Quinta Pars
Mein kleiner Sklave Cozcatl hieß mich mit aufrichtiger Freude und Erleichterung wieder daheim willkommen; wie er mir erzählte, war Jadestein Puppe ausgesprochen erbost gewesen, daß ich in den Ferien nach Hause gefahren war, und hatte ihre schlechte Laune an ihm ausgelassen. Obwohl sie über einen ganzen Schwarm von Dienerinnen verfügte, hatte sie Cozcatl gleichfalls mit Beschlag belegt, und er hatte sich für sie abplagen müssen, hatte die ganze Zeit über, da ich fort gewesen war, auf Trab sein oder aber stillhalten müssen, um sich auspeitschen zu lassen.
Er deutete an, einige der Aufträge, die sie ihm erteilt, seien ausgesprochen erniedrigend gewesen, und als ich nachbohrte, berichtete er auch noch, daß die Etwas Köstliches genannte Frau, nachdem sie das nächstemal in die Gemächer der Königin befohlen worden war, einen ätzenden Xocóyatl-Trank genommen habe – und dort, sich vor Schmerzen windend und mit Schaum vor dem Mund, gestorben sei. Seit dem Selbstmord von Etwas Köstlichem, von dem man außerhalb des Palastes noch nichts wußte, war Jadestein Puppe ihrer heimlichen Spiele wegen auf Cozcatl und die Zofen angewiesen gewesen, daß diese ihr Bettgenossen verschafften. Nach allem, was ich hörte, waren diese offenbar weniger zufriedenstellend gewesen als jene, die ich ihr zuvor beschafft hatte. Allerdings zwang mich die Dame nicht sogleich wieder in ihren Dienst, ja, schickte nicht einmal eine Sklavin über den Gang in meine Wohnung, um mir Grüße ausrichten zu lassen, und ließ auch sonst nicht erkennen, daß sie von meiner Rückkehr wisse oder sich darüber freue. Sie hatte genug mit dem Ochpanitzli-Fest zu tun, das hier in Texcóco genauso gefeiert wurde wie überall sonst.
Als die Festlichkeiten vorüber waren, trafen wie angekündigt Tlatli und Chimáli im Palast ein, und Jadestein Puppe beschäftigte sich damit, sie unterzubringen, dafür zu sorgen, daß ihre Werkstatt ausreichend mit Ton, Werkzeug und Farben ausgestattet wurde, und gab ihnen im übrigen genaue Anweisungen, welche Art Arbeit sie von ihnen erwartete. Ich ließ mich bei der Ankunft meiner einstigen Gefährten mit Bedacht nicht blicken. Als ich ihnen ein oder zwei Tage später zufällig im Palastgarten begegnete, würdigte ich sie nur eines knappen Grußes, den sie mit einem verlegenen Brummen erwiderten.
Danach begegnete ich ihnen recht häufig, da ihre Werkstätte im Keller unter Jadestein Puppes Palastflügel lag, nickte ihnen dann jedoch immer nur kurz grüßend zu. Sie hatten mittlerweile eine Reihe von Unterredungen mit ihrer Gönnerin hinter sich, und ich bemerkte, daß ihre anfängliche Begeisterung über ihre Arbeit beträchtlich abgeflaut war. Sie machten jetzt einen deutlich unruhigen und ängstlichen Eindruck. Ganz offensichtlich hätten sie sich liebend gern mit mir über die heikle Lage ausgesprochen, in der sie sich plötzlich befanden, doch solche Annäherungsversuche wies ich stets kalt ab.
Ich selber war mit etwas beschäftigt, was ich mir vorgenommen hatte – nämlich eine ganz besondere Zeichnung herzustellen, um sie Jadestein Puppe vorzulegen, wenn sie mich das nächstemal zu sich rufen ließ; dabei handelte es sich um das schwierigste Unternehmen, das ich mir bisher vorgenommen hatte. Es ging um die Darstellung eines ganz besonders stattlichen jungen Mannes; er sollte unwiderstehlich sein, mußte gleichzeitig aber auch einem jungen Mann ähneln, den es wirklich gab. Wie viele mißglückte Versuche habe ich nicht zerrissen, ehe mir eine zufriedenstellende Skizze gelang, an der ich dann noch lange feilte, bis ich zuletzt ein Blatt vorliegen hatte, von dem ich überzeugt war, daß es die Mädchen-Königin faszinieren würde. Und das tat es denn auch.
»Aber der ist mehr als stattlich, der ist wunderschön!« rief sie aus, als ich ihr das Blatt reichte. Sie versenkte sich in das Bild und murmelte dann: »Wäre er eine Frau, könnte es niemand anders sein als Jadestein Puppe.« Ein höheres Lob aus ihrem Munde war nicht denkbar. »Wer ist es?«
Ich sagte: »Er heißt Freude.«
»Ayyo, einen treffenderen Namen könnte es gar nicht für ihn geben. Und wo hast du ihn gefunden?«
»Er ist der Kronprinz meiner Heimatinsel, Gebieterin. Páctlitzin, Sohn von Tlauquécholtzin, dem Tecútli von Xaltócan.«
»Und als du ihn wiedersahest, hast du an mich gedacht und für mich ein wirklichkeitsgetreues Bild von ihm gemalt. Wie reizend von dir. Hole! Da könnte ich dir fast verzeihen, daß du mich so viele Tage lang schmählich allein gelassen hast. Jetzt geh hin und hole ihn mir!«
Wahrheitsgetreu sagte ich: »Ich fürchte, auf mein Geheiß hin würde er nicht kommen, Gebieterin. Pactli und ich sind nicht gut aufeinander zu sprechen. Freilich …«
»Dann tust du dies nicht, um ihm einen Gefallen zu tun«, fiel mir das Mädchen ins Wort. »Ich frage mich, ob du mir einen Gefallen tun willst.« Sie hatte ihre unergründlichen Augen argwöhnisch auf mich gerichtet. »Es stimmt, ich habe dich nie ungerecht behandelt, aber du hast auch keinen Grund, mir besonders zugetan zu sein. Warum dann plötzlich diese unerbetene Großzügigkeit?«
»Ich bemühe mich, den Wünschen und Befehlen meiner Gebieterin zuvorzukommen.«
Ohne ein weiteres Wort zog sie am Klingelzug, und als eine Zofe erschien, befahl sie, daß Chimáli und Tlatli geholt würden. Furchtsam meldeten sie sich, und Jadestein Puppe zeigte ihnen die Zeichnung. »Ihr beide stammt gleichfalls aus Xaltócan. Erkennt ihr diesen jungen Mann?«
»Pactli!« entfuhr es Chimáli. »Gewiß, das ist der Herr Freude, Gebieterin, aber …«
Ich warf ihm einen Blick zu, der ihn veranlaßte, den Mund zu schließen, ehe er sagen konnte: »Aber so edel hat der Herr Freude nie ausgesehen.« Und ich hatte nichts dagegen, daß Jadestein Puppe meinen Blick mitbekam.
»Ich verstehe«, sagte sie durchtrieben, als ob sie mir auf die Schliche gekommen wäre. »Ihr beide könnt jetzt gehen.« Und nachdem die beiden Freunde den Raum verlassen hatten, sagte sie zu mir: »Du sagtest, du seiest ihm nicht grün. Irgendeine schmutzige Rivalität um ein Mädchen, wie ich annehme, bei dem der junge Edelmann dich ausgestochen hat. Jetzt willst du listig dafür sorgen, daß der junge Mann ein letztes Stelldichein bekommt, von dem du weißt, daß es sein letztes sein wird.«
Mit Bedacht blickte ich an ihr vorbei, hinüber zu den Standbildern, die Meister Pixquitl von dem Schnellläufer Yeyac-Netztlin und dem Gärtner Xali-Otli geschaffen hatte, setzte jedoch ein unergründliches Lächeln auf und sagte: »Ich wiege mich gern in dem Glauben, uns allen dreien einen Gefallen zu tun. Meiner Gebieterin, Herrn Pactli und mir auch.«
Sie stieß ein unbekümmertes Lachen aus. »Sei's drum! Gewiß, ich bin dir jetzt wohl einen Gefallen schuldig. Aber du mußt ihn hierherschaffen.«
»Ich habe mir erlaubt, einen Brief vorzubereiten«, sagte ich und zog ihn hervor, »und zwar auf königlich-feiner Kitzhaut. Die üblichen Anweisungen: um Mitternacht am Osttor. Wenn Ihr Euren Namen darunterschreibt und den Ring beifügt, Gebieterin, kann ich nahezu mein Leben verwetten, daß er im selben Kanu eintrifft, das den Brief überbringt.«
»Mein kluger Hole!« sagte sie und trug den Brief zu einem niedrigen Tisch, auf dem Farbtopf und Schreibrohr bereitstanden. Da sie zwar eine Mexícatl, aber kein Mann war, konnte sie selbstverständlich weder lesen noch schreiben, doch als Adlige war sie zumindest imstande, die Symbole für ihren Namen hinzusetzen. »Du weißt, wo mein persönliches Acáli festgemacht ist. Bring dies dem Steuermann und sag ihm, er soll bei Sonnenuntergang losfahren. Ich will meine Freude morgen abend haben.«
Tlatli und Chimáli warteten draußen auf dem Gang, um mich abzufangen, und Tlatli sagte mit zitternder Stimme: »Weißt du, was du da tust Maulwurf?«
Mit nicht ganz so zittriger Stimme sagte Chimàli: »Weißt du, was dem Herrn Pactli blühen könnte"? Komm und sieh es dir an!«
Ich folgte ihnen die Steintreppe in ihre Werkstatt mit den Steinwänden hinunter. Sie war sehr gut ausgestattet, doch da sie unter der Erde lag und Tag und Nacht von Fackeln erhellt werden mußte, kam man sich wie in einem Verlies vor. Die Künstler hatten gleichzeitig an verschiedenen Standbildern gearbeitet, von denen ich zwei erkannte: Das des Sklaven Ich Werde Größe Besitzen stand bereits in voller Lebensgröße da, und Chimàli hatte angefangen, den Ton mit seinen besonderen Farben anzumalen.
»Sehr lebensecht«, sagte ich und meinte das durchaus aufrichtig. »Die Dame Jadestein Puppe wird zufrieden sein.«
»Ach, die Ähnlichkeit zu erreichen war nicht besonders schwierig«, erklärte Tlatli bescheiden. »Denn immerhin konnte ich mich ja an deine vorzügliche Zeichnung halten und überdies den echten Schädel mit Ton umkleiden.«
»Aber meine Bilder geben doch keine Farben wieder«, sagte ich, »und selbst Meisterbildhauer Pixquitl ist nicht imstande gewesen, die einzufangen. Chimáli, ich beglückwünsche dich zu deinem Können.«
Auch das war durchaus aufrichtig gemeint. Pixquitls Standbilder waren mit den üblichen ausdruckslosen Farben angestrichen worden: mit einem eintönigen blassen Kupferton überall dort, wo es Haut wiederzugeben galt, einem langweiligen Schwarz für die Haare und so weiter. Chi-mälis Hauttöne wiesen feine Unterschiede auf, genauso, wie die lebendiger Menschen: Nase und Ohren um ein weniges dunkler als der Rest des Gesichts, die Wangen etwas rosiger. Selbst im Schwarz der Haare schimmerten hier und da ins Bräunliche spielende Lichter auf.
»Sobald er im Brennofen gebrannt ist, müssen sie eigentlich noch besser aussehen«, erklärte Chimáli. »Dann verschmelzen die Farben besser miteinander. Und ach, schau dir dies hier an, Maulwurf.« Er führte mich um das Standbild herum und zeigte darauf: Unten am Tonumhang des Sklaven hatte Tlatli sein Falkenzeichen eingeritzt, und darunter prangte Chimális blutrotes Handzeichen.
»Jawohl, unmißverständlich«, erklärte ich mit gleichbleibender Stimme und ging zum nächsten Standbild hinüber. »Und das hier wird Etwas Köstliches.«
Voller Unbehagen sagte Tlatli: »Weißt du, Maulwurf, uns wäre es lieber, wir kennten die Namen der – naja – Modelle nicht.«
»Sie hieß nicht nur so.«
Bis jetzt waren nur Kopf und Schultern von Etwas Köstlichem fertig, welchselbige sich freilich in der gleichen Höhe befanden, wo sie auch im Leben gesessen hatten, denn sie saßen auf fest miteinander verbundenen Knochen, ihrem eigenen Skelett, das im Rücken von einer Stange gestützt wurde.
»Diese Statue gibt mir Probleme auf«, sagte Tlatli, als spräche er von einem Steinblock, in dem er unvermutet einen Fehler entdeckt hatte. Er zeigte mir eine Skizze, diejenige, welche ich auf dem Markt gefertigt hatte, den Porträtkopf, den ich als erstes von Etwas Köstlichem gezeichnet hatte. »Beim Kopf helfen mir die Zeichnung und der Totenschädel sehr. Und das Colótli, das Gerüst, verrät mir die Linienführung, aber …«
»Das Gerüst?« fragte ich.
»Welches dem ganzen von innen her Halt gibt. Jede Plastik aus Ton oder Wachs muß von einem Gerüst getragen werden, genauso, wie ein fleischiger Kaktus von einem Rippengerüst getragen wird. Und welch besseres Gerüst für eine menschliche Gestalt gäbe es, als das originale Knochengerüst?«
»In der Tat«, sagte ich. »Aber sagt mir, woher bekommt ihr das originale Knochengerüst?«
Chimáli sagte: »Die Dame Jadestein Puppe läßt es uns aus ihrer Küche liefern.«
»Aus ihrer Küche?«
Chimáli wich meinem Blick aus. »Frag mich nicht, wie sie ihre Köche und Küchenarbeiter dazu gebracht hat. Aber sie ziehen die Haut ab, holen das Gekröse heraus und lösen das Fleisch von den – vom Modell –, ohne daß es auseinanderfällt. Was dann übrig bleibt, sieden sie in riesigen Kesseln mit Kalkwasser. Sie müssen das Skelett herausholen, ehe Knorpel, Bänder und Sehnen sich auflösen. Deshalb sitzen immer noch ein paar Brocken Fleisch dran, die wir abkratzen müssen. Aber wir erhalten das Skelett unversehrt. Gewiß, manchmal löst sich ein Fingerknöchel oder eine Rippe, aber …«
»Aber unglücklicherweise«, sagte Tlatli, »gibt selbst das vollkommenste Knochengerüst keine Auskunft darüber, wie das Äußere gestaltet und gerundet war. Bei einer Männergestalt kann ich das ungefähr erraten, doch bei einer Frau ist das anders. Brüste und Hüften und Gesäß, weißt du.«
»Sie waren hinreißend«, murmelte ich, als ich mir vorstellte, wie Etwas Köstliches im Leben gewesen war. »Kommt in meine Kammer, dort kann ich euch noch eine Zeichnung zeigen, die euer Modell in ihrer ganzen Schönheit zeigt.«
In meinen Wohngemächern befahl ich Cozcatl, uns allen eine Schokolade zu bereiten. Tlatli und Chimáli gingen in den drei Räumen umher und konnten sich nicht genug tun über die Verfeinerung und den Luxus der Einrichtung, während ich meine Zeichnungen durchsah und eine hervorzog, die Etwas Köstliches in voller Größe zeigte.
»Ah, völlig nackt«, sagte Tlatli. »Das ist für meine Zwecke ideal.« Genausogut hätte er ein Urteil über guten Tonmergel abgeben können.
Chimáli besah sich das Bild der Toten gleichfalls und sagte: »Wahrhaftig, Maulwurf, deine Zeichnungen zeugen von größter Detailkenntnis. Wenn du davon abgehen würdest, nur mit Linien zu zeichnen und lerntest, mit Licht und Schatten der Farbe zu arbeiten, könntest du es zu einem echten Künstler bringen. Dann könntest auch du der Welt Schönheit schenken.«
Ich stieß ein mißtönendes Lachen aus. »Wie Standbilder, die auf ausgekochten Knochengerüsten ruhen.«
Tlatli nippte an seiner Schokolade und erklärte in rechtfertigendem Ton: »Wir haben diese Leute schließlich nicht umgebracht, Maulwurf. Und wir wissen auch nicht, warum die junge Königin will, daß sie für die Nachwelt erhalten bleiben. Aber überlege doch einmal. Wenn sie nur vergraben oder verbrannt würden, würden sie nur wieder zu Erde oder zu Asche werden. Wir sorgen jedenfalls dafür, daß sie weiter erhalten bleiben. Und tun unser bestes, etwas sehr Schönes aus ihnen zu machen.«
Ich sagte: »Ich bin Schreiber. Ich mache die Welt nicht schöner, als sie ist, ich beschreibe sie nur.«
Tlatli hielt meine Skizze von Etwas Köstlichem in die Höhe. »Du hast dies hier gemacht, und es ist etwas sehr Schönes.«
»Von Stund an werde ich nichts weiter zeichnen als WortBilder. Ich habe das letzte Bild gemalt, das ich je machen werde. Nie wieder werde ich ein Bildnis zeichnen.«
»Das von Herrn Freude«, erriet Chimàli. Dann sah er um sich, um sicher zu sein, daß auch kein Sklave in der Nähe sei. »Du sollst aber wissen, daß du Pactli der Gefahr auslieferst, in den Kalkwassertöpfen der Küche zu enden.«
»Daß er das tut, hoffe ich inständig«, erklärte ich. »Der Tod meiner Schwester darf nicht ungerächt bleiben.« Und dann hielt ich Chimáli dieselben Worte vor, die er mir vorgeworfen hatte: »Das wäre eine Schwäche und würde besudeln, was wir füreinander empfunden haben.«
Immerhin besaßen die beiden den Anstand, schweigend eine Weile die Köpfe zu senken, ehe Tlatli sagte:
»Du bringst uns alle in Gefahr, entdeckt zu werden.«
»In dieser Gefahr seid ihr längst, so wie ich schon lange darin stecke. Vielleicht hätte ich euch all das hier« – und mit einer Handbewegung umfaßte ich die ganze Werkstatt – »sagen können. Aber hättet ihr mir das in Xaltócan geglaubt?«
Chimáli hielt mir entgegen: »Es sind doch nur Gemeinfreie und Sklaven. Möglich, daß man sie nie vermißt. Aber Pactli ist Kronprinz einer Mexíca-Provinz!«
Ich schüttelte den Kopf. »Der Ehemann der Frau auf der Zeichnung dort – soweit ich gehört habe, hat er über dem Versuch herauszufinden, was aus seiner geliebten Frau geworden ist, den Verstand verloren. Er wird nie wieder normal werden. Selbst Sklaven verschwinden nicht ohne weiteres. Der Verehrte Sprecher läßt seine Wachen schon nach ihnen suchen und holt bereits Erkundigungen über etliche Personen ein, die vermißt werden. Daß alles ans Tageslicht kommt, ist nur eine Frage der Zeit. Und wenn Pactli pünktlich ist, könnte es bereits morgen abend geschehen.«
Sichtbar schwitzend, sagte Tlatli: »Maulwurf, wir können einfach nicht zulassen, daß du …«
»Ihr könnt mich nicht mehr aufhalten. Und wenn ihr versucht zu fliehen, oder Pactli oder Jadestein Puppe zu warnen, erfahre ich sofort davon. In dem Falle gehe ich augenblicklich zum Uey-Tlatoáni.«
Chimáli: »Dann ist dein Leben genauso verwirkt wie das aller anderen. Warum mir und Tlatli das antun, Maulwurf? Warum dir selber das antun?«
»Am Tod meiner Schwester ist nicht nur Pactli allein schuld. Ich hatte damit zu tun, ihr hattet damit zu tun. Ich bin entschlossen, mit meinem Leben dafür zu sühnen, falls das mein Tonáli ist. Ihr müßt die Chancen nützen, die ihr habt.«
»Chancen!« Tlatli warf die Hände in die Höhe. »Was für Chancen?«
»Eine sehr gute Chance. Ich vermute, daß die Dame selbst Verstand genug besitzt, nicht einen Prinzen von Mexíca umzubringen. Ich vermute, sie wird eine Zeitlang mit ihm spielen, vielleicht sogar eine lange Zeit hindurch, ihm dann ein Versprechen abnehmen, nichts zu verraten und ihn nach Hause schicken.«
»Ja«, sagte Chimáli nachdenklich. »Möglich, daß sie mit der Gefahr spielt, aber sie wird nicht schlicht Selbstmord begehen.« Dann wandte er sich Tlatli zu. »Und während er hier ist, können wir, du und ich, die bereits angefangenen Standbilder fertigstellen. Dann können wir dringende Arbeiten woanders vorschützen . . .«
Tlatli schluckte den Bodensatz seiner Schokolade hinunter. »Komm! Wir werden Tag und Nacht arbeiten. Alles, was wir angefangen haben, muß fertig sein. Wir müssen Grund haben, um dringliche Abreise zu bitten, ehe die Dame unseres Prinzen überdrüssig wird.«
Mit dieser Hoffnung machten sie, daß sie aus meinen Gemächern hinauskamen.
Ich hatte ihnen gegenüber nicht die Unwahrheit gesagt; ich hatte es nur unterlassen zu erwähnen, welche Vorkehrungen ich meinerseits getroffen hatte. Auch hatte ich die Wahrheit gesprochen, als ich meinte, daß Jadestein Puppe davor zurückschrecken würde, einen Prinzen zu beseitigen. Diese vage Möglichkeit bestand immerhin. Und aus diesem Grunde, und um dieses ganz bestimmten Gastes willen hatte ich in der üblichen Formulierung der Einladung eine winzige Kleinigkeit geändert.
Um Mitternacht des nächsten Tages hielt ich lauschend das Ohr an die Innenseite meiner Tür, bis ich hörte, wie Pitza und der Gast über den Gang kamen und in die Wohnung gegenüber eintraten. Sodann machte ich meine Tür noch einen Spalt weit auf, um besser hören zu können. Was ich erwartete, war ein Wutausbruch von Seiten Jadestein Puppes, sobald sie Pactlis gewöhnliches Gesicht mit meinem idealisierten Bildnis verglich. Worauf ich jedoch nie gefaßt gewesen wäre, war der spitze Aufschrei, den ich dann tatsächlich zu hören bekam: ein Aufschrei, der auf einem echten Schrecken beruhte, und dann meinen kreischend ausgestoßenen Namen. »Hole! Komm augenblicklich her! Hole!«
Das wollte mir als eine höchst ungewöhnliche Reaktion vorkommen, selbst für jemand, der das abstoßende Gesicht des Herrn Freude zum erstenmal sah. Ich machte meine Tür auf, trat hinaus und fand eine speertragende Wache davor stehen – und gegenüber, neben der Tür meiner Gebieterin, eine zweite. Beide rissen respektvoll ihre Speere in die Höhe, als ich hinaustrat, und keine versuchte, mich daran zu hindern, in die Gemächer meiner Gebieterin einzutreten.
Die junge Königin stand nur wenige Schritte von der Tür entfernt. Ihr Gesicht hatte sich häßlich verzerrt; fast weiß war es vor Schrecken. Dann jedoch lief sie puterrot an, und sie überhäufte mich mit einer Flut von Flüchen. »Was für eine Komödie soll das hier sein, du Hundesohn? Bildest du dir etwa ein, du könntest dich lustig über mich machen?«
So ging das in voller Lautstärke eine Weile weiter. Ich wandte mich nach Pitza und dem Mann um, den sie hergebracht hatte und – trotz der gemischten Gefühle, die mich bewegten, konnte ich einfach nicht anders – ich brach in schallendes Gelächter aus. Ich hatte ganz vergessen, daß Jadestein Puppe ihrer Augentropfen wegen außerordentlich kurzsichtig war. Sie mußte durch sämtliche Gemächer und Korridore ihrer Wohnung hindurchgeeilt sein, um den sehnlichst erwarteten Herrn Freude zu umarmen, und muß bis unmittelbar vor den Besucher gelangt sein, ehe ihre Augen ihr erlaubten, ihn klar zu sehen. Und das muß in der Tat genügt haben, ihr, die ihn noch nie gesehen hatte, einen Entsetzensschrei zu entlocken. Selbst für mich war sein Anblick eine Überraschung, die mich nahezu umwarf, doch ich brach nur in Lachen aus, statt zu schreien, denn ich hatte immerhin den Vorteil, den verhutzelten und buckligen kakaobraunen Mann bereits zu kennen.
Ich hatte den Brief an Pactli in einer Weise abgefaßt, die gewährleistete, daß er nicht unbemerkt herkommen konnte; aber ich hatte keine Ahnung, warum der alte Bucklige anstelle von Pactli gekommen war, und es schien auch nicht der rechte Augenblick, ihn danach zu fragen. Außerdem konnte ich nicht aufhören zu lachen.
»Ungetreu! Unverzeihlich! Unverfroren!« kreischte die Mädchen-Königin angesichts meines schallenden Gelächters, während Pitza versuchte, sich hinter den nächsten Vorhängen unsichtbar zu machen und der kakaobraune Mann meinen auf Kitzhaut geschriebenen Brief schwenkte und sagte: »Aber das ist doch Eure Unterschrift, nicht wahr, Gebieterin?«
Sie hörte auf mit ihrer Flut von Schmähungen und fuhr ihn knurrend an: »Jawohl! Aber kannst du dir vorstellen, daß er für einen elenden, abgerissenen Bettler bestimmt war? Jetzt mach deinen zahnlosen Mund zu!« Womit sie wieder zu mir herumfuhr. »Es muß ein Witz sein, wo du dich vor Lachen nicht halten kannst. Gestehe, und du wirst nur bis aufs Blut ausgepeitscht werden. Wenn du aber weiterlachst wie jetzt, dann schwöre ich dir, daß du …«
»Aber selbstverständlich, Gebieterin«, ließ der Mann sich nicht beirren, »erkenne ich in diesem Brief die Bilderschrift meines alten Freundes Maulwurf hier.«
»Ich habe gesagt: Halte den Mund! Sobald sich dir die blumenumrankte Würgschlinge um den Hals legt, wirst du jedes Wort bedauern, das du jetzt sprichst. Außerdem heißt er Hole!«
»Wirklich? Wie passend.« Seine zu einem Schlitz verengten Augen richteten sich auf mich, und wie es darin glitzerte, das war alles andere als freundlich, so daß mir das Lachen verging. »Doch in dem Brief heißt es deutlich, meine Gebieterin, daß ich mich um diese Stunde hier einzufinden und diesen Ring zu tragen hätte … und …«
»Nicht tragen, elender Tropf!« rief sie höchst unklugerweise. »Du Schelm willst jetzt wohl auch noch behaupten, du könntest lesen? Der Ring sollte verborgen werden! Du hingegen mußt ihn in ganz Texcóco herumgezeigt und damit geprahlt haben … yya ayya« Sie knirschte mit den Zähnen und fuhr wieder zu mir herum. »Ist dir klar, was du mit deinem unseligen Scherz alles angerichtet hast, du Tolpatsch du? Yya ouiya, aber warte, du stirbst den qualvollsten und langsamsten aller Tode!«
»Wieso ein Scherz, hohe Gebieterin?« fragte der Bucklige. »Nach diesem Brief müßt Ihr jemanden erwartet haben. Und mit welcher Freude Ihr mir entgegengelaufen gekommen seid, mich zu begrüßen …«
»Dich? Dich zu begrüßen?« kreischte das Mädchen und warf die Arme in die Höhe, gleichsam als lasse sie jetzt alle Vorsicht fahren. »Glaubst du etwa, selbst die billigste, hungrigste Hafenhure von ganz Texcóco würde sich zu dir legen?« Und nochmals wandte sie sich mir zu. »Hole! Warum hast du dies getan?«
»Gebieterin«, sagte ich und brachte diese harten Worte mit sanftester Stimme vor: »Ich habe oft gemeint, Euer hoher Gemahl habe es sich nicht genau genug überlegt, als er mir befahl, der Dame Jadestein Puppe zu dienen – und zwar fraglos zu dienen. Ich war jedoch gehalten zu gehorchen. Und wie Ihr mir einmal in aller Deutlichkeit klargemacht habt, Gebieterin, konnte ich Eure Verruchtheit nicht verraten, ohne sowohl Euch als auch ihm ungehorsam zu sein. Deshalb mußte ich Euch eine Falle stellen, damit Ihr Euch endlich selbst verrietet.«
Sie wich einen Schritt vor mir zurück, und ihr Mund bewegte sich, ohne daß ein Wort herauskam. Nach und nach erblaßte ihr vor Wut puterrotes Gesicht wieder. »Du … mir eine Falle gestellt? Dann ist dies … kein Scherz?«
»Jedenfalls nicht seiner, sondern meiner«, erklärte der Bucklige. »Ich war unten an der Schiffslände, als ein wohlgekleideter, gesalbter und nach Wohlgerüchen duftender junger Herr Eurem Acáli entstieg, Gebieterin, und mutig hierherkam, wobei er, allen sichtbar, am kleinen Finger seiner großen Hand diesen Ring hier in die Höhe reckte. Das sah nach unbesonnener Taktlosigkeit, wo nicht gar nach einem sträflichen Vergehen aus. Ich ließ ihm daher durch die Wache sowohl den Ring als auch noch den Brief abnehmen, den er bei sich trug. Und brachte diese Dinge dann an seiner Statt.«
»Du … du … kraft welcher Autorität … wie kannst du es wagen, dich hier einzumischen?« stieß sie stotternd hervor. »Hole! Dieser Mann ist ein Dieb, er hat es selbst gestanden. Ich befehle dir, diesen Mann zu töten, hier und auf der Stelle, damit ich selbst es sehe.«
»Nein, Gebieterin«, sagte ich immer noch mit sanfter Stimme, denn inzwischen fing sie an, mir leid zu tun. »Für dies eine Mal gehorche ich nicht. Ich meine, Ihr habt Euer wahres Wesen zumindest einem anderen Menschen gegenüber enthüllt. Ich meine, ich bin aller Pflicht zum Gehorsam entbunden. Ich meine, jetzt werdet Ihr nicht mehr töten.«
Im Nu war sie herumgefahren und riß die Tür zum Korridor auf. Vielleicht hatte sie vor zu entfliehen, doch die Wache draußen stellte sich ihr entgegen und versperrte ihr den Durchgang, woraufhin sie sagte: »Wache, hier drinnen habe ich einen Dieb und einen Verräter. Sieh, dieser Bettler dort trägt meinen Ring, der mir gestohlen wurde. Und dieser Mann dort hat sich einem Befehl von mir widersetzt. Ich will, daß du sie beide nimmst und …«
»Verzeihung, Gebieterin«, brummte die Wache. »Ich habe bereits meine Befehle von Uey-Tlatoáni – anderslautende Befehle.«
Die Kinnlade fiel ihr herab.
Ich sagte: »Wache, leih mir für einen Augenblick deinen Speer.«
Er zögerte, doch dann reichte er ihn mir. Ich trat an den Alkoven mit der Statue des Gärtners Xali-Otli darin und trieb ihr die Speerspitze unters Kinn. Der bemalte Kopf fiel herunter und rollte weiter, wobei der gebrannte Ton zerbrach und zerkrümelte. Als der Kopf endlich gegen die Wand gegenüber prallte und liegenblieb, war er nur mehr ein nackter, bleicher Totenschädel, das sauberste und aufrichtigste Gesicht, das ein Mensch aufsetzen kann. Ausdruckslos verfolgte der braune Bettler seinen Weg, doch die großen, unendlich geweiteten Augen von Jadestein Puppe schienen ihr überzugehen. Sie waren nur noch schwarze, schimmernde Teiche des Entsetzens. Ich reichte der Wache den Speer zurück und fragte: »Und wie lauten deine Befehle?«
»Ihr und Euer kleiner Sklave habt Euch in Eure Gemächer zu begeben. Die Königin und ihre Dienerinnen haben in diesem hier zu bleiben. Ihr alle steht unter Bewachung, während Eure Wohnräume durchsucht werden. Bis weitere Befehle vom Verehrten Sprecher kommen.«
Ich sagte zu dem Kakao-Mann: »Wollt Ihr mir in meiner Gefangenschaft eine Weile Gesellschaft leisten, Verehrungswürdiger, und vielleicht eine Tasse Schokolade zu Euch nehmen?«
»Nein«, sagte er nur und riß die Augen von dem nackten Totenschädel los. »Mich hat man beauftragt, über die Ereignisse von heute nacht Bericht zu erstatten. Ich nehme an, jetzt wird Herr Nezahualpíli eine noch weitergehende Durchsuchung auch der Bildhauerwerkstatt und anderer Räumlichkeiten anordnen.«
Ich vollführte die Geste des Erdeküssens. »Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht, Gebieterin.« Sie starrte mich an, doch ich glaube, sie hat mich nicht gesehen.
Ich kehrte in meine eigenen Gemächer zurück. Dort wurde von Herrn Stark Knochen und einigen anderen Vertrauten des Verehrten Sprechers bereits das Unterste zuoberst gekehrt. Meine Zeichnungen hatten sie bereits entdeckt – die Skizzen, die Jadestein Puppe und Etwas Köstliches in inniger Umarmung darstellten.
Ihr sagt Ihr würdet an der heutigen Sitzung teilnehmen, weil es Euch interessiere zu hören, wie unsere Gerichtsverfahren vonstatten gingen, hochwürdigster Herr Bischof. Dabei ist es eigentlich gar nicht nötig, den Prozeß gegen Jadestein Puppe zu beschreiben. Den Verlauf können Euer Exzellenz höchst detailliert in den Archiven des Hofs von Texcóco nachlesen, wenn Ihr Euch die Mühe macht, in diesen Büchern nachzuschlagen. Aber Euer Exzellenz werden ihn auch in der schriftlich festgehaltenen Historie anderer Länder, ja, sogar in den mündlich überlieferten Erzählungen des einfaches Volkes finden, denn an den Skandal damals erinnert man sich auch heute noch – insbesondere die Frauen tun das.
Nezahualpíli lud zum Prozeß die Herrscher sämtlicher benachbarter Völker ein, dazu alle ihre Tlamatintin oder Weisen Männer und sämtliche Tecútlin auch noch der unbedeutendsten Provinzen. Er forderte sie sogar auf, ihre Frauen und Hofdamen mitzubringen. Teils tat er das, um in aller Öffentlichkeit kundzutun, daß nicht einmal die höchstgeborene aller Frauen ungestraft sündigen könne. Aber er hatte noch einen anderen Grund. Die Angeklagte war die Tochter des mächtigsten Herrschers in Der Einen Welt, des aufbrausenden und kriegerischen Verehrten Sprechers Ahuítzotl von den Mexíca. Indem er ihn und alle höchsten Würdenträger jedes anderen Volkes einlud, wollte Nezahualpíli auch noch kundtun, daß das Verfahren im Geiste absoluter Gerechtigkeit geführt werde. Aus diesem selben Grunde nahm Nezahualpíli selbst übrigens nur als Beobachter an der Verhandlung teil. Das Verhör von Verteidigern und Zeugen übertrug er zwei persönlich nicht beteiligten Männern: seiner Weiblichen Schlange, Herrn Stark Knochen, und einem Tlamatini-Richter namens Tepitzic.
