»Ein Helm soll das sein?« sagte Zyanya, als ich mich bemühte, ihn mir vom Kopf zu ziehen und ihn zu trocknen, ehe die Nässe ihm schaden konnte. »Ich dachte eher, du seiest im Kröpf eines Riesenvogels gefangen gewesen.«
»Hochwürdigste Gattin«, sagte ich mit der ganzen würdigen Gemessenheit der Halbtrunkenen. »Ums Haar hättest du diesen edlen Adlerkopf ruiniert. Jetzt stehst du auf einer meiner Krallen. Und schau – sieh dir nur die zerzausten Federn an!«
»Das tue ich ja. Ich schau sie ja an«, sagte sie mit erstickter Stimme, als müsse sie sich zusammennehmen, um nicht loszulachen. »Mach, daß du aus diesem albernen Mummenschanz herauskommst, Záa. Geh ins Schwitzbad! Schwitz dir den Octli durch die Rippen und erzähle mir, was um alles auf der Welt …« Doch jetzt konnte sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen, und perlend brach es aus ihr heraus.
»Einen albernen Mummenschanz nennst du das?« sagte ich und bemühte mich, hoffärtig und verletzt zugleich zu klingen. »Nur eine Frau kann so verständnislos von den Abzeichen einer hohen Ehrung reden. Wärest du ein Mann, du würdest vor Ehrfurcht und Bewunderung in die Knie sinken und mich beglückwünschen. Aber nein, ich werde würdelos mit Wasser übergossen und muß mich auch noch auslachen lassen.« Womit ich mich umdrehte und gewichtigen Schritts die Treppe in die Höhe stapfte, wobei mir ein paarmal die Adlerkrallen an meinen Sandalen ins Gehege kamen. Dann ließ ich mich vom heißen Wasser einweichen und schmollte.
So benahm ich mich erbärmlich großmäulig und wurde am Abend jenes Tages, welcher der größte meines bisherigen Lebens sein sollte, mit nachsichtiger Erheiterung empfangen. Nicht einer unter zehn- oder auch zwanzigtausend meiner Landsleute war je zu dem gemacht worden, zu dem ich an diesem Tag gemacht worden war – In Tlámahuichihuáni Cuaútlic: einem Ritter des Adlerordens der Mexíca.
Ich demütigte mich noch weiter, indem ich im Schwitzbad einschlief und nichts davon merkte, daß Zyanya und Stern Sänger es irgendwie schafften, mich herauszuholen und auf mein Lager zu legen. So kam es, daß es bereits heller Morgen war, ich immer noch im Bett lag und heiße Schokolade trank in dem Versuch, meinen schweren Kopf etwas zu erleichtern, als ich Zyanya endlich zusammenhängend berichten konnte, was im Palast geschehen war.
Ahuítzotl war allein im Thronsaal, als der Page und ich eintraten. Er sagte unvermittelt: »Unser Neffe Motecuzóma hat heute morgen Tenochtitlan verlassen und führt eine ansehnliche Streitmacht an, welche den Grundstock der Garnison im Xoconóchco bilden soll. Wie versprochen, haben wir im Staatsrat die bewundernswerte Rolle erwähnt, die du bei den Verhandlungen über den Zuerwerb dieses Gebietes gespielt hast; es wurde daher beschlossen, dich zu belohnen.«
Er gab ein Zeichen, der Page zog sich zurück, und gleich darauf begann der Raum sich mit anderen Männern zu füllen. Eigentlich hätte ich erwartet, daß es die Weibliche Schlange und andere Mitglieder des Staatsrates wären. Doch als ich sie durch meinen Topas hindurch betrachtete, stellte ich überrascht fest, daß es sich ausnahmslos um Krieger handelte – um die Elite der Krieger –, durch die Bank um Adlerritter in voll gefiederten Kampfanzügen, den Adlerhelm auf dem Kopf, gefiederte Vogelschwingen an den Waffen und krallenbewehrte Sandalen an den Füßen.
