie schien jedoch dermaßen enttäuscht, daß ich noch hinzufügte: »Wenn ich wieder da bin, werden wir viel Muße und die ganze Freiheit dieses Landes für uns haben. Ich verspreche dir, daß du dann mehr davon zu sehen bekommen wirst. Nur du und ich, Nochipa – wir werden unbeschwert umherstreifen.«

In ihren Augen leuchtete es auf, und sie sagte: »Ja, das wird sogar noch schöner werden. Nur du und ich. Dann bleibe ich auch bereitwillig hier, Vater. Und abends, wenn die Leute von ihrer Arbeit müde sind, kann ich sie vielleicht ihre Müdigkeit vergessen machen. Ich kann für sie tanzen.«

Selbst ohne die hinderlichen Bauern sollte es mich und Béu und unsere Eskorte von vierundvierzig Tecpanéca-Kriegern fünf weitere Tage kosten, ehe wir die Stadt Teohuacán oder Tya Nya erreichten. So viel weiß ich noch, und ich erinnere mich auch, daß wir sehr gnädig vom Herrscher empfangen wurden, wiewohl ich seinen Namen und den seiner Königin vergessen habe und auch nicht mehr weiß, wie lange wir ihre Gäste waren in dem recht baufälligen Gebäude, das sie Palast nannten. Nicht vergessen habe ich aber die Worte, die er sprach:

»Das Land, welches Ihr besetzt habt, Adlerritter Mixtli, gehört zu unseren fruchtbarsten und angenehmsten Gegenden überhaupt.« Um dann jedoch hastig hinzuzufügen: »Nur können wir keine Leute vom Landbau oder den anderen Beschäftigungen abziehen, es zu bearbeiten. Eure Siedler mögen es bebauen; wir heißen ihre Anwesenheit willkommen. Jedes Volk hat sein Gutes davon, wenn ihm neues Blut zugeführt wird.«

Er sagte noch viel mehr ähnliches Wichtiges und überreichte mir Geschenke im Austausch für jene, welche ich von Motecuzóma mitgebracht hatte. Und ich erinnere mich, daß man uns – meine Männer genauso wie Béu und mich – zu vielen üppigen Gelagen einlud. Wir überwanden uns sogar, jenes faulige Wasser zu trinken, auf welches die Teohuacána so stolz sind, ja, wir schmatzten sogar vernehmlich, um – wider unsere Überzeugung – so zu tun, als fänden wir es köstlich. Auch weiß ich noch, daß niemand merklich die Brauen in die Höhe zog, als ich für Béu und mich um getrennte Schlafkammern bat, wenngleich ich mich blaß daran erinnere, daß sie während einer der Nächte, die wir dort weilten, zu mir in meine Kammer kam. Sie sagte etwas, sie bettelte um etwas – und ich fertigte sie barsch ab –, woraufhin sie mich anflehte. Ich glaube, daraufhin habe ich sie geschlagen … doch jetzt kann ich mich nicht erinnern …

Nein, ehrwürdige Patres, seht mich nicht so an. Es ist keineswegs so, daß mein Gedächtnis mich hier plötzlich im Stich ließe. All diese Dinge sind mir in den vielen Jahren, die seither vergangen sind, unklar geblieben. Und zwar wegen etwas, was hinterher geschah – etwas, was sich so sehr in mein Gedächtnis eingebrannt hat, daß es alle Erinnerungen an das, was vorausging, auslöschte. Ich weiß noch, daß wir uns von unseren Tya Nya-Gastgebern unter vielen gegenseitigen Bekundungen herzlicher Achtung verabschiedeten und die Leute von Tya Nya die Straßen säumten, um uns zuzuwinken; nur Béu schien nicht recht zufrieden mit dem Erfolg unserer Gesandtschaft. Und ich nehme an, daß wir für den Rückweg auch wieder fünf Tage brauchten …