Der Saal des Gerichtsgebäudes von Texcóco war bis auf den letzten Platz besetzt. Vielleicht war es die größte Versammlung von – befreundeten, neutralen und verfeindeten – Herrschern, die jemals an einem Ort stattgefunden hatte. Einzig Ahuítzotl erschien nicht. Er konnte sich unmöglich der Schande ausliefern, von allen angegafft, bemitleidet und bespöttelt zu werden, während unerbittlich das schändliche Tun seiner Tochter ans Tageslicht gezerrt wurde. Statt dessen schickte er die Weibliche Schlange von Tenochtítlan. Unter den vielen anderen großen Herren, die an der Verhandlung teilnahmen, befand sich auch der Tecútli von Xaltocan, Pactlis Vater Rot Reiher. Gebeugten Hauptes saß er während der gesamten Verhandlung da und ließ die Demütigung über sich ergehen. Nur wenige Male hob er die traurigen und verquollenen alten Augen auf und sah dann jedesmal mich an. Vermutlich dachte er dabei an etwas, was er vor langer, langer Zeit gesagt hatte, als ich in meiner Kindheit anfing, meinen besonderen Ehrgeiz zu entwickeln: »Welchen Beruf du auch einmal ausüben wirst, junger Mann, du wirst es weit darin bringen.«
Das Verhör sämtlicher beteiligter Personen befaßte sich mit allen Einzelheiten und zog sich sehr in die Länge, was ermüdend war und wobei es häufig auch zu Wiederholungen kam. Ich erinnere mich nur an die aufschlußreichsten Fragen und Antworten, die ich Euer Exzellenz gern wiederholen will. Die Hauptangeklagten waren selbstverständlich Jadestein Puppe und Herr Freude. Pactli wurde als erster aufgerufen; bleich und mit schlotternden Knien sprach er den Eid. Unter den vielen anderen Worten, die von den Untersuchungsrichtern an ihn gerichtet wurden, waren auch diese:
»Páctlitzin, Ihr seid von der Palastwache auf dem Gelände ergriffen worden, welches zum Flügel der Dame Chálchiunenetzin gehört. Diesen Bereich, der den Hofdamen vorbehalten ist, zu betreten, ist für jeden Mann ein Schwerverbrechen, aus welchem Grunde und unter welchem Vorwand auch immer. Seid Ihr Euch darüber im klaren?«
Er schluckte vernehmlich und sagte mit schwacher Stimme: »Ja.« Damit war sein Schicksal besiegelt.
Jadestein Puppe war die nächste, die aufgerufen wurde; eine von den unzähligen Fragen, die an sie gerichtet wurden, hatte eine Antwort zur Folge, bei welcher ein Raunen durch die Zuhörer ging. Es war Richter Tepitzic, der sprach:
»Ihr habt gestanden, daß es die Arbeiter in Eurer Küche waren, welche Eure Liebhaber umbrachten und ihre Skelette präparierten, um sie für den Bildhauer herzurichten. Wir meinen, daß selbst die niedrigsten und abgebrühtesten Sklaven diese Arbeit nur unter äußerstem Druck getan haben können. Mit welchen Mitteln habt Ihr sie dazu bewogen?«
Mit ihrer Kleinmädchenstimme sagte sie: »Lange vorher habe ich meine Wachen in der Küche Posten beziehen lassen. Sie sollten darauf achten, daß die Küchenarbeiter nichts zu essen bekamen und nicht einmal von dem kosteten, was sie für mich kochten. Ich habe sie solange hungern lassen, bis sie sich einverstanden erklärten – alles zu tun, was ich befahl. Nachdem sie es erst einmal getan und sich dabei hatten satt essen können, bedurfte es weder Überredung noch Drohung und auch keiner Wachen mehr in der Küche …«
Der Rest ihrer Worte ging in der allgemeinen Erregung unter. Mein kleiner Sklave Cozcatl erbrach sich und mußte für eine Weile hinausgebracht werden auf den Gang. Ich wußte, wie ihm zumute war, denn auch mir war ganz flau im Magen. Unser Essen war aus derselben Küche gekommen.
Als Hauptmitverschwörer von Jadestein Puppe kam als nächster ich an die Reihe. Ich legte über alles, was ich für sie getan hatte, ein umfassendes Geständnis ab und ließ nichts aus. Als ich anfing, von Etwas Köstliches zu berichten, wurde ich von einer weiteren Welle der Erregung im Saal unterbrochen. Der verwitwete Ehemann, der den Verstand verloren hatte, mußte von den Wachen daran gehindert werden, sich auf mich zu stürzen und mich zu erwürgen; er schrie, schlug um sich, versprühte Speichel und wurde hinausgetragen. Als ich meinen Bericht geendet hatte, sah Herr Stark Knochen mich voller Verachtung an und sagte:
»Zumindest ein freimütiges Geständnis. Hast du sonst noch etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?«
Ich sagte: »Nein, nichts.«
Woraufhin sich eine andere Stimme vernehmen ließ. »Wenn der Schreiber Dunkle Wolke es ablehnt, sich zu verteidigen«, sagte Nezahualpíli, »gestatten die Herren Richter dann, daß ich ein paar mildernde Umstände anführe?« Zögernd gaben die beiden Untersuchungsrichter ihr Einverständnis; ihnen ging es offensichtlich wider den Strich, daß ich von irgendwelcher Schuld freigesprochen werden sollte, doch konnten sie ihrem Uey-Tlatoáni seine Bitte nicht abschlagen.
Nezahualpíli erklärte: »Als dieser junge Mann der Dame Jadestein Puppe diente, tat er dies, wenn auch vielleicht unbesonnen, auf meinen ausdrücklichen Befehl hin, daß er der Dame fraglos und aufs Wort zu gehorchen habe. Ich gebe zu bedenken, daß ich meinen eigenen Befehl schlecht formuliert habe. Des weiteren ist deutlich geworden, daß Dunkle Wolke zuletzt die einzige Möglichkeit ergriff, die Wahrheit über die ehebrecherische und mörderische Dame ans Tageslicht zu bringen. Hätte er das nicht getan, meine Herren Richter, wären wir womöglich gezwungen gewesen, sie irgendwann einmal wegen Mordes an vielen weiteren Opfern vor Gericht zu stellen.«
Richter Tepitzic brummte: »Die Worte unseres Herrn Nezahualpíli werden bei unseren Beratungen gebührend berücksichtigt werden.« Woraufhin er dann wieder mich ansah. »Ich habe nur noch eine weitere Frage an den Angeklagten zu richten. Hast du, Tliléctic-Mixtli, der Dame Jadestein Puppe jemals beigewohnt?«
Ich sagte: »Nein, mein Herr.«
Offensichtlich in der Hoffnung, mich bei einer Lüge ertappt zu haben, die mein Schicksal besiegeln würde, rief er meinen Sklaven Cozcatl auf und fragte ihn: »Hat dein Herr jemals körperliche Beziehungen mit der Dame Jadestein Puppe unterhalten?«
Mit piepsiger Stimme sagte Cozcatl: »Nein, mein Herr!«
Doch Tepitzic ließ nicht locker: »Aber sie hatten jede Gelegenheit dazu.«
Ohne sich beirren zu lassen, sagte Cozcatl: »Nein, meine Herren. Wann immer mein Gebieter für längere oder kürzere Zeit bei der Dame Jadestein Puppe weilte, war ich dabei. Weder mein Gebieter noch irgendein anderer Mann vom Hof hat der Dame beigewohnt – bis auf einen. Und das geschah während der Abwesenheit meines Gebieters auf Xaltocan, eines Nachts, als die Dame sich keinen Bettgenossen von außerhalb verschaffen konnte.«
Die Richter lehnten sich vor. »Jemand aus dem Palast? Wer?«
Cozcatl sagte: »Ich«, und die Richter fuhren wieder zurück.
»Du?« fragte Herr Stark Knochen. »Wie alt bist du, Sklave?«
»Ich bin gerade elf geworden, mein Herr.«
»Sprich lauter, Knirps! Willst du uns etwa weismachen, du habest der angeklagten Ehebrecherin als Bettgenosse gedient? Dich tatsächlich mit ihr gepaart? Daß du schon ein Tepúli besitzt, das imstande wäre …«
»Mein Tepúli?« piepste Cozcatl schrill und entsetzt darüber, daß er die Unverschämtheit besessen hatte, dem Richter ins Wort zu fallen. »Meine Herren, mein Tepúli ist zum Wasserabschlagen da! Ich habe meine Dame – wie sie es von mir verlangte – mit dem Mund bedient. Nie würde ich eine Edelfrau mit etwas so Häßlichem wie einem Tepúli berühren …«
Wenn er noch mehr gesagt hat, so ging das im brüllenden Gelächter der Zuschauer unter. Selbst die Richter hatten Mühe, ein unbewegtes Gesicht zu bewahren. Das war der einzige Augenblick an diesem schrecklichen Tag, da es zu einer belustigten Erleichterung kam.
Tlatli war einer der letzten Mitverschwörer, die aufgerufen wurden. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß Chimáli in jener Nacht, da Nezahualpílis Wachen die Werkstatt durchsuchten, etwas zu erledigen hatte und außerhalb von Texcóco weilte. Für Nezahualpíli oder seine Helfer war kein Grund vorhanden gewesen, auch noch das Vorhandensein eines weiteren Künstlers zu vermuten. Offensichtlich hatte auch hinterher keiner von den Angeklagten daran gedacht, Chimáli zu erwähnen, und offenbar war es Tlatli bislang gelungen, so zu tun, als habe er allein gearbeitet.
Stark Knochen sagte: »Chicuáce-Cali Ixtac-Tlatli, du gestehst, daß einige der zum Beweis vorgelegten Standbilder dein Werk sind.«
»Jawohl, meine Herren«, sagte er mit fester Stimme. »Ich kann das kaum leugnen. Ihr könnt mein Signaturzeichen auf ihnen erkennen: das eingeschnittene Symbol eines Falkenkopfes und darunter den Abdruck meiner blutigen Hand.« Seine Augen suchten die meinen und flehten um Verschwiegenheit als wollte er zu mir sagen: »Schone jedenfalls meine Frau«, und ich bewahrte auch tatsächlich Schweigen.
Zuletzt zogen die beiden Untersuchungsrichter sich zur Beratung zurück. Alle anderen in der Halle der Gerechtigkeit traten dankbar aus dem großen, aber stickig gewordenen Raum hinaus ins Freie, um im Garten frische Luft zu schnappen oder eine Poquietl zu rauchen. Wir Angeklagten blieben – zwei bewaffnete Wachen neben einem jeden von uns – zurück und vermieden es tunlichst, einander anzublicken.
Es dauerte nicht lange, bis die Richter zurückkehrten und die Halle sich wieder füllte. Die Weibliche Schlange, Herr Stark Knochen, verkündete nach der üblichen Formel: »Wir, die mit der Untersuchung beauftragten Richter, haben uns bei unseren Beratungen ausschließlich auf das hier vorgebrachte Beweismaterial und die Zeugenaussagen verlassen und haben uns redlich, ohne jemanden zu bevorzugen und ohne daß irgendein anderer Mensch eingegriffen hätte, unser Urteil gebildet und uns dabei einzig auf die Hilfe von Tonantzin, der mildtätigen Göttin des Gesetzes, der Gnade und der Gerechtigkeit, verlassen.«
Er nahm einen Bogen feinsten Papiers zur Hand, las darin nach und verkündete zunächst: »Wir finden übereinstimmend, daß der angeklagte Schreiber, Chicóme-Xochitl Tliléctic-Mixtli einen Freispruch verdient insofern, als seine Handlungen, wenngleich an sich strafwürdig, nicht in böser Absicht begangen und überdies dadurch gesühnt wurden, daß durch sein Eingreifen andere zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Allerdings« – und bei diesem Wort blickte Stark Knochen erst auf den Verehrten Sprecher, um dann mich anzufunkeln – »empfehlen wir, daß der Beklagte als Fremder aus diesem Lande, dessen Gastfreundschaft er mißbraucht hat, verstoßen werde.«
Nun, ich will nicht behaupten, daß ich darüber erfreut gewesen wäre. Nur wäre es Nezahualpíli ein leichtes gewesen, dafür zu sorgen, daß die Richter mit mir genauso erbarmungslos umgesprungen wären, wie sie es mit den anderen taten. Die Weibliche Schlange vergewisserte sich nochmals in seinem Papier und verkündete dann: »Nach unserem Urteil sind folgende Personen der verschiedenen Verbrechen schuldig, deretwegen sie hier angeklagt wurden, und bei denen es sich um besonders verruchte, tückische und in den Augen der Götter verdammenswerte Taten handelt.« Dann las er die Namensliste der Schuldigen vor: der Herr Freude, die Dame Jadestein Puppe, die Bildhauer Pixquitl und Tlatli, mein Sklave Cozcatl, zwei Wachen, die abwechselnd Nachtdienst am Osttor des Palastes taten, Jadestein Puppes Zofe Pitza und zahllose andere Dienerinnen sowie sämtliche Köche und Küchenarbeiter. Damit schloß die mit eintöniger Stimme vorgetragene Aufzählung. Sodann sagte er: »Was diese für schuldig befundenen Personen betrifft, so sprechen wir keinerlei Empfehlungen aus, weder in bezug auf die Schwere noch auf die Milde des Urteils. Die Urteile, die über sie verhängt werden, werden vom Verehrten Sprecher verkündet.«
Langsam erhob sich Nezahualpíli. Einen Augenblick stand er in tiefes Nachdenken versunken da, dann sagte er: »Wie die Herren Untersuchungsrichter empfohlen haben, wird der Schreiber Dunkle Wolke von Texcóco und allen Herrschaftsbereichen der Acólhua verbannt. Den überführten Sklaven Cozcatl begnadige ich hiermit in Ansehung seines zarten Alters, doch wird er gleichfalls aus diesen Landen verbannt. Die Edlen Páctlitzin und Chálchiunenetzin werden nichtöffentlich hingerichtet; die Art ihres Todes zu bestimmen, überlasse ich den Edelfrauen des Hofes von Texcóco. Alle anderen von den Herren Richtern schuldig Gesprochenen sollen öffentlich durch die Icpacxóchitl zu Tode gebracht werden; es wird ihnen verwehrt, vorher Tlazolteotl ihre Vergehen zu beichten. Ihre Leichen sollen zusammen mit den Überresten ihrer Opfer auf einem gemeinsamen Scheiterhaufen den Flammen überantwortet werden.«
Ich jubelte innerlich, daß der kleine Cozcatl begnadigt worden war, hatte jedoch Mitleid mit den anderen Sklaven und Gemeinfreien. Bei der Icpacxóchitl handelte es sich um die blumenumwundene Würgschlinge; durch sie zu sterben, war schon schlimm genug. Doch außerdem hatte Nezahualpíli ihnen den Trost verweigert, ihre Sünden einem Priester der Tlazolteotl zu bekennen, was bedeutete, daß ihre Missetaten nicht von der Göttin Kot Fresserin getilgt wurden – und da sie zusammen mit ihren Opfern zu Asche verbrannt werden sollten, mußten sie ihre Schuld auf dem Weg zu jeder Gegenwelt mitschleppen, die ihnen bestimmt war; es bedeutete, daß sie eine Ewigkeit an unerträglichen Reuegefühlen leiden mußten.
Cozcatl und ich wurden von unseren Wachen zurückgebracht in meine Gemächer, und dort angekommen, fauchte eine der Wachen: »Was ist denn das?« An der Tür meiner Wohnung, in der Höhe meines Kopfes, prangte ein Zeichen – der Abdruck einer blutigen Hand –, ein stummes Zeichen der Erinnerung daran, daß ich nicht der einzige Schuldige war, welcher an diesem Tage mit dem Leben davongekommen war; und eine unmißverständliche Warnung, daß Chimáli nicht die Absicht hatte, seinen Verlust ungerächt hinzunehmen.
»Da hat sich irgend jemand einen Spaß erlaubt«, tat ich es achselzuckend ab. »Mein Sklave wird das schon wieder abwaschen.«
Cozcatl nahm einen Schwamm und trat mit einem Krug Wasser nach draußen auf den Korridor, während ich gleich hinter der Tür wartete und lauschte. Es dauerte nicht lange, da hörte ich, wie Jadestein Puppe gleichfalls in Gewahrsam gebracht wurde. Den Klang ihrer kleinen Schritte konnte ich unter dem Gepolter der Wachen zwar nicht unterscheiden, doch als Cozcatl mit seinem Krug geröteten Wassers wieder hereinkam, sagte er:
»Die Dame war in Tränen aufgelöst, Herr. Und außer ihren Wachen ist auch noch ein Priester der Tlazoltéotl mitgekommen.«
Laut dachte ich: »Wenn sie schon ihre Sünden bekennt, auf daß sie aufgefressen werden, bedeutete das, daß ihr nicht mehr viel Zeit bleibt.« Und wirklich, ihr blieb sehr wenig. Es sollte nicht lange dauern, da hörte ich, wie ihre Tür abermals geöffnet und sie zum letzten Stelldichein ihres Lebens geleitet wurde.
»Herr«, sagte Cozcatl schüchtern, »Ihr und ich, wir sind jetzt beide Ausgestoßene.«
»Ja«, sagte ich seufzend.
»Wenn wir verbannt werden …« Er rang seine von der Arbeit schwieligen Hände. »Werdet Ihr mich dann mitnehmen? Als Euer Sklave und Diener?«
»Ja«, erklärte ich nach einigem Überlegen. »Du hast mir treu gedient, und ich werde dich nicht verlassen. Aber ehrlich, Cozcatl, ich habe nicht die geringste Ahnung, wohin wir uns wenden sollen.«
Der Junge und ich durften meine Wohnung nicht verlassen und wurden nicht Zeuge der Hinrichtungen. Später erfuhr ich jedoch Einzelheiten darüber, wie die Bestrafung an Herrn Freude und der Dame Jadestein Puppe vorgenommen wurde, und diese Einzelheiten könnten Euer Exzellenz interessieren.
Der Priester der Göttin Kot Fresserin gab dem Mädchen nicht einmal Gelegenheit, sich in den Augen der Göttin von allen Missetaten reinzuwaschen. Unter dem Vorwand, besonders freundlich zu ihr zu sein, bot er ihr eine Tasse Schokolade an – »um Eure Nerven zu beruhigen, meine Tochter« –, unter die er einen Absud der Toloátzin-Pflanze gemischt hatte, die einen mächtigen Schlaftrunk ergibt. Wahrscheinlich verlor Jadestein Puppe das Bewußtsein, noch ehe sie all die Missetaten aufgezählt, die sie vor ihrem zehnten Lebensjahr begangen hatte, und so ging sie immer noch mit viel Schuld beladen in den Tod.
Sie wurde in den Irrgarten des Palasts getragen, von dem ich Euch bereits gesprochen habe, wo man sie all ihrer Kleider entledigte. Dann schleifte der alte Gärtner, der allein die geheimen Wege kannte, sie in die Mitte des Irrgartens, wo Pactlis Leichnam bereits lag.
Der Herr Freude war zuvor den gleichfalls verurteilten Küchenarbeitern überantwortet worden, denen befohlen wurde, ein letztesmal ihr grausiges Werk zu vollbringen, ehe sie selbst hingerichtet wurden. Ob sie Pactli zuvor gnädig den Tod gaben, weiß ich nicht, doch bezweifle ich das, hatten sie doch wenig Grund, ihm freundlich gesonnen zu sein. Sie zogen ihm die Haut vom ganzen Körper ab, bis auf seinen Kopf und sein Gemächt; dann waideten sie ihn aus und trennten alles Fleisch von seinen Knochen. Als nur noch sein Skelett übrig geblieben war – kein besonderes sauberes Skelett, hier und da hingen noch Fetzen rohen Fleisches daran –, benutzten sie irgend etwas, vielleicht eine Gerte, die sie hineinsteckten, um sein Tepúli aufzurichten. Dieser schaurige Kadaver wurde in den Irrgarten getragen, während Jadestein Puppe noch mit ihrem Priester allein war.
Mitten in der Nacht und in der Mitte des Irrgartens kam das Mädchen wieder zu sich; sie stellte fest, daß sie vollkommen nackt und ihr Tipili gepfählt war wie in glücklicheren Zeiten, aufgespießt von einem steifen männlichen Organ. Doch ihre geweiteten Pupillen müssen sich rasch an das blasse Mondlicht gewöhnt haben, so daß sie das schaurige Ding erkannte, welches sie umfangen hielt.
Was danach geschah, kann man nur erraten. Ganz gewiß riß Jadestein Puppe sich entsetzt los und rannte schreiend von ihrem letzten Liebhaber fort. Sie muß in den Irrgarten hinein geflohen sein, immer und immer wieder, da die gewundenen Pfade sie ständig wieder zurückbrachten zum Kopf, dem Knochengerüst und dem aufrecht stehenden Tepúli des verstorbenen Herrn Freude. Und jedesmal, wenn sie wieder auf ihn stieß, muß sie ihn mehr von Ameisen, Fliegen und Käfern bedeckt vorgefunden haben. Zuletzt muß er dermaßen von durcheinander wimmelnden Aasfressern bedeckt gewesen sein, daß es für Jadestein Puppe ausgesehen haben mag, als ob der Leichnam sich regte in dem Versuch, sich zu erheben und sie zu verfolgen. Wie oft sie davonlief, und wie oft sie gegen die unnachgiebigen Dornenhecken prallte, und wie oft sie es erlebte, daß sie über das Aas des Herrn Freude fast gestolpert wäre, wird niemand je erfahren.
Als der Gärtner sie am Morgen herausholte, konnte von Schönheit bei ihr keine Rede mehr sein. Ihr Gesicht und ihr Körper waren von den Dornen blutig gekratzt und zerrissen. Die Fingernägel waren ausgerissen. Kahle Stellen auf ihrer Kopfhaut zeigten, wo Strähnen ihres Haares ausgerissen waren, und ihre Pupillen waren nur mehr winzige, kaum sichtbare Punkte in ihren starr vorquellenden Augen. Ihren Mund hatte sie in einem schweigenden Schrei aufgerissen. Jadestein Puppe war ihr Leben lang von eitlem Stolz auf ihre Schönheit erfüllt gewesen, daß sie außer sich gewesen wäre und sich gedemütigt gefühlt hätte, in einem so häßlichen Zustand gesehen zu werden. Doch jetzt konnte es ihr gleichgültig sein. Irgendwann in der Nacht und irgendwo im Irrgarten war ihr entsetztes und bis zum Hals hinauf klopfendes Herz zersprungen.
Als alles vorüber war und Cozcatl und ich aus unserem Arrest entlassen wurden, erklärten die Wachen uns, wir dürften weder am Unterricht teilnehmen, noch uns unter unsere Bekannten im Palast mischen und mit ihnen reden, und ich solle überdies auch nicht an meine Schreibarbeit im Saal des Staatsrates zurückkehren. Wir sollten abwarten, uns so unauffällig wie möglich verhalten, damit der Verehrte Sprecher entscheiden könne, wohin wir in die Verbannung geschickt werden sollten.
So verbrachte ich ein paar Tage mit nichts anderem, als am Seeufer spazieren zu gehen, Steine vor mich hin zu stoßen, Mitleid mit mir selbst zu haben und den Ehrgeiz zu beklagen, welcher mich beflügelte, als ich zuerst in dieses Land gekommen war. An einem dieser Tage war ich so sehr in Gedanken versunken, daß ich weit vom Palast entfernt von der Dämmerung überrascht wurde und mich beeilen mußte, um noch vor Einbruch der Nacht wieder zurück zu sein. Auf halbem Wege zur Stadt stieß ich auf einen Mann, der auf einem Felsen saß und der noch nicht dagesessen hatte, als ich zuvor vorbeigekommen war. Er sah nicht wesentlich anders aus als die anderen Male, da ich ihm begegnet war: reisemüde, mit bleicher Haut und die Gesichtszüge verdunkelt von einer Schicht des Alkali-Staubs am Seeufer.
Nachdem wir uns höflich begrüßt hatten, sagte ich: »Wieder kommt Ihr in der Dämmerung, Herr. Kommt Ihr von weither?«
»Ja«, erklärte er trübsinnig. »Aus Tenochtítlan, wo Kriegsvorbereitungen getroffen werden.«
Ich sagte: »Das klingt ja so, als ob es um einen Krieg gegen Texcóco ginge.«
»Bis jetzt ist er noch nicht erklärt worden, aber so wird es sein. Der Verehrte Sprecher Ahuítzotl ist endlich fertig mit dem Bau der Großen Pyramide und plant eine Einweihungszeremonie, großartiger und eindrucksvoller als je zuvor, und daher braucht er viele, viele Gefangene, um sie zu opfern. Deshalb wird er Texcála wieder einmal den Krieg erklären.«
Das wollte mir nicht sonderlich ungewöhnlich erscheinen, und so sagte ich: »Dann werden die Heere des Dreibunds wieder Seite an Seite kämpfen. Warum nennt Ihr es dann einen Krieg gegen Texcóco?«
Schwermütig sagte der staubbedeckte alte Mann: »Ahuítzotl behauptet, fast alle seine Mexíca-Streitkräfte und seine Verbündeten, die Tecpanéca, kämpften noch im Westen, in Michihuácan, und könnten daher nicht gegen Texcála antreten. Doch das ist nur eine wenig überzeugende Ausrede. Ahuítzotl fühlt sich durch den Prozeß und die Hinrichtung seiner Tochter sehr vor den Kopf gestoßen.«
»Er kann doch aber nicht leugnen, daß sie es verdient hat.«
»Das macht ihn ja nur um so rasender und rachsüchtiger. Deshalb hat er angeordnet, daß Tenochtítlan und Tlácopan nur eine ganz kleine Truppe gegen die Texcála ausschicken – und Texcóco den Hauptteil des Heeres zu stellen hat.« Der staubbedeckte Mann schüttelte den Kopf. »Neunundneunzig von hundert Männern, die kämpfen und fallen werden in dem Bemühen, Gefangene als Opfer für die Einweihung der Großen Pyramide zu machen, werden vielleicht Acólhua sein. Das ist Ahuítzotls Art, den Tod von Jadestein Puppe zu rächen.«
Ich sagte: »Jeder wird einsehen, daß es ungerecht ist, wenn die Acólhua die Hauptlast des Krieges zu spüren bekommen. Und Nezahualpíli kann sich doch bestimmt weigern.«
»Ja, das könnte er«, sagte der Reisende mit müder Stimme. »Das jedoch könnte den Dreibund sprengen – und den leicht erregbaren Ahuítzotl möglicherweise sogar veranlassen, Texcóco einen richtigen Krieg zu erklären.« Womöglich noch schwermütiger, fuhr er fort: »Außerdem könnte es sein, daß Nezahualpíli das Gefühl hat, er müsse doch dafür sühnen, daß er das Mädchen hat hinrichten lassen.«
»Was?« sagte ich entrüstet. »Nach dem, was sie ihm angetan hat?«
»Selbst dafür fühlt er sich vermutlich bis zu einem gewissen Grade verantwortlich. Weil er sie möglicherweise vernachlässigt hat, vielleicht. Und genauso sollten sich vielleicht auch andere dafür verantwortlich fühlen.« Die Augen des Wanderers waren eindringlich auf mich gerichtet, und unversehens beschlich mich Unbehagen. »Für diesen Krieg wird Nezahualpíli jeden Mann brauchen, den er bekommen kann. Zweifellos wird er Freiwillige freundlich betrachten und vermutlich jede Ehrenschuld, die sie möglicherweise gegen ihn empfinden, als abgetragen betrachten.«
Schluckend sagte ich: »Verehrungswürdiger, es gibt Männer, die in einem Krieg zu nichts nütze sind.«
»Dann können sie immer noch darin fallen«, sagte er unbewegt. »Um des Ruhms, um der Sühne, um der Abzahlung einer Ehrenschuld willen, um eines glücklichen Lebens in der Gegenwelt der Krieger willen, um vieler anderer Gründe willen. Einst habe ich dich von deiner Dankbarkeit Nezahualpíli gegenüber reden hören und deiner Bereitschaft, sie auch zu beweisen.«
Langes Schweigen senkte sich zwischen uns. Dann, gleichsam als wechselte er gleichmütig das Thema, erklärte der staubbedeckte alte Mann im Plauderton: »Es geht das Gerücht, daß du Texcóco bald verlassen wirst. Wenn es dir freigestellt würde – wohin würdest du gehen?«
Lange dachte ich darüber nach. Die Dunkelheit verdichtete sich, und der Nachtwind fing an, stöhnend über den See zu fahren, als ich endlich sagte: »In den Krieg, Verehrungswürdiger, ich werde in den Krieg ziehen.«
Das mußte man gesehen haben: wie das große Heer auf der leeren Ebene östlich von Texcóco Aufstellung nahm. Ein Wald von Speeren, leuchtende Farben und überall das Glitzern der Sonne auf den Obsidianklingen. Alles in allem müssen es vier- bis fünftausend Mann gewesen sein, wohingegen die Verehrten Sprecher Ahuítzotl von den Mexíca und Chimalpopóca von den Tecpanéca – genauso, wie der alte staubbedeckte alte Mann es vorhergesagt hatte – jeweils nur eine Hundertschaft entsandt hatten, die überdies kaum aus ihren besten Kriegern bestand, handelte es sich doch zumeist um betagte Veteranen und unerfahrene junge Rekruten.
Wo Nezahualpíli der oberste Kriegsführer war, ging es vor allem um Organisation und Schlagkraft. Riesige Federbanner ließen erkennen, wo die nach Tausenden zählenden Hauptverbände der Acólhua und die unbedeutende Handvoll aus Tenochtítlan und Tlácopan standen. Bunte Flaggen aus Tuch kennzeichneten die Einheiten, die unter dem Kommando von Rittern standen und noch kleinere flatterten vor den von Cuächictin oder Unterführern kommandierten Einheiten. Es gab auch noch andere Flaggen, um die herum sich die Verbände der Nichtkämpfer scharten: diejenigen Truppen, die für den Nachschub von Essen, Wasser, Rüstungen und Ersatzwaffen verantwortlich waren; sodann die Wund- und Knochenärzte und die Priester der verschiedenen Götter; die Trupps von Trommlern und Trompetern und die Abteilungen der Feßler und Garausmacher, denen es oblag, das Schlachtfeld hinterher zu säubern.
Wenn ich mir auch sagte, schließlich kämpfte ich für Nezahualpíli, und wenn ich mich wegen der geringen Zahl der Mexíca, die an diesem Krieg teilnehmen, schämte – sie waren immerhin meine Landsleute. Infolgedessen ging ich hin, ihrem Anführer, dem einzigen Mexícatl-Führer überhaupt, einem Pfeilritter namens Xococ, meine Dienste anzutragen. Der musterte mich von Kopf bis Fuß und erklärte widerstrebend: »Nun, wenn du auch unerfahren bist, so scheinst du doch außer mir der einzige zu sein, der körperlich mehr auf der Höhe ist als alle, die sonst unter meinem Kommando stehen. Melde dich bei dem Cuachic Extil-Quani.«
Der alte Extil-Quani! Ich war so begeistert, seinen Namen wiederzuhören, daß ich förmlich lief, jenen Wimpel zu erreichen, unter dem er stand und eine Gruppe von unglücklich dreinschauenden jungen Kriegern anbrüllte. Er trug einen Federschmuck sowie einen Knochenpflock in der Nasenscheidewand und am Unterarm außerdem einen Schild mit den Symbolen, die seinen Namen und seinen Rang verkündeten. Ich kniete nieder, fegte den Boden frei und vollführte die Geste des Erdeküssens, dann schlang ich meinen Arm um ihn, als wäre er ein lange vermißter Verwandter und rief begeistert: »Meister Blut Schwelger! Welche Freude, Euch wiederzusehen!«
Dem alten Krieger fielen fast die Augen aus dem Kopf. Der immerhin nicht mehr junge Cuachic lief dunkelrot an, stieß mich rauh von sich und fuhr mich speichelsprühend an: »Laß mich los! Bei den steinernen Eiern des Huitzilopóchtli – hat dieses Heer sich gewandelt, seit ich das letztemal auf dem Schlachtfeld stand! Alte Tattergreise und verpickelte Grünschnäbel, und jetzt auch noch dies! Hebt man jetzt auch schon Cuilóntin aus? Um den Feind zu Tode zu küssen!«
»Ich bin es doch, Meister!« rief ich. »Feldhauptmann Xococ hat mir gesagt, ich soll mich bei Euch melden und mich Eurer Kompanie anschließen!« Es dauerte eine Weile, bis mir aufging, daß Blut Schwelger im Laufe seines Lebens Hunderte von Schuljungen ausgebildet haben mußte. Und bei ihm dauerte es eine Weile, in der Erinnerung zu suchen und mich in irgendeiner abgelegenen Ecke zu finden.
»Umnebelt! Selbstverständlich!« rief er aus, wiewohl nicht mit dem gleichen Maß an Freude, wie ich sie bekundet hatte. »Du in meiner Kompanie? Sind deine Augen denn geheilt? Kannst du jetzt sehen?«
»Nun, das nicht gerade«, mußte ich eingestehen.
Zornig zertrat er eine kleine Ameise. »Seit zehn Jahren mein erster aktiver Dienst«, brummte er, »und jetzt dies. Vielleicht wären da Cuilóntin noch vorzuziehen! Ach, was soll's. Umnebelt – schließ dich meinem Haufen an.«
»Jawohl, Meister Cuachic«, erklärte ich militärisch knapp. Dann spürte ich, wie jemand an meinem Umhang zupfte, und mir fiel Cozcatl ein, der mir die ganze Zeit über nicht von den Fersen gewichen war. »Und welche Befehle habt Ihr für den jungen Cozcatl?«
»Für wen?« sagte er und blickte verwirrt um sich. Erst als er den Blick senkte, bemerkte er den kleinen Jungen. »Für den Knirps da?« entfuhr es ihm dann zornig.