Ahuítzotl stellte mich ihnen vor, einem nach dem anderen – es handelte sich um die höchsten Würdenträger des Adlerordens –, und sagte: »Sie haben abgestimmt, Mixtli, und sind übereingekommen, dich – gleichsam mit einem Riesensprung – vom mittleren Rang eines Tequiua zu dem eines Ritters ihres erhabenen Ordens zu befördern.«
Selbstverständlich galt es, eine Reihe von Ritualen zu vollziehen. Wiewohl ich vor Überraschung wie auf den Mund geschlagen war, bemühte ich mich, meine Sprache wiederzufinden, um die vielen und wortreichen Eide nachzusprechen – daß ich getreu bis in den Tod für den Adlerorden selbst, für die Oberhoheit von Tenochtítlan, für die Macht und das Ansehen des Volkes der Mexíca und für den Erhalt des Dreibunds kämpfen würde. Sodann mußte ich mir den Unterarm aufritzen, die hohen Ritter taten desgleichen; wir rieben die Unterarme aneinander und vermischten brüderlich unser Blut.
Danach kleidete ich mich in den mit allen Abzeichen meines neuen Rangs versehenen Kampfanzug, so daß ich Arme gleich mächtigen Schwingen hatte, einen über und über gefiederten Körper und Füße wie die kräftigen Klauen eines Adlers. Als Höhepunkt der Zeremonie erwies sich die Krönung mit dem Helm: dem Kopf eines Adlers. Selbiger bestand aus Kork, steifem Papier und Federn, welche mit Oli daran festgeklebt waren. Der weit aufgerissene Schnabel reckte sich über meiner Stirn und unter meinem Kinn vor, und die funkelnden Augen aus Obsidian saßen mir etwas oberhalb der Ohren. Dann überreichte man mir die Zeichen meiner neuen Würde: den kräftigen Lederschild mit den federgewirkten Zeichen meines Namens darauf, die Farben, mir wild das Gesicht damit zu bemalen, den goldenen Nasenpflock, den ich tragen sollte, sobald ich es über mich brachte, mir die Nasenscheidewand zu diesem Zwecke zu durchbohren …
Hinterher nahm ich zusammen mit Ahuítzotl und den anderen Platz und fühlte mich durch die neue Kleidung recht beengt. Die Diener des Palastes trugen ein üppiges Festmahl auf und stellten viele Krüge des besten Octli vor uns hin. Ich mußte so tun, als langte ich kräftig zu, war im Grunde jedoch dermaßen aufgeregt, daß ich kaum Appetit hatte. Nur gab es keine Möglichkeit, den vielen und lautstimmig vorgebrachten Trinksprüchen zu entgehen und sie zu erwidern, welche auf mich, die anwesenden Häuptlinge des Adlerordens, auf Adlerritter, welche in der Vergangenheit einen glorreichen Tod gestorben waren, auf unseren erhabenen Oberkommandierenden Ahuitzotzin und die womöglich noch größere Macht der Mexíca ausgebracht wurden. Nach einer Weile kam ich bei den Trinksprüchen nicht mehr mit. Ich durfte den Palast daher verlassen, denn ich war mehr als nur ein wenig beschwipst und mein prächtiger neuer Kampfanzug mehr als nur ein wenig in Unordnung geraten.
»Ich bin stolz auf dich, Záa, und ich freue mich für dich«, sagte Zyanya, als ich mit meinem Bericht fertig war. »Das ist in der Tat eine große Ehre. Und welch mutige Heldentat wird mein Kriegergatte jetzt tun? Was wird deine erste würdige Tat als Adlerritter sein?«
Mit schwächlicher Stimme erklärte ich: »Wollten wir heute nicht Blumen aussuchen, meine Liebe? Sobald das Frachtkanu sie aus Xochimuco bringt? Blumen, sie auf unseren Dachgarten zu pflanzen?«
Mein Schädel brummte mir, es tat zu weh, um mein Denken groß anzustrengen, und so machte ich nicht einmal den Versuch zu verstehen, warum Zyanya genauso wie gestern abend in ein perlendes Lachen ausbrach.