Es herrschte Dämmerung, als wir zurückkehrten und auf der anderen Seite von Yanquitlan auf das Ufer des Flusses stießen. Viel gebaut worden schien während unserer Abwesenheit nicht zu sein. Auch als ich meinen Topas vors Auge hielt, konnte ich nur einige wenige Hütten erkennen, die dort, wo das Dorf entstehen sollte, errichtet worden waren. Wieder schien irgendein Fest gefeiert zu werden, viele Feuer brannten und loderten hoch, obwohl es noch gar nicht ganz Nacht war. Wir schickten uns nicht sofort an, die Furt zu durchqueren, sondern standen da und lauschten den Rufen und dem Lachen auf der anderen Seite des Wassers, denn einen solchen Frohsinn hatten wir von dieser schwerfälligen Gesellschaft noch nie gehört. Dann tauchte ein Mann vor uns aus dem Dämmer auf dem Fluß auf, sah unseren haltenden Trupp, kam durch das flache Wasser geplanscht und begrüßte mich voller Hochachtung:

»Mixpantzinco! In Eurer erlauchten Gegenwart, Adlerritter, willkommen zurück. Wir hatten schon Angst, Ihr würdet überhaupt nichts von der Feier mitbekommen.«

»Was für einer Feier?« fragte ich. »Ich kenne keine Zeremonie, bei der die Mitwirkenden baden gehen sollen.«

Er lachte und sagte: »Ach, dazu hatte ich selbst Lust. Mir war so warm vom Tanzen und vom Lustigsein, daß ich mich abkühlen mußte. Aber ich bin schon oft genug mit dem Knochen gesegnet worden.« Mir schnürte sich der Hals zusammen. Er muß mein Schweigen für ein Zeichen von Nichtverstehen genommen haben und erklärte deshalb: »Ihr selbst habt doch den Priestern gesagt, sie sollten unbedingt alles tun, was die Götter fordern. Gewiß wußtet Ihr doch, daß der Tlacaxípe-Ualízli-Mond schon recht fortgeschritten war, als Ihr uns verließet, und der Gott noch nicht beschworen worden war, das urbar gemachte Land zu segnen.«

»Nein«, sagte ich oder stöhnte ich vielmehr. Nicht, daß ich ihm nicht geglaubt hätte; ich wußte, um welches Datum es ging. Ich versuchte nichts weiter, als den Gedanken zu verdrängen, welcher mein Herz sich zusammenkrampfen ließ wie eine Faust. Als wäre er stolz darauf, es mir als erster zu berichten, fuhr der Mann fort:

»Einige wollten Eure Rückkehr abwarten, Gebieter, aber die Priester mußten mit den Vorbereitungen vorankommen. Ihr wißt ja, daß wir keine Leckereien hatten, um die Erwählte zu verwöhnen, und auch keine Instrumente, um die richtige Musik dazu zu machen. Aber wir haben laut gesungen und viel Copáli verbrannt. Und da wir auch keinen Tempel hatten, die nötige Entjungferung darin vorzunehmen, haben die Priester ein Stück weichen Grases, das ganz von Büschen eingerahmt ist, zum Heiligtum erklärt; und an Freiwilligen war auch kein Mangel; viele haben es sogar mehrmals hintereinander gemacht. Da alle dafür waren, unseren Befehlshaber zu ehren, selbst in seiner Abwesenheit, fiel die Wahl derjenigen, die den Gott darstellen sollte, einstimmig aus. Und jetzt seid Ihr doch noch rechtzeitig zurückgekehrt, um den Gott zu sehen, dargestellt in Person …«

Er hielt unvermittelt inne, denn ich hatte mein Maquáhuitl in seinen Hals sausen lassen, daß dieser bis zum Knochen hinten aufsprang. Béu stieß einen leisen Schrei aus, und die Krieger hinter ihr reckten die Hälse. Einen Augenblick schwankte der Mann, die Augen entsetzt aufgerissen; schweigend öffnete und schloß er den Mund und die weit geöffneten roten Lippen unterhalb seines Kinns. Dann kippte sein Kopf nach hinten, die Wunde klaffte auf, Blut schoß hervor, und er stürzte zu meinen Füßen zu Boden.