»Er ist mein Sklave«, erklärte ich. »Mein Leibdiener.«
»Ruhe im Glied!« brüllte Blut Schwelger sowohl mich als auch seine Krieger an, die angefangen hatten zu kichern. Der alte Cuachic stapfte ein paarmal im Kreis herum, um sich zu beruhigen. Dann trat er auf mich zu und reckte sein großes Gesicht vor mich hin. »Umnebelt, nur wenige Edelleute und Ritter können es sich leisten, einen Burschen zur Bedienung zu haben. Du bist ein Yaoquízqui, ein frisch ausgehobener Rekrut, bekleidest also den niedrigsten aller Ränge. Und jetzt meldest du dich nicht nur mit einem Diener, sondern es ist auch noch dieser Winzling hier!«
»Ich kann Cozcatl nicht zurücklassen«, erklärte ich. »Aber er wird bestimmt nicht stören. Könnt Ihr ihn nicht an einen der Priester oder irgendeinen anderen Mann von der Nachhut abkommandieren, wo er sich nützlich machen kann?«
Ein Knurren entfuhr Blut Schwelger. »Und ich dachte, ich wäre dieser Schule entkommen und könnte endlich wieder mal einen schönen, geruhsamen Krieg führen. Na schön. Knirps, du meldest dich dort bei dem schwarzgelben Wimpel. Sag dem Quartiermeister, Extli-Quani hätte dich zum Küchendienst bei ihm abkommandiert. Und jetzt, Umnebelt«, sagte er unversehens ganz sanft und einschmeichelnd, »sobald sich das große Heer der Mexíca zu deiner Zufriedenheit aufgestellt hat, wollen wir mal sehen, ob du dich noch an irgendwas erinnerst, was du in der Grundausbildung gelernt hast.« Ich und sämtliche anderen Krieger sprangen auf, als er plötzlich brüllte: »Hergelaufener Haufen! – IN VIERERREIHEN – AUFSTELLEN!«
Im Haus der Leibesstärkung hatte ich gelernt, daß die Ausbildung zum Krieger etwas anderes ist als das, was wir bei unseren Kriegsspielen als Kinder gemacht hatten. Jetzt sollte ich erfahren, daß sowohl das Spielen als auch die Ausbildung wiederum nur blasse Abbilder der Wirklichkeit waren. Um nur eine von den Mißlichkeiten zu erwähnen, welche die Erzähler ruhmreicher Kriegsgeschichten immer mit Stillschweigen übergehen – überall herrschten Schmutz und Gestank. Nach dem Spiel oder nach der Ausbildung in der Schule hatte es für mich hinterher immer die Säuberung in einem heißen Bad gegeben, hatte ich alle Unannehmlichkeiten im Dampfbad herausschwitzen können. Hier jedoch gab es keine solchen Annehmlichkeiten. Am Ende eines Drilltages waren wir vollkommen verdreckt und blieben auch so und stanken. Nicht anders war das mit den offenen Gruben, die wir aushoben, um unsere Notdurft darein zu verrichten. Ich haßte meinen eigenen Geruch nach getrocknetem Schweiß und ungewaschenen Kleidern genauso wie ich die dazugehörigen Gerüche ungewaschener Füße und frischer Exkremente haßte. Unsauberkeit und Gestank waren für mich die unangenehmsten Seiten des Krieges. Jedenfalls damals, ehe ich den richtigen Krieg kennengelernt hatte.
Und noch etwas. Wie oft habe ich alte Krieger klagen hören, daß sie sich – selbst außerhalb der Regenzeit – auf folgendes immer verlassen konnten: Tlaloc wird jede Schlacht und jedes Scharmützel aus lauter Bosheit noch schwieriger und elendiger machen dadurch, daß der Regen, den er schickt, einen bis auf die Haut durchnäßt und nasser Lehm sich in Klumpen an die Füße heftet. Nun, man kann sich vorstellen, wie es jetzt in der Regenzeit war während der paar Tage, da wir uns im Gebrauch unserer Waffen übten und die verschiedenen Manöver erprobten, die wir, wie zu erwarten stand, auf dem Schlachtfeld würden ausführen müssen. Es regnete immer noch, unsere Umhänge waren unendlich schwer, unsere Sandalen hinderliche Klumpen und unsere Stimmung gedrückt, als wir uns endlich aufmachten, gen Texcála zu marschieren.
Die Stadt Texcála lag dreizehnmal Ein Langer Lauf im Südosten. Bei günstigem Wetter hätten wir diese Strecke in einem Gewaltmarsch von zwei Tagen zurücklegen können. Allerdings wären wir dann außer Atem und völlig ausgepumpt dort angekommen und hätten einem Feind gegenübergestanden, der nichts weiter zu tun gehabt hätte, als auf uns zu warten und sich dabei auszuruhen. In Anbetracht dieser Überlegungen befahl Nezahualpíli, daß wir den Marsch in größerer Gemächlichkeit zurücklegten und vier Tage dafür brauchten, auf daß wir vergleichsweise ausgeruht dort eintrafen.
Die ersten zwei Tage trotteten wir genau in östlicher Richtung, damit wir nur die niedrigeren Hänge jenes vulkanischen Gebirgszuges zu überwinden hatten, welcher sich weiter im Süden zu den hohen Bergen auftürmte, die Tlaloctépetl, Ixtaccíuatl und Popocatépetl heißen. Dann bogen wir nach Südosten ab und marschierten geradenwegs auf die Stadt Tex-càla zu. Den ganzen Weg über war der Boden aufgeweicht und verschlammt; und auf dem nassen Felsgestein rutschten wir mehr als daß wir gingen. So weit war ich bis dato nicht in der Fremde gewesen, und gern hätte ich mir die Landschaft betrachtet. Doch selbst wenn mir das meines stark verminderten Sehvermögens wegen ohnehin nicht möglich war – die ständigen Regenschleier machten es vollends unmöglich. Auf diesem Marsch bekam ich kaum mehr zu sehen als die langsam und mühselig sich voranschleppenden, lehmverkrusteten Füße meiner Vordermänner.
Unsere Kampfrüstungen behinderten uns allerdings nicht. Neben unserer gewöhnlichen Kleidung trugen wir ein Tlamäitl genanntes Gewand, das wir bei kaltem Wetter umlegten und in das wir uns des Nachts einrollten. Außerdem schleppte ein jeder von uns noch ein Säckchen Pinoli mit, honiggesüßten Maisschrot, und einen Wasserbeutel aus Leder. Jeden Morgen, ehe wir uns in Bewegung setzten, und nochmals während der Mittagspause, verrührten wir das Pinóli mit Wasser, was einen sehr nahrhaften, aber leider nicht sonderlich sättigenden Atoli-Brei ergab. Wenn wir bei Einbruch der Dunkelheit haltmachten, mußten wir jedesmal darauf warten, daß die schwerer beladenen Nachschubeinheiten uns einholten. Doch dann gaben die Verpflegungstruppen an jeden Mann eine kräftige heiße Mahlzeit aus, zu der eine Tasse sämiger, stärkender und den Geist belebender heißer Schokolade gehörte.
Spät am regnerischen, grauen Nachmittag des vierten Tages, als wir mindestens noch Ein Langer Lauf von Texcála entfernt waren, sichteten unsere Späher die wartende Streitmacht von Texcála, und kamen zurückgelaufen, um Nezahualpíli Bericht zu erstatten. Der Feind erwartete uns in großer Stärke jenseits eines Flusses, über den wir zuvor übersetzen mußten. In der Trockenzeit war der Fluß vermutlich nicht mehr als ein kleines seichtes Rinnsal, aber nachdem tagelang ununterbrochen Regen gefallen war, stellte er ein schreckenerregendes Hindernis dar. Wiewohl an seiner tiefsten Stelle immer noch nur hüfthoch, herrschte eine starke Strömung und war der Fluß über einen Pfeilschuß breit. Was der Feind vorhatte, lag auf der Hand. Während wir den Fluß durchwateten, würden wir ein sich nur langsam vorwärtsbewegendes Ziel bilden und außerstande sein, unsere Waffen zu gebrauchen und gleichzeitig den Pfeilen auszuweichen. Mit ihren Pfeilen und atlatl-geschleuderten Spießen gedachten die Texcaltéca, unsere Zahl stark zu vermindern und uns in Schrecken zu versetzen, ehe wir auch nur das gegenüberliegende Ufer erreichten.
Es wird berichtet, Nezahualpíli habe gelächelt und gesagt: »Nun dann. Die Falle ist vom Feind und Tlaloc gemeinsam so trefflich gestellt, daß wir sie nicht enttäuschen dürfen. Wir werden morgen früh in sie hineinlaufen.«
Er gab unserem Heer Befehl, zu halten und die Nacht zu verbringen, wo wir waren, immer noch ein ganzes Stück vom Fluß entfernt; sämtliche befehlshabenden Ritter und Cuachics sollten sich bei ihm einfinden und sich ihre Anweisungen holen. Wir einfachen Krieger saßen oder hockten da oder streckten uns auf dem aufgeweichten Boden aus, während die Leute vom Troß unser – diesmal ausgiebiges – Abendessen bereiteten; denn am Morgen sollten wir nicht Zeit haben, unser Atóli anzurühren.
Die Rüstmeister packten ganze Stapel von Ersatzwaffen aus, die je nach Bedarf am nächsten Morgen ausgegeben werden sollten. Die Trommler spannten ihre Trommelfelle nach, die durch die Feuchtigkeit ganz schlaff geworden waren. Die Wundärzte und Priester bereiteten Heilmittel und Operationsbesteck vor, ihren Weihrauch und ihre Beschwörungsbücher, um am nächsten Tag bereit zu sein, entweder sich der Verwundeten anzunehmen, oder aber den Sterbenden im Namen von Kot Fresserin die Beichte abzunehmen.
Blut Schwelger kam von der Besprechung zurück, als an uns gerade Essen und Schokolade ausgeteilt wurde. Er sagte: »Wenn wir gegessen haben, werden wir unsere Kampfanzüge anziehen und uns bewaffnen. Sobald es dunkel geworden ist, werden wir uns dann zu den uns zugewiesenen Stellungen begeben. Dort werden wir schlafen, denn es gilt, früh aufzustehen.«
Beim Essen setzte er uns Nezahualpílis Plan auseinander. Bei Morgengrauen sollte ein volles Drittel unseres Heeres in schmucken Formationen unter Trommel- und Muschelhornklang mutig zum Fluß hin- und in ihn hineinmarschieren, als hätten sie keine Ahnung von der Gefahr, welche sie drüben erwartete. Sobald der Feind seine Geschosse niederprasseln ließ, sollten die Angreifer auseinanderlaufen und im Wasser umherspritzen, um den Eindruck zu erwecken, überrascht worden zu sein und sich in größter Verwirrung zu befinden. Wenn der Geschoßhagel unerträglich werde, sollten die Männer kehrt machen und denselben Weg zurück fliehen, den sie gekommen seien, und zwar so, daß es nach heilloser Flucht aussah. Nezahualpíli war der festen Überzeugung, daß die Texcaltéca sich von diesem Durcheinander täuschen lassen und die Unvorsichtigkeit begehen würden, den scheinbar Fliehenden nachzusetzen, dermaßen aufgeregt über ihren scheinbar leichten Sieg, daß sie keinen Augenblick darüber nachdenken würden, ob es sich vielleicht um eine List handeln könnte.
Das Gros von Nezahualpílis Heer solle sich hinter Felsen, Büschen und Bäumen zu beiden Seiten der langen Straße, die zum Fluß hinunterführte verbergen und in den Hinterhalt legen. Kein einziger von ihnen solle sich zeigen oder Gebrauch von seiner Waffe machen, bis unsere »kopflos« fliehenden Streitkräfte das gesamte Heer der Texcaltéca soweit gebracht hätten, ihnen nachzusetzen und über den Fluß herüberzukommen. Die Texcaltéca sollten zwischen zwei verborgen in Wartestellung daliegenden Heeresteilen hindurchlaufen wie durch einen Korridor. Sodann werde Nezahualpíli, der von einem hohen Standort aus einen großen Überblick hatte, den Trommlern zunicken, die daraufhin einen laut hallenden Signalwirbel von sich geben würde. Seine Männer zu beiden Seiten des Hinterhalts würden sich erheben, die waffenstarrenden Wände des Korridors sich schließen und den Feind in die Zange nehmen.
Ein grauhaariger alter Krieger fragte: »Und wo sollen wir Stellung beziehen?«
Blut Schwelger stieß ein unglückliches Grunzen aus. »Fast genauso weit im Hintergrund wie die Köche und Priester.«
»Was?« entfuhr es dem alten Haudegen. »Den ganzen langen Marsch bis hierher machen und dann noch nicht einmal nah genug herankommen, um zu hören, wie Obsidian auf Obsidian prallt?«
Unser Cuachic zuckte mit den Achseln. »Nun, ihr wißt ja selbst, wie
schändlich wenige wir nur sind. Wir können Nezahualpíli kaum einen Vorwurf daraus machen, wenn er es uns versagt richtig am Kampf teilzunehmen; immerhin muß man bedenken, daß er es ist, der diesen Krieg für Ahuítzotl praktisch allein führt. Unser Ritter Xococ bat darum, daß wir wenigstens voranmarschieren dürften, in den Fluß hinein, und den Texcaltéca als Köder dienen – dabei wäre die Wahrscheinlichkeit für uns, zu fallen, am größten –, doch Nezahualpíli wollte uns nicht einmal zugestehen, einen ruhmvollen Tod zu finden.«
Ich selbst war heilfroh, das zu hören, doch die anderen Krieger murrten immer noch. »Sollen wir denn einfach wie unbewegliche Blöcke herumsitzen und darauf warten, bis wir die siegreichen Acólhua samt ihren Gefangenen bis nach Tenochtítlan eskortieren dürfen?«
»Nicht ganz«, sagte Blut Schwelger. »Möglich, daß wir auch den einen oder anderen Gefangenen machen. Es ist doch durchaus denkbar, daß einige von den eingeschlossenen Texcaltéca den Ring der Acólhua durchbrechen. Die Kompanien der Mexíca und Tecpanéca werden nach Norden wie nach Süden weit auseinandergezogen Aufstellung nehmen, gleichsam als Netz, um alle abzufangen, denen es gelingen könnte, dem Hinterhalt zu entgehen.«
»Da könnten wir von Glück sagen, wenn uns auch nur ein Hase ins Netz ginge«, knurrte der grauhaarige Alte. Er stand auf und sagte zu uns anderen: »Alle Yaoquizque, die ihr zum erstenmal kämpft, wißt: Ehe ihr eure Kampfanzüge anlegt, tretet in die Büsche und entleert euch, so gut es irgend geht. Dann sind eure Därme leer; wenn das Trommelgedröhn anhebt, besteht keine Möglichkeit mehr, euch schnell der Steppanzüge zu entledigen, um eure Notdurft zu verrichten.«
Mit diesen Worten ging er, seinen eigenen Rat zu befolgen.
Ich tat es ihm nach. Während ich mich hinhockte, hörte ich, wie jemand in der Nähe murmelte: »Hätte ich das Ding doch fast vergessen«, und als ich hinüberblickte, sah ich, wie er einen kleinen, in Papier eingewickelten Gegenstand aus der Tasche zog. »Ein stolzer Vater hat es mir gegeben, es hier auf dem Schlachtfeld in den Boden zu stecken«, sagte er. »Die Nabelschnur seines neugeborenen Sohnes und einen kleinen Kriegsschild.« Er ließ das Päckchen zu Boden fallen und stampfte es in die aufgeweichte Erde. Dann hockte er sich hin, sein Wasser darauf abzuschlagen und seine Notdurft darauf zu verrichten.
Nun, dachte ich bei mir, das also soll das Tonáli dieses kleinen Jungen bestimmen – und überlegte, ob wohl mit meinem eigenen Geburtsschild und meiner Nabelschnur genauso verfahren worden sein mochte.
Während die einfachen Krieger sich abmühten, in die gesteppten und gutgepolsterten baumwollenen Kampfanzüge hineinzusteigen, legten die Ritter ihre leuchtenden Kampfanzüge an; es war eine Pracht, sie anzusehen. Drei verschiedene Ritterorden gab es, den Jaguar- und den Adlerorden, in welche Krieger, die sich besonders im Kampf hervorgetan hatten, durch Wahl berufen werden konnten; außerdem den Pfeilorden, welchem diejenigen angehörten, die im Gebrauch der höchst ungenau treffenden Wurfgeschosse und Pfeile größtes Können bewiesen und schon viele Feinde getötet hatten.
Ein Jaguarritter trug ein echtes Jaguarfell wie eine Art Umhang, und den großen Kopf der Raubkatze als Helm auf dem Kopf. Den Schädel selbst hatte man selbstverständlich zuvor entfernt, doch die Reißzähne vorn waren an der richtigen Stelle wieder eingesetzt worden, so daß der gebogene Oberkiefer sich über die gewölbte Stirn des Ritters legte und der Unterkiefer ihm von unten wie ein Haken übers Kinn faßte.
Sein Kampfanzug war gefärbt wie ein Jaguarfell: lohfarben mit dunkelbraunen Flecken darin. Ein Adlerritter trug einen überlebensgroßen Adlerkopf als Helm, der aus Holz und geformtem Papierbrei bestand und mit echten Adlerfedern besetzt war, so daß der weit aufgerissene Schnabel über Stirn und Kinn hinweg vorstieß. Sein Kampfanzug war gleichfalls mit Adlerfedern besetzt, von den Sandalen ragten über die Zehen hinaus künstliche Adlerkrallen und sein Federumhang hatte mehr oder weniger die Form gefalteter Adlerflügel. Ein Pfeilritter trug als Helm den Kopf eines beliebigen Vogels, sofern er nur geringer war als ein Adler, und sein Umhang war mit den gleichen Federn bedeckt wie diejenigen, die er zum Befiedern seiner Pfeile bevorzugte.
Alle Ritter trugen federbedeckte Schilde aus Holz, Leder oder Weidengeflecht, und die Federn darauf waren in farbenfrohen Mosaikmustern gewirkt, wobei jedes Muster das Namenssymbol des Besitzers ausdrückte. Viele Ritter waren aufgrund großer Kühnheit und großen Heldentums bekannt geworden; infolgedessen bedeutete es einen Akt der Tollkühnheit für sie, mit den weithin sichtbaren Namenssymbolen in die Schlacht zu ziehen. Mit Gewißheit konnten sie damit rechnen, daß irgendein Krieger des Feindes sich sie aussuchte, um sie anzugreifen und sich selbst einen Namen zu machen als desjenigen, »der den großen Xococ besiegt hat«, oder wie der Betreffende heißen mochte! Wir Yaoquizque trugen schmucklose Schilde, und unsere Kampfanzüge waren einheitlich weiß – jedenfalls, bis sie einheitlich dreckig waren. Wir durften kein Wappen tragen, doch einige der älteren Männer steckten sich Federn ins Haar oder bemalten sich das Gesicht mit Farbstreifen, um zumindest kenntlich zu machen, daß sie nicht zum erstenmal in den Kampf zogen.
Nachdem ich meine Kampfkleidung angelegt hatte, begab ich mich mit zahlreichen anderen Neukriegern noch weiter nach hinten zu den Priestern, die sich im Namen Tlazoltéotls gähnend unsere hastige Beichte anhörten und uns dann eine Medizin gaben, die verhindern sollte, daß wir uns beim bevorstehenden Kampf feige drückten. Ich glaubte nicht wirklich, daß irgend etwas, was der Magen geschluckt hat, eine Furcht unterdrücken könne, die im widerspenstigen Kopf und in den Füßen saß, nahm jedoch gehorsam meinen Schluck von dem Gebräu: frisches Regenwasser, in welches weißer Ton, pulverisierter Amethyst, Blätter der Cannabisstaude, Hundstodblüten und Blüten des Kakaostrauchs sowie die von Glockenorchideen vermischt waren. Als wir zurückkehrten, uns um Xocos Banner zu scharen, sagte dieser Mexícatl-Krieger:
»Eines müßt ihr wissen. Ziel des Kampfes morgen ist es, Gefangene zu machen, die Huitzilopóchtli geopfert werden sollen. Wir sollen mit der flachen Seite unserer Waffen zuschlagen, um den Gegner benommen zu machen und ihn lebendig gefangen zu nehmen. Doch wenn dieser Krieg für uns auch nur ein Blumenkrieg ist – für die Texcaltéca ist er es nicht. Sie werden um ihr Leben kämpfen und danach trachten, uns unseres zu nehmen. Die Acólhua werden am meisten zu leiden haben – oder am meisten Ruhm ernten. Ich jedoch möchte, daß ihr eines nicht vergeßt, Männer: stoßt ihr auf einen fliehenden Feind, lauten eure Befehle, ihn gefangenzunehmen. Er hingegen hat den Befehl, euch zu töten.«
Mit dieser nicht sonderlich erhebenden Ansprache führte er uns hinaus in die regnerische Dunkelheit – jeder von uns war mit einem Speer und einem Maquáhuitl bewaffnet –, im rechten Winkel von der bisherigen Marschrichtung abweichend gen Norden, und ließ unterwegs immer wieder eine Kompanie Krieger zurück. Blut Schwelgers Einheit war die erste, die zurückblieb, und während die anderen Mexíca weiterstapften, gab unser Cuachic uns letzte Anweisungen:
»Diejenigen von euch, die bereits an einem Kampf teilgenommen und auch schon Gefangene gemacht haben, wissen, daß sie die nächsten Gefangenen ohne Hilfe von anderen machen müssen, falls sie nicht als unmännlich gelten wollen. Ihr neuen Yaoquizque jedoch – wenn ihr Gelegenheit habt, euren ersten Gefangenen zu machen – habt die Erlaubnis, bis zu fünf von euren Kameraden zu Hilfe zu rufen; ihr alle habt dann gleichen Anteil am Ruhm der Gefangennahme. Jetzt folgt mir … Hier ist ein Baum. Du hierher, Krieger du dorthinauf, und verbirg dich in den Zweigen … Du dorthin, hock dich hinter diese Felsen … Umnebelt, du stellst dich hinter diesen Strauch …«
Und so wurden wir in einer nach Norden sich erstreckenden Linie postiert, jeder von jedem etwa hundert Schritt entfernt. Selbst wenn es hell wurde, würde sich keiner von uns in Sichtweite seines Nachbarn befinden, allerdings immer in Rufverbindung mit ihm bleiben können. Ich zweifle, daß in dieser Nacht viele von uns ein Auge zutaten, höchstens die kampfgewohnten Veteranen. Ich für meine Person weiß jedenfalls, daß ich es nicht tat, denn Deckung gab mir mein Strauch nur, wenn ich mich auf meine Fersen hockte. Es regnete unentwegt weiter. Mein Umhang saugte sich mit Wasser voll, dann kam mein baumwollener Kampfanzug an die Reihe, bis alles so feucht und schwer an mir hing, daß ich meinte, im entscheidenden Augenblick einfach nicht in die Höhe kommen zu können.
Nach einer Zeit, die mir vorkam wie ein Schock Jahre Elend, vernahm ich von Süden, von meiner Rechten her, ganz leise Geräusche. Offenbar setzten die Hauptverbände der Acólhua sich in Bewegung, entweder um sich in den Hinterhalt zu legen, oder aber, um dem waffenstarrenden Feind entgegenzumarschieren. Was ich hörte, war das traditionelle Gebet vor der Schlacht, welches ein Feldpriester anstimmte, doch drangen aus der Ferne nur abgerissene Wortfetzen an mein Ohr:
»Oh, mächtiger Huitzilopóchtli, Gott der Schlachten, ein Krieg wird geführt … Wähle jetzt diejenigen aus, o großer Gott, die töten und die getötet werden müssen und diejenigen, die als Xochimique in Gefangenschaft geraten sollen, damit du ihr Herzblut trinken kannst … Oh, Herr des Krieges, wir bitten dich, schenke huldvoll dein Lächeln denen, die auf diesem Schlachtfeld oder auf deinem Altar sterben müssen … Laß sie geradenwegs eingehen in das Haus der Sonne, damit sie wieder leben, geliebt und geehrt unter den Tapferen, die ihnen vorangegangen sind …«
Ba-ra-RUUMMM! So steif ich auch war, ich fuhr zu Tode erschrocken zusammen, als die vielen, vielen »Trommeln, die das Herz herausreißen«, auf einen Schlag mit ihrem Gedröhn einsetzten. Nicht einmal der dämpfende Regen rings umher vermochte ihr Erdbebengrollen zu etwas Geringerem denn Knochenschlottern herabzumindern. Ich hoffte nur, daß dieser grauenhafte Laut die Truppen der Texcaltéca nicht in die Flucht trieb, ehe sie in Nezahualpílis überraschender Umarmung festsaßen. Zum nervenaufreibenden Trommelgedröhn gesellten sich noch die langgezogenen Klagetöne und das Geblöke der Muschelhörner, doch dann verebbte der ganze Lärm, als die Musikanten den als Köder dienenden Teil des Heeres von mir fortführten, hinunter zum Fluß und dem wartenden Feind entgegen.
Da die Regenwolken über uns so niedrig hingen, daß man meinte, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können, kam es an diesem Tag praktisch nicht zu so etwas wie einem Sonnenaufgang, doch war es mittlerweile doch merklich heller geworden. Jedenfalls hell genug für mich, um zu erkennen, daß der Strauch, hinter dem ich die ganze Nacht lang gehockt hatte, nichts weiter war als ein kümmerlicher, völlig entlaubter Huixàchi-Strauch, hinter dem nicht einmal ein Backenhörnchen sich richtig hätte verstecken können. Ich mußte mir also ein besseres Versteck suchen, und dazu hatte ich ja noch reichlich Zeit. Mit knarrenden Gliedern erhob ich mich, trug mein Maquáhuitl und schleifte meinen Speer dergestalt hinter mir her, daß beides nicht über den mich umgebenden Büschen zu sehen war, und entfernte mich in geduckten Sprüngen.
Was ich euch bis zum heutigen Tag nicht sagen könnte, ehrwürdige Patres, nicht einmal, wenn ihr mich der inquisitorischen Überredung unterwürfet, ist, warum ich mich in die Richtung wandte, in der ich davonlief. Um irgendein anderes Versteck zu finden, hätte ich mich zurückziehen oder nach links oder rechts wenden können, und wäre trotzdem immer noch in Rufweite mit meinen Kameraden geblieben. Ich jedoch lief nach vorn, gen Osten, dorthin, wo bald die Schlacht sich entfesseln mußte. Ich kann nur davon ausgehen, daß irgend etwas mir innerlich zuflüsterte: »Du stehst vor deinem ersten Krieg, Dunkle Wolke, vielleicht dem einzigen Krieg, den du je mitmachen wirst. Es wäre ein Jammer, am äußersten Rand der Kämpfe zu verbleiben, ein Jammer, nicht soviel Erfahrungen darin zu sammeln, wie nur irgend möglich.«
Allerdings kam ich nicht bis in die Nähe des Flusses, wo die Acólhua den Texcaltéca gegenübertraten. Ich hörte nicht einmal etwas vom Schlachtengetöse, bis die Acólhua vortäuschten, völlig überrascht zu sein, sich vom Fluß zurückzogen und der Feind – wie Nezahualpíli gehofft hatte – mit sämtlichen Verbänden hinter ihnen hersetzte. Dann allerdings vernahm ich das Gebell und Geheul des Schlachtgeschreis, die Schmerzensschreie und Flüche der Verwundeten und über allem das Geschwirr der Pfeile und das Zischen der Wurfspieße. Keine unserer Spielzeugwaffen in der Schule, denen jede Spitze genommen worden war, hatte irgendein bestimmtes Geräusch von sich gegeben. Was ich jetzt jedoch hörte, waren echte Wurfgeschosse, mit Spitzen und Schneiden aus scharfem Obsidian, und – gleichsam als frohlockten sie über ihre Fähigkeit, den Tod auszuteilen –, sie sangen förmlich, als sie durch die Luft flogen. Pfeilen, Speeren und Spießen habe ich in unserer Bilderschrift stets jenes geringelte Symbol beigefügt, das »Singen« bedeutet.
Ich kam nie näher heran als an den Schlachtenlärm – welcher erst von rechts voraus kam, von dort, wo die Heere am Fluß aufeinanderprallten, und sich dann weiter nach rechts verschob, als die Acólhua flohen und die Texcaltéca sie verfolgten. Dann dröhnten unversehens Nezahualpílis Signaltrommeln auf und gaben das Zeichen, daß die Wände des Fluchtkorridors sich aufeinander zubewegten, und die Geräusche des Schlachtgetümmels nahmen beträchtlich an Stärke zu: das spröde Klirren von Waffen gegen Waffen, das dumpfere Aufschlagen, wenn Waffen auf Leiber trafen, das furchterregende Kriegsgeschrei des Kojotengeheuls, des Jaguarfauchens, der Adler- und der Eulenschreie. Lebhaft stellte ich mir vor, wie die Acólhua sich zurückhielten, nicht mit voller Kraft zuzuschlagen und zuzustechen, während die Texcaltéca verzweifelt mit all ihrer Kraft und all ihrem Können kämpften und sich keine Zurückhaltung auferlegten, wenn es galt zu töten.
Ich wünschte, ich könnte es sehen, denn das wäre eine aufschlußreiche Vorführung der Kampfestüchtigkeit der Acólhua gewesen. Da es bei ihnen nicht ums Töten ging, erforderte der Kampf von ihnen um so mehr Geschicklichkeit. Doch das Gelände zwischen mir und der Schlacht war gewellt, Gebüsch und Baumgruppen sowie die grauen Regenschleier und nicht zuletzt meine eigene Kurzsichtigkeit behinderten mir die Sicht. Ich hätte versuchen können, näher heranzukommen, doch plötzlich klopfte mir jemand zaghaft auf die Schulter.
Immer noch gebückt, wirbelte ich herum, reckte meinen Speer und hätte ums Haar Cozcatl durchbohrt, ehe ich ihn erkannte. Der Knabe stand gleichfalls in gebückter Stellung da und hatte warnend einen Finger vor die Lippen gelegt. Mit der rasch eingesogenen Luft brachte ich zischend heraus: »Cozcatl, verflucht! Was machst du hier?«
Er flüsterte: »Ich bin Euch gefolgt, Herr. Ich bin die ganze Nacht über in Eurer Nähe gewesen. Ich dachte, vielleicht könntet Ihr zwei bessere Augen gebrauchen.«
»Was nimmst du dir heraus, Junge! Bis jetzt habe ich noch keinen …«
»Nein, Herr, bis jetzt noch nicht«, sagte er. »Aber jetzt, ja, jetzt tut Ihr es. Einer von den Feinden nähert sich. Er würde Euch gesehen haben, ehe Ihr ihn sehen könntet.«
»Was? Ein Feind?« Ich duckte mich womöglich noch tiefer.
»Jawohl, Herr. Ein Jaguarritter in vollem Kriegsornat. Er muß sich den Weg aus dem Hinterhalt freigekämpft haben.« Cozcatl wagte es, den Kopf ein wenig zu recken, weit genug, um rasch einen Blick in die Runde zu werfen. »Ich glaube, er hat vor, einen Bogen zu schlagen und unsere Männer von hinten anzufallen, wo sie niemand erwarten.«
»Sieh nochmal hin«, forderte ich ihn dringlich auf. »Sag mir genau, wo er ist und wohin er geht.«
Der kleine Sklave fuhr mit dem Kopf in die Höhe, zog ihn aber sogleich wieder ein und sagte: »Er steht vielleicht vierzig lange Schritte zu Eurer Rechten, Herr. Er bewegt sich ganz langsam voran, gebückt, aber er scheint nicht verwundet zu sein, nur vorsichtig. Wenn er weiter vorangeht wie bisher, wird er zwischen zwei Bäumen hindurchkommen, die zehn lange Schritte vor Euch wachsen.«
Mit diesen Richtungsangaben wäre es selbst einem Blinden gelungen, den Ritter abzufangen. Ich sagte: »Dann gehe ich jetzt zu diesen beiden Bäumen. Du bleibst hier und behältst ihn im Auge. Wenn er mich entdeckt, wirst du ihm das anmerken. Dann stoß einen Schrei aus und lauf zur Nachhut.«
Speer und Umhang ließ ich zurück und nahm nur mein Maquáhuitl mit. Ich drückte mich fast so dicht auf den Boden wie eine Schlange und bewegte mich voran, bis die Bäume im Regen vor mir auftauchten. Sie wuchsen aus einem dichten Gewirr von hohem Gras und niedrigem Gebüsch hervor, durch welche fast unmerklich ein Wildwechsel des Rotwilds verlief. Ich mußte davon ausgehen, daß der flüchtige Texcaltéca diesem Pfad folgte. Von Cozcatl war kein Warnruf gekommen, also mußte ich meine Stellung unbemerkt erreicht haben. Am Fuß eines der Bäume hockte ich mich auf die Fersen, so daß der Stamm zwischen mir und dem näherkommenden Mann stand. Mein Maquáhuitl mit beiden Händen packend, hielt ich es dicht überm Boden und wartete.
Durch das leise Rauschen des Regens hindurch hörte ich ganz leise Gras und kleine Zweige rascheln. Dann wurde direkt vor meinem Versteck ein lehmverschmierter Fuß in lehmverschmierter Sandale mit Jaguarkrallen aufgesetzt. Einen Augenblick später stand der zweite Fuß daneben. Der Mann muß es, nunmehr im Schutz der Bäume stehend, gewagt haben, sich aufzurichten und sich umzublicken, um festzustellen, wo er war.