Unser neues Haus bedeutete für alle, die darin wohnten, ein neues Leben, und so litten wir nicht an Langeweile. Zyanya war weiterhin vollauf damit beschäftigt, die Stände der Händler und die Werkstätten der Handwerker zu besuchen auf der Jagd nach »genau der richtigen Bodenmatte für die Kinderkammer« oder »irgendeiner kleinen Figur für die Nische oben am Treppenabsatz« oder irgend etwas anderes, dessen sie offenbar nicht habhaft werden konnte.
Meine Beiträge zur Einrichtung des Hauses wurden nicht immer beifällig aufgenommen, so etwa, als ich ein kleines steinernes Standbild für eben jene Nische am Treppenabsatz heimbrachte, die Zyanya einfach »garstig« fand. Nun, das war sie in der Tat – nur hatte ich sie erstanden, weil sie genauso aussah wie der braune, verhutzelte und gebeugte alte Mann, als der Nezahualpíli immer an mich herangetreten war. Dabei stellte die Figur Huehuetéotl dar, den Ältesten Der Alten Götter, so genannt, weil er genau das war. Wiewohl er nicht mehr allgemein angebetet wurde, erfreute sich der altersgebeugte, runzelnbedeckte und ingrimmig lächelnde Huehuetéotl immer noch der Verehrung als der erste Gott, welcher in diesen Landen anerkannt worden war und den die Menschen kannten, längst ehe die geschichtliche Erinnerung einsetzte, lange vor Quetzalcóatl oder irgendeinem der späteren Lieblingsgötter der Mexíca. Da Zyanya nicht zulassen wollte, daß er dort aufgestellt wurde, wo unsere Gäste ihn sehen mußten, erhielt Der Älteste Der Alten Götter einen Platz neben meiner Lagerstatt.
Unsere drei Sklaven besuchten während der ersten paar Monate bei uns in ihrer Freizeit den Unterricht in Cozcatls Schule, und das machte sich durchaus bemerkbar. Die kleine Kitzlig wurde davon geheilt, jedesmal loszukichern, sobald man sie ansprach, und setzte nur mehr ein bescheidenes, gewinnendes Lächeln auf. Stern Sänger trieb seine Aufmerksamkeit so weit, daß er mir nahezu immer eine bereits angezündete Poquietl anbot, sobald ich irgendwo Platz nahm, und um ihn in seinem Eifer nicht zu kränken, rauchte ich mehr, als ich eigentlich wollte.
Ich selbst beschäftigte mich damit, mein Vermögen sicher anzulegen. Ganze Kolonnen von Pochtéca waren seit einiger Zeit aus Uaxyácac kommend in Tenochtítlan eingetroffen und hatten Flaschen mit Purpur und purpurgetränkte Garnstränge mitgebracht, welche sie dem Bishósu Kosi Yuela durchaus rechtens abgekauft hatten. Selbstverständlich hatten sie einen gewaltigen Preis dafür bezahlt, und nicht weniger selbstverständlich verlangten sie noch gewaltigere Preise, als sie den Farbstoff über die Kaufleute von Tlaltelólco in kleinen Mengen weiterverkaufen ließen. Doch die Edelleute der Mexíca – zumal ihre Damen – waren dermaßen auf diesen einzigartigen Farbstoff versessen, daß sie bereit waren, jeden geforderten Preis dafür zu bezahlen. Und nachdem der rechtmäßig in die Stadt gebrachte Purpurfarbstoff einmal auf dem Markt war, konnte ich unter der Hand und unbemerkt nach und nach auch meinen eigenen Vorrat an den Adel bringen.
Ich verkaufte meinen Schatz für Zahlungsmittel, welche man leichter verbergen konnte als die Waren: geschnitzte Jade, ein paar Smaragde und andere geschnittene Steine und goldstaubgefüllte Federkiele. Freilich behielten Zyanya und ich für unseren eigenen Gebrauch genug Purpur zurück, daß wir meiner Meinung nach mehr purpurverzierte Gewänder besaßen als der Verehrte Sprecher und alle seine Frauen zusammen. Eines weiß ich mit Sicherheit – daß nämlich unser Haus das einzige in ganz Tenochtítlan war, in dem ganz und gar purpurn gefärbte Vorhänge vor den Fenstern hingen. Diese waren nur für die Gäste sichtbar, die wir einluden – zur Straßenseite hin hingen weniger auffällige Stoffe davor.