Von Entsetzen gepackt, sagte Béu: »Záa, warum! Warum hast du das getan?«

»Schweig, Weib!« herrschte Zornig Auf Jedermann sie an.

Dann packte er mich beim Oberarm, womit er vielleicht verhinderte, daß auch ich zu Boden stürzte, und sagte: »Mixtli, vielleicht kommen wir noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhüten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Du hast ihn gehört. Er ist mit dem Knochen gesegnet worden. Alles, was dieser Gott fordert, ist getan.«

Qualánqui seufzte und sagte heiser: »Es tut mir leid.«

Einer von seinen alten Kameraden nahm meinen Arm und sagte:

»Uns allen tut es leid, junger Mixtli. Möchtest du lieber hier warten, während wir – während wir den Fluß überqueren?«

Ich sagte: »Nein. Ich führe immer noch das Kommando. Und ich werde befehlen, was in Yanquitlan zu geschehen hat.«

Der alte Mann nickte, hob dann die Stimme und befahl den Kriegern, die auf dem Pfad zusammengedrängt standen: »Ihr Männer! Zieht euch auseinander und bildet eine Linie wie zu einem Überfall! Das ganze Flußufer entlang. Macht schon!«

»Sag mir, was geschehen ist!« schrie Béu und rang die Hände. »Sag mir, was wir hier tun!«

»Nichts«, sagte ich, und meine Stimme krächzte. »Du tust gar nichts, Béu.« Ich schluckte den Kloß hinunter, den ich im Hals hatte, zwinkerte, sodaß die Tränen fortgewischt wurden, und tat mein möglichstes, um kraftvoll und aufrecht dazustehen. »Du tust nichts weiter, als hierzubleiben und auf dieser Seite des Wassers zu warten. Was immer du von drüben hören wirst und so lange es auch dauert – beweg dich nicht von der Stelle, bis ich dich hole.«

»Allein hierbleiben? Mit dem da?« Sie zeigte auf den Leichnam.

Ich sagte: »Den brauchst du nicht zu fürchten. Freu dich für ihn. In meinem ersten Zorn habe ich übereilt gehandelt. Diesem da habe ich einen leichten Tod geschenkt.«

Zornig Auf Jedermann schrie: »Ihr Männer – vorrücken über den Fluß. Keinen Laut von jetzt an. Kesselt das Dorf ein. Es darf niemand entkommen! Treibt sie alle zusammen und wartet dann auf Befehle! Komm, Mixtli, wenn du meinst, daß es sein muß.«

»Ich weiß, daß ich es tun muß«, sagte ich und war der erste, der ins Wasser hineinwatete.

Nochipa hatte davon gesprochen, für die Leute von Yanquitlan tanzen zu wollen, und genau das tat sie jetzt. Aber es war nicht der zurückhaltende und sittsame Tanz, den ich sie immer hatte tanzen sehen. Im rötlichen Dämmer, in dieser Mischung aus Zwielicht und Widerschein des Feuers sah ich, daß sie vollständig unbekleidet war, daß sie ohne jede Anmut tanzte, vielmehr mit unzüchtig gespreizten Beinen, und dabei zwei weiße Knochen überm Kopf schwenkte und gelegentlich damit hinauslangte, um jemand zu berühren, der auf sie zugetanzt kam.