Ich führte meinen Maquáhuitl-Hieb aus wie einst in der Schule, als ich den Nopáli-Kaktus gefällt hatte, und der Ritter schien einen Augenblick in der Luft zu hängen, ehe er der Länge nach auf den Boden schlug. Die Füße in den Sandalen blieben stehen, wo sie waren; das Maquáhuitl hatte sie ganz knapp oberhalb der Knöchel abgetrennt. Ich schnellte hoch und stürzte mich auf ihn, stieß mit dem Fuß das Maquáhuitl fort, das er immer noch gepackt hielt, setzte ihm die stumpfe Spitze meiner eigenen Waffe an die Gurgel und stieß keuchend die rituellen Worte hervor, wie sie derjenige, der einen Gegner gefangennimmt, an diesen zu richten hat. Zu meiner Zeit sagten wir nicht einfach plump: »Du bist mein Gefangener«, sondern befleißigten uns ausgesuchtester Höflichkeit und sprachen die Worte, die ich jetzt an den gefällten Ritter richtete: »Du bist mein geliebter Sohn!«
Ein bösartiger, fauchender Laut entrang sich seiner Brust, und er sagte: »Dann gebe du Zeugnis! Ich verfluche alle Götter und ihre gesamte Nachkommenschaft!« Doch dieser Ausbruch war verständlich. Immerhin war er Angehöriger des Elite-Ordens der Jaguarritter, und in einem einzigen Augenblick der Achtlosigkeit von einem jungen, offensichtlich neuen und noch nicht kampferprobten Krieger im tief unter ihm stehenden Yaoquízqui-Rang zu Fall gebracht worden. Ich wußte genau: hätten wir einander Mann gegen Mann gegenübergestanden, er hätte nach Belieben mit mir umspringen und mich in Stücke hacken können. Er wußte das genauso; sein Gesicht war violett angelaufen und er knirschte mit den Zähnen. Doch zuletzt verebbte seine Wut, ergab er sich in sein Schicksal und sprach die traditionellen Worte dessen, der sich geschlagen gibt: »Du bist mein verehrter Vater.«
Ich nahm die Waffe von seiner Gurgel, und er setzte sich auf, um steinernen Gesichts erst das Blut anzustarren, das ihm aus den Beinstümpfen hervorschoß, und dann fassungslos seine beiden Füße, die geduldig und nahezu säuberlich nebeneinander und vor ihm auf dem Wildwechsel standen. Wenngleich vom Regen völlig durchnäßt und verschmutzt, sah das Jaguargewand des Ritters immer noch überaus prachtvoll aus. Das gescheckte Fell, welches von dem furchterregenden Kopfhelm herunterhing, war dergestalt gearbeitet, daß die Vorderläufe ihm als Ärmel dienten und soweit hinunterreichten, daß die Krallen der Raubkatze an seinen Handgelenken rasselten. Der Riemen, der seinen leuchtend gefiederten Schild am linken Unterarm festhielt war beim Sturz nicht zerrissen. Abermals ein Rascheln im Gebüsch: Cozcatl, der sich zu uns gesellte und leise, aber stolz sagte: »Mein Herr hat seinen ersten Gefangenen gemacht, und das ohne jede Hilfe.«
»Und ich will nicht, daß er stirbt«, sagte ich, immer noch keuchend – vor Aufregung, nicht vor übermäßiger Anstrengung. »Er blutet schlimm.«
»Vielleicht kann man die Stümpfe abbinden«, schlug der Mann im schwerfälligen Nahuatl der Texcaltéca vor.
Cozcatl nestelte flink die Lederschnüre seiner Sandalen los, und ich schlang ein Stück unterhalb des Knies je eine fest um die Beine meines Gefangenen. Der Blutstrom verebbte und wurde nur mehr zu einem leichten Sickern. Ich reckte mich zwischen den Bäumen zu voller Höhe empor und lauschte, wie es zuvor der Ritter getan hatte. Und das, was ich hörte, überraschte mich völlig. Das Schlachtengetümmel im Süden war nahezu verstummt, kaum mehr als ein Gemurmel, wie auf einem überfüllten Marktplatz, ein Raunen, in dem nur hin und wieder ein lauter Befehl zu vernehmen war. Offenbar war während meines kleinen Geplänkels die Hauptschlacht beendet worden.
Ich wollte dem mürrisch dahockenden Gefangenen mein Mitgefühl ausdrücken und sagte: »Ihr seid nicht der einzige Gefangene, mein geliebter Sohn. Es scheint, als sei Euer gesamtes Heer geschlagen.« Er stieß nur ein Grunzen aus. »Jetzt werde ich dafür sorgen, daß man sich um Eure Wunden kümmert. Ich glaube, ich kann Euch tragen.«
»Immerhin wiege ich jetzt etwas weniger als zuvor«, sagte er bissig.
Ich bückte mich, bot ihm meinen Rücken dar und nahm seine verkürzten Beine unter die Arme. Er hinwiederum schlang mir die Arme um den Hals, so daß sein wappengeschmückter Schild meine Brust bedeckte, als wäre er mein eigener. Cozcatl hatte bereits meinen Umhang und meinen Speer geholt; jetzt nahm er auch noch meinen Schild aus Weidengeflecht und trug mein blutbeschmiertes Maquáhuitl. Er klemmte sich all diese Dinge unter den Arm, ergriff dann mit den Händen je einen der abgetrennten Füße und folgte mir, als ich mich im Regen in Bewegung setzte. Ich stapfte in Richtung auf das murmelnde Geräusch im Süden zu, wo der Kampf mittlerweile offenbar ganz zum Erliegen gekommen war und wo, wie ich annahm, unser Heer dabei war, die Ordnung wiederherzustellen. Als ich die halbe Strecke geschafft hatte, stieß ich auf die Kameraden meiner eigenen Kompanie, welche Blut Schwelger von ihren Posten herbeiholen ließ, um dann wieder zum Hauptheer zu stoßen.
»Umnebelt!« rief mein Cuachic. »Wie konntest du es wagen, deinen Posten zu verlassen? Wo hast du ge …!« Dann war sein Gebrüll unvermittelt wie abgeschnitten, der Mund blieb ihm offen, und die Augen gingen ihm über. »Möge ich zur Mictlan verdammt werden! Schau, was mein Lieblingsschüler da anbringt! Das muß ich sofort dem Kommandanten Xococ melden!« Mit diesen Worten schoß er davon.
Neid- und ehrfurchtsvoll betrachteten meine Kameraden mich und meine Trophäe. Einer von ihnen erbot sich: »Ich werde dir tragen helfen, Umnebelt.«
»Nein!« stieß ich keuchend hervor, mehr Atem stand mir nicht zur Verfügung. Kein anderer sollte behaupten, mir bei meiner Tat geholfen zu haben.
Und so gelangte ich – den mißmutigen Jaguarritter huckepack auf dem Rücken, den frohlockenden Cozcatl hinter mir und Xococ und Blut Schwelger stolz neben mir einherschreitend – schließlich zum Gros beider Heere, genau an jene Stelle, wo die Schlacht geendet hatte. An einem hohen Pfahl flatterte das Banner des Waffenstreckens, welches die Texcaltéca aufgezogen hatten: ein Viereck aus Goldgewebe, wie ein Stück von einem vergoldeten Fischnetz.
Was uns erwartete, war keineswegs überschäumender Trubel oder auch nur stille Siegesfreude. Die Mehrzahl jener Krieger auf beiden Seiten, die überhaupt nicht oder jedenfalls nur leicht verwundet waren, lag völlig erschöpft herum. Andere – Acólhua genauso wie Texcaltéca – lagen nicht still da, sondern zuckten, wanden sich, schrien oder stöhnten im Chor: »Yya, yyaha, yya ayya ouiya«, während die Wundärzte mit ihrer Medizin und Salben zwischen ihnen umhergingen und die Priester mit ihrem Gemurmel sich zu ihnen herniederneigten. Ein paar Unverletzte halfen den Wundärzten, während andere umhergingen und die überall verstreuten Waffen, Leichen und abgetrennte Gliedmaßen einsammelten: Hände, Arme, Beine, sogar Köpfe. Einem Fremden wäre es schwergefallen zu sagen, wer in diesem wüsten Gemetzel Sieger und wer Besiegter war. Über allem lastete ein würgender Geruch, ein Gemisch aus Blut, Schweiß, Körperschmutz, Urin und Kot.
Ich winkte, während ich weiter ausschritt, blickte dabei um mich und hielt Ausschau nach jemand, von dem ich annehmen konnte, daß ich meinen Gefangenen bei ihm abliefern könne. Doch die Nachricht war mir vorausgeeilt. Plötzlich stand ich vor dem Anführer aller Anführer, Nezahualpíli höchstpersönlich. Er war gewandet, wie es sich für einen Uey-Tlatoáni geziemte – mit einem gewaltigen Kopfputz aus Federn und langem, in allen Farben schillerndem Federumhang –, doch darunter trug er die federbesetzte und gesteppte Kampfbekleidung eines Adlerritters, welche von Blutspritzern bedeckt war. Nezahualpíli hatte nicht nur einsam und unerreichbar auf seinem Feldherrenhügel gestanden und zugesehen, sondern eigenhändig in den Kampf eingegriffen. Xococ und Blut Schwelger blieben ehrerbietig ein paar Schritte hinter mir zurück, als Nezahualpíli mich mit erhobener Hand begrüßte.
Ich ließ meinen Gefangenen sanft zu Boden gleiten, vollführte müde die Geste des Vorstellens und sagte mit meinem allerletzten Atem: »Hoher Gebieter, dies – dies ist mein – vielgeliebter Sohn!«
»Und dies«, sagte der Ritter ironisch und zeigte auf mich, »dies ist mein verehrter Vater. Mixpantzínco, Verehrter Sprecher.«
»Gut gemacht, junger Mixtli«, sagte mein höchster Vorgesetzter. »Ximopanólti, Jaguarritter Tlaui-Colotl.«
»Ich begrüße Euch, alter Feind«, sagte mein Gefangener zu meinem Gebieter. »Es ist das erstemal, daß wir einander außerhalb des Kampfgetümmels begegnen.«
»Und das letztemal, wie es scheint«, sagte der Uey-Tlatoáni und kniete sich freundschaftlich neben ihn. »Ein Jammer. Ihr werdet mir fehlen. Das waren doch Zweikämpfe, die wir ausgefochten haben, Ihr und ich. Wahrhaftig, ich hatte gehofft, noch jenen zu erleben, der nicht durch das Eingreifen unserer Untergebenen unentschieden geendet hätte.«
Er stieß einen Seufzer aus. »Manchmal stimmt es nicht minder traurig, einen ebenbürtigen Gegner zu verlieren als einen guten Freund.«
Mit wachsender Verwunderung war ich dieser Wechselrede gefolgt. Mir war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, mir das federgewirkte Wappen auf dem Schild meines Gefangenen genauer zu betrachten: Tlaui-Colotl. Der Name – Bewaffneter Skorpion – sagte mir nichts, doch offenbar war der Ritter berühmt in der Welt der Krieger. Tlaui-Colotl war einer jener Ritter, von denen ich schon gesprochen habe: ein Mann von so hohem Ruf, daß dieser auf den Mann überging, der ihn schließlich besiegte.
Bewaffneter Skorpion sagte zu Nezahualpíli: »Ich habe vier von Euren Rittern erschlagen, alter Feind, um mich aus Eurem verdammten Hinterhalt freizukämpfen. Zwei Adler, einen Jaguar und einen Pfeil. Hätte ich jedoch gewußt, was mein eigenes Tonáli für mich bereithielt« – bei diesen Worten warf er mir einen Blick belustigter Verachtung zu –, »ich hätte einem von ihnen gestattet, mich gefangenzunehmen.«
»Ihr werdet noch gegen andere Ritter antreten, ehe Ihr sterbt«, tröstete der Verehrte Sprecher ihn. »Dafür werde ich sorgen. Jetzt wollen wir uns aber um Eure Wunden kümmern.« Damit drehte er sich um und rief einen Wundarzt herbei, der in der Nähe mit einem anderen Verwundeten beschäftigt war.
»Nur einen Augenblick, Hoher Gebieter«, sagte der Wundarzt. Er war gerade über einen Acólhuatl-Krieger gebeugt, dem die Nase abgeschnitten worden war, die man glücklicherweise jedoch wiedergefunden hatte; sie war nur etwas zerquetscht und völlig verdreckt von den vielen Füßen, die darüber hingegangen waren. Der Wundarzt nähte sie wieder im Gesicht des Kriegers an, dabei einen Agavendorn als Nadel und eines seiner eigenen langen Haare als Faden benutzend. Die wiederangenähte Nase sah scheußlicher aus als die Wunde zuvor. Dann strich der Wundarzt in aller Eile gesalzten Honig über die Nase und kam zu meinem Gefangenen geeilt.
»Lockere die Schlingen an den Beinen und binde sie los«, wies er einen Helfer an, und einem anderen befahl er: »Bring mir von dem Feuer dort drüben ein Becken mit glühenden Kohlen!« Langsam drang wieder mehr Blut aus den Stümpfen von Bewaffneter Skorpion und dann, als der Helfer mit einer flachen Schale mit weißglühenden Kohlen herbeigeeilt kam, von denen weißliche Flammen emporzüngelten, schoß es plötzlich wieder wie ein Pumpenstrahl hervor.
»Wundarzt«, sagte Cozcatl in dem Bemühen zu helfen, »hier sind seine Füße.«
Der Wundarzt stieß ein verzweifeltes Grunzen aus. »Schaff sie fort! Füße lassen sich nicht wieder annähen wie eine Nasenknolle.« Und zum Verwundeten sagte er: »Einen zur Zeit oder beide gleichzeitig?«
»Wie Ihr meint«, erklärte Bewaffneter Skorpion gleichmütig. Er hatte bis jetzt nicht ein einziges Mal vor Schmerzen aufgeschrien oder auch nur leise gewimmert, und er tat es auch jetzt nicht, als der Wundarzt mit jeder Hand einen seiner Beinstümpfe packte und sie mit der Wunde in die glühenden Kohlen hineinstieß. Cozcatl drehte sich um und mied den Anblick. Das Blut zischte auf, und eine rosa Wolke stinkenden Dampfes stieg auf. Das Fleisch knisterte und ergab einen bläulichen Rauch, der nicht weniger magenumkehrend war. Bewaffneter Skorpion verfolgte das ganze Geschehen genauso gelassen wie der Wundarzt, der die nunmehr verkohlten und geschwärzten Stümpfe wieder aus der Glut herausholte.
Die Verbrennung hatte die durchtrennten Blutgefäße geschlossen, und es kam kein Blut mehr. Der Wundarzt verteilte reichlich Heilsalbe auf den Stümpfen: Bienenwachs, vermischt mit dem Gelben von Vogeleiern, dem Saft von Erlenrinde und Jalapa-Wunderblumenknolle. Dann richtete er sich auf und meldete: »Der Mann ist nicht mehr in Gefahr zu sterben, Hoher Gebieter; allerdings wird es etliche Tage dauern, bis er sich vom Blutverlust erholt hat.«
Nezahualpíli sagte: »Laß den Tragstuhl eines Edelmanns für ihn vorbereiten. Der erlauchte Bewaffnete Skorpion wird die Marschkolonne der Gefangenen anführen.« Dann wandte er sich Xococ zu, bedachte ihn mit eisigem Blick und sagte:
»Wir Acólhua haben heute viele der Unsrigen verloren, und noch mehr von ihnen werden sterben, ehe wir unsere Heimat Texcóco wiedersehen. Der Feind hat annähernd die gleiche Zahl verloren, doch die Zahl der Feinde, die lebend in unsere Hand gefallen sind, beträgt genausoviel wie die unserer Krieger, die mit dem Leben davongekommen sind. Sie geht in die Tausende. Euer Verehrter Sprecher Ahuítzotl kann zufrieden sein mit dem Werk, welches wir für ihn und seinen Gott getan haben. Wenn er und Chimalpopóca von Tlácopan echte Heere in voller Kampfstärke geschickt hätten, wir hätten vermutlich weiter vordringen und ganz Texcála unterwerfen können.« Er zuckte mit den Achseln. »Ach, lassen wir das. Wie viele Gefangene habt Ihr Mexíca gemacht?«
Ritter Xococ trat voller Unbehagen von einem Fuß auf den anderen, hüstelte, zeigte dann auf Bewaffneter Skorpion und erklärte leise: »Hoher Gebieter, Ihr seht den einzigen vor Euch. Vielleicht haben die Tecpanéca noch ein paar versprengte Krieger eingefangen, ich weiß es nicht. Aber von uns Mexíca« – er wies mit einer Bewegung auf mich – »hat nur dieser Yaoquízqui …«
»Der kein Yaoquízqui mehr ist, wie Ihr sehr wohl wißt«, erklärte Nezahualpíli beißend. »Er ist durch seinen ersten Gefangenen zum Rang eines Iyac aufgestiegen. Und dieser einzige Gefangene – nun, Ihr habt selbst gehört, wie er sagte, er habe heute vier Acólhua-Ritter getötet. Laßt Euch von mir gesagt sein: Bewaffneter Skorpion hat sich nie die Mühe gemacht, die Zahl seiner getöteten Gegner unter dem Rang eines Ritters auch nur zu zählen. Wir müssen jedoch annehmen, daß Hunderte von Acólhua, Mexíca und Tecpanéca im Laufe seines Lebens den Tod durch ihn gefunden haben.«
Blut Schwelger war dermaßen beeindruckt, daß er murmelte: »Umnebelt ist wahrhaftig ein Held.«
»Nein«, sagte ich. »Es war nicht eigentlich mein Schwerthieb, sondern vielmehr ein Glücksfall, und es wäre mir nie gelungen ohne Cozcatl und …«
»Aber es ist geschehen«, fiel Nezahualpíli mir in die Rede und brachte mich zum Schweigen. Zu Xococ gewandt, fuhr er dann fort: »Euer Verehrter Sprecher wird vermutlich den Wunsch haben, den jungen Mann mit etwas Höherem als dem Rang eines Iyac auszuzeichnen. In diesem Kampf hat einzig er den Ruf der Mexíca aufrecht erhalten, mutig zu sein und von sich aus etwas zu unternehmen. Ich schlage vor, daß Ihr ihn zu Ahuítzotl bringt, zusammen mit einem Brief, den ich schreiben werde.«
»Wie Ihr befehlt, Hoher Gebieter«, sagte Xococ, und küßte buchstäblich die Erde. »Wir sind sehr stolz auf unseren Umnebelt.«
»Dann ruft ihn bei einem anderen Namen! Aber jetzt ist genug gesäumt. Bringt Eure Truppe in Ordnung, Xococ. Ich teile Euch und sie den Feßlern und Garausmachern zu. Bewegt Euch schon.«
Xococ empfand das als einen Schlag ins Gesicht, was es schließlich auch war, doch setzten er und Blut Schwelger sich gehorsam in Trab. Wie ich zuvor berichtet habe, waren die Feßler diejenigen, welche den Gefangenen die Fesseln anlegten, sie bewachten und dafür sorgten, daß keiner von ihnen entkam. Die Garausmacher hingegen schwärmten über das gesamte Schlachtfeld und darüber hinaus, suchten diejenigen Verwundeten, denen keine Rettung mehr gebracht werden konnte, und gaben ihnen mit einem Dolchstoß den Tod. War das erledigt, trugen sie die Leichen von Verbündeten wie Feinden gleichermaßen zusammen und verbrannten sie, nicht, ohne jedem zuvor ein Stück Jade in die Hand oder in den Mund gesteckt zu haben.
Ein paar Augenblicke standen Nezahualpíli und ich allein beisammen. Er sagte: »Du hast heute und hier eine Tat vollbracht, auf die du stolz sein kannst – der du dich aber gleichzeitig schämen müßtest. Du hast den einzigen Mann kampfunfähig gemacht, den wir unter unseren Gegnern auf diesem Schlachtfeld wirklich fürchten mußten. Und du hast einem edlen Ritter ein unedles Ende bereitet. Selbst wenn Bewaffneter Skorpion in die Gegenwelt der Helden eingeht, wird seine Glückseligkeit immer einen bitteren Beigeschmack haben. Denn alle seine Kameraden dort werden wissen, daß er auf lachhafte Weise von einem Grünschnabel, einem kurzsichtigen gemeinen Rekruten zu Fall gebracht worden ist.«
»Hoher Gebieter, ich habe nur getan, was ich für richtig hielt.«
»Wie du es auch zuvor getan«, sagte er und seufzte. »Und hinterläßt anderen einen bitteren Nachgeschmack. Nicht, daß ich dich tadeln will, Mixtli. Vor langer Zeit ist es geweissagt worden, es sei dein Tonáli, die Wahrheit über die Dinge dieser Welt zu erfahren und diese Wahrheit bekannt zu machen. Nur um eines möchte ich dich bitten.«
Ich neigte den Kopf und sagte: »Mein Hoher Gebieter braucht einen Gemeinfreien um nichts zu bitten. Er befiehlt, und es wird ihm gehorcht.« »Um was ich dich bitte, läßt sich nicht befehlen. Ich flehe dich an, Mixtli, sei fürderhin klug, ja, mehr als vorsichtig im Umgang mit Recht und Wahrheit. Solche Dinge können genauso grausam verletzen wie eine Obsidianklinge. Und, genauso wie eine solche Klinge, kann sie auch den Mann treffen, der sie führt.«
Mit einem Ruck kehrte er sich von mir ab, rief nach einem Schnellboten und trug ihm auf: »Lege den grünen Umhang an und flicht dein Haar, so daß es gute Nachricht verheißt. Nimm einen neuen sauberen Schild und Maquàhuitl. Lauf nach Tenochtítlan, und auf dem Weg zum Palast schwenke deinen Schild und dein Schwert in so vielen Gassen, wie du irgend kannst, auf daß das Volk frohlocke und dir Blumen auf den Weg streue. Laß Ahuítzotl wissen, daß er den Sieg und die Gefangenen hat, die er wollte.«
Seine letzten Worte waren freilich nicht für den Boten, sondern nur für ihn selber bestimmt: »Auf daß Leben und Tod, ja, sogar der Name von Jadestein Puppe auf ewig vergessen sein mögen.«
Nezahualpíli und seine Bewaffneten trennten sich von uns anderen, um denselben Weg zurückzumarschieren, den wir alle gekommen waren. Die Abteilungen der Mexíca und Tecpanéca samt meiner Person und einer endlosen Kolonne Gefangener hielten sich an den geradenwegs auf Tenochtítlan zuführenden kürzeren Weg, der genau nach Westen führte: über einen Paß zwischen den Gipfeln von Tlaloctépetl und Ixtacciuatl hindurch, und später am Südufer des Texcóco-Sees entlang. Wir kamen nur langsam voran, denn viele von den Verwundeten hinkten oder mußten sogar, wie Bewaffneter Skorpion, getragen werden. Aber mühselig war der Marsch nicht, denn zum einen hatte es endlich aufgehört zu regnen, so daß wir sonnige Tage und milde Nächte genossen; zum anderen ging es, nachdem wir den recht zerklüfteten Gebirgspaß hinter uns hatten, die flachen, an den See angrenzenden Salzpfannen entlang, das heiter ans Ufer schwappende Wasser zu unserer Rechten und Hänge mit dicht bewaldeten, wispernden Höhenzügen zu unserer Linken.
Das überrascht euch, ehrwürdige Patres? Daß ich von Wäldern in so großer Nähe der Stadt spreche? Aber ja doch! Bis vor kurzer Zeit war das gesamte Hochtal von Mexíco üppig grün bewaldet: von uralten Zypressen, zahlreichen Eichenarten, kurz- und langnadeligen Fichten, süßem Lorbeer, Akazien und Mimosen. Ich kenne Eure Heimat Spanien nicht, meine Herren, und auch nicht Eure Provinz Castilien, aber es müssen öde und karge Landstriche sein. Ich sehe, wie Eure Waldarbeiter einen unserer Hügel kahlschlagen, um Nutz- und Brennholz zu gewinnen. Sie berauben ihn auch noch des letzten Grüns und der letzten Bäume, die viele Schock Jahre brauchten, um dort Xochimilco-See, welches von den einst ausgedehnten Ländereien der Culhua übriggeblieben ist. Durch die Stadt Ixtapaläpan marschierten wir in Reih und Glied, und als wir sie hinter uns hatten, sagte Blut Schwelger zu mir: »Es ist schon ziemlich lange her, daß du Tenochtítlan gesehen hast, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Es müssen an die vierzehn Jahre sein.«
»Dann wirst du es verändert finden. Prächtiger denn je. Vom nächsten Buckel in der Straße aus wirst du es daliegen sehen.« Als wir diese Erhebung erreichten, vollführte er eine ausladende Geste und sagte: »Schau!« Selbstverständlich konnte ich die große Inselstadt in der Ferne, die genauso weiß schimmerte, wie ich sie in der Erinnerung hatte, wahrnehmen, nur die Einzelheiten konnte ich nicht erkennen – höchstens, wenn ich die Augen besonders anstrengte, daß die mit schimmerndem Weiß bedeckte Fläche womöglich noch größer geworden zu sein schien. »Die Große Pyramide«, sagte Blut Schwelger ehrfürchtig. »Du solltest stolz sein, daß deine Tapferkeit dazu beiträgt, die Einweihungszeremonie zu verschönern.«
An der Spitze des Vorgebirges stießen wir auf die Stadt Mexícaltzinco, von welcher aus sich der Damm über den See hinweg nach Tenochtítlan erstreckte. Die gepflasterte Prachtstraße war breit genug, daß zwanzig Mann bequem nebeneinander hermarschieren konnten, doch ließen wir unsere Gefangenen sich in Viererreihen aufstellen, und neben ihnen gingen in bestimmten Abständen Wachen. Das taten wir nicht, um unseren Triumphzug zu strecken und noch größeren Eindruck zu machen, sondern weil die Brücke zu beiden Seiten voll stand von Leuten aus der Stadt die gekommen waren, uns willkommen zu heißen. Das Volk brach in Hochrufe aus und schrie und ließ Blumen auf uns herniederregnen, als ob der Sieg einzig uns Mexíca und Tecpanéca zu verdanken sei.
Auf halbem Wege zur Stadt weitete sich der Damm zu einer ausgedehnten Plattform, auf der die Feste Acachinánco lag, eine Verteidigungsanlage gegen jeden Angreifer, der versuchen sollte, auf diesem Wege Tenochtitlan einzunehmen. Wiewohl ausschließlich auf Pfeilern im Wasser errichtet, war die Festung fast so groß wie die beiden Städte zusammen, welche wir auf dem Festland durchschritten hatten. Die Garnison reihte sich in die Menge der uns willkommen Heißenden ein – da wurde getrommelt und wurden Muschelhörner geblasen, Schlachtrufe ausgestoßen, da schlugen sie mit ihren Speeren gegen ihre Schilde – ich jedoch konnte sie nur voller Verachtung ansehen, weil sie uns in der Schlacht nicht zur Seite gestanden hatten.
Als ich und die anderen an der Spitze des Zuges auf dem großen Platz in der Mitte von Tenochtítlan einmarschierten, waren die letzten unserer Gefangenen noch dabei, aus der Stadt Mexícaltzinco herauszukommen, zwei und einhalbmal. Ein Langer Lauf hinter uns. Auf dem Platz, Dem Herzen Der Einen Welt, scherten wir Mexíca aus der Kolonne aus und überließen sie den Tecpanéca. Sie bogen samt den Gefangenen scharf nach links ab und führten sie die Prachtstraße und dann den Damm entlang, der hinüberführt nach Tlácopan. Dort sollten die Gefangenen bis zu dem Tag, an dem die Große Pyramide geweiht wurde, außerhalb der Stadt irgendwo auf dem Festland untergebracht werden.
Die Pyramide! Ich drehte mich um und sah sie mir an, und sperrte dabei Mund und Nase auf, wie ich es zuvor wohl nur als Kind getan hatte. Im Laufe meines Lebens sollte ich noch größere Tlamanacáltin zu sehen bekommen, niemals jedoch eine so strahlend neue. Sie war das höchste Bauwerk von ganz Tenochtítlan und beherrschte die Stadt. Denjenigen, die sie von weither übers Wasser erblickten, bot sie einen ehrfurchtgebietenden Anblick, denn die Zwillingstempel auf ihrer abgeflachten Spitze ragten stolz, anmaßend und prächtig hoch über allem, was sonst zwischen der Stadt und den Bergen auf dem Festland zu sehen war. Ich jedoch hatte wenig Zeit, sie oder irgendwelche anderen überragenden Bauten zu betrachten, die entstanden waren, seit ich das letztemal auf dem Herzen Der Einen Welt gestanden hatte. Ein junger Page aus denn Palast drängelte sich durch die Menge und fragte überall nach dem Pfeilritter Xococ.
»Der bin ich«, erklärte Xococ selbstbewußt.
Der Page sagte: »Der Verehrte Sprecher Ahuítzotl befiehlt, daß Ihr Euch augenblicklich bei ihm meldet und den Iyac namens Tliléctic-Mixtli mitbringt.«
»Oh«, sagte Xococ leicht verstimmt. »Sehr wohl. Wo bist du, Umhebelt? Ich meine, Iyac Mixtli. Komm mit!« Insgeheim meinte ich, es wäre besser, erst einmal zu baden und ein Schwitzbad zu nehmen, ehe wir uns beim Uey-Tlatoáni meldeten, und uns saubere Kleider anzuziehen, doch erhob ich keinen Einspruch, sondern begleitete ihn so, wie ich war. Als der Page uns in der Menge voranging, wies Xococ mich an: »Küß demütig und anmutig die Erde, doch dann zieh dich zurück, damit der Verehrte Sprecher sich meinen Bericht über den Sieg anhören kann.«
Zu den neu hinzugekommenen Baulichkeiten des Großen Platzes gehörte auch die ringsum verlaufende Schlangenmauer. Aus Stein errichtet und mit weißem Stuck verkleidet war sie von doppelter Mannshöhe und oben gewellt wie eine sich windende Schlange. Sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite der Mauer ragten in regelmäßigen Abständen Steine vor, die wie Schlangenköpfe gemeißelt und angestrichen waren. Unterbrochen wurde die Mauer an drei Stellen – überall dort, wo im Norden, Westen und Süden die drei breiten Prachtstraßen vom Platz fortführten. In bestimmten Abständen waren große Holztore in die Mauer eingelassen, welche zu den wichtigsten außerhalb der Mauer gelegenen Gebäuden führten.
Eines davon war der neuerrichtete Palast Ahuítzotls, der jenseits der Mauer in der Nordwestecke der Schlangenmauer aufragte. Er war mindestens ebenso groß wie jeder der Paläste seiner Vorgänger auf dem Thron von Tenochtítlan, genauso groß wie der Palast Nezahualpílis von Texcóco, aber womöglich noch verschwenderischer und luxuriöser ausgestattet. Da er noch ganz neu war, hatte man ihn in den neuesten Kunststilen geschmückt, und er barg sämtliche modernen Annehmlichkeiten. So wiesen zum Beispiel die Räume des Obergeschosses in der Decke Luken auf, die sich aufschieben ließen, damit bei gutem Wetter von oben Licht einfiel.
Die vermutlich auffälligste Besonderheit des an der Vorderseite nach innen gewölbten quadratischen Baus war, daß er rittlings über einem der Kanäle Tenochtítlans saß. Auf diese Weise konnte man den Palast entweder vom Großen Platz aus durch die Schlangenmauer betreten, oder man konnte ihn vom Kanu aus erreichen. Ein Adliger, der müßig in seinem übergroßen, mit Kissen ausgepolsterten Acáli ruhte – aber auch ein gewöhnlicher Bootsmann, der eine Ladung Süßkartoffeln ablieferte – konnte, wohin er auch wollte, sich dieses erfreulich angenehmen Wasserwegs bedienen. Dabei glitt er durch einen höhlengleichen Korridor mit strahlend neuen Wandgemälden, dann durch Ahuítzotls üppig grünen, außerordentlich gepflegten und als Garten angelegten Innenhof und dann nochmals durch einen weiteren gähnenden überdachten Korridor voll neuer, eindrucksvoller gemeißelter Standbilder, ehe er wieder in den öffentlichen Kanal einmündete.
Der Page führte uns nahezu im Laufschritt durch das Portal in der Schlangenmauer in den Palast hinein, dann über Galerien und um Ecken herum bis in einen Raum, dessen gesamter Wandschmuck aus Jagd- und Kriegswaffen bestand. Jaguar-, Ozelot- und Silberlöwenfelle sowie Alligatorenhäute lagen als Brücken auf dem Fußboden und als Decken über niedrigen Stühlen, Bänken und anderen Sitzgelegenheiten, Ahuítzotl, ein vierschrötiger Mann mit kantigem Kopf und breitem Gesicht, saß auf einem erhöhten Thron, der vollständig vom dicken weichen Pelz eines der riesigen Bären bedeckt war, die weit von hier in den nördlichen Bergen zuhause sind – jenes gefährlichen Tiers, das ihr Spanier den Osopardo oder Grizzly-Bär nennt. Sein mächtiger Kopf ragte drohend über dem des Uey-Tlatoáni, und sein aufgesperrter Rachen ließ Reißzähne erkennen, so groß wie mein Finger. Ahuítzotls Gesicht unmittelbar darunter schaute nicht minder bedrohlich drein.
Der Page, Xococ und ich fielen aufs Knie, um die Geste des Erdeküssens zu vollführen. Als Ahuítzotl uns barsch aufforderte, uns zu erheben, sagte der Pfeilritter: »Wie Ihr befohlen habt, Verehrter Sprecher, bringe ich den Iyac namens …«
Brüsk unterbrach Ahuítzotl ihn. »Du bringst aber auch einen Brief von Nezahualpíli. Gib ihn uns. Und wenn du in dein Hauptquartier zurückkehrst, Xococ, trage auf deiner Musterrolle ein, daß der Iyac Mixtli kraft unseres Befehls in den Rang eines Tequiua erhoben worden ist. Du bist entlassen.«
»Aber Hoher Gebieter«, sagte Xococ wie vor den Kopf geschlagen. »Wollt Ihr denn nicht meinen Bericht über die Schlacht gegen Texcála anhören?«
»Was weißt denn du davon? Außer, daß du von hier aus hin- und dann wieder zurückmarschiert bist? Das wollen wir von dem Tequíua Mixtli hören, der dabei mitgekämpft hat. Wir haben gesagt, du bist entlassen, Xococ. Geh!«
Der Ritter schenkte mir einen haßerfüllten Blick und glitt dann rückwärts gehend aus dem Raum hinaus. Ich achtete nicht weiter darauf, war ich doch selbst nicht wenig benommen. Nachdem ich nun weniger als einen Mond im Heer gedient hatte, hatte man mich bereits in einen Rang erhoben, den zu erreichen die meisten Männer viele, viele Kriege mitmachen müssen. Der Rang eines Tequiua, der soviel bedeutet wie »Raubtier«, wurde für gewöhnlich nur solchen verliehen, die mindestens vier Feinde in der Schlacht erschlagen oder gefangen genommen hatten.