Am häufigsten besuchten uns unsere langjährigen Freunde: Cozcatl, seit kurzem und richtiger Meister Cozcatl genannt; Geschäftsfreunde von mir aus dem Haus der Fernhändler; der eine oder andere von Blut Schwelgers alten Waffengefährten, die mir geholfen hatten, den Purpurschatz zu heben. Darüber hinaus machten wir jedoch auch Bekanntschaft mit unseren den höheren Klassen angehörenden Nachbarn aus dem Ixacuálco-Viertel, in dem wir wohnten, und mit den Edelleuten, welche wir bei Hofe kennenlernten – insbesondere einer Reihe von Edelfrauen, welche sich von Zyanyas Charme bestricken ließen. Eine von ihnen war die Erste Dame von Tenochtítlan, also Ahuítzotls Erste Gemahlin. Wenn sie uns besuchen kam, brachte sie des öfteren ihren ältesten Sohn Cuautémoc, Rauschender Adler, mit, also jenen jungen Herrn, welcher als der wahrscheinlichste Nachfolger auf dem Thron seines Vaters galt. Wiewohl die Erbfolge bei den Mexíca nicht ausschließlich durch die männliche Linie bestimmt war wie bei einigen anderen Völkern, wurde der älteste Sohn beim Tod eines Uey-Tlatoáni, welcher keinen Bruder hinterließ, der ihm nachfolgen könnte, im Staatsrat stets als erster Anwärter auf die Nachfolge betrachtet. Infolgedessen begegneten Zyanya und ich Cuautémoctzin und seiner Mutter mit ausgesuchter Ehrerbietung; es kann nicht schaden, wenn man auf gutem Fuß mit jemand steht, der vielleicht einmal Verehrter Sprecher werden könnte.
In diesen Jahren machte von Zeit zu Zeit ein Bote der Krieger oder der Träger eines Pochtécatl aus dem Süden einen Abstecher zu unserem Haus, um uns eine Nachricht von Béu Ribé zu überbringen. Die Nachrichten lauteten unverändert gleich: sie sei immer noch unverheiratet, Tecuantépec immer noch Tecuantépec, die Herberge blühe und gedeihe, ja, tue das jetzt, wo der Verkehr von und nach Xoconóchco immer größer wurde, womöglich noch mehr als zuvor. Trotzdem war die gleichbleibende Kargheit dieser Neuigkeiten recht niederdrückend, da Béu nicht aus eigener Neigung, sondern aus Mangel an passenden Bewerbern unverehelicht blieb.
Und das ließ mich jedesmal an den in der Ferne fast wie in der Verbannung lebenden Motecuzóma denken, denn ich war sicher – wiewohl ich mich hütete, jemals einem Menschen, nicht einmal Zyanya gegenüber etwas von meinem Verdacht verlauten zu lassen –, daß er jener hochstehende Mexícatl mit den sonderbaren Neigungen gewesen war, welcher Béus Leben zerstört hatte. Einfach aus Treue meiner Familie gegenüber, vermute ich, hätte ich so etwas wie Erbitterung oder gar Haß auf Motecuzóma den Jüngeren empfinden müssen. Und einfach nach dem, was Béu und Ahuítzotl mir erzählt hatten, hätte ich wohl Verachtung für einen Mann haben müssen, der sich sowohl in seinem Geschlecht als auch in seinen Neigungen zum Krüppel gemacht hatte. Doch weder ich noch sonst jemand konnten leugnen, daß er als Oberbefehlshaber Treffliches leistete, als es darum ging, Xoconóchco für uns zu halten und zu erschließen.
Er stationierte seine Garnison von Kriegern praktisch und unmittelbar an der Grenze nach Quautemálan, plante und beaufsichtigte den Bau einer starken Feste, und zweifellos waren die Quiche und Lacandón in der Nachbarschaft erschrocken, als die Mauern in die Höhe wuchsen und die Patrouillen ein- und ausmarschierten. Diese Elenden unternahmen nämlich nie wieder einen Raubzug aus ihren Dschungeln heraus, sie drohten nie wieder großmäulig und ließen