Wiewohl ich es nicht wollte, hob ich meinen Topas, um sie deutlicher zu sehen. Das einzige, was sie trug, war die Halskette aus Opalen, welche ich ihr geschenkt, als sie vier Jahre alt gewesen war, und der ich an jedem ihrer folgenden acht Geburtstage – den ach so wenigen Geburtstagen –, welche sie seither gefeiert, einen neuen Glühwürmchenstein hinzugefügt hatte. Ihr für gewöhnlich sauber geflochtenes Haar hing ihr wirr und zerzaust um den Kopf. Ihre Brüste waren immer noch feste kleine Hügel und ihr Hinterteil immer noch wohlgeformt, doch zwischen ihren Beinen, wo fast unsichtbar ihr Tipili hätte sitzen sollen, war ein Riß in ihrer Haut, und durch diesen Riß hindurch ragte ein wippender männlicher Tepúli, und ein schlenkernder Olóltin-Sack hing heraus. Die weißen Stecken, welche sie schwenkte, waren ihre eigenen Oberschenkelknochen, doch die Hände, welche sie hielten, waren die eines Mannes, und ihre eigenen, halb abgetrennten Hände baumelten schlaff von seinen Handgelenken herunter.

Ein Freudenruf entrang sich den Lippen der Leute, als ich in den Kreis derer hineintrat, die umtanzten, was einst meine Tochter gewesen war. Sie war ein Kind gewesen, ein strahlendes Kind, und sie hatten ein Stück Aas aus ihr gemacht. Diese Puppe, welche einst Nochipa gewesen war, kam tanzend auf mich zu, hatte einen schimmernden Knochen erhoben, als ob sie mich segnend damit berühren wolle, ehe sie sich ihrem liebenden Vater in die Arme warf. Das schaurige Wesen kam so nahe, daß ich ihm in die Augen schauen konnte, doch es waren nicht Nochipas Augen. Dann stockten die tanzenden Füße, hörten ganz auf zu tanzen, blieben kurz vor mir stehen, gebannt und zum Stillstand gebracht durch den haßerfüllten, angewiderten Blick, mit dem ich sie bedachte. Und als das tanzende Wesen stillstand, kam auch die durcheinandertanzende und – springende Menge zum Stillstand, legte sich der freudige Lärm, und die Leute standen da und schauten mich und die Krieger, welche den Tanzplatz eingeschlossen hatten, unsicher an. Ich wartete, bis alles still geworden war und man nichts mehr hörte als das Knistern der Freudenfeuer. Ohne mich an jemand im besonderen zu wenden, sagte ich:

»Ergreift dieses abscheuliche Wesen – aber packt es sanft, denn es ist alles, was von einem einst lebendigen Mädchen übriggeblieben ist.«

Der kleine Priester in Nochipas Haut zwinkerte ungläubig, dann hatten zwei meiner Krieger ihn gepackt. Die anderen fünf oder sechs Priester drängten sich durch die Menge und erhoben zornig Einspruch gegen meine Unterbrechung der Zeremonie. Ich achtete ihrer nicht und sagte zu den Männern, welche den Gottesdarsteller festhielten:

»Ihr Gesicht ist von ihrem Körper abgelöst. Nehmt ihm das Gesicht ab – aber geht behutsam damit um – und tragt es ehrfürchtig zu jenem Feuer dort drüben, sprecht ein kleines Gebet für sie, die ihm Schönheit verliehen, und verbrennt es. Bringt mir die Opale, welche sie um den Hals trug.«

Ich wendete den Blick ab, als sie taten, wie geheißen. Die anderen Priester erregten sich immer mehr, bis Zornig Auf Jedermann sie so fürchterlich anherrschte, daß die Priester genauso verstummten und ergeben dastanden wie die regungslose Menge.

»Es ist geschehen, Ritter Mixtli«, meldete einer meiner Männer. Er reichte mir die Halskette; einige von den Glühwürmchensteinen waren noch von Nochipas Blut gerötet.

Ich wandte mich wieder dem gefangenen Priester zu. Er trug nicht mehr das Haar und das Antlitz meiner Tochter, sondern sein eigenes Gesicht, in dem es vor Furcht zuckte.