Ich war auf dieses Gespräch mit Ahuítzotl wahrhaftig nicht sonderlich erpicht gewesen, wußte ich doch nicht, was ich zu erwarten hatte; überdies stand ich in direktem Zusammenhang mit Taten und Fall der verstorbenen Tochter dieses Uey-Tlatoáni. Offenbar brachte er mich aber nicht mit diesem Skandal in Verbindung; auch war es in diesem Falle von Vorteil, den höchst geläufigen Namen Mixtli zu tragen, und so atmete ich erleichtert auf, als er mich so wohlwollend betrachtete, wie das bei seinem wilden Aussehen möglich war. Außerdem ließ ich mich von seiner Art zu sprechen tief beeindrucken. Es war das erstemal, daß ich einen einzelnen Mann von sich als von »wir« und »uns« sprechen hörte.
»Nezahualpílis Brief«, sagte er, nachdem er ihn überflogen hatte, »ist für dich wesentlich schmeichelhafter als für uns, junger Krieger. Er schlägt uns boshaft vor, ihm das nächstemal ein paar Kompanien kriegswütiger Schreiberlinge wie dich zu schicken, statt stumpfe Pfeile wie Xococ.« Ahuítzotl lächelte, so gut er konnte, und ähnelte dabei zunehmend dem Bärenkopf über seinem Thron. »Des weiteren meint er, mit ausreichenden Truppen hätten wir mit diesem Krieg endlich das Gebiet der widerspenstigen Texcaltéca unterwerfen können. Teilst du diese Meinung?«
»Wie käme ich dazu, Hoher Gebieter, anderer Meinung zu sein als ein so erfahrener Befehlshaber wie der Verehrte Sprecher Nezahualpíli. Ich weiß nur, daß seine Kriegslist in Texcála einem ganzen Heer zum Verhängnis wurde. Wären wir imstande gewesen, weiter vorzustoßen, hätten alle nachfolgenden Verteidigungsstellungen nur schwächer und immer schwächer sein können.«
»Du bist ein Wortkundiger«, sagte Ahuítzotl. »Kannst du für uns einen ausführlichen Bericht über Stellungen und Bewegungen sämtlicher am Kampf beteiligten Truppen niederschreiben und die dazugehörigen Karten zeichnen?«
»Jawohl, Verehrter Sprecher. Das kann ich.«
»Dann tu's! Du hast sechs Tage, ehe die Feierlichkeiten für die Einweihung der Tempelpyramide beginnen; dann wird jede Arbeit ruhen, und du wirst das Vorrecht haben, deinen erlauchten Gefangenen seinem Blumentod zu überantworten. Page, laß für diesen Mann vom Palastverwalter eine passende Wohnung bereitstellen samt allem nötigen Arbeitsmaterial. Du bist entlassen, Tequíua Mixtli.«
Meine Gemächer waren ebenso groß und behaglich wie jene, deren ich mich in Texcóco erfreut hatte, und da sie im Obergeschoß gelegen waren, wiesen sie auch noch den Vorteil auf, daß günstiges Licht für meine Arbeit von oben hereinfiel. Der Verwalter des Palastes bot mir einen Diener an, doch ich schickte den Pagen aus, statt dessen Cozcatl für mich zu suchen; ich wies dann Cozcatl an, uns beiden Kleider zum Wechseln zu besorgen, während ich mehrere Male badete und die Annehmlichkeiten des Schwitzbades genoß.
Als erstes zeichnete ich die Karte. Sie bedeckte viele gefaltete Blätter und ergab, auseinandergenommen, eine beträchtliche Länge. Ich begann mit dem Stadtzeichen von Texcóco, dann zeichnete ich die kleinen schwarzen Fußabdrücke ein, welche den Marsch von dort nach Osten darstellten, nebst zugehörigen stilisierten Zeichen für Berge und solchen, aus denen hervorging, wo wir übernachtet hatten; zuletzt fügte ich dort, wo die Schlacht entbrannt war, noch das Symbol für Fluß ein. Dort prangte auch das überall anerkannte Symbol für einen überwältigenden Sieg: ein brennender Tempel – wiewohl wir in Wirklichkeit keinerlei Teocáli zerstört oder auch nur gesehen hatten – und das Symbol dafür, daß wir Gefangene gemacht hatten: die Zeichnung eines Kriegers, der einen anderen bei den Haaren packt. Danach zeichnete ich die Fußabdrücke abwechselnd in schwarzer wie in roter Farbe, um Sieger und Besiegte anzudeuten, die den in westliche Richtung führenden Marsch nach Tenochtítlan zurücklegten.
Ich verließ meine Gemächer nicht ein einziges Mal, nahm dort sogar meine Mahlzeiten ein und schloß das Zeichnen der Karte binnen zwei Tagen ab. Dann machte ich mich an den wesentlich verzwickteren Bericht über Strategie und Taktik der Texcaltéca und Acólhua, zumindest insoweit ich sie beobachtet und durchschaut hatte. Eines Mittags trat Cozcatl in mein sonniges Arbeitszimmer und bat um die Erlaubnis, mich unterbrechen zu dürfen.
Er sagte: »Herr, von Texcóco her ist ein großes Kanu eingetroffen und hat am Innenhofgarten des Palastes festgemacht. Der Steuermann sagt, er bringe Sachen, die Euch gehörten.«
Das zu hören machte mich sehr froh. Als ich aus Nezahualpílis Palast ausgezogen war, um mich freiwillig bei der Truppe zu melden, hatte ich gemeint, es stehe mir nicht zu, irgendwelche von den feinen Kleidungsstücken und den anderen Geschenken mitzunehmen, welche mir in der Zeit vor meiner Verbannung gemacht worden waren. Cozcatl hatte inzwischen zwar für uns beide Gewänder geliehen, die wir tragen konnten, doch im Grunde besaßen weder er noch ich irgend etwas außer den nunmehr außerordentlich verpönten Schamtüchern, Sandalen und schweren Tlamáltin, die wir auf dem Weg zum Kriegsschauplatz und zurück getragen hatten. Ich sagte dem Jungen:
»Das ist eine außerordentlich aufmerksame Geste, die wir vermutlich der Dame von Tolan zu verdanken haben. Hoffentlich hat sie deine Kleidung auch gleich mitgeschickt. Besorg einen Palast-Tamemi, daß er dir hilft das Bündel herzubringen.«
Als er in Begleitung des Steuermanns und eines ganzen Trupps von Tamémime wieder heraufkam, war ich dermaßen überrascht, daß ich meine Arbeit vollständig vergaß. Nie in meinem Leben hatte ich eine solche Menge an Dingen besessen, wie die Träger sie jetzt herauftrugen und in meinen Gemächern stapelten. Ein großes und ein kleineres Bündel, säuberlich in schützende Schilfmatten verpackt, erkannte ich immerhin. Im größeren befanden sich meine Kleider und andere Habseligkeiten, darunter übrigens auch das Andenken an meine Schwester, das Figürchen der Göttin Xochiquétzal, und im kleineren die Cozcatls. Doch auf die anderen Ballen und Pakete konnte ich mir keinen Reim machen, und so erklärte ich, es müsse sich um einen Irrtum handeln; die seien gewißlich für jemand anders bestimmt.
Der Steuermann sagte: »Jedes ist besonders gekennzeichnet, Herr. Ist dies nicht Euer Name?«
Das stimmte. Jedes einzelne Bündel trug ein daran befestigtes Stück Borkenpapier, auf dem mein Name stand. Zwar gab es in Tenochtítlan viele Mixtlis und auch eine ganze Reihe von Tliléctic-Xochitl Tliléctic-Mixtli. Ich forderte sämtliche Anwesenden auf, mir zu helfen, die Umhüllungen aufzumachen, damit die Arbeiter, falls sich erwies, daß der Inhalt doch für jemand anders bestimmt war, alles gleich wieder einpacken und zurückbringen konnten. War ich schon zuvor einigermaßen verwirrt gewesen, so sollte ich gleich darauf nicht mehr wissen, wo mir der Kopf stand.
Ein mit Fasermatten umhüllter Ballen enthielt einen säuberlichen Stapel von vierzig Männerumhängen aus feinster, reich bestickter Baumwolle. Ein weiterer enthielt eine gleiche Anzahl Frauenröcke, die mit dem besonders kostbaren, aus Insekten gewonnenen Farbstoff rot gefärbt waren. Ein weiterer Ballen barg genauso viele Frauenblusen mit erlesener, durchbrochener Handarbeit, so daß sie nahezu durchsichtig waren. Noch ein anderes Bündel enthielt einen Ballen gewebter Baumwolle, der – hätten wir ihn auseinandergefaltet und zur Gänze entrollt – zwei Armlängen breit und an die zweihundert Schritt lang gewesen wäre. Wiewohl die Baumwolle von schmucklosem Weiß war, wies sie doch keinerlei Säume auf und war daher – schon allein von der möglicherweise jahrelangen Arbeit her, die eine Weberin daran gewendet haben mußte – unbezahlbar. Das schwerste aller Bündel enthielt, wie es sich herausstellte, Itztetl-Brocken, also rohe und unbearbeitete Obsidianstücke.
Gleichwohl waren die drei leichtesten Bündel die kostbarsten von allen, denn sie enthielten keine Tauschwaren, sondern allgemein gültige Zahlungsmittel. Das eine einen Beutel mit zwei oder drei Tausend Kakaobohnen; ein zweites einen Beutel mit zwei- oder dreihundert Stücken Zinn oder Kupfer, die wie winzige Axtschneiden aussahen und von denen ein jedes mit achthundert Kakaobohnen aufgewogen wurde; und das dritte ein Bündel von vier Federkielen, jeder durchsichtige Federkiel mit einem Stopfen aus Óli-Gummi verschlossen und gefüllt mit reinem, schimmerndem Goldstaub.
Ich sagte zu dem Bootsmann: »Ich wünschte, es wäre kein Versehen, doch es kann nur ein Irrtum sein. Nehmt es zurück.
Dieses Vermögen muß aus Nezalhualpílis Schatzhaus stammen.«
»Das tut es nicht«, erklärte er eigensinnig. »Es war der Verehrte Sprecher persönlich, der mich beauftragte, all dies herzubringen, und der sich persönlich davon überzeugte, daß es in mein Boot geladen wurde. Alles, was ich wieder mit zurückbringen soll, ist eine Bestätigung, alles auftragsgemäß abgeliefert zu haben. Mit Euren Namenszeichen, wenn ich bitten darf, Herr.«
Ich konnte immer noch nicht glauben, was meine Augen sahen und meinen Ohren gesagt wurde, konnte aber kaum weiter Einwände erheben. Immer noch wie im Traum, gab ich ihm die Bestätigung, woraufhin er und die Träger sich zurückzogen. Cozcatl und ich standen da und schauten uns die ausgepackten Schätze an. Schließlich sagte der Junge:
»Es kann sich nur um ein Abschiedsgeschenk handeln, Herr – vom Herrn Nezahualpíli persönlich.«
»Das könnte sein«, gab ich zu. »Er hat einen Palasthöfling aus mir gemacht und mußte mich dann gleichsam mir selbst überlassen. Dabei ist er ein gewissenhafter Mann. Vielleicht hat er mich jetzt mit den Mitteln ausgestattet, mich in einem anderen Gewerbe zu betätigen.«
»Gewerbe!« piepste Cozcatl empört. »Meint Ihr etwa arbeiten, Herr? Warum solltet Ihr arbeiten? Das alles hier ist genug, Euch bis in Euer hohes Alter hinein ein höchst angenehmes Leben führen zu lassen. Euch, eine Frau, Kinder und einen getreuen Sklaven.« Durchtrieben meinte er dann noch: »Einst habt Ihr mir gesagt, Ihr würdet ein großes Haus bauen wie ein Adliger, und dann würde ich Beschließer werden.«
»Halt den Mund«, sagte ich ihm. »Wäre es mir um Müßiggang zu tun gewesen, hätte ich zulassen können, daß Bewaffneter Skorpion mich in die Gegenwelt schickte. Jetzt sind mir die Mittel in die Hand gegeben, viele Dinge zu tun. Ich brauche nur noch zu entscheiden, was ich am liebsten tun möchte.«
Als ich am Tag vor Beginn der feierlichen Pyramideneinweihung den Schlachtbericht abgeschlossen hatte, trug ich ihn hinunter und suchte Ahuítzotls trophäenstrotzenden Thronsaal, in dem ich ihn kennengelernt hatte. Doch der Palastverwalter, der vor lauter Vorbereitungen offenbar nicht mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, fing mich ab und nahm ihn an seiner Stelle in Empfang.
»Der Verehrte Sprecher hat viele hochstehende Herren zu Besuch, die anläßlich der Feierlichkeiten aus fernen Ländern gekommen sind«, sagte der Mann wie abwesend. »Jeder Palast um den Großen Platz herum ist bis obenhin voll mit auswärtigen Herrschern und ihrem Gefolge. Ich weiß nicht, wie und wo ich noch mehr davon unterbringen soll. Aber ich werde Sorge tragen, daß Ahuítzotl Euren Bericht bekommt, sobald er ihn in Ruhe lesen kann. Sobald hier wieder Ruhe eingekehrt ist, wird er Euch zu einem weiteren Gespräch rufen lassen.« Damit eilte er geschäftig davon.
Da ich einmal im Erdgeschoß war, wanderte ich durch jene Räume, welche der Öffentlichkeit zugänglich waren, und tat das, nur um Einrichtung und Ausschmückung zu bewundern. Schließlich gelangte ich durch jene große Halle der Standbilder, durch deren Mitte der Kanal hindurchfloß. Decke und Wände waren gesprenkelt von den Lichtkringeln, die vom Widerschein der Sonne auf dem Wasser hervorgerufen wurden. Während ich mich dort aufhielt fuhr eine Reihe von Frachtbooten hindurch; genau wie ich bewunderten die Ruderer die vielen Standbilder von Ahuítzotl und seinen Frauen, des Hauptgottes von Tenochtítlan, Huitzilopochtli, sowie zahlreicher anderer Götter und Göttinnen. Es handelte sich um ganz vorzügliche Arbeiten, wie es sich für einen solchen Saal gehörte: in jede einzelne von ihnen war das Falkensymbol des verstorbenen Bildhauers Tlatli eingegraben.
Doch, wie er sich vor langen Jahren gerühmt, bedurften Tlatlis Arbeiten keiner Signatur; seine Götterbilder unterschieden sich in der Tat sehr von denen, welche Generationen hindurch von weniger phantasiebegabten Bildhauern nachgeschaffen und immer in der gleichen Form nachgebildet worden waren. Seine besondere Sehweise war vielleicht am deutlichsten erkennbar in der Darstellung der Coatlicue, der Göttinmutter des Gottes Huitzilopóchtli. Das aus einem einzigen Stein gehauene Standbild war nahezu um ein Drittel größer als ich, und als ich hinaufstarrte, spürte ich, wie sich mir die Nackenhaare sträubten, so unheimlich war es.
Da Coatlicue immerhin die Mutter des Kriegsgottes war, hatten die meisten der früheren Bildhauer sie mit finsterem Antlitz dargestellt; doch in der Form war sie immer deutlich als Frau erkennbar gewesen. Nicht so hingegen in Tlatlis Auffassung. Seine Coatlicue wies überhaupt keinen Kopf auf. Statt dessen trafen sich über ihren Schultern wie im Kuß zwei große Schlangenköpfe, und bildeten dergestalt ihr Gesicht: das an jedem Schlangenkopf jeweils einzige sichtbare Auge stattete Coatlicue mit zwei funkelnden Augen aus, und ihre sich begegnenden Münder mit einem breiten, grauenhaft grinsenden Mund voller Reißzähne. Sie trug eine Halskette, die aus einem Totenkopf, abgehackten Händen und herausgerissenen Menschenherzen bestand. Ihr Gewand für den unteren Teil ihres Körpers bestand ganz und gar aus sich windenden Schlangenleibern, und ihre Füße waren die krallenbewehrten Klauen irgendeines riesigen Raubtiers. Es handelte sich um die ganz einzigartige und ursprüngliche Darstellung einer weiblichen, allerdings entsetzenerregenden weiblichen Gottheit, und ich glaube, nur ein Cuilóntli-Mann, der unfähig war zu jeder Frauenliebe, konnte es fertigbringen, eine so ausnehmend monströse Göttin zu schaffen.
Ich folgte dem Kanal aus dem Saal hinaus, schlenderte unter den Trauerweiden dahin, die sich im Innenhofgarten über ihn neigten, und gelangte auf diese Weise in den gegenüberliegenden Saal des Palastes, dessen Mauern mit Wandbildern bemalt waren Darin gelangten vornehmlich die militärischen und staatsmännischen Taten zur Darstellung, welche Ahuítzotl seit seiner Thronbesteigung vollbracht hatte: Ahuítzotl als tapferer Teilnehmer an etlichen Schlachten: Ahuítzotl als Baumeister, zugegen, wie letzte Hand an die fast fertiggestellte Große Pyramide gelegt wurde. Aber diese Bilder waren lebendig und keineswegs starr und steif; sie wiesen eine Fülle beachtenswerter Einzelheiten auf und waren auf höchst kunstvolle Weise gemalt. Wie ich erwartet hatte, waren diese Wandbilder feiner und weniger grob ausgeführt als alle anderen modernen Malereien, die ich kannte. Und alle waren, wie ich gleichfalls zu sehen erwartet hatte, ausnahmslos in der unteren rechten Ecke mit dem blutroten Handzeichen Chimàlis gezeichnet.
Ich überlegte, ob er wohl schon wieder zurück sei in Tenochtítlan, ob wir einander begegnen würden und wie er es wohl anstellen wollte, mich dabei umzubringen. Dann machte ich mich auf die Suche nach meinem kleinen Sklaven Cozcatl und gab ihm folgende Anweisung: »Du kennst den Künstler Chimáli vom Sehen, und du weißt, daß er Grund hat, mir den Tod zu wünschen. Ich werde morgen gewisse Pflichten zu erfüllen haben, deshalb kann ich nicht ständig über die Schulter nach einem Mörder Ausschau halten. Ich möchte, daß du in der Menge umherwanderst und zu mir kommst, um mich zu warnen, falls du Chimáli siehst. Es könnte sein, daß er morgen in der großen Menge und im großen Durcheinander hofft, mich erdolchen und unbemerkt und unerkannt entkommen zu können.«
»Das wird er nicht können, wenn ich ihn zuerst sehe«, sagte Cozcatl unerschütterlich. »Und ich verspreche, wenn er da ist, werde ich ihn sehen. Bin ich Euch nicht schon einmal als Euer Auge dienlich gewesen, Herr?«
Ich sagte: »Das bist du in der Tat, Junge. Und deine Wachsamkeit und Treue werden nicht unbelohnt bleiben.«
Jawohl, Euer Exzellenz, ich weiß, Ihr seid ganz besonders interessiert an unseren früheren religiösen Gebräuchen; deshalb nehmt Ihr an der heutigen Sitzung teil. Wiewohl ich niemals Priester und auch kein großer Freund der Priester gewesen bin, werde ich die Einweihung der Großen Pyramide so gut ich kann beschreiben – wie sie vonstatten ging und welche Bedeutung alles hatte.
Wenn es nicht überhaupt die glanzvollsten und schreckenerregendsten Feierlichkeiten waren, denen mehr Menschen beiwohnten, als je zuvor in der gesamten Geschichte der Mexíca, so übertrafen sie jedenfalls alles, was ich in meiner Zeit miterlebt habe. Das Herz Der Einen Welt war eine einzige, wogende Masse von Menschen, farbenfrohen Stoffen, Düften und Federbüscheln, Fleisch, Gold und Körperwärme, Edelsteinen und Schweiß. Einer der Gründe, warum die Menschen so dichtgedrängt standen, war, daß von Wachen mit untergehakten Armen, welche den vorwärtsdrängenden Mob zurückhalten mußten, Durchgänge freigehalten wurden, damit die Reihen der Gefangenen zur Pyramide vorrücken und die Treppe zum Opferaltar hinaufsteigen konnten. Doch daß die Menschen einander so sehr bedrängten, lag auch daran, daß der zur Verfügung stehende Raum zunehmend dadurch verringert worden war, daß im Laufe der Jahre zahlreiche neue Tempel darauf entstanden waren – ganz zu schweigen davon, daß die Große Pyramide selbst immer mehr Raum beansprucht hatte.
Da Euer Exzellenz sie nie gesehen haben, sollte ich die Icpac Tlamanacáli vielleicht eingehender beschreiben. Der Grundriß war quadratisch und maß von einer Ecke zur anderen hundertundfünfzig Schritt; die vier Seiten stiegen nach innen an, bis die abgeflachte Spitze der Pyramide an einer Seite siebzig Schritt maß. Die Treppe, welche die West- oder Vorderseite hinaufführte, bestand eigentlich aus zwei getrennten Treppen, eine für solche, die hinaufstiegen, und eine für solche, die herabkamen; die Treppen wurden durch eine reich verzierte Rinne getrennt, in welcher das Blut herniederfloß. Zweiundfünfzig hohe Trittstufen und schmale Absätze zum Aufsetzen der Füße führten nach dem ersten Drittel zu einer die gesamte Pyramide umlaufenden Terrasse. Dann nochmals eine aus einhundertundvier Stufen bestehende Treppe, welche oben auf der Plattform endete, wo zwei Tempel standen und kultisches Gerät gelagert wurde. Zu beiden Seiten jeder dreizehnten Stufe stand das steinerne Bildnis eines mehr oder weniger bedeutenden Gottes oder einer Göttin, die in der steinernen Faust eine Stange hochhielten, an der oben ein weißes Federbanner hing oder in der Luft trieb.
Für jemand, der am Fuß der Großen Pyramide stand, waren die Bauten oben auf der Plattform unsichtbar. Von unten war nur die breite Doppeltreppe zu sehen, die sich nach oben zu verjüngen und womöglich in noch größere Höhe hinaufzuführen schien, als das tatsächlich der Fall war – nämlich bis in den blauen Himmel hinein oder, bei anderer Gelegenheit, mitten hinein in die aufgehende Sonne. Ein Xochimíqui, welcher die Treppe hinan seinem Blumentod entgegenging, muß wirklich das Gefühl gehabt haben, zu den hohen Göttern in den Himmel emporzusteigen.
Wenn er jedoch den Scheitel der Pyramide erreicht hatte und auf die Plattform hinaustrat, erblickte er als erstes den kleinen pyramidenförmigen Opferstein und dahinter die beiden Tempel. In gewisser Hinsicht stellten diese Teocáltin Krieg und Frieden dar, denn der eine, zur Rechten, war die Wohnung von Huitzilopochtli, dem wir unsere kriegerischen Erfolge, der zur Linken die Wohnung Tlalocs, dem wir unsere Ernten und unseren Wohlstand in Friedenszeiten verdankten. Eigentlich hätte noch ein dritter Teocäli dort hingehört, ein Tempel für den Sonnengott Tonatíu, doch dieser besaß bereits ein eigenes Heiligtum auf einer etwas bescheideneren Pyramide woanders auf dem Großen Platz, so wie übrigens etliche andere wichtige Götter auch. Des weiteren stand auf dem Großen Platz übrigens der Tempel, in welchem die Standbilder zahlreicher Götter der von uns unterworfenen Völker aufgestellt waren.
Die neuen Tempel von Tlaloc und Huitzilopochtli oben auf dem Scheitel der Großen Pyramide waren wuchtige Steinbauten, von denen ein jeder das hohle steinerne Standbild des betreffenden Gottes enthielt, welcher den Mund weit aufgerissen hielt, um Nahrung zu empfangen. Jeder Tempel freilich wirkte wesentlich größer und eindrucksvoller durch eine hochragende zurückspringende Steinfassade oder den Dachaufbau – der vom Huitzilopochtli-Tempel mit rechteckigen Vertiefungen und rotgemalten Mustern darauf und der vom Tlaloc-Tempel mit breiten, blau ausgemalten und gemusterten Rillen. Der größte Teil der Pyramide prangte in einem schimmernden, nahezu silbrig glänzenden Gipsweiß; wohingegen die beiden schlangenleibähnlichen Geländer, welche an den Außenseiten der Doppeltreppe entlangführten, mit Reptilienschuppen in Rot, Blau und Grün angemalt waren. Die beiden riesigen Schlangenköpfe, die sich ganz unten vorreckten, waren über und über mit gehämmertem Gold bedeckt.
Als die Feierlichkeiten beim ersten vollen Tageslicht begannen, umschwirrten die Oberpriester von Tlaloc und Huitzilopochtli mit ihren Gehilfen aufgeregt die Tempel oben auf der Pyramidenplattform und trafen ihre allerletzten Vorbereitungen. Auf der Terrasse, die um die ganze Pyramide herumlief, standen die vornehmeren Gäste. Tenochtítlans Verehrter Sprecher Ahuítzotl selbstverständlich im Verein mit dem Verehrten Sprecher von Texcóco, Nezahualpíli, und dem Verehrten Sprecher von Tlàcopan, Chimalpopóca. Neben ihnen standen die Herrscher anderer Städte, Provinzen und Völker – von weit entfernten Herrschaftsgebieten der Mexíca, vom Lande der Tzapotéca, der Mixtéca, den Totonäca und den Huaxtéca und noch anderer Völker, deren Namen ich damals noch nicht einmal kannte. Nicht anwesend war selbstverständlich der in unversöhnlicher Feindschaft zu den Mexíca verharrende Herrscher von Texcála, der alte Xicoténca; Yquingare von Michihuácan aber sehr wohl.
Stellt Euch einmal vor, Euer Exzellenz! Wäre Euer Capitän-General Cortés an diesem Tag auf dem Großen Platz erschienen – er hätte die Unterwerfung unserer Länder auf einen Schlag bewerkstelligen können; es hätte ihm ein leichtes sein müssen, unsere rechtmäßigen Herrscher nahezu vollständig umzubringen. Sodann hätte er sich – da und dort – zum Herrn von praktisch dem gesamten Gebiet ausrufen lassen können, das heute Neuspanien ist, und unser führerloses Volk hätte wohl kaum gewußt, wie es ihm die Anerkennung hätte versagen sollen. Sie wären gewesen wie ein kopfloses Tier, welches nur noch hilflos zucken und mit den Flügeln schlagen kann. Uns wäre damals, wie mir heute erst aufgeht, viel von dem Elend und dem Leiden erspart geblieben, das wir später über uns ergehen lassen mußten. Doch yyo ayyo! An diesem Tage feierten wir die Macht der Mexíca, ahnten wir nicht einmal, daß es so etwas wie weiße Männer überhaupt gab und gingen mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, daß unsere Wege und unsere Tage sich weit in eine grenzenlose Zukunft erstreckten. In der Tat hatten wir ja auch noch eine Reihe von Jahren vor uns, da wir auf der Höhe unserer Macht und unseres Ruhms standen, und deshalb bin ich froh, daß an jenem hinreißenden Tag kein fremder Eindringling störte.
Der Vormittag war der Unterhaltung gewidmet. Es tanzten und sangen Gruppen aus eben diesem Haus des Gesangs, in dem wir heute sitzen, Euer Exzellenz, und in ihren Darbietungen übertrafen sie, was Können und Wendigkeit betraf, bei weitem alles, was ich in Xaltócan oder Texcóco gesehen und gehört hatte – wenn auch kein einziger von ihnen an Anmut meiner verlorenen Tzitzitlíni das Wasser reichen konnte. Da waren die vertrauten Instrumente: die einzelnen Donnertrommeln, die Göttertrommeln, von denen immer mehrere auf einmal geschlagen wurden, die Wassertrommeln, die herabhängenden Kalebassen, die Rohrflöten und die Schienbeinflöten und die Süßkartoffelflöten. Freilich wurden die Sänger und Tänzer auch von anderen Instrumenten begleitet, und zwar von einer Vielfalt, wie ich sie anderwärts noch nie erlebt hatte. Eines hieß »gluckerndes Wasser« – eine Flöte, welche ihre Töne perlend durch einen Krug Wasser hindurchschickte, was eine Echowirkung zur Folge hatte. Da gab es noch eine andere, aus Ton gebrannte Flöte, in der Form ähnlich einem dicken Teller, dessen Spieler weder seine Lippen noch seine Finger bewegte; er bewegte den Kopf, während er in das Mundstück hineinblies, so daß eine kleine Tonkugel im Inneren der Flöte umherrollte und immer ein anderes der am Rand angebrachten Löcher verschloß. Und selbstverständlich waren von jedem Instrument nicht nur eines, sondern mehrere vorhanden. Die Musik, die sie alle zusammen machten, muß jedem, der in den Gemeinwesen rings um alle fünf Seen herum daheim geblieben war, ans Ohr gedrungen sein.
Die Musiker, Sänger und Tänzer brachten ihre Darbietungen auf den untersten Stufen der Pyramide sowie auf einem freigelassenen Platz davor dar. Wurden sie müde und mußten sich ausruhen, führten Männer irgendwelche Kunststücke vor. Kräftige Männer hoben gewaltige Gewichte aus Stein in die Höhe oder warfen sich gegenseitig nahezu nackte Mädchen zu, als wären sie federleicht. Akrobaten übertrumpften mit ihren Sprüngen, Possen und Rollen die Grashüpfer und Kaninchen. Oder sie stellten sich einander auf die Schulter – erst zehn, dann zwanzig, dann vierzig Männer auf einmal –, um mit ihren Leibern eine menschliche Pyramide zu bilden. Lustige Zwerge führten groteske und unanständige Pantomimen auf. Jongleure ließen eine unglaubliche Anzahl von Tlachtli-Bällen in der Luft kreisen und in verwirrenden Bahnen von einer Hand zur anderen wandern.
Nein, Euer Exzellenz, ich will damit nicht sagen, daß die vormittäglichen Unterhaltungen reiner Zeitvertreib gewesen wären (wie Ihr es nennt), um die Schrecken, die später kamen, erträglicher zu machen (wie Ihr sagt), und ich verstehe nicht, was Ihr meint, wenn Ihr etwas von »Brot und Spielen« brummelt. Euer Exzellenz dürfen aus dem Berichteten nicht den Schluß ziehen, dieser Frohsinn sei in irgendeiner Weise unehrerbietig gewesen. Wenn diese Darbietungen nicht düster, sondern ausgelassen waren, so deshalb, um die Götter in eine Stimmung zu versetzen, unsere späteren Opfer gnädig entgegenzunehmen.
Alles, was an diesem Morgen getan oder vorgeführt wurde, stand in irgendeiner Beziehung zu unserem Glauben, unseren Bräuchen oder Traditionen, selbst wenn diese Beziehung für einen fremden Beobachter wie Euer Exzellenz etwa nicht sofort augenscheinlich gewesen sein dürfte. Da waren zum Beispiel die Tocotine, die auf besondere Einladung hin aus dem Küstenland Totonáca gekommen waren, wo sich unter ihnen ein ganz bestimmter Sport entwickelt hatte – oder vielleicht von den Göttern inspiriert worden war. Was sie vorführten, erforderte die Errichtung eines ganz außergewöhnlich hohen Baumstamms, der in einen Sockel eingepflanzt wurde, wozu eigens ein Loch in den Marmor des Großen Platzes gebohrt worden war. In dieses Loch wurde ein lebendiger Vogel gesteckt, der dann, als der Baumstamm eingeführt wurde, zerquetscht wurde, auf daß sein Blut den Tocotine die Kraft verleihe, die sie zum Fliegen brauchten. Jawohl, zum Fliegen.
Der aufgestellte Baumstamm ragte nahezu genauso hoch in die Luft wie die Große Pyramide. Oben auf seiner Spitze befand sich eine winzige hölzerne Plattform, nicht größer, als sie ein Mann mit beiden Armen umspannen kann. Die ganze Länge des Stamms herunter ringelte sich ein lockeres Netz kräftiger Seile. Fünf Totonáca-Männer kletterten bis zur Spitze des Stamms hinauf; einer von ihnen trug eine Flöte und hatte eine kleine Trommel an seinem Schamtuch befestigt; die anderen vier waren bis auf eine Fülle leuchtendbunter Federn völlig unbehindert. Ja, bis auf diese Federn, die ihnen an die Arme geklebt waren, waren sie vollständig nackt. Nachdem sie die Plattform oben erreicht hatten, hockten die vier Gefiederten sich auf ihren Rand, während der fünfte Mann in der Mitte sich langsam und unter Aufbietung der allergrößten Vorsicht erst auf die Füße stellte und dann aus der Hocke zu voller Größe aufreckte.
Dort, auf dem winzigen Raum, stand er in schwindelnder Höhe da, stampfte erst mit dem einen Fuß auf und dann mit dem anderen, fing an zu tanzen und begleitete sich selbst mit Flöte und Trommel. Die Trommel schlug er mit der einen Hand, während er mit den Fingern der anderen abwechselnd die Löcher der Flöte verschloß, welche er blies. Wiewohl alle, die von unten zuschauten, den Atem anhielten, drang die Musik aus der großen Höhe nur als ganz feines Gedudel und leises Pochen zu uns herunter. Während er spielte, schlangen die anderen vier Tocotine sich mit größter Behutsamkeit die Enden der Seile, die vom Pfahl herunterhingen, um die Fußgelenke, was wir freilich nicht sehen konnten, so hoch war es. Als sie bereit waren, gab der Tanzende den Musikanten unten auf dem Platz ein Zeichen.
Ba-ra-ROMM! Ein donnerndes Aufbranden von Musik und Trommelgedröhn, das jeden Zuschauer erschauern ließ, und genau in diesem Augenblick sprangen die vier Männer da oben – ins Leere. Sie warfen sich hinaus und spreizten die in voller Länge gefiederten Arme. Jeder von den vieren trug die Federn eines anderen Vogels – ein roter Ara, ein blauer Eisvogel, ein grüner Papagei, ein gelber Tukan – und seine Arme waren die ausgebreiteten Fittiche. Ihr Sprung trug die Tocotine zuerst ein Stück von der Plattform nach außen, bis die Seile an ihren Beinen sich strafften und die Fliegenden mit einem Ruck gleichsam in der Luft standen. Sie wären unweigerlich gestürzt und gegen den Pfahl geprallt, wären die Stricke nicht auf eine höchst sinnreiche Weise ineinandergeschlungen gewesen. Aus dem ursprünglichen Sprung nach außen wurde ein langsames Kreisen um den Pfahl herum, wobei jeder der Männer gleich weit von seinen Gefährten entfernt war und sie alle immer noch die anmutige Haltung eines mit ausgebreiteten Schwingen dahinsegelnden Vogels einnahmen.