Ich sagte: »Legt ihn rücklings auf den Boden, dorthin, und seid vorsichtig, hütet euch, roh mit dem Fleisch meiner Tochter umzugehen. Treibt ihm Pflöcke durch Hände und Füße und heftet ihn auf den Boden.«

Wie alle anderen Priester auch, war er ein junger Mann. Und er schrie wie ein Knabe, als der erste spitze Pflock ihm durch die linke Hand getrieben wurde. Viermal insgesamt schrie er. Es kam Bewegung in die anderen Priester und Auswanderer, und sie murrten zurecht aus Furcht vor ihrem eigenen Schicksal, doch meine Krieger hielten ihre Waffen kampfbereit erhoben, und keiner wagte es, als erster zu fliehen. Ich sah hinunter auf die groteske Gestalt auf dem Boden, die sich wand und versuchte, sich von den vier Pflöcken zu befreien, welche seine vier ausgestreckten Glieder an den Boden hefteten. Nochipas jugendliche Brüste reckten ihre braunroten Brustwarzen stolz nach oben, doch das eben noch starrende Gemächt, welches sich zuvor zwischen ihren Beinen in die Höhe gereckt hatte, war erschlafft und in sich zusammengesunken.

»Bereitet Kalkwasser vor«, befahl ich. »Nehmt reichlich Kalk und tränkt die Haut damit. Tränkt die Haut die ganze Nacht damit, bis sie sich ganz vollgesogen hat. Dann warten wir, bis die Sonne aufgeht.«

Zornig Auf Jedermann nickte zustimmend. »Und die anderen? Wir erwarten deine Befehle, Mixtli.«

Von Entsetzen getrieben, sprang einer der anderen Priester zwischen uns und warf sich vor mir auf die Knie, packte mit seinen blutbefleckten Händen den Saum meines Umhangs und sagte: »Gebieter, wir haben dieses Fest mit Eurer ausdrücklichen Zustimmung begangen. Jeder andere hier hätte gejubelt, wenn sein Sohn oder seine Tochter zum Gottesdarsteller erkoren worden wäre, doch Eure Tochter war es, welche den Erfordernissen am besten entsprach. Nachdem sie von der Einwohnerschaft gewählt und diese Wahl durch die Priester gebilligt worden war, hättet Ihr Euch nicht weigern können, sie für die Zeremonie herzugeben.«

Ich sah ihn an. Er senkte die Augen und stammelte dann:

»Zumindest – in Tenochtítlan – hättet Ihr Euch nicht weigern können.« Er zupfte nochmals an meinem Umhang und sagte flehentlich: »Sie war eine Jungfrau, wie es sich gehört, aber sie war reif genug, zur Frau gemacht zu werden, was auch geschah. Ihr habt mir selbst gesagt, Gebieter: Tut unbedingt alles, was die Götter fordern. So hat der Blumentod des Mädchens jetzt Euer Volk und die neue Kolonie gesegnet, und es ist gewährleistet, daß dieser Boden reiche Frucht trägt. Ihr hättet Euch diesem Segen nicht widersetzen können. Glaubt mir, Gebieter, es ging uns nur darum, Xipe Totec zu ehren … und Eure Tochter … und Euch!«

Ich versetzte ihm einen Stoß, daß er auf die Seite fiel, und ich sagte zu Qualánqui: »Du weißt, womit die zur Xipe Totec gewählten für gewöhnlich geehrt werden?«

»Ich weiß es, Freund Mixtli.«

»Dann weißt du auch, was der unschuldigen und makellosen Nochipa angetan wurde. Das gleiche tut diesem Dreckshaufen an, tut es, wie und auf welche Weise immer es euch gefällt. Ihr habt genügend Krieger. Sollen sie ihre Lust haben, und sie brauchen sich nicht zu beeilen. Sollen sie sich doch etwas einfallen lassen und sich Zeit lassen. Aber wenn all das getan ist, will ich, daß niemand – und nichts hier in Yanquitlan zurückbleibt.«

Das war der letzte Befehl, den ich dort gab. Zornig Auf Jedermann übernahm das Kommando. Er drehte sich um und erteilte genaue Anweisungen, und die Menge heulte, als läge sie bereits im Todeskampf. Aber die Krieger taten mit Freuden, wie ihnen geheißen. Einige von ihnen trieben alle erwachsenen Männer zu einer besonderen Gruppe zusammen und hielten sie mit ihren drohend erhobenen Waffen in Schach. Die anderen Krieger legten ihre Waffen ab, zogen ihre Kleider aus und gingen ans Werk – oder ans Spiel –, und wenn einer von ihnen es müde wurde, konnte er mit denen tauschen, die Wache standen.

Was Qualánqui befohlen hatte und was tatsächlich geschah, war folgendes: Alle kleinen Kinder – solche, die noch nicht oder eben gerade laufen konnten – wurden von den Kriegern gepackt und in Stücke gehackt – nicht rasch, sondern langsam, so wie man eine Frucht zerteilt, die man essen will –, während ihre Eltern zusahen und weinten und drohten und fluchten. Dann wurde allen übrigen Kindern, allen, die alt genug waren, mißbraucht zu werden, die Jungen ebenso wie die Mädchen, von den Tecpanéca Gewalt angetan, während ihre älteren Schwestern und Brüder, Mütter und Väter gezwungen wurden, zuzusehen.

Nachdem die Kinder zerfetzt waren, daß sie keine Lust mehr bereiteten, warfen die Krieger sie beiseite und ließen sie sterben. Als nächstes ergriffen sie die älteren Kinder sowie die mannbaren Mädchen und Knaben und danach die jüngeren Frauen und Männer – ich habe schon erwähnt, daß die Priester alle junge Männer waren – und nahmen sie sich gleichfalls vor. Der an den Boden gepflockte Priester sah alles und wimmerte und blickte ängstlich auf sein eigenes, ungeschütztes Gemächt. Doch selbst in ihrem Schändungsrausch respektierten die Tecpanéca, daß dieser nicht angerührt werden dürfe, und sie taten es auch nicht.

Von Zeit zu Zeit versuchten die erwachsenen Männer, die auf der einen Seite zusammengetrieben worden waren, auszubrechen, wenn sie sahen, wie ihren Frauen, Schwestern, Brüdern, Söhnen und Töchtern Gewalt angetan wurde. Doch der Ring der Wachen hielt sie unerbittlich in Schach und ließ nicht einmal zu, daß sie sich von dem abkehrten, was vor ihren Augen geschah. Zuletzt, als jedes andere verwendbare Stück Fleisch geschändet war, bis nichts mehr mit ihm anzufangen war, als es tot dalag oder dalag und wünschte, es wäre tot, und zu sterben versuchte, wandten die Tecpanéca sich den älteren Leuten zu. Wiewohl inzwischen ihre Gier und ihre Kraft merklich abgenommen hatten, schafften die Krieger es dennoch, sich auch noch die reifen Frauen und selbst die zwei oder drei älteren Großmütter vorzunehmen, welche die Reise mitgemacht hatten.

Die Sonne stand am nächsten Tag bereits hoch am Himmel, als all dies vorüber war und Zornig Auf Jedermann befahl, die zusammengetriebenen Männer loszulassen. Sie, die Männer und Väter und Onkel der Geschändeten, liefen hinzu und warfen sich auf diesen oder jenen schlaffen, zerbrochenen und blut-, Speichel- und Omicetl-beschmierten Leib. Manche von den Geschändeten lebten noch – lebten und mußten mitansehen, wie die Krieger auf Qualánquis nächsten Befehl hin ihre Männer und Väter und Onkel packten. Was die Tecpanéca diesen Männern mit ihren Obsidianmessern antaten und mit den Dingen machten, die sie abschnitten, entehrte jeden Mann, während er dalag und verblutete.