Alldieweil der Mann oben weiterhin tanzte und die Musikanten unten mit Trillern, lustigen Schlenkern und rhythmischen Trommelschlägen die Begleitung spielten, fuhren die vier Vogelmenschen weiter im Kreise dahin. Die kunstvoll verschlungenen Seile entwirrten sich nach und nach und wickelten sich immer mehr vom Stamm ab, die Vogelmenschen zogen immer weitere Kreise und kamen langsam tiefer. Doch wie die Vögel brachten die Männer ihre gefiederten Arme in Schrägstellung, so daß sie an Höhe gewannen und sich wieder in die Tiefe senkten, aneinander vorbei aufstiegen und hinunterflogen, als ob auch sie einen Tanz aufführten – nur freilich in der Luft und auf- und abgleitend.
Das Seil eines jeden Mannes war dreizehnmal über die ganze Länge des Stammes herumgewickelt. Bei der letzten Umkreisung, da sein Körper mit der größten Geschwindigkeit und am weitesten vom Pfahl entfernt dahinflog und er fast den Boden berührte, krümmte er den Körper und stellte die Fittiche gegen die Luft – wie ein Vogel beim Landen –, so daß er mit den Füßen zuerst den Boden berührte, der Strick sich löste und er noch etliche Schritte weiterlief, ehe er zum Stillstand kam. Das geschah bei allen vieren gleichzeitig. Dann hielt einer von ihnen sein Seil straff, so daß der fünfte Mann daran bis zum Platz herunterrutschen konnte.
Sofern Euer Exzellenz einiges von dem gelesen haben, was ich früher schon über unseren Glauben berichtet habe, werdet Ihr begriffen haben, daß es sich bei dieser Vorführung der Tocotine nicht einfach um ein akrobatisches Kunststück handelte, sondern daß jedem Aspekt eine bestimmte Bedeutung innewohnte. Die vier Flieger waren teils gefiedert und teils nacktes Fleisch, genauso wie Quetzalcóatl, die Gefiederte Schlange. Die vier kreisenden Männer mit dem Tänzer in der Mitte stellen die vier Himmelsrichtungen des Kompasses – Norden, Osten, Westen, Süden – und die Mitte dar. Die dreizehn Drehungen eines jeden Seils entsprachen den dreizehn Tagen und den dreizehn Jahren unseres Ritual-Kalenders. Vier mal dreizehn ergibt zweiundfünfzig – so viele Jahre, wie ein Schock Jahre enthält. Da waren auch noch andere feinere Bedeutungen – das Wort Tocotine zum Beispiel bedeutet »die Säemänner« –, doch ich will Eure Geduld nicht im Übermaß auf die Probe stellen und mich nicht weiter über diese Dinge auslassen, merke ich doch, daß Euer Exzellenz darauf brennen, etwas über jenen Teil der Einweihungszeremonie zu erfahren, welcher den Opferungen gewidmet war.
Am Abend zuvor, nachdem sie den Priestern der Göttin Kot Fresserin alle Sünden gebeichtet hatten, waren unsere Texcaltéca-Gefangenen an den Rand der Stadt herangeführt und in drei Herden aufgeteilt worden, so daß sie über die drei Prachtstraßen, welche zum Großen Platz führten, zur großen Pyramide vorrücken konnten. Der erste Gefangene, welcher – den anderen ein ganzes Stück voraus – der Pyramide näherrückte, war mein eigener: Bewaffneter Skorpion. Hochmütig hatte er es von sich gewiesen, auf einem Tragstuhl seinem Blumentod entgegengetragen zu werden, sondern näherte sich, die Arme zwei hilfreichen Ritterbrüdern um die Schultern gelegt, die aber selbstverständlich Mexíca waren. Bewaffneter Skorpion hing zwischen ihnen, und seine Beinstümpfe baumelten herunter wie zwei angefressene Wurzeln. Ich hatte einen Platz am Fuß der Pyramide zugewiesen bekommen, wo ich neben den dreien Schritt faßte und sie bis zur Terrasse die Treppe hinauf begleitete, wo all die Adligen warteten.
Der Verehrte Sprecher Ahuítzotl sagte zu meinem Geliebten Sohn: »Als unserem ranghöchsten und erlauchtesten Xochimíqui steht Euch die Ehre zu, als erster den Blumentod zu empfangen, Bewaffneter Skorpion. Als langjährigem Jaguarritter von so bedeutendem Ruf steht Euch jedoch auch die Wahl offen, ob Ihr es statt dessen nicht vorzieht, auf dem Schlachtstein um Euer Leben zu kämpfen. Wie lautet Euer Entschluß?« Der Gefangene seufzte. »Ich habe kein Leben mehr, Hoher Gebieter. Doch wäre es gut, ein letztes Mal zu kämpfen. Wenn ich denn wählen darf, so wähle ich den Schlachtstein.«
»Das ist eine Entscheidung, die eines Kriegers würdig ist«, sagte Ahuítzotl. »Und Ihr sollt durch würdige Gegner, unsere ranghöchsten Ritter, geehrt werden. Wachen, helft dem erlauchten Bewaffneten Skorpion auf den Stein hinauf und gürtet ihn für den Zweikampf.«
Ich ging mit, um zuzusehen. Der Schlachtstein war, wie ich bereits früher berichtet habe, der einzige Beitrag des ehemaligen Uey-Tlatoáni Tixoc zur Ausgestaltung des Großen Platzes, Es handelte sich um einen breiten, gedrungenen Zylinder aus Vulkangestein, der seinen Platz zwischen der Großen Pyramide und dem Sonnenstein gefunden hatte. Er blieb jenen Kriegern vorbehalten, welche die Auszeichnung verdienten, so zu sterben, wie sie gelebt hatten – im Kampf. Allerdings mußte ein Gefangener, der sich entschloß, auf dem Schlachtstein um sein Leben zu kämpfen, nicht nur gegen einen Gegner antreten. Gelang es ihm durch List oder schiere kämpferische Überlegenheit einen Mann zu besiegen, trat ein anderer Mexícatl-Ritter an dessen Stelle, dann noch einer und noch einer – vier insgesamt. Einer von ihnen mußte ihn töten … zumindest war das bei den bisherigen Zweikämpfen immer so ausgegangen.
Bewaffneter Skorpion war in voller Schlachtrüstung gekommen – im gesteppten Baumwollanzug und mit den Insignien seines Ritter-Ordens, in Jaguarfell und Helm. Dann wurde er auf den Stein hinaufgesetzt auf dem er nicht einmal stehen konnte, denn er hatte ja keine Füße mehr. Sein mit dem obsidianbewehrten Maquáhuitl bewaffneter Gegner hatte den Vorteil, von der Plattform hinunter- und wieder hinaufspringen und von allen Seiten angreifen zu können. Bewaffnetem Skorpion wurden zwei Verteidigungswaffen gegeben, doch waren das erbärmliche Geräte. Das eine war ein einfacher Holzstab, um die Schläge des Angreifers abzuwehren, das andere ein Maquáhuitl, allerdings die harmlose Spielzeugausgabe, wie die Neukrieger sie bei der Ausbildung benutzten und deren Obsidianplättchen abgenommen und durch Büschel von Daunenfedern ersetzt worden waren.
Bewaffneter Skorpion saß am Rande des Steins und hatte die Haltung nahezu entspannter Erwartung angenommen. Das entschärfte Schwert in der Rechten, den Holzstab mit der Linken gepackt, lag ihm beides auf dem Schoß. Sein erster Gegner war einer der beiden Jaguarritter, auf deren Schultern hängend er auf den Großen Platz gekommen war. Dieser Mexícatl sprang links von Bewaffneter Skorpion auf den Schlachtstein hinauf, das heißt, auf der seiner Angriffswaffe, also dem Maquáhuitl, abgewandten Seite. Bewaffneter Skorpion überraschte den Mann jedoch. Das Schwert zuckte nicht einmal; er benutzte statt dessen den Verteidigungsstab. Eine kurze, ruckhafte Bewegung, und er ließ ihn schräg nach oben sausen, wo er den Mexícatl, der nicht hatte erwarten können, ausgerechnet mit dem Verteidigungsstab angegriffen zu werden, unterm Kinn erwischte. Der Unterkiefer zerbrach, und der Mann stürzte bewußtlos zu Boden. Ein Raunen der Bewunderung ging durch die Menge; andere ließen beifällige Eulenschreie hören. Bewaffneter Skorpion saß einfach da und hielt den Holzstab gleichmütig über der linken Schulter.
Der zweite Kämpfer, der gegen ihn antrat, war der andere Jaguarritter, der Bewaffnetem Skorpion seine Schulter geliehen hatte. Da er verständlicherweise davon ausging, daß der erste Sieg des Gefangenen nichts weiter als eine Laune des Schicksals gewesen sei, sprang er gleichfalls, die Obsidianklinge zum Schlag erhoben, die Augen fest auf das Maquáhuitl des Sitzenden gerichtet, zur Linken von Bewaffnetem Skorpion auf den Stein. Diesmal schlug Bewaffneter Skorpion mit seinem Verteidigungsstab von oben kommend über die ausgereckte und das Schwert packende Hand des Ritters hinweg, und der Stab zerbrach zwischen den Ohren des Jaguarkopf-Helms, den der Mexícatl trug. Der Mann stürzte mit zerschmettertem Schädel rücklings vom Schlachtstein herunter und war tot, ehe irgendein Wundarzt ihm zur Hilfe kommen konnte. Das Geraune und das beifällige Eulengeschrei wurden lauter.
Der dritte Gegner war ein Pfeilritter, welcher jetzt zurecht außerordentlich auf der Hut war vor dem keineswegs so harmlosen Stab des Texcaltécatl. Er sprang von rechts auf den Stein hinauf und schwang sein Maquáhuitl bereits im Sprung. Bewaffneter Skorpion hob abermals seinen Stab, diesmal jedoch nur, um den Schwerthieb zu parieren und seitlich abgleiten zu lassen. Diesmal jedoch handhabte er außerdem auch noch sein Maquáhuitl, wenn auch in ungewöhnlicher Weise. Er stieß das harte und stumpfe Ende in die Höhe und dem Pfeilritter mit aller Kraft in die Kehle. Die Waffe zerschmetterte jenen vorspringenden Knorpel im Hals, den ihr Adamsapfel nennt. Der Mexícatl stürzte, wand sich und erstickte mitten auf dem Schlachtstein.
Als die Wachen den schlaffen Leichnam davontrugen, konnte die Menge sich nicht mehr halten vor Begeisterung und stieß laute Rufe und Pfiffe der Ermutigung aus – nicht für ihre Mexíca-Krieger, sondern für den Texcaltécatl. Selbst die Adligen hoch oben auf der Terrasse gingen aufgeregt hin und her und redeten erregt durcheinander. Solange ein jeder von ihnen zurückdenken konnte – noch nie hatte ein Gefangener, nicht einmal einer, der noch über sämtliche Gliedmaßen verfügte, drei Gegner auf dem Schlachtstein besiegt.
Beim vierten jedoch zweifelte niemand daran, daß dieser Bewaffnetem Skorpion den Todesstreich versetzen würde, denn dieser vierte war einer unserer seltenen linkshändigen Kämpfer. Selbstverständlich waren praktisch alle Krieger Rechtshänder, und so hatten sie auch gelernt, rechtshändig gegen Rechtshänder zu kämpfen, hatten das ihr Leben lang getan. Aus diesem Grunde ist ein rechtshändiger Krieger, wie wohl bekannt ist, zunächst verdutzt und gerät dann in Verwirrung, wenn er gegen einen Linkshänder antritt, weil es plötzlich so ist, als kämpfe er gegen sein eigenes Spiegelbild.
Der Linkshänder, ein Ritter vom Adlerorden, nahm sich Zeit, auf den Schlachtstein hinaufzusteigen. Er stellte sich dem Zweikampf mit größter Gelassenheit und lächelte grausam und zuversichtlich zugleich. Bewaffneter Skorpion, den Stab in der Linken und das Maquáhuitl in der Rechten, saß immer noch auf derselben Stelle. Der Adlerritter, das Schwert in der Linken, machte einen Ausfall, der seinen Gegner ablenken sollte, und sprang dann vor. Während er das tat, handelte Bewaffneter Skorpion genauso geschwind wie nur irgendeiner der Jongleure am Vormittag. Er warf Stab und Maquahuitl nur wenige Handbreit in die Luft und fing sie jeweils mit der anderen Hand auf. Der Mexícatl-Ritter bremste bei dieser völlig unerwarteten Zurschaustellung von Beidhändigkeit seinen Sprung ab, als wolle er wieder zurückweichen. Doch dazu erhielt er keine Gelegenheit mehr.
Bewaffneter Skorpion ließ Schwert und Stab scherengleich auf das linke Handgelenk des Ritters herniederfahren, preßte, und dem Mann fiel sein Maquahuitl aus der Hand. Während Bewaffneter Skorpion das Handgelenk zwischen seinen beiden hölzernen Waffen eingezwängt hielt wie im kräftigen Schnabel eines Papageis, zog er sich zum erstenmal aus seiner sitzenden Stellung hoch, um sich auf Knien und Stümpfen aufzurichten. Mit unerhörter Kraft zwängte er seine beiden Waffen noch weiter zusammen und drehte sie. Der Adlerritter mußte dieser Drehung folgen und stürzte auf den Rücken. Augenblicklich legte der Texcaltécatl seinem Gegner die hölzerne Maquáhuitl-Klinge über die Gurgel, stemmte sich mit den Händen links und rechts davon auf seine Waffe und drückte mit seinem ganzen Gewicht und seiner ganzen Kraft zu. Der Mann unter ihm schlug wirbelnd mit den Armen um sich, während Bewaffneter Skorpion den Kopf hob, um zur Pyramide, zu den Edelleuten hinaufzublicken.
Ahuítzotl, Nezahualpíli, Chimalpopóca und die anderen auf der Terrasse beratschlagten, was zu tun sei; ihre Gesichter verrieten Bewunderung und Fassungslosigkeit. Dann trat Ahuítzotl an den Rand der Terrasse und vollführte mit der Hand eine in die Höhe gehende Bewegung. Bewaffneter Skorpion lehnte sich zurück und nahm sein Maquáhuitl von der Gurgel des gestürzten Gegners. Dieser setzte sich zitternd auf, rieb sich den Hals und machte ein fassungsloses und verlegenes Gesicht zugleich. Er und Bewaffneter Skorpion wurden zusammen auf die Terrasse hinaufgebracht. Ich begleitete sie und strahlte vor Stolz über meinen Geliebten Sohn. Ahuítzotl sprach zu ihm:
»Bewaffneter Skorpion, Ihr habt etwas Unerhörtes vollbracht. Ihr habt unter größerer Behinderung auf dem Schlachtstein um Euer Leben gekämpft als je ein Kämpfer zuvor, und Ihr habt gewonnen. Eure Stelle als Xochimíqui für das erste Opfer wird dieser Maulheld einnehmen, den Ihr als letzten besiegt habt. Ihr seid frei und könnt heimkehren nach Texcála.«
Mit Entschiedenheit schüttelte Bewaffneter Skorpion den Kopf. »Selbst wenn ich meine Beine gebrauchen und zu Fuß nach Hause gehen könnte, Verehrter Sprecher, ich würde es nicht tun. Einem Mann, der einmal Gefangener eines anderen geworden ist, ist es von seinem Tonáli und den Göttern bestimmt zu sterben. Ich würde nur Schande über meine Familie, über meine Ritterkameraden, ja, über ganz Texcála bringen, kehrte ich ehrlos und lebendig zurück. Nein, Hoher Gebieter, ich habe bekommen, was ich begehrte – einen letzten Kampf – und es war ein guter Kampf. Laßt Euren Adlerritter am Leben. Ein linkshändiger Krieger ist zu selten und zu kostbar, als daß man ihn einfach verschwenden könnte.«
»Wenn Ihr das wünscht«, erklärte der Uey-Tlatoáni, »bleibt er am Leben. Wir sind bereit, Euch jeden anderen Wunsch zu erfüllen. Ihr braucht ihn nur auszusprechen.«
»Dann wünsche ich, daß man mir jetzt gestatte, den Blumentod zu finden und in die Gegenwelt der Krieger einzugehen.«
»Gewährt«, sagte Ahuítzotl, um dann noch großmütig hinzuzufügen: »Es wird dem Verehrten Sprecher Nezahualpíli und mir eine Ehre sein, Euch persönlich hinaufzutragen.«
Bewaffneter Skorpion ergriff nur noch einmal das Wort, und zwar richtete er es an denjenigen, der ihn zum Gefangenen gemacht hatte, also an mich. Wie es der Brauch war, fragte er: »Hat mein Verehrter Vater eine Botschaft, von der er möchte, daß ich sie den Göttern übermittle?«
Ich lächelte und sagte: »Jawohl, mein Geliebter Sohn. Sagt den Göttern, ich hätte nur den einen Wunsch, daß Euch im Tode vergolten werde, was Ihr im Leben verdient habt. Daß Euch für immer und ewig das reichste aller Nachleben vergönnt sein möge.«
Er nickte. Die Arme den zwei Verehrten Sprechern um die Schultern gelegt, wurde er die letzten Stufen bis zum Steinblock emporgetragen. Die versammelten Priester, die sich kaum fassen konnten darüber, wie günstig und nur Gutes verheißend die Ereignisse im Zusammenhang mit diesem ersten Opfer des Tages verlaufen waren, gaben sich besonders viel Mühe, die Weihrauchfässer zu schwenken, die Urnenfeuer farbig aufsprühen zu lassen und ihre Götterbeschwörungen zu singen. Dem Krieger Bewaffneter Skorpion wurden noch zwei allerletzte Ehren zuteil. Ahuítzotl persönlich ließ das Obsidianmesser herniederfahren. Das herausgerissene Herz wurde an Nezahualpíli übergeben, welcher es mit einer Kelle in den Tempel des Huitzilopochtli hineintrug und dort dem Gott in den aufgerissenen Mund füllte.
Damit endete meine persönliche Teilnahme an den Feierlichkeiten, zumindest bis zum Festgelage am Abend, und so stieg ich von der Pyramide hinunter und nahm irgendwo an der Seite Aufstellung. Nach der Opferung von Bewaffneter Skorpion war alles andere eher enttäuschend – nur freilich nicht die überwältigende Menge der Opfer: Tausenden von Xochimique, mehr denn je an einem einzigen Tag, wurde der Blumentod gewährt.
Ahuítzotl beförderte das Herz des zweiten Gefangenen mit der Kelle in den Mund des Tlaloc-Standbilds, dann stiegen er und Nezahualpíli gemeinsam wieder hinunter zu der die Pyramide umlaufenden Terrasse. Sie und die anderen Herrscher traten gleichfalls beiseite, um nicht im Wege zu sein, und als sie es müde wurden, dem Fortgang der Opferungen zuzusehen, unterhielten sie sich müßig über eben jene Dinge, über die Verehrte Sprecher nun einmal reden. Inzwischen rückten die drei Reihen von Gefangenen langsam auf den Prachtstraßen voran, bis sie auf Das Herz Der Einen Welt gelangten, dann weiter zwischen den Schulter an Schulter gedrängt dastehenden Zuschauermengen und stiegen einer hinter dem anderen die Pyramidentreppe hinauf.
Die Herzen der ersten Xochimique – vielleicht die ersten zweihundert wurden feierlich und mit der Kelle in die Münder von Huitzilopochtli und Tlaloc hineingefüllt, bis das hohle Innere der Standbilder keine Herzen mehr faßte und das Blut von den Lippen der Götter herunterrann und – tropfte. Selbstverständlich verwesten die in die Höhlungen der Götterbilder hineingestopften Herzen mit der Zeit, schrumpften zu einem schmierigen Brei zusammen und machten Platz fürmehr. Da den Priestern an diesem Tag jedoch eine Überfülle von Herzen zur Verfügung stand, wurden die später herausgerissenen in bereitstehende Schalen geworfen. Als diese gefüllt waren und von noch dampfenden und bisweilen noch zuckenden Herzen überzulaufen drohten, hoben Unterpriester sie auf und eilten die Große Pyramide hinunter, über den Großen Platz und durch die Straßen auf der ganzen Insel und lieferten den Überfluß an jede andere Pyramide, Tempel und Götterstandbild sowohl in Tenochtitlan als auch in Tlaltelolco – und am späteren Nachmittag auch noch an die Tempel in den Städten auf dem Festland.
Endlos rückten die Gefangenen auf der rechten Pyramidentreppe weiter nach oben, während die aufgeschnittenen Leichen ihrer Vorgänger die linke Treppe hinunterrollten und – rutschten und von Jungpriestern, die in gewissen Abständen daneben aufgestellt worden waren, weiter hinuntergestoßen wurden und in der Rinne zwischen den Treppen ein ständiger Blutstrom herunterfloß, der zu Füßen der Zuschauer unten auf dem Großen Platz große Lachen bildete. Nach den ersten zweihundert Xochimique etwa gaben die Priester jede Mühe auf, den Anschein einer feierlichen Handlung aufrechtzuerhalten. Sie stellten die Weihrauchgefäße, Banner und heiligen Zeremonialstäbe beiseite, hörten mit den Beschwörungen auf und arbeiteten hastig und gleichmütig wie Garausmacher auf dem Schlachtfeld – was bedeutete, daß sie auch nicht mehr sauber arbeiteten.
Das hastige Einfüllen der Herzen in die Standbilder hatte das Innere beider Tempel mit Blutspritzern übersät bis Wände und Boden, ja, sogar die Decke mit einer dicken Schicht trocknenden Bluts überzogen waren. Was an Blut nicht haften blieb, rann zur Tür hinaus, während vom Opferstein mehr und immer noch mehr Blut herunterlief, bis die ganze Plattform schlüpfrig geworden war. Hinzu kam, daß viele Gefangene, mochten sie noch so gelassen ihrem Schicksal entgegensehen, in dem Augenblick, da sie sich auf den Stein legten und das Messer erwarteten, unwillkürlich ihre Blase oder auch ihren Darm entleerten. Die Priester – die am Morgen wie üblich in ihre geierhaften Gewänder gekleidet und mit strähnigem Haar und ungewaschener Haut angetreten waren – waren längst zu sich bewegenden roten und braunen Klumpen aus geronnenem Blut, getrocknetem Schleim und Kot geworden.
Am Fuß der Pyramide waren die Fleischzerteiler mit der gleichen rasenden Eile und Unachtsamkeit am Werk. Bewaffnetem Skorpion und einer Anzahl von anderen Texcaltéca-Rittern hatten sie die Köpfe abgeschnitten, die gekocht wurden, bis nur die Totenschädel übrigblieben; diese sollten später auf dem Schädelgerüst auf dem Großen Platz aufgestellt werden, das der Erinnerung an besonders erlauchte Xochimique diente. Von denselben Leichen hatten sie auch die Schenkel abgetrennt welche für den abendlichen Festschmaus der siegreichen Krieger gesotten werden sollten. Als jedoch mehr und immer mehr Leichen zu ihnen heruntergerutscht kamen, schnitten die Fleischzerteiler nur noch die besten Leckerbissen heraus, welche an die Tiere des am Großen Platz gelegenen Tierhauses verfüttert, eingesalzen oder geräuchert und für spätere Verfütterung an die Tiere oder völlig mittellose oder herrenlose Sklaven aufgehoben wurden, die kamen und um solche Essensgaben bettelten.
Die verstümmelten Leichen wurden von den Schlächtergehilfen eilends zum nächsten Kanal getragen – jenem, der unter der Prachtstraße nach Tepeyáca hindurchfloß
– und dort in große bereitstehende Frachtkanus geworfen, die, wenn sie voll waren, sogleich verschiedene Stellen des Festlandes ansteuerten: die Blumengärtnereien von Xochimilco, die Obstgärten und Gemüsefelder rund um die Seen, wo die Leichen vergraben wurden und als Dünger dienten. Ein einzelnes kleineres Acáli begleitete eine jede Flotte von Flachbooten. Dieses Boot beförderte Jadestücke und -splitter – Stücke, die zu klein waren, sie anderweitig zu verwenden –, von denen jedem der Toten eines in den Mund oder in die Faust geschoben wurde, ehe man ihn begrub. Wir haben unseren besiegten Feinden niemals diesen Talisman aus grünem Stein vorenthalten, welcher notwendig war, um in die Gegenwelt Einlaß zu finden.
Und immer noch rückte die Prozession der Gefangenen weiter. Vom Gipfel der Großen Pyramide floß eine Mischung aus Blut und anderen Substanzen in solchen Strömen herunter, daß die Blutrinne zwischen den beiden Treppen sie nicht mehr fassen konnte. Sie wälzte sich wie ein träger, schreckenerregender Wasserfall die steilen Stufen selbst hinunter, rann zwischen den herunterrutschenden Leichen in die Tiefe, umfloß die Füße der Männer, die nach oben vorrückten, so daß viele von ihnen ausglitten und stürzten. Sie rann die vier glatten Seiten der Pyramide selbst herunter und breitete sich über die ganze Fläche des Herzens Der Einen Welt aus. Am Morgen hatte die Große Pyramide wie der schneebedeckte, ebenmäßig nach oben sich verjüngende Kegel des Popocatépetl geschimmert. Am Nachmittag sah sie aus wie eine Platte, vollgehäuft mit Geflügelbrüsten, über welche der Koch reichlich eine dicke rote Moli-Sauce gegossen hatte. Sie sah aus wie das, was sie war: ein reichliches Mahl für die Götter mit großem Appetit.
»Ein Greuel, Euer Exzellenz?«
Was Euch entsetzt und mit Abscheu erfüllt, glaube ich, ist die große Zahl der Männer, denen auf einmal der Tod gegeben wurde. Doch wie, Euer Exzellenz, wollt Ihr den Tod messen, der nichts Greifbares ist, sondern eine Leere? Wie wollt Ihr das Nichts mit irgendeiner der Arithmetik bekannten Zahl multiplizieren? Wenn auch nur ein einzelner Mensch stirbt, endet – was ihn selbst betrifft – das ganze lebende Universum. Jeder andere Mann und jede andere Frau in diesem Universum hören gleichfalls auf zu sein; Menschen, die man liebt, und Fremde, jegliche Kreatur, Blume, Wolke, jeder Windhauch, jede Empfindung und alles Gefühl. Euer Exzellenz, die Welt und alles, was darin ist, stirbt jeden Tag für jemand.
Doch welche dämonischen Götter, fragt Ihr, könnten es gutheißen, so viele Menschen in einem einzigen wahllosen Gemetzel zu vernichten? Nun, Euer eigener Gott, zum Beispiel …
Nein. Euer Exzellenz, ich glaube nicht, daß ich Gott lästere. Ich wiederhole nur, was mir die Missions-Patres erzählt haben, welche mich in den Grundlagen der christlichen Geschichte unterwiesen haben. Sofern sie die Wahrheit gesprochen haben, war Euer Herrgott einmal höchst ungehalten über die zunehmende Verworfenheit der Menschen, die Er geschaffen hatte, und so ließ Er sie alle in einer einzigen Sintflut ertrinken. Nur einen einzigen Bootsbesitzer und seine Familie verschonte er, auf daß sie die Erde wieder bevölkerten. Ich habe immer gefunden, daß der Herrgott eine höchst seltsame Auswahl unter den Menschen getroffen hat, denn dieser Bootsbesitzer neigte zur Trunksucht und seine Söhne zu einem Benehmen, welches Ihr für sehr merkwürdig erachten würdet, und ihre Nachkommen zu Streit und Nebenbuhlerei.
Auch unsere Welt ist einst samt allen Menschen vernichtet worden – und das gleichfalls, darauf möchte ich besonders hinweisen, durch eine furchtbare Überschwemmung –, damals, als die Götter unzufrieden wurden mit den Menschen, die sie bewohnten. Aber vielleicht gehen unsere Geschichten weiter zurück als Eure, denn unsere Priester sagten uns, diese Welt sei schon bei drei früheren Gelegenheiten von allen Menschenwesen gereinigt worden: das erste Mal von alles verschlingenden Jaguaren, das zweite Mal von alles zerstörenden Sturmwinden und das dritte Mal von Feuer, das vom Himmel regnete. Diese Weltuntergänge lagen selbstverständlich Schocks und Schocks von Jahren auseinander, und selbst zur letzten, der großen Flut, kam es vor so langer Zeit, daß nicht einmal die Tlamatini genau zu errechnen vermögen, wann das war.
Die Götter haben also viermal unsere Eine Welt geschaffen und mit Menschen bevölkert, und viermal haben sie ihre Schöpfung als mißlungen angesehen, sie wieder ausgelöscht und einen neuen Anfang gemacht. Wir hier, jetzt, alle die wir leben, stellen den fünften Versuch der Götter dar. Doch laut den Priestern leben wir deshalb nicht weniger gefährlich als irgendwelche von jenen früheren Unglücklichen, denn eines Tages werden die Götter beschließen, der Welt und allem darin nochmals ein Ende zu setzen – durch ein alles vernichtendes Erdbeben.
Kein Mensch kann wissen, wann sie das tun werden. Wir in diesen Landen hier haben es immer für möglich gehalten, daß es während jener fünf hohlen Tage am Ende eines Jahres zu diesen Erdbeben kommen könnte, und das ist auch der Grund, warum wir uns bemüht haben, uns in diesen Tagen so unauffällig wie möglich zu verhalten. Noch wahrscheinlicher schien es, daß es am Ende des bedeutsamsten der Jahre – dem zweiundfünfzigsten Jahr eines Schocks Jahre – zum Weltuntergang kommen würde. Daher haben wir uns in jenen Zeiten erniedrigt, haben ums Überleben gebetet, haben noch größere Opfer dargebracht als sonst und das Neufeuerfest feierlich begangen.
Genauso wie wir nicht' wußten, wann wir die weltverschlingenden Erdbeben erwarten sollten, wußten wir auch nicht, wodurch die früheren Menschen auf Erden sich den Zorn der Götter in Form von Jaguaren, Sturmwinden, Feuer und Wasserflut zugezogen hatten. Immerhin schien es nicht falsch, anzunehmen, daß diese Menschen es verabsäumt hatten, ihre Schöpfer gebührend zu verehren und zu ehren und ihnen Nahrung zum Opfer darzubringen. Das ist der Grund, warum wir zu unserer Zeit unser bestes taten, in dieser Hinsicht nicht lässig zu sein.
Jawohl, aus diesem Grunde haben wir an dem Tag, da die Große Pyramide geweiht wurde, zu Ehren von Tlaloc und Huitzilopóchtli zahllose Xochimique getötet. Aber versucht doch einmal, es so zu sehen, wie wir es taten, Euer Exzellenz. Kein einziger Mensch gab mehr als sein eigenes Leben. Jeder einzelne von diesen Tausenden starb nur einmal – was er, wenn seine Zeit gekommen wäre, ohnehin getan haben würde. Indem er auf diese Weise starb, starb er auf die edelste Art und für den edelsten Zweck, den wir kannten. Wenn ich diese Missions-Patres noch einmal anführen darf, Euer Exzellenz – wenn ich auch den genauen Wortlaut dessen, was sie sagten, nicht mehr weiß –, jedenfalls scheint es unter Christen eine ähnliche Überzeugung zu geben. Daß nämlich ein Mensch seine Liebe durch nichts mehr beweisen kann als dadurch, daß er sein Leben für seine Freunde hingibt.
Dank der Unterweisung durch eure Missionare wissen wir Mexíca heute, daß wir, selbst wenn wir die richtigen Dinge taten, wir diese doch aus den falschen Gründen taten. Ich bedaure nur, Euer Exzellenz darauf hinweisen zu müssen, daß es noch andere Völker in diesen Landen gibt, die bis jetzt noch nicht unterworfen und dem Herrschaftsgebiet Neuspaniens einverleibt worden sind, und daß diese Nichterleuchteten dort immer noch glauben, ein Opfer erleide nur kurz den Schmerz des Blumentodes, ehe es in ein köstliches und ewiges Leben in der Gegenwelt eingeht. Diese Menschen wissen nichts von dem christlichen Herrgott, der das Elend unseres kurzen Lebens nicht nur auf unser Erdendasein beschränkt, sondern es auch noch in der Gegenwelt der Hölle fortdauern läßt, wo die Pein ewiglich währt.
Ach, Euer Exzellenz, ich weiß, daß die Hölle nur für die Menge der bösen Menschen bestimmt ist, welche die ewige Pein verdienen, und daß ein paar auserwählte Gerechte in die Himmel genannte ewige Herrlichkeit eingehen. Freilich predigen eure Missionare, daß im glückseligen Himmel nur wenig Raum sei, selbst für Christen, und daß es schwierig sei, dorthin zu gelangen, wohingegen die schreckliche Hölle gewaltig groß sei und man leicht hineinkomme. Ich habe seit jenem, bei dem ich bekehrt worden bin, vielen Gottesdiensten und Missionsveranstaltungen beigewohnt und bin seither zu der Überzeugung gelangt daß das Christentum für die Heiden wesentlich reizvoller wäre, wenn die Priester Eurer Exzellenz imstande wären, die Herrlichkeiten des Himmels genauso lebendig und genußvoll auszumalen wie die Schrecken der Hölle.
Offenbar verspüren Euer Exzellenz keinerlei Lust, sich meine unerbetenen Vorschläge anzuhören, nicht einmal, um sie zurückzuweisen oder über sie zu disputieren; Sie ziehen es vielmehr vor, sich zu verabschieden. Nun ja, ich bin nur ein Neu-Christ, und vermutlich ist es anmaßend von mir, unausgereifte Meinungen von mir zu geben. Deshalb will ich das Thema Religion fallenlassen und von anderen Dingen reden.
Dem Festschmaus der Krieger, welcher im Bankettsaal eben dieses Hauses des Gesangs am Abend der Einweihung der Großen Pyramide gegeben wurde, haftete zwar einige religiöse Bedeutung an, doch das fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Man glaubte, wenn wir Sieger uns an den gesottenen Schenkeln der geopferten Gefangenen gütlich täten, dadurch etwas von der Kraft und dem Kampfgeist der Toten auf uns überginge.
Verboten war, daß ein »Verehrter Vater« vom Fleisch seines eigenen »Geliebten Sohnes« aß. Das heißt, niemand konnte von einem Gefangenen kosten, den er selbst gemacht hatte, denn das galt nach unseren religiösen Vorstellungen als ein Akt der Blutschande. Deshalb mußte ich, während alle anderen Gäste trachteten, eine Scheibe von Bewaffnetem Skorpion zu ergattern, mich mit dem Schenkelfleisch irgendeines weniger angesehenen gegnerischen Ritters zufriedengeben.
Das Fleisch, ehrwürdige Patres? Nun, es war gut gewürzt und gut gesotten und wurde mit einer Fülle von Beilagen aufgetragen: Bohnen und Tortillas, gedünsteten Tomaten und Schokolade zum Trinken.
Das Fleisch ekelerregend, ehrwürdige Patres? Aber ganz im Gegenteil! Es ist höchst wohlschmeckend und dem Gaumen angenehm. Da dieses Thema eure Neugier dermaßen erregt, will ich euch sagen, daß Menschenfleisch fast genauso schmeckt wie das Fleisch von jenem Tier, welches ihr Schwein nennt und das erst mit euch hierhergekommen ist. Wirklich, es ist ja gerade die Ähnlichkeit von Beschaffenheit und Geschmack, welche dem Gerücht Nahrung gegeben hat, ihr Spanier und eure Schweine seien nahe miteinander verwandt, so daß sowohl die Spanier als auch die Schweine ihre Art durch wechselseitigen Verkehr, wo nicht gar durch regelrechte Heirat fortpflanzen.
Yya, zieht doch nicht ein solches Gesicht, ehrwürdige Patres! Ich habe diesem Gerücht nie Glauben geschenkt, habe ich doch erkannt, daß eure Schweine nichts weiter sind als gezähmte Tiere, die den wilden Ebern dieses Landes nahestehen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch sich mit denen paaren könnte – nicht einmal ein Spanier. Selbstverständlich, euer Schweinefleisch ist sehr viel wohlschmeckender als das streng schmeckende, zähe Fleisch unserer wilden Eber. Nur ist die zufällige Ähnlichkeit zwischen Menschenfleisch und Schweinefleisch vermutlich der Grund, warum unsere niederen Schichten sich so rasch daran gewöhnt haben, Schweinefleisch mit solcher Gier zu genießen; und wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, warum sie die Einfuhr der Schweine mit weit größerer Begeisterung begrüßten als die Einführung der Heiligen Kirche.
Es war selbstverständlich nur gerecht daß die Mehrheit der Gäste beim Festschmaus an diesem Abend aus Acólhua-Kriegern bestand, welche in Nezahualpílis Gefolge nach Tenochtítlan gekommen waren. Daneben nahmen auch noch ein paar wenige Ritter der Tecpanéca teil und von uns Mexíca überhaupt nur drei: ich, mein unmittelbarer Vorgesetzter draußen im Feld, der Cuachic Blut Schwelger, und der Pfeilritter Xococ. Einer von den anwesenden Acólhua war eben jener Krieger, dem in der Schlacht die Nase abgeschlagen worden war, welche man ihm später wieder angenäht hatte. Traurig berichtete er uns, daß der Versuch des Wundarztes nicht erfolgreich verlaufen sei; die Nase sei nach und nach schwarz geworden und schließlich abgefallen. Wir alle versicherten ihm, daß er ohne sie nicht wesentlich schlechter aussähe als zuvor mit ihr, doch er war ein mannhafter Mann, der wußte, was sich gehörte, und nahm ein wenig abseits von uns anderen Platz, um uns nicht den Appetit zu verderben.
Jedem einzelnen Gast war eine verführerisch gekleidete Auyanimi zugeteilt, uns besondere Leckerbissen von den Platten zu reichen, die Rauchröhrchen mit Picietl zu füllen und sie für uns anzuzünden, Schokolade und Octli an uns auszuschenken und sich später in die durch Vorhänge abgeteilten kleinen Schlafgemächer mit uns zurückzuziehen, welche rings um den Bankettsaal angeordnet waren. Gewiß, ich erkenne den Unmut auf euren Gesichtern, meine Herren Schreiber, aber so war es nun einmal. Der Festschmaus mit Menschenfleisch und hinterher der Genuß eines zwanglosen Beischlafs – beides hat genau hier stattgefunden, in diesem Haus des Gesangs, in dem heute die heilige Diözesanverwaltung untergebracht ist.
Zuletzt zog ich mich – übrigens keineswegs zögernd, was vielleicht auf den Octli-Genuß zurückzuführen war – mit einer der Auyanime in eines der Schlafgemächer zurück. Ich weiß noch, daß sie eine äußerst reizvolle junge Frau war, welche ihr Haar künstlich rötlichgelb wie die Farbe des Zirkonsteins gefärbt hatte. Sie war ganz besonders tüchtig in dem, was sie tat, aber schließlich war das ihr Beruf: siegreichen Kriegern Lust zu schenken. Daher brachte sie mir, abgesehen von den üblichen Stellungen, auch noch Dinge bei, die mir völlig neu waren, und ich muß sagen, daß nur ein Krieger in der vollsten jungen Lebenskraft und mit seiner ganzen Wendigkeit das lange hätte durchhalten können – oder sie hätte lange ertragen können. Um es ihr zu vergelten, »streichelte ich sie mit Blumen«, das heißt, ich ließ ihr die gleichen Zärtlichkeiten zuteil werden, die ich während der Verführung von Etwas Köstlichem kennengelernt hatte. Offensichtlich genoß die Auyanime diese Aufmerksamkeiten sehr und wußte sich ihrer halb kaum zu fassen. Da sie immer und ausschließlich Männern – und zumeist recht rohen Männern – beiwohnte, hatte sie diese besonderen Reize zuvor nie kennengelernt, und ich glaube, sie war erfreut, diese hinzuzulernen und ihr eigenes Können damit anzureichern.
Gesättigt von Geschlechtsgenuß, Essen und Trinken und Rauchen, hatte ich das Bedürfnis, eine Weile allein zu sein. Schwaden verbrauchter Luft hingen träge im Festsaal, und das Gemisch von Gerüchen wie Essensresten, Männerschweiß und ausgegangenen Fackeln brachte mich nun doch dazu, daß ich ein unwohles Gefühl im Magen hatte. Ich verließ das Haus des Gesangs und bewegte mich auf unsicheren Beinen auf das Herz Der Einen Welt zu. Dort wurde meiner Nase ein womöglich noch ekligerer Geruch zugemutet, und mein Magen kehrte sich mir um. Auf dem Großen Platz wimmelte es von Sklaven, die überall das erstarrte Blut fortkratzten und – scheuerten. Daher ging ich außen um die Schlangenmauer herum und fand mich plötzlich vor der Tür des Tierhauses wieder, das ich vor vielen Jahren mit meinem Vater besucht hatte.
Eine Stimme sagte: »Es ist nicht verschlossen. Die Insassen sitzen alle in ihren Käfigen; außerdem haben sie sich alle den Bauch vollgeschlagen und sind satt. Wollen wir hineingehen?«
Selbst um diese späte Stunde, lange nach Mitternacht, war ich kaum überrascht, ihn zu sehen: den gebeugten buckligen und verhutzelten kakaobraunen Mann, der auch damals im Tierhaus bei uns gewesen und auch zu anderen Zeiten meinen Pfad gekreuzt hatte. Schwerzüngig murmelte ich einen Gruß, und er sagte:
»Nachdem wir einen Tag Feste und Freude der Menschen genossen haben, laß uns mit jenen Zwiesprache halten, die wir Tiere nennen.«
Ich folgte ihm hinein, und wir schlenderten den Gang an den Käfigen und Verschlagen entlang. Alle Raubtiere waren vom übermäßigen Genuß des Fleisches der Opfer gesättigt, doch hatte das unablässig rinnende Wasser fast alle Spuren und damit auch den Geruch davon hinweggespült. Hier und da machte ein Kojote oder Jaguar oder eine der großen Würgschlangen, die ihr Boa Constrictor nennt, schläfrig ein Auge auf, um es gleich darauf wieder zu schließen. Nur ein paar von den Nachttieren waren noch wach – Fledermäuse, Opossums, Brüllaffen –, aber auch sie waren träge und gaben nur leise glucksende oder knurrende Laute von sich.
Nach einer Weile sagte mein Begleiter: »Du hast es weit gebracht in so kurzer Zeit, Hole!«
»Mixtli«, verbesserte ich ihn.
»Dann also wieder Mixtli. Jedesmal, wenn ich dich wiedertreffe, hast du einen anderen Namen und einen anderen Beruf. Du bist wie das Quecksilber, das die Goldschmiede benutzen. Anpassungsfähig an jede Form, und doch nicht lange in irgendeiner zu halten. Nun, jetzt hast du im Krieg deine Erfahrung als Krieger gemacht. Wirst du jetzt den Beruf des Kriegers ergreifen?«
»Selbstverständlich nicht«, erklärte ich. »Ihr wißt, daß meine Augen dazu nicht taugen. Und ich glaube, auch sonst macht mein Magen da nicht mit.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ach, nach ein paar Kämpfen schafft ein Krieger sich ein dickes Fell an, und sein Magen wehrt sich auch nicht mehr.«
»Ich meinte nicht den Kampf, sondern die Feiern hinterher. Im Augenblick fühle ich mich ganz …« Ich rülpste laut.
»Zum erstenmal betrunken«, sagte er und lachte. »Aber auch daran gewöhnt ein Mann sich, glaub mir. Oft gewinnt er sogar Vergnügen daran, ja, braucht es sogar.«
»Das möchte ich lieber nicht«, sagte ich. »Ich habe in der letzten Zeit zu viele erste Erfahrungen nacheinander gemacht. Jetzt möchte ich lieber eine Zeitlang Ruhe haben und keine Zwischenfälle, Aufregungen und unliebsamen Überraschungen erleben. Ich glaube, ich kann Ahuítzotl bewegen, mich als Palastschreiber einzustellen.«
»Papiere und Farbtöpfe«, sagte er abschätzig. »Mixtli, das sind Dinge, die du tun kannst, wenn du erst einmal so alt und hinfällig bist wie ich. Heb dir das für die Zeit auf, wo du nur noch die Kraft hast, deine Gedanken und Erinnerungen festzuhalten. Bis dahin solltest du trachten, Abenteuer zu erleben und Erfahrungen zu sammeln, um auch etwas zu haben, worüber sich nachzudenken lohnt. Ich kann dir nur raten, jetzt Reisen zu unternehmen. Ziehe in ferne Länder, lerne andere Menschen kennen, iß fremdartige Gerichte, genieße alle möglichen Frauen, erfreue dich an unbekannten Landschaften, erlebe Neues. Was mich übrigens an etwas erinnert – als wir das letztemal hier waren, hast du die Tequántin nicht zu sehen bekommen. Komm!«
Er stieß eine Tür auf, und wir betraten die Halle der »menschlichen Tiere«, der Mißgeburten und Krüppel. Diese waren nicht in Käfige eingesperrt wie die echten Tiere. Ein jedes lebte in einem Raum, der ein ganz behagliches kleines Privatgemach gewesen wäre – nur, daß die vierte Wand fehlte und die Zuschauer wie wir hineinschauen und die Tequántin bei allen Tätigkeiten beobachten konnten, auf die sie verfielen, um ihr nutzloses Leben und ihre leeren Tage hinzubringen. Um diese nächtliche Stunde hatten alle, an denen wir vorüberkamen, sich auf ihrem Lager ausgestreckt. Da waren die ganz weißen Männer und Frauen – mit weißer Haut und weißem Haar –, die so ungreifbar aussahen wie der Wind. Da waren Zwerge und Bucklige, und andere, womöglich noch mißgestaltetere Wesen.
»Wie kommen sie eigentlich hierher?« fragte ich mit rücksichtsvoll leiser Stimme.
Ohne sich die Mühe zu machen, die Stimme zu senken, sagte der alte Mann: »Wenn sie durch irgendeinen Unglücksfall zu ihrem grotesken Aussehen gekommen sind, kommen sie aus freien Stücken hierher. Oder wenn sie schon als Mißgeburten auf die Welt kommen, werden sie von ihren Eltern hierhergebracht. Verkauft so ein Tequáni sich selbst geht die Kaufsumme an seine Eltern oder sonst jemand, den er benennt. Und was die Bezahlung betrifft, läßt der Verehrte Sprecher sich nicht lumpen. Es gibt Eltern, die buchstäblich darum beten, eine Mißgeburt zu bekommen, um reich werden zu können. So ein Tequáni selbst hat selbstverständlich keine Verwendung für irgendwelche Reichtümer, denn hier fehlt es ihm für den Rest seines Lebens an nichts. Aber manche von ihnen, die ganz besonders wunderlich Mißgestalteten, kosten ein Vermögen. Dieser Zwerg zum Beispiel.«
Der Zwerg schlief, und ich war recht froh, ihn nicht wach zu sehen, denn er hatte nur einen halben Kopf. Von seinem Oberkiefer mit den nach allen Seiten abstehenden Zähnen bis hinunter zu seinem Schlüsselbein klaffte ein riesiges Loch – kein Unterkiefer, keine Haut, nichts als eine freiliegende weiße Luftröhre, rote Muskeln, Blutgefäße und der Schlund, letzterer nur eine Öffnung hinter seinen Zähnen und zwischen den aufgedunsenen kleinen Eichhörnchenbacken. Die grauenhafte Kopfhälfte zurückgeworfen, lag er da, und sein Atem ging mit lautem Gurgeln und Pfeifen.
»Er kann weder kauen noch schlucken«, erklärte mein Führer, »deshalb muß ihm seine Nahrung den oberen Teil seines Schlundes hinuntergestopft werden. Und da er den Kopf so weit zurückbiegen muß, wenn er gefüttert wird, kann er nicht sehen, was man ihm gibt. Viele Besucher spielen ihm grausame Streiche. Sie geben ihm eine stachlige Frucht oder ein starkes Abführmittel und noch Schlimmeres. Es ist schon häufig vorgekommen, daß er fast gestorben wäre, aber er ist so gierig und so beschränkt, daß er den Kopf immer noch zurückwirft, sobald jemand ihm zu verstehen gibt, daß er ihn füttern will.«
Mich schauderte, und wir gingen weiter zum nächsten. Der Tequáni, der dort lag, schien nicht zu schlafen, denn eines seiner Augen stand offen. Dort, wo das andere Auge hätte sitzen müssen, war nichts weiter zu sehen als ein Stück glatter Haut. Der Kopf war unbehaart, ja, schien nicht einmal einen Hals aufzuweisen; der Kopf ging sofort in die schmalen Schultern über und von dort aus in einen ausladenden, kegelförmigen Oberkörper, der auf seinem geschwollenen Unterleib saß wie eine Pyramide, denn er hatte keine Beine.
Die Arme waren ganz normal, nur, daß die Finger beider Hände zusammengewachsen schienen wie die Schwimmflossen einer grünen Schildkröte.
»Man nennt sie Tapir-Frau«, sagte der kakaobraune Mann, und ich bedeutete ihm mit einer Geste, doch leiser zu sprechen. »Ach, die guten Manieren können wir hier fahren lassen«, sagte er. »Vermutlich schläft sie tief und fest. Das eine Auge ist für immer zugewachsen, und das andere hat keine Lider mehr. Außerdem gewöhnen diese Tequántin sich daran, daß man laut über sie redet.«
Ich hatte keinerlei Lust, mich über dieses bemitleidenswerte Wesen zu unterhalten. Ich begriff, warum es nach dem Tier mit dem Greifrüssel, dem Tapir, benannt war, denn seine Nase war ein rüsselartiges Stück Fleisch, welches ihm vorm Mund baumelte, falls es überhaupt einen Mund hatte. Daß es eine Frau war, würde ich freilich nicht erkannt haben, hätte man es mir nicht gesagt. Der Kopf war nicht der einer Frau, ja, er hatte überhaupt nichts Menschliches. Von irgendwelchen Brüsten war in den teigigen Fleischwülsten, welche seine unbewegliche Pyramide von Körper darstellten, nichts zu erkennen. Mit dem Auge, das sie nie schließen konnte, starrte sie mich an.
»Der Zwerg ohne Kinn ist schon in seiner Mißgestalt zur Welt gekommen«, sagte mein Führer. »Diese hier jedoch war eine erwachsene Frau, ehe sie bei irgendeinem Unfall so grauenhaft verstümmelt wurde. Da sie keine Beine mehr hat, nimmt man an, daß irgendein Schneidewerkzeug mit dem Unfall zu tun hatte; alles andere deutet aber auch auf Feuer hin. Fleisch verbrennt im Feuer nicht immer gleich, weißt du. Manchmal wird es nur schlaff, fließt auseinander und schmilzt, so daß man es formen kann wie …«
Mein immer noch empfindlicher Magen verkrampfte sich, und ich sagte: »Habt Erbarmen! Sprecht nicht so vor ihm! Vor ihr! «
»Ihr?« gluckste der Mann, als belustige ihn das. »Du bist doch unverbesserlich ritterlich Frauen gegenüber, habe ich recht?« Nahezu anklagend zeigte er auf mich. »Du kommst gerade aus den Armen einer wunderschönen sie.« Dann zeigte er auf die Tapir-Frau. »Wie würde es dir gefallen, dich mit diesem Wesen hier zu paaren, das du sie nennst?«
Allein der Gedanke daran machte es mir unmöglich, meinen Ekel weiter zu unterdrücken. Ich klappte zusammen und erbrach vor diesem monströsen Haufen lebenden Fleisches alles, was ich an diesem Abend gegessen und getrunken hatte. Als ich endlich ganz leer und wieder zu Atem gekommen war, warf ich dem starrenden Auge einen entschuldigenden Blick zu. Ob das Auge wach war oder nur tränte, weiß ich nicht – auf jeden Fall rollte eine einzelne Träne davon herunter. Mein Führer war verschwunden, und ich holte ihn auch nicht wieder ein, als ich durch das Tierhaus zurückging und wieder hinaustrat ins Freie.
Doch das sollte nicht das einzig Unerquickliche bleiben, was diese Nacht, die mittlerweile in den Morgen überging, für mich bereithielt. Als ich beim Portal von Ahuítzotls Palast anlangte, sprach die Wache mich an: »Verzeiht, Tequíua Mixtli, aber der Wundarzt des Palastes wartet auf Euch. Würdet Ihr bitte bei ihm vorbeischauen, ehe Ihr Euch auf Eure Gemächer begebt?«
Die Wache führte mich zur Wohnung des Wundarztes. Ich klopfte und fand ihn voll angekleidet vor. Die Wache grüßte uns beide und kehrte dann auf ihren Posten zurück. Der Wundarzt betrachtete mich mit einer Mischung aus Neugier, Mitleid und ärztlicher Überheblichkeit. Einen Augenblick meinte ich, er wäre aufgeblieben, um mir ein Mittel gegen meine Magenverstimmung zu geben, die mir noch immer zu schaffen machte, doch dann sagte er: »Der Knabe Cozcatl ist Euer Sklave, nicht wahr?« Ich sagte, ja, das stimme, und fragte dann, ob er krank geworden sei.
»Er hat einen Unfall erlitten – keinen tödlichen, wie ich froh bin, hinzufügen zu können, aber auch keinen leichten. Als die Menge auf dem Großen Platz anfing auseinanderzugehen, fand man ihn bewußtlos neben dem Schlachtstein liegen. Vielleicht hat er zu nahe bei den Zweikämpfern gestanden.«
Ich hatte, seit ich ihm den Auftrag gegeben, nach dem sich möglicherweise im Hintergrund herumdrückenden Chimáli Ausschau zu halten, nicht mehr an Cozcatl gedacht. »Dann ist er also verwundet worden, Meister?« fragte ich.
»Schlimm verwundet«, sagte er, »und auf höchst merkwürdige Weise.« Er wandte die Augen nicht von mir, als er ein schmutziges Tuch von seinem Tisch nahm, es auseinanderschlug und mir hinhielt, damit ich sähe, was darin lag: ein noch nicht reifes männliches Glied und der dazugehörige Ololtin-Sack: blaß und schlaff und blutlos.
»Wie ein Ohrläppchen«, murmelte ich.
»Was?« fragte der Wundarzt.
»Ihr sagt, die Wunde sei nicht tödlich?«
»Nun, Ihr oder ich würden sie vielleicht als tödlich betrachten«, erklärte der Wundarzt trocken. »Aber der Junge wird nicht daran sterben, das nicht. Er hat viel Blut verloren, und nach den Schrammen und anderen Malen auf seinem Körper sieht es aus, als ob sehr grob mit ihm umgesprungen worden wäre, vielleicht von der drängenden Menge. Aber er wird weiterleben. Wollen wir hoffen, daß er den Verlust von etwas, was er nie Gelegenheit hatte, schätzen zu lernen, nicht sonderlich bedauert. Es war ein sauberer Schnitt. Die Wunde wird verheilen. Das wird nicht länger dauern, als er braucht, sich von dem Blutverlust zu erholen. Ich habe Sorge getragen, daß nach dem Schließen der Wunde die nötige kleine Öffnung bleibt. Er liegt jetzt in Eurer Wohnung, Tequíua Mixtli, und ich habe mir erlaubt, ihn auf Euer weicheres Lager zu betten statt auf sein hartes.«
Ich dankte dem Wundarzt und eilte nach oben. Cozcatl lag in der Mitte meines mit vielen Decken dick gepolsterten Lagers auf dem Rücken; die Zudecke war ihm bis unters Kinn heraufgezogen. Sein Gesicht glühte vom Fieber, und sein Atem ging stoßweise. Äußerst behutsam, um ihn nicht zu wecken, schob ich die Zudecke zurück. Er war nackt bis auf einen Verband zwischen den Beinen, der dort mit Hilfe einer Binde festgehalten wurde, welche ihm um die Hüfte geschlungen war. Ich erkannte Blutergüsse an der Schulter, wo eine Hand ihn gepackt haben mußte, während die andere das Messer geschwungen hatte. Der Wundarzt hatte aber von noch »anderen Malen« gesprochen, doch ich konnte nichts weiter entdecken – bis Cozcatl, der vermutlich plötzlich die Kühle der Nachtluft spürte, im Schlaf murmelte und sich auf die Seite rollte, so daß sein Rücken freilag.
»Deine Wachsamkeit und Treue sollen nicht unbelohnt bleiben«, hatte ich dem Jungen gesagt und dabei nicht geahnt, womit er belohnt werden würde. Der auf Rache sinnende Chimáli hatte sich an diesem Tag in der Tat in der Menge versteckt gehalten, doch hatte ich fast die ganze Zeit über an so hervorragender Stelle gestanden, daß es ihm nicht möglich gewesen war, sich an mich heranzumachen und meuchlings anzugreifen. Statt dessen hatte er meinen Sklaven erkannt und war über diesen hergefallen. Doch warum einem so kleinen und vergleichsweise wertlosen Sklaven eine derartige Verletzung beibringen?
Dann entsann ich mich des merkwürdigen Ausdrucks auf dem Gesicht des Wundarztes, und mir ging auf, daß er das gleiche gedacht haben mußte wie Chimáli auch. Chimáli war einfach davon ausgegangen, daß der Junge für mich war, was Tlatli für ihn gewesen war. Er hatte seinen Schlag nicht gegen Cozcatl geführt, um mich eines Sklaven zu berauben, der jederzeit ersetzt werden konnte, sondern um den Knaben zu verstümmeln, von dem er annahm, er sei mein Cuilontli – und zwar auf eine Weise, die darauf abzielte, mich tief zu treffen und sich gleichzeitig über mich lustig zu machen.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich genau in der Mitte von Cozcatls schlankem Rücken das vertraute Handzeichen von Chimáli erblickte – diesmal nur nicht von Chimális eigenem Blut.
Da es mittlerweile so spät oder vielmehr so früh war, daß die offene Luke in der Decke meines Raums als ein blasses Viereck zu erkennen war – und da mir der Schädel brummte und es in meinem Magen immer noch rumorte –, blieb ich einfach an Cozcatls Krankenlager sitzen und versuchte nicht einmal zu dösen, sondern vielmehr nachzudenken.
Ich dachte an den tückischen Chimali jener Jahre, ehe er tückisch geworden war, damals, als er sich noch meinen Freund genannt hatte. Damals war er genau in dem Alter gewesen, in dem Cozcatl jetzt stand, als ich ihn an jenem denkwürdigen Abend durch ganz Xaltócan nach Hause geführt und er einen Kürbis über den Kopf gestülpt getragen hatte, um seinen ungebärdigen Wirbel zu verbergen. Ich dachte daran, wie er mich bedauert hatte, als er auf eine Calmécac hatte ziehen können und ich nicht, und wie er mir einst seine besonders angerührten Farben geschenkt …
Was mich auf jenes andere unerbetene Geschenk brachte, das ich gerade vor wenigen Tagen erhalten hatte. Alle Dinge waren äußerst wertvoll, bis auf jenes kleine Standbild, das offenbar überhaupt keinen Wert besaß, zumindest nicht hier in Tenochtítlan: das Bündel unbearbeiteter Obsidianbrocken, die man leicht und billig von der nahegelegenen Quelle, dem Cañon des Flusses der Messer, nicht weit im Nordosten von hier beziehen konnte. Gleichwohl konnten diese rohen Brocken bei den Völkern weiter im Süden fast so kostbar sein wie Jadestein, Völkern, die keinerlei Obsidianvorräte besaßen, um ihre Werkzeuge und Waffen damit zu bewehren. Dieses eine »wertlose« Bündel brachte mich auf jene anderen ehrgeizigen Gedanken und Einfälle, die mir in meinen längst vergangenen Tagen gekommen waren, da ich auf den Chinámpa von Xaltócan als Landarbeiter viel Zeit zum Träumen gehabt hatte.
Als es endlich heller Tag war, wusch ich mich leise, putzte mir die Zähne und zog ein frisches Gewand an. Ich ging nach unten, suchte den Palastverwalter auf und bat, möglichst bald zu einer Unterredung mit dem Uey-Tlatoáni vorgelassen zu werden. Ahuítzotl war so freundlich, sie mir zu gewähren, und so dauerte es nicht lange, bis ich in seinem trophäenbehangenen Thronsaal vor ihn hintreten durfte.
Das erste, was er sagte, war: »Wie wir gehört haben, ist dein kleiner Sklave gestern einer geschwungenen Waffe zu nahe gekommen.«
Ich sagte: »Es sieht so aus, Verehrter Sprecher, er aber wird sich wieder erholen.«
Ich hatte nicht die Absicht, Chimáli zu beschuldigen oder zu verlangen, daß nach ihm gefahndet werde, oder auch nur seinen Namen zu erwähnen. Das hätte die Preisgabe einiger bisher verborgen gebliebener Dinge über die letzten Tage von Ahuítzotls Tochter bedeutet – Enthüllungen, durch die nicht nur Chimáli, sondern auch Cozcatl und ich in die Sache mit hineingezogen worden wären. Sie waren möglicherweise geeignet, Ahuítzotls Wut und Zorn als Vater neu zu entfachen, und es konnte sein, daß er mich und den Jungen umbringen ließ, ehe er auch nur Krieger ausschickte, nach Chimáli zu suchen.
Er sagte: »Das tut uns leid. Unfälle unter Zuschauern bei einem Zweikampf sind keine Seltenheit. Es wird uns ein Vergnügen sein, dir einen anderen Sklaven zuzuweisen, solange deiner darniederliegt.«
»Ich danke Euch, Verehrter Sprecher, aber ich brauche eigentlich keinen Diener. Ich bin gekommen, Euch um eine andere Gunst zu bitten. Da mir ein kleines Erbe zugefallen ist, würde ich dieses gern ganz und gar in Handelsgütern anlegen und mein Glück als Kaufmann versuchen.«
Mir war, als sähe ich, wie seine Lippen sich verächtlich kräuselten. »Als Kaufmann? Mit einem Stand auf dem Marktplatz von Tlatelólco?«
»Nein, Hoher Gebieter. Als Pochtécatl, als reisender Fernhändler.«
Er setzte sich auf seinem Bärenfell zurück und betrachtete mich schweigend. Worum ich bat, war eine Beförderung im bürgerlichen Stand, welche annähernd jener entsprach, die mir auf kriegerischem Gebiet zuteil geworden war. Wiewohl die Pochtéca durch die Bank Gemeinfreie waren wie ich selbst, stellten sie innerhalb der Gemeinfreien die oberste Schicht dar. Sofern sie im Handel geschickt vorgingen und auch noch Glück hatten, konnten sie reicher werden als die meisten Pipiltin-Edelleute und sich einer nahezu gleichen Fülle von Vorrechten erfreuen. Sie waren von vielen allgemeinen Gesetzen befreit und unterlagen vornehmlich denen, die ihre Gilde sich selbst gegeben hatte und für deren Einhaltung sie sich gemeinsam einsetzten. Sie hatten sogar ihren eigenen Hauptgott, Yacatecútli, den Herrn, Der Leitet. Eifersüchtig wachten sie darüber, daß ihre Zahl nicht so groß wurde; sie nahmen nicht jeden als Pochtécatl in ihre Gilde auf, der sich um diese Ehre bewarb.
»Dir ist der hohe Rang eines Tequiua verliehen worden«, sagte Ahuítzotl schließlich recht mürrisch. »Und den möchtest du vernachlässigen und dir statt dessen einen Sack voll Tand auf den Buckel laden und dicksohlige Sandalen an die Füße legen? Ist es nötig, junger Mann, dir ins Gedächtnis zu rufen, daß wir Mexíca historisch gesehen ein Volk von tapferen Kriegern sind und nicht von feilschenden Händlern?«
»Vielleicht ist der Krieg heutzutage nicht mehr zu allem nutze, Verehrter Sprecher«, sagte ich und forderte damit heraus, daß er mich ärgerlich anfunkelte. »Ich bin fest davon überzeugt, daß unsere reisenden Fernhändler heutzutage mehr als unsere Heere dazu beitragen, den Einfluß der Mexíca auszuweiten und Tenochtítlan Wohlstand zu bringen. Sie unterhalten den Handel mit Völkern, die viel zu weit in der Ferne leben, um Heere hinzuschicken und sie zu unterwerfen; dabei verfügen sie über Reichtümer und Waren, die sie gern eintauschen oder verkaufen.«
»Du stellst es so dar, als ob der Handel etwas Einfaches wäre«, unterbrach Ahuítzotl mich. »Laß dir von uns gesagt sein, daß er oft genug genauso gefährlich ist wie das Kriegshandwerk. Die Kolonnen der Pochtéca ziehen hier mit beträchtlichen Werten beladen ab. Sie werden von Wilden und von Räubern überfallen, ehe sie überhaupt an ihrem Ziel angelangt sind. Treffen sie dort dennoch ein, werden ihnen die Waren oft einfach abgenommen und nichts dafür gegeben. Aus diesen Gründen sind wir gezwungen, eine ansehnliche Truppe von Kriegern mitzuschicken, eine jede dieser Kolonnen zu beschützen. Jetzt sag du uns: Warum sollten wir fortfahren, Truppen von Kindermädchen auszuschicken, statt Heere, um den Plünderern den Garaus zu machen?«
»Bei allem Respekt, ich glaube, der Verehrte Sprecher weiß bereits warum«, sagte ich. »Für die Truppen, die Ihr Kindermädchen genannt habt, stellt Tenochtítlan nur die Bewaffneten selbst. Neben ihren Handelsgütern führen die Pochtéca Vorräte für jede Reise mit oder kaufen sie unterwegs ein. Anders als ein Heer, müssen sie unterwegs nicht die Lieferung von Verpflegung erzwingen oder plündern und sich dadurch neue Feinde machen. Daher gelangen sie sicher an ihren Bestimmungsort, schließen ihren Handel mit Gewinn ab und sorgen dafür, daß es weder ihren eigenen Leuten noch den Bewaffneten, die sie begleiten, an Nahrung fehlt. Sie bringen sie also zurück und führen auch noch ein Erkleckliches an Steuern an das Schatzhaus Eurer Weiblichen Schlange ab. Den Räubern unterwegs wird eine schmerzliche Lektion erteilt, und sie lassen davon ab, die Handelsstraßen unsicher zu machen. Die Menschen in den fernen Landen lernen, daß friedlicher Handel nicht nur für uns, sondern auch für sie von Vorteil ist. Jede Expedition, die zurückkehrt, macht die Reise für die nachfolgende leichter. Mit der Zeit, so glaube ich, werden die Pochtéca ganz auf Eure Schutztruppen verzichten können.«
Gereizt wollte Ahuítzotl wissen: »Und was wird dann aus unseren Kämpfern, wenn Tenochtítlan aufhört, sein Herrschaftsgebiet auszudehnen? Wenn die Mexíca nicht länger nach Ruhm und Macht streben, sondern sich einfach zur Ruhe setzen und am Handel fett werden? Wenn die einst geachteten und gefürchteten Mexíca zu einer Horde von Händlern herabgesunken sein werden, die über Maße und Gewichte feilschen?«
»Ihr übertreibt Hoher Gebieter, nur um einen Emporkömmling auf seinen Platz zu verweisen«, sagte ich und übertrieb meinerseits bewußt meine demütige Haltung. »Laßt Eure Kämpfer kämpfen und Eure Händler Handel treiben. Sollen die Heere Völker unterwerfen, die leicht zu erreichen sind wie das in unserer Nähe gelegene Michihuácan. Laßt die Kaufleute die weiter entfernten Völker mit Banden des Handels an uns binden. Für sie, Verehrter Sprecher, braucht nie ein klar gezogener Unterschied zu bestehen zwischen sich und dem Reich, das die Mexíca gewonnen haben und fest in Händen halten.«
Abermals ließ Ahuítzotl seine Augen auf mir ruhen und bewahrte diesmal womöglich noch länger Schweigen.