Der an den Boden gepflockte Priester hatte sich inzwischen ganz still verhalten; vielleicht hatte er gehofft, man würde ihn vergessen. Doch als die Sonne höher stieg, begriff er, daß er einen weit schrecklicheren Tod sterben sollte als all die anderen, denn das, was von Nochipa noch übriggeblieben war, begann Rache zu nehmen. Ihre mit Kalkwasser getränkte Haut trocknete und zog sich dabei langsam und quälend zusammen. Was einst Nochipas Brüste gewesen waren, wurde in dem Maße flacher, wie die Haut ihren Würgegriff verstärkte. Der Priester fing an zu stöhnen und zu schnauben. Vielleicht wollte er seinem Entsetzen mit einem Schrei Luft machen, doch mußte er nach Luft ringen, um überhaupt noch atmen zu können, um noch ein bißchen länger leben zu können, brauchte alle Luft, die er noch bekommen konnte.

Unerbittlich zog die Haut sich weiter zusammen und behinderte den Kreislauf des Blutes in seinem Körper. Was Nochipas Hals sowie Hand- und Fußgelenke gewesen waren, wurde immer enger – wie eine Würgeschlinge, die langsam zugezogen wird. Gesicht Hände und Füße des Mannes wurden gedunsen, trieben immer mehr auf und nahmen eine häßliche violette Färbung an. Seinen offenstehenden Lippen entrang sich ein »Ughh … ughh …«, das jedoch immer mehr abgewürgt wurde. Und dasjenige, was Nochipas kleines Tipili gewesen war, zog sich um die Wurzel des Gemächts des Priesters zu immer jungfräulicherer Enge zusammen. Sein Olóltin-Sack schwoll an zur Größe eines Tlachtli-Balls, und sein eingezwängter Tepúli wurde dick und lang wie mein Unterarm.

Die Krieger gingen umher, untersuchten jeden Körper, um sich zu vergewissern, daß er entweder tot war oder im Sterben lag. Die Tecpanéca schenkten denjenigen, die noch lebten, nicht gnädig den Tod, sondern stellten nur fest, daß sie auch wirklich starben, wann der Gott es wollte – um, wie ich befohlen hatte, nichts Lebendiges in Yanquitlan zurückzulassen. Es war nichts mehr, was uns hier hielt – es galt nur noch, das Sterben des letzten Priesters zu beobachten.

So stand ich mit meinen vier alten Kameraden über ihm und betrachtete die im Todeskampf sich noch leicht hebende und zitternd senkende Brust, während die immer weiter sich zusammenziehende Haut seinen Rumpf und seine Gliedmaßen immer dünner und seine sichtbaren Glieder immer dicker machte. Seine Hände und Füße waren wie schwarze Brüste mit vielen schwarzen Brustwarzen daran, sein Kopf ein gesichtsloser, schwarzer Kürbis. Er fand noch Atem genug, um einen letzten lauten Schrei auszustoßen, als sein prall aufgerichteter Tepúli dem Druck nicht mehr standhielt, die Haut platzte, schwarzes Blut verspritzte und er zerfetzt zusammensank.

Er lebte zwar immer noch schwach, aber er war erledigt, unserer Rache war Genüge getan. Zornig Auf Jedermann befahl den Tecpanéca zu packen und sich auf den Rückmarsch vorzubereiten, während die anderen drei alten Männer mit mir zurückwateten durch den Fluß auf die andere Seite, wo Béu Ribé wartete. Schweigend wies ich ihr die blutbefleckten Opale. Ich weiß nicht, wieviel sie sonst noch gesehen oder gehört oder geahnt hat, und ich weiß nicht, wie ich in diesem Augenblick aussah. Aber sie richtete entsetzensgeweitete Augen auf mich, in denen Vorwurf und Kummer standen – vor allem aber Entsetzen –, und einen Moment schrak sie vor meiner Hand zurück, die ich nach ihr ausstreckte. »Komm, Wartender Mond«, sagte ich wie versteinert. »Ich bringe dich heim.«