Desgleichen, so schien mir, tat der Kopf des reißenden Bären über seinem Thron. Dann sagte er: »Nun gut. Du hast uns die Gründe genannt, warum du den Beruf eines reisenden Fernhändlers bewunderst. Kannst du uns aber auch Gründe nennen, warum ihre Gilde davon profitieren sollte, wenn du in sie eintrittst?«
»Die Gilde, nein«, erwiderte ich freimütig. »Aber ich könnte ein paar Gründe aufzählen, warum der Uey-Tlatoáni und sein Staatsrat davon profitieren könnten.«
Er schob die buschigen Brauen in die Höhe. »Sprich!«
»Ich bin ein ausgebildeter Schreiber, und das sind die meisten Fernhändler nicht. Sie verstehen sich nur auf Zahlen und auf Kontenführung. Wie der Verehrte Sprecher gesehen hat, verstehe ich mich darauf, präzise Karten zu zeichnen und in Wortbildern genaue Beschreibungen hinzuzufügen. Ich könnte von meinen Reisen zurückkehren mit ganzen Büchern, aus denen alles Wissenswerte über fremde Völker, ihre Arsenale und Lagerhäuser, ihre Verteidigungsanlagen und ihre Verwundbarkeit zu erfahren ist …« Er hatte die Brauen während meiner Rede wieder gesenkt. Ich hielt es daher für das beste, diese Vorschläge demütig ausklingen zu lassen und sagte: »Selbstverständlich bin ich mir darüber im klaren, daß ich erst die Pochtéca selbst überzeugen muß, mich in ihre erlauchte Gesellschaft aufzunehmen …«
Trocken erklärte Ahuítzotl: »Wir bezweifeln, daß sie sich lange einem Vorschlag widersetzen würden, der ihnen von ihrem Uey-Tlatoáni gemacht wird. Ist das alles, was du verlangst? Daß wir bei den Pochtéca ein Wort für dich einlegen?«
»Wenn der Hohe Gebieter nichts dagegen hat, würde ich gern zwei Gefährten mitnehmen. Ich bitte nicht darum, daß mir ein Trupp von Kriegern zum Schutz zugeteilt wird, sondern der Cuachic Extli-Quani als militärische Stütze. Nur dieser eine Mann. Ich kenne ihn allerdings schon seit langer Zeit, und ich glaube, er ist genau der richtige. Außerdem bitte ich darum, den Knaben Cozcatl mitnehmen zu dürfen. Er sollte bis dahin wieder reisefähig sein.«
Ahuítzotl zuckte mit den Achseln. »Den Cuachic werden wir vom aktiven Heeresdienst entbinden. Er ist ohnehin schon über die Jahre hinaus, wo er zu etwas anderem nütze wäre als zum Kindermädchendienst. Was den Sklaven betrifft, so ist er ohnehin bereits dein Eigentum; also steht es dir frei, ihm Befehle zu erteilen.«
»Ich wünschte, er wäre es nicht, Hoher Gebieter. Als Entschädigung für den Unfall, den er gestern erlitten hat, würde ich ihm gern seine Freiheit schenken. Ich ersuche den Verehrten Sprecher, ihn in aller Form vom Stand eines Tlacotli in den eines freien Macehuáli zu erheben. Er soll mich nicht als Sklave begleiten, sondern als freier Teilhaber an diesem Unternehmen.«
»Wir werden einen Schreiber die Freilassungsurkunde ausstellen lassen«, sagte Ahuítzotl. »Freilich können wir uns nicht enthalten zu bemerken, daß dies die absonderlichste Handelsexpedition zu werden verspricht, die jemals von Tenochtítlan ausgezogen ist. Welches ist das Ziel deiner Reise?«
»Ich will bis weit hinunter ins Land der Maya, Verehrter Sprecher, und zurück, so die Götter wollen. Extli-Quani ist schon früher dort gewesen, was einer der Gründe ist, warum ich ihn gern dabeihätte. Ich hoffe, daß wir mit beträchtlichem Gewinn zurückkehren, welcher dann zur Hälfte an die Schatzkammer des Hohen Gebieters gehen soll. Ich bin überzeugt, wir werden mit vielen Informationen zurückkehren, die für den Hohen Gebieter von Interesse und Wert sein werden.«
Was ich wohlweislich verschwieg, war jedoch, daß ich inbrünstig hoffte, mit wiederhergestelltem Augenlichtzurückzukehren. Der Ruf der Maya-Ärzte war schließlich der Hauptgrund, warum ich mir das Land der Maya zum Ziel gesetzt hatte.
»Deinen verschiedenen Ersuchen wird stattgegeben«, erklärte Ahuítzotl. »Du wirst eine Aufforderung abwarten, dich zur Prüfung im Haus der Pochtéca einzufinden.« Er erhob sich von seinem Thron mit dem Bärenfell, um mir zu bedeuten, daß die Unterredung beendet sei. »Wir sehen erwartungsvoll deinem Bericht entgegen, Pochtécatl Mixtli, wenn du zurückkehrst. Falls du zurückkehrst.«
Ich stieg wieder nach oben in meine Gemächer. Cozcatl war wach und saß, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf dem Bett und weinte, als wäre es mit seinem Leben zuende. Nun, zu einem guten Teil traf das ja auch zu. Doch als ich eintrat und er aufblickte und mich sah, malte sich auf seinem Gesicht zuerst Bestürzung, dann freudiges Erkennen, bis schließlich ein strahlendes Lächeln durch seine Tränen hindurchbrach.
»Ich dachte, Ihr wäret tot!« rief er klagend, machte dann, daß er aus dem weichen Bett herauskam und kam unter Schmerzen auf mich zugehumpelt.
»Mach, daß du wieder ins Bett kommst!« befahl ich, hob ihn mit beiden Armen auf und trug ihn zurück, während er mir unbedingt erzählen wollte:
»Jemand hat mich von hinten gepackt, ehe ich ihm entwischen und um Hilfe schreien konnte. Als ich später aufwachte und der Wundarzt sagte, Ihr wäret nicht zum Palast zurückgekehrt, dachte ich, Ihr müßtet tot sein. Ich dachte, man hätte mich nur verwundet, damit ich Euch nicht warnen könnte. Und dann, als ich vor einiger Zeit auf Eurem Lager erwachte und Ihr immer noch nicht wieder da wart, wußte ich, daß Ihr …«
»Still, Junge!« sagte ich, als ich ihn wieder unter die Decken steckte.
»Aber ich habe Euch enttäuscht, Herr«, wimmerte er. »Ich habe zugelassen, daß Euer Feind an mir vorbei an Euch herankommen konnte.«
»Nein, das hast du nicht. Chimáli hat sich diesmal damit zufriedengegeben, dich statt meiner zu treffen. Ich verdanke dir viel und ich werde dafür sorgen, daß diese Schuld gesühnt wird. Das verspreche ich: Sobald die Zeit kommt, da ich Chimáli wieder in meiner Gewalt habe, sollst du über die Bestrafung für ihn entscheiden. Aber«, fuhr ich fort, wobei mir alles andere als wohl zumute war, »bist du dir eigentlich darüber im klaren, welcher Art die Wunde ist, die er dir beigebracht hat?«
»Ja«, sagte der Junge und biß sich auf die Lippe, um das Zittern zu unterdrücken. »Als es geschah, wußte ich nur, daß es ein furchtbarer Schmerz war; dann habe ich das Bewußtsein verloren. Der Wundarzt war so gut, mich in dieser Bewußtlosigkeit zu belassen, als er – als er tat, was er konnte. Dann hielt er mir etwas unter die Nase, was schrecklich beißend roch, ich mußte niesen, und davon bin ich aufgewacht. Und sah – wo er mich zusammengenäht hatte.«
»Es tut mir leid.« Mir fiel nichts ein, was ich sonst hätte sagen können.
Cozcatl fuhr mit der Hand unter der Decke entlang, befühlte sich vorsichtig und fragte dann verlegen: »Heißt das, daß ich jetzt ein Mädchen bin, Herr?«
»Was für eine lächerliche Idee«, sagte ich. »Selbstverständlich nicht!«
»So muß es aber sein«, sagte er schniefend. »Ich habe nur ein einziges Mal gesehen, wie eine nackte Frau zwischen den Beinen aussieht – das war bei unserer verstorbenen Gebieterin in Texcóco. Als ich mich da unten betrachtete – ehe der Wundarzt mir den Verband anlegte –, sah es da genauso aus wie bei ihr.«
»Du bist kein Mädchen«, sagte ich mit Entschiedenheit. »Und du bist es weit weniger als der Halunke Chimáli, der hinterrücks zusticht wie nur eine Frau kämpfen würde. Weißt du, es gibt viele Krieger, die im Kampf die gleiche Verwundung erlitten haben, Cozcatl, und sie sind auch weiterhin Krieger von männlicher Kraft und von männlicher Wildheit gewesen. Manche von ihnen sind hinterher sogar noch angesehenere und berühmtere Helden geworden, als sie es vorher waren.«
Er ließ sich jedoch nicht beirren. »Aber warum hat der Wundarzt – und warum auch Ihr – deswegen ein so langes Gesicht gemacht?«
»Nun«, sagte ich, »es bedeutet, daß du niemals Kinder wirst zeugen können.«
»Ach?« meinte er, und mir war, als helle sein Gesicht sich ein wenig auf. »Das ist nicht weiter schlimm. Ich bin selbst nie gern ein Kind gewesen. Warum sollte ich da welche machen sollen? Aber … bedeutet es, daß ich dann auch nie heiraten kann?«
»Nein … jedenfalls nicht unbedingt«, sagte ich zögernd. »Du mußt dir nur eben die richtige Frau aussuchen. Eine, die empfänglich ist für die ehelichen Freuden, die du ihr zu spenden imstande sein wirst. Und du hast doch auch dieser Dame in Texcóco, deren Namen ich nicht mehr nennen will, Lust bereitet, oder etwa nicht?«
»Sie hat gesagt, ja.« Wieder breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Danke, daß Ihr mich beruhigt habt, Herr, Da ich ein Sklave bin und daher nicht selbst einen Sklaven besitzen kann, würde ich eines Tages wirklich gern eine Frau haben.«
»Von diesem Augenblick an, Cozcatl, bist du kein Sklave mehr und ich auch nicht mehr dein Herr.«
Das Lächeln schwand, und Schrecken schlich sich auf seine Züge. »Was ist passiert?«
»Nichts, nur, daß du von jetzt an mein Freund bist und ich deiner.«
Mit bebender Stimme sagte er: »Aber ein Sklave ohne einen Herrn ist ein erbärmliches Wesen, Herr. Wie ein Rohr im Wind.«
Ich erklärte: »Nicht, wenn er einen Freund hat, dessen Leben und dessen Glück er teilt. Ich bin inzwischen zu einem kleinen Vermögen gekommen, Cozcatl. Du hast es ja selbst gesehen. Und ich habe Pläne, es zu vermehren, sobald du imstande bist zu reisen. Wir werden gen Süden aufbrechen, in fremde Länder, als Pochtéca. Was hältst du davon? Wir werden gemeinsam wohlhabend werden, und du wirst niemals arm oder wurzellos oder hilflos sein. Ich bin gerade beim Verehrten Sprecher gewesen, um mir sein Einverständnis für dieses Unternehmen zu holen. Aber ich habe ihn auch um die offiziellen Papiere gebeten, aus denen hervorgeht, daß Cozcatl nicht mehr mein Sklave ist, sondern mein Teilhaber und Freund.«
Wieder waren Tränen und Lächeln gleichzeitig auf seinem Gesicht. Er legte mir seine schmalen kleinen Hände auf den Arm – das erstemal, daß er mich berührte, ohne daß ich es ihm befohlen oder ihm die Erlaubnis dazu gegeben hätte, und er sagte: »Freunde brauchen keine Papiere, um zu wissen, daß sie Freunde sind.«
Tenochtítlans Kaufmannsgilde hatte vor noch nicht allzu vielen Jahren ihr eigenes Gebäude errichtet, welches gleichzeitig als Lagerhaus für die Waren der verschiedenen Mitglieder, als ihre Versammlungshalle, Kontor, Archiv und anderes mehr diente. Das Haus der Pochtéca oder Fernhändler lag nicht weit vom Herzen Der Einen Welt entfernt, und wenn es auch kleiner als ein Palast war, war doch die ganze Einrichtung von fürstlichem Zuschnitt. Da gab es eine Küche und einen Speisesaal, wo Erfrischungen an Mitglieder und durchreisende Kaufleute gereicht wurden, die zu Besuch kamen, Schlafgemächer oben für diejenigen Besucher, die von weither kamen und über Nacht oder gar noch länger blieben. Und es wimmelte darin von Bedienten, deren einer mich an dem Tag meiner Bestätigung recht hochmütig einließ und mich in jene üppig eingerichtete Kammer führte, wo drei ältere Pochtéca saßen und darauf warteten, mich zu befragen.
Ich hatte mir vorgenommen, mich ehrerbietig zu geben, wie es sich dieser erlauchten Gesellschaft gegenüber geziemte, mich gleichwohl jedoch nicht von ihnen einschüchtern zu lassen. Wiewohl ich die Geste des Erdeküssens vor meinen Prüfern vollführte, richtete ich mich gleich darauf wieder auf, öffnete, ohne hinter mich zu blicken, meine Umhangschließe und setzte mich. Weder der Umhang noch ich fielen auf den Boden. Mochte der Bediente sich auch noch so sehr über das herrschaftliche Gebaren eines Gemeinfreien wundern, irgendwie gelang es ihm, gleichzeitig meinen Umhang aufzufangen und mir flugs einen Icpáli-Stuhl unterzuschieben.
Einer der Männer erwiderte mit einer kaum merklichen Handbewegung meinen Gruß und gebot dem Diener, Schokolade für uns alle zu bringen. Dann setzten die drei sich und ließen ihre Augen eine Weile aur mir ruhen, gleichsam um Maß an mir zu nehmen. Sie trugen ganz schlichte Umhänge ohne jeden Zierat, was ganz der Pochtéca-Tradition entsprach, nicht aufzufallen und keinesfalls zu prahlen, ja, was ihren Reichtum und ihre Stellung betraf, möglichst verschwiegen und heimlichtuerisch zu sein. Die Zurückhaltung, welche sie in der Kleidung bewiesen, wurde freilich ein wenig Lügen gestraft dadurch, daß sie alle drei vom guten Essen und leichten behaglichen Leben geradezu ölig feist geworden waren. Außerdem rauchten zwei von ihnen Poquieltin in Spitzen aus getriebenem Gold.
»Ihr kommt mit vorzüglichen Empfehlungen«, erklärte einer der Vorsteher säuerlich, als wurme es ihn, meinen Antrag nicht von vornherein abschlagen zu können.
»Aber Ihr müßt auch über angemessenes Kapital verfügen«, sagte ein anderer. »Auf wieviel beläuft es sich?«
Ich reichte ihnen eine Aufstellung über die verschiedenen Waren und Zahlungsmittel hinüber, die ich mir gemacht hatte. Als wir an unserer schaumigen Schokolade nippten, die in diesem Fall mit Magnolienblüten gewürzt war und auch entsprechend duftete, ließen sie die Aufstellung von Hand zu Hand gehen.
»Ansehnlich«, sagte einer.
»Aber auch nicht üppig«, sagte ein anderer.
»Wie alt seid Ihr?« erkundigte sich der dritte.
»Einundzwanzig, meine Herren.«
»Das ist sehr jung.«
»Aber kein Hinderungsgrund, wie ich hoffe«, sagte ich. »Der große Hungernde Kojote zählte erst sechzehn Jahre, als er der Verehrte Sprecher von Texcóco wurde.«
»Wenn wir einmal davon ausgehen, daß Euer Ehrgeiz sich nicht gerade auf einen Thron richtet, junger Mixtli – wie sehen Eure Pläne aus?«
»Nun, meine Herren, ich glaube, daß meine erstklassigen Tuchwaren, die bestickten Umhänge und so weiter nichts sind, was Leute in irgendeinem anderen Land sich leisten könnten. Daher werde ich sie an die Edelleute in dieser Stadt verkaufen, welche imstande sind, Preise zu bezahlen, die man zu recht dafür verlangen kann. Die daraus erzielten Einnahmen habe ich vor, in schlichteren und praktischeren Geweben anzulegen, in Kaninchenhaardecken, in Schönheitsmitteln und Heilmitteln, kurz, in Waren, wie man sie nur hier in Tenochtítlan bekommt. Sodann werde ich sie nach Süden schaffen und gegen Dinge einhandeln, die man nur bei diesen Völkern dort bekommt.«
»Das ist genau das, was wir alle seit Jahren getan haben«, erklärte einer von den Männern unbeeindruckt. »Ihr erwähnt keinerlei Ausgaben, wie sie für unterwegs anfallen. So muß ein Teil Eures Vermögens doch dafür bestimmt sein, Tamémime zu verpflichten.«
»Ich habe nicht die Absicht, Träger anzuwerben«, erklärte ich.
»Wirklich nicht? Dann verfügt Ihr also über ein genügend großes Unternehmen, die ganze Plackerei des Transports selber zu übernehmen? So eine Rechnung kann nicht aufgehen, junger Mann. Ein Tamémi erhält einen vorher vereinbarten Tageslohn. Mit Teilhabern hingegen müßt Ihr Euren Gewinn teilen.«
Ich sagte: »Außer mir werden nur noch zwei andere an dem Unternehmen teilnehmen.«
»Drei Männer nur?« fragte der Vorsitzende verächtlich. Er klopfte auf meine Aufstellung. »Ihr und Eure beiden Freunde würdet doch allein unter der Last des Obsidian zusammenbrechen, ehe Ihr auch nur über den südlichen Damm hinüber seid.«
Geduldig setzte ich ihnen auseinander: »Ich habe deshalb nicht die Absicht selber etwas zu tragen oder irgendwelche Träger anzuwerben, weil ich für diese Arbeit Sklaven zu kaufen gedenke.«
Mitleidig schüttelten alle drei Männer den Kopf. »Für den Preis, den Ihr für einen kräftigen Sklaven zahlt, könnt Ihr Euch einen ganzen Trupp Tamémime leisten.«
»Und dann«, erklärte ich, »müßte ich sie den ganzen Weg nach Süden und auch noch zurück ernähren und kleiden und für ihr Schuhwerk aufkommen.«
»Während Eure Sklaven mit leerem Bauch und barfuß arbeiten? Wirklich, junger Mann …«
»Im gleichen Maße, wie ich die Waren absetze, die von den Sklaven getragen werden, werde ich auch die Sklaven unterwegs verkaufen. Sie sollten in den Landen, in denen wir so viele von den eingeborenen Arbeitern eingefangen oder ausgehoben haben, einen ansehnlichen Preis erbringen.«
Die alten Herren setzten leicht überraschte Mienen auf, als wäre diese Überlegung neu für sie. Doch einer von ihnen sagte: »Und dann sitzt Ihr tief in der südlichen Wildnis da, ohne Träger und ohne Sklaven, nach Hause zu bringen, was Ihr gegen Eure Waren eingehandelt habt.«
Ich sagte: »Ich habe vor, nur solche Waren einzuhandeln, die in kleinen Mengen oder bei kleinem Gewicht von großem Wert sind. Ich bin nicht, wie so viele Pochtéca, auf Jadestein, Schildpatt oder schwere Tierfelle aus. Andere Händler kaufen alles, was ihnen angeboten wird – und das einfach deshalb, weil sie ja die Träger ohnehin bezahlen und ernähren müssen; da können sie sie genausogut auch Lasten tragen lassen. Ich bin an nichts anderem interessiert als an rotem Farbstoff und den seltenen Federn. Vielleicht muß ich bei meinem Unternehmen größere Umwege machen, wenn ich solche besonderen Dinge finden will. Aber selbst ich kann einen Beutel des kostbaren Farbstoffs oder einen Ballen zusammengepreßter Federn des Quetzal-Vogels nach Hause tragen, und dieses eine Bündel würde mir meinen ganzen Einsatz tausendfach wieder einbringen.«
Die drei Männer sahen mich mit einem neuen, wiewohl immer noch widerwilligen Respekt an. Einer von ihnen räumte ein: »Ihr habt gründlich über die Sache nachgedacht.«
Ich sagte: »Ach, ich bin noch jung. Deshalb habe ich auch die Kraft, eine mühselige Reise auf mich zu nehmen. Und ich habe viel Zeit.«
Einer von den Männern lachte mit verkniffenem Mund. »Ihr denkt wohl, wir sind immer alt und feist und bequem gewesen.« Er hob seinen Umhang auf, um mir auf seiner rechten Körperseite vier runzelige Narben zu zeigen. »Die verdanke ich den Pfeilen der Huichotl, als ich in ihre Berge im Nordwesten einzudringen wagte und versuchte, ihre Gottesaugen-Talismane zu erwerben.«
Ein anderer lüftete seinen Umhang, um mir zu zeigen, daß er nur noch einen Fuß hatte. »Das war eine Nauyàka-Schlange im Chiapa-Dschungel. Ihr Gift tötet, ehe man zehn Atemzüge tun kann. Ich mußte ihn mir mit meinem eigenen Maquáhuitl eigenhändig abschlagen.«
Der dritte beugte sich vor, auf daß ich auf seine Kopfhaut herniedersehen konnte. Was ich für eine Fülle weißer Haare gehalten hatte, erwies sich in Wirklichkeit nur als ein Kranz um eine Schädeldecke herum, die von einer roten, schrumpeligen Narbe bedeckt war. »Ich bin in die nördliche Wüste gezogen, auf der Suche nach den Knospen des Peyotl-Kaktus, welche Träume bringen. Dabei bin ich durch das Gebiet der Chichiméca-Hundsleute, durch das der Téochichiméca-Wildhundsleute, ja, sogar durch das Gebiet der Zácachichiméca-Tollhundsleute, gekommen. Doch zuletzt fiel ich unter die Yaki, und verglichen mit diesen Barbaren, sind all die Hundsvölker nur harmlose Kaninchen. Zwar bin ich mit dem Leben davongekommen, aber irgendein Yaki-Wilder trägt jetzt meinen Skalp an einem Leibriemen, der noch mit dem Schopf vieler anderer Männer geschmückt ist.«
Auf diese Weise setzten sie mir den Kopf zurecht, und ich sagte: »Meine Herren, ich bewundere, welche Abenteuer Ihr bestanden habt, und Eure Kühnheit macht mir angst; ich kann nur hoffen, eines Tages Eurer Stellung als Pochtéca, die Großes geleistet haben, nahezukommen. Ich würde es als eine Ehre betrachten, mich unter die Geringsten Eurer Gilde zählen zu dürfen, und ich wäre dankbar, wenn Ihr mir Euer hart erworbenes Wissen und Eure Erfahrung zuteil werden ließet.«
Nochmals tauschten die drei einen Blick. Einer murmelte: »Was meint Ihr?«, und die anderen beiden nickten. Der alte Mann, dem man die Kopfhaut genommen hatte, sagte zu mir:
»Den eigentlichen Beweis, ob Ihr annehmbar seid, muß selbstverständlich Euer erstes Unternehmen erbringen. Denn wisset dies: nicht alle Neu-Pochtéca kehren auch nur von dieser ersten Reise zurück. Wir werden alles Erdenkliche tun, um Euch behilflich zu sein und Euch richtig vorzubereiten. Alles andere liegt bei Euch.«
Ich sagte: »Ich danke Euch, meine Herren. Ich werde tun, was immer Ihr mir vorschlagt, und mich nach allem richten, was Ihr mir zu beachten auftragt. Falls Ihr mit meinem Plan nicht einverstanden seid …«
»Nein, nein«, fiel einer von ihnen mir ins Wort. »Er ist von löblicher Originalität und verrät eine gewisse Kühnheit. Etwas von der Ware den Rest der Ware tragen lassen. Heh-heh.«
»Wir würden Euren Plan nur in einem abändern«, sagte ein anderer. »Ihr habt recht, Eure Luxuswaren lassen sich am besten hier in Tenochtitlan an den Mann bringen. Ihr solltet nur keine Zeit damit verschwenden, sie Stück für Stück zu verkaufen.«
»Nein, verliert keine Zeit«, sagte der dritte. »Aufgrund langer Erfahrung und nach Beratung mit den Sehern und Wahrsagern sind wir zu dem Schluß gekommen, daß der günstigste Tag, zu einer Expedition aufzubrechen, der Tag Eins Schlange ist. Heute haben wir Fünf Haus, also – laßt mich sehen – der nächste Tag Eins Schlange kommt auf dem Kalender in nur dreiundzwanzig Tagen wieder auf uns zu. In der Trockenzeit dieses Jahres gibt es überhaupt nur einen Tag Eins Schlange, und glaubt mir, die Trockenzeit ist die einzig richtige Jahreszeit, in den Süden aufzubrechen.«
Jetzt ergriff wieder der erste Mann das Wort: »Bringt uns Euren reichen Vorrat an Tuchen und Geweben hierher. Wir schätzen den Wert und geben Euch entsprechend passendere Handelsgüter dafür. Die Luxuswaren bringen wir hier auf den Markt, und zwar dann, wenn der Zeitpunkt dafür günstig ist. Vom Erlös ziehen wir nur einen kleinen Bruchteil ab, welcher dann den Einstands-Beitrag für unseren Gott Yacatecútli und den Unterhalt der Einrichtungen unserer Gilde darstellt.«
Möglich, daß ich einen Augenblick gezögert habe. Jedenfalls hob er die Augenbrauen und sagte: »Junger Mixtli, Ihr solltet niemals Euren Berufsgenossen mißtrauen. Wenn nicht jeder von uns es mit der Ehrlichkeit peinlich genau nimmt, macht keiner von uns Gewinn oder überlebt als Geschäftsmann. So einfach ist die Weisheit, nach der wir uns richten. Und wißt auch dies noch: Ihr müßt Euch unbedingt genau der gleichen peinlich genauen Ehrlichkeit befleißigen – selbst den unwissendsten Wilden in den rückständigsten Landen gegenüber. Denn, wohin immer Ihr Euch auch wendet, irgendein anderer Pochtécatl ist schon vor Euch dagewesen oder wird nach Euch dorthin kommen. Nur wenn jeder einzelne von uns redlichen Handel treibt, gestattet man dem nächsten gleichfalls Zutritt zu einem Gemeinwesen – oder verläßt es bei lebendigem Leibe wieder.«
Ich ging mit großer Vorsicht vor, als ich an Blut Schwelger herantrat, denn halb erwartete ich, daß er mich mit einem Schwall von Flüchen überhäufen würde, wenn ich ihm vorschlug, »Kindermädchen« bei einem Umnebelten, der sich zum erstenmal als Pochtécatl betätigte, und einem noch in der Genesung begriffenen kleinen Jungen zu spielen. Doch zu meiner Überraschung war er hell begeistert.
»Ich? Als dein einziger bewaffneter Begleiter? Du würdest euer Leben und euer Vermögen diesem alten Knochengerüst anvertrauen?« Er zwinkerte ein paarmal und schneuzte sich in die Hand. »Ja, wie könnte ich denn einen solchen Vertrauensbeweis zurückweisen?«
Ich sagte: »Ich würde Euch diesen Vorschlag nicht machen, wenn Ihr nicht weit mehr wäret als ein altes Knochengestell.«
»Nun, der Gott des Krieges weiß, daß ich auf noch so eine Farce wie diesen Krieg gegen Texcála pfeife. Und was für eine andere Möglichkeit bleibt mir sonst? – ayya!-doch keine andere, als wieder im Haus der Leibesstärkung zu unterrichten. Aber ayyo! – diese fernen Lande noch einmal wiederzusehen …« Er ließ den Blick zum südlichen Horizont hinüberschweifen. »Bei den granitenen Eiern des Kriegsgottes, ja! Ich danke dir für das Angebot und nehme mit Freuden an, junger Umne …« Er hüstelte. »Eh, Herr?«
»Teilhaber«, sagte ich. »Ihr, ich und Cozcatl werden uns redlich alles teilen, was wir zurückbringen. Und nennt mich Mixtli.«
»Dann, Mixtli, gestatte, daß ich die erste Aufgabe zur Vorbereitung der Expedition übernehme. Laß mich nach Azcapotzálco gehen und die Sklaven einkaufen. Auf Männerfleisch verstehe ich mich, da macht mir niemand etwas vor. Und ich weiß, daß diese Händler einen ganz schön übers Ohr zu hauen versuchen. Indem sie zum Beispiel geschmolzenes Bienenwachs in die Haut einer hageren Männerbrust einmassieren.«
Ich rief aus: »Wozu das?«
»Das Wachs wird wieder hart, und verleiht einem Mann die kräftigen Brustmuskeln eines Tocotíni-Fliegers – oder einer Frau Brüste wie die der sagenumwobenen Perlentaucherinnen, welche die Insel der Frauen bewohnen. Kommt dann der nächste Tag, sacken die Brüste einer solchen Frau bis auf die Knie herunter. Oh, keine Angst, ich kaufe schon keine Sklavinnen. Sofern sich dort unten im Süden nicht grundlegend etwas geändert hat, werden wir keinen Mangel an Wäscherinnen, Köchinnen und willigen Bettwärmern leiden.«
So nahm Blut Schwelger meine goldstaubgefüllten Federkiele und machte sich auf zum Sklavenmarkt von Azcapotzálco, der auf dem Festland lag; nach einigen Tagen des Suchens, Aussonderns und Feilschens kehrte er mit zwölf kräftigen Männern zurück. Keine zwei von ihnen gehörten ein und demselben Stamm an oder kamen aus dem Stall ein und desselben Händlers; damit schützte Blut Schwelger sich von vornherein dagegen, daß etliche von ihnen vielleicht miteinander befreundet wären, oder ein Cuilontin-Liebespaar, Männer, die eine Meuterei planen und versuchen könnten zu fliehen. Als sie kamen, hatten sie alle bereits Namen, doch mochten wir uns nicht die Mühe machen, uns diese erst lange einzuprägen, und so bekamen sie von uns einfach neue: Ce, Ome, Yeyi und so weiter – Eins, Zwei, Drei – bis Zwölf.
Während dieser Tage der Vorbereitungen erlaubte Ahuítzotls Hofarzt Cozcatl länger und immer länger aufzustehen, nahm ihm schließlich den Verband ab, zog die Fäden und schrieb ihm Leibesübungen vor, die er machen mußte. Bald war der Junge gesund und munter wie zuvor, und das einzige, was an seine Verletzung erinnerte, war, daß er sich hinhocken mußte wie eine Frau, um Wasser zu lassen.
Ich tauschte im Haus der Pochtéca meine Waren gegen andere ein, brachte also hochwertige hin und bekam dafür sechzehnmal soviel an praktischeren und billigeren Handelswaren zurück. Dann galt es, Ausrüstung und Vorräte für unsere Expedition einzukaufen, und die drei Vorsteher, die mich geprüft hatten, waren nur zu froh, mir dabei zu helfen. Ich vermute, sie erlebten dabei noch einmal frühere Zeiten, als sie über die Haltbarkeit von Agavenfaser-Stirnriemen im Verhältnis zu solchen aus Hanfseilen stritten und sich über die jeweiligen Vorteile von Wasserbeuteln aus Hirschleder (bei denen vom Inhalt nichts verlorenging) und Wasserkrügen aus Ton (bei denen durch Verdunstung etwas vom Inhalt verlorengeht, das Wasser dafür aber kühl bleibt) berieten und mich mit den recht rohen Karten bekannt machten, die sie mir liehen, und mir überdies eine Menge Ratschläge zuteil werden ließen.
»Die einzige Verpflegung, die sich selbst transportiert, das sind die Techíchi-Hunde. Nehmt eine gute Meute davon mit, Mixtli. Sie suchen sich unterwegs ihr Fressen und Wasser selbst, sind dafür aber viel zu pummelig und ängstlich, als daß sie sich losrissen, fortliefen und verwilderten. Hundefleisch schmeckt vielleicht nicht gerade am besten, aber Ihr werdet froh sein, sie zur Hand zu haben, wenn Ihr lange kein Wild erlegt.«
»Wenn Ihr Wildbret erlegt, Mixtli, braucht Ihr es nicht lange mit Euch herumzuschleppen und erst abhängen zu lassen, bis es zart wird und seinen strengen Geschmack verliert. Wickelt das Fleisch in die Blätter des Papayabaums ein, und es wird über Nacht zart und schmackhaft.«
»In den Ländern, in denen die Mexíca-Krieger Überfälle gemacht haben, hütet Euch vor den Frauen. Manche von denen sind von unseren Kriegern dermaßen mißhandelt worden und stecken so voller Groll auf sie, daß sie sich absichtlich mit der gefürchteten Nanáua-Krankheit anstecken lassen. Aus Rache legen sie sich zu jedem vorüberziehenden Mexícatl, auf daß er erleiden muß, wie sein Tepúli und sein Gehirn schwären und verfallen.«
»Falls Euch das Papier ausgeht, um Eure Konten in Ordnung zu halten, pflückt nur die Blätter von irgendeinem Rankgewächs. Schreibt mit einem scharfen Zweig darauf; die weißen Kratzer auf den grünen Blättern halten sich genausogut wie Farbe auf Papier.«
In aller Frühe des Tages Eins Schlange verließen wir Tenochtítlan: Cozcatl, Blut Schwelger und ich – und unsere zwölf Sklaven, welche ihre Last an einem Stirnriemen auf dem Rücken trugen, und die Meute wohlgenährter kleiner Hunde, die uns ständig zwischen den Füßen umherwuselten. Wir zogen über den Damm, der in südlicher Richtung über den See hinwegführt. Rechter Hand von uns, im Westen, dort, wo das Festland am weitesten in den See vorstieß, stieg der Berg von Chapultépec auf. An seiner Felswand hatte der erste Motecuzóma in Überlebensgroße sein Abbild einmeißeln lassen, und jeder Uey Tlatoáni, der ihm seither auf dem Thron gefolgt war, hatte es ihm nachgemacht. Nach den Berichten, die umgingen, sollte das gewaltige Bildnis des Ahuítzotl so gut wie fertig sein, doch konnten wir auf keinem der gemeißelten Reliefs irgendwelche Einzelheiten erkennen, da dieser Hügel noch nicht im Tageslicht lag. Es war unser Mond Panquetzaliztli, in dem die Sonne spät und weit im Südosten, unmittelbar hinter dem Gipfel des Popocatépetl aufgeht.
Als wir auf den Damm hinaustraten, war in dieser Richtung nichts weiter zu sehen als der übliche Morgennebel, der im opalen Licht der Morgenfrühe schimmerte. Doch langsam löste der Nebel sich auf, und nach und nach ward der wuchtige, aber wohlgeformte Vulkan zu erkennen, als ob er von seinem ewigen Standort aus vorrücke und auf uns zukäme. Nachdem die Nebelschwaden sich alle verflüchtigt hatten, trat der Berg in seiner vollen Größe in Erscheinung. Der schneebedeckte Kegel war durch die Strahlen der aufgehenden Sonne wie von einem Lichtring umschlossen. Dann sprang – wie es schien, aus dem Krater selbst – Tonatíu in die Höhe, und der Tag kam, der See schimmerte, die Gestade ringsum waren gebadet in blaßgoldenem Licht und in blassen violetten Schatten. Im gleichen Augenblick stieß der Weihrauchbrennende Berg eine Wolke blauen Rauches aus, der in die Höhe stieg und sich in der Form eines riesigen Pilzes emporwölkte.
Es mußte ein gutes Omen für unsere Reise sein: Die Sonne, die glühend auf den beschneiten Gipfel des Popocatépetl herabsengte und ihn schimmern ließ wie weißen Onyx, besetzt mit allen Edelsteinen der Welt, während der Berg selbst mit dem sich träge emporwölkenden Rauch grüßte und sagte:
»Ihr zieht fort, meine Freunde, doch ich bleibe, wo ich immer gewesen bin und immer bleiben werden – ein Wahrzeichen, euch sicher zurückzugeleiten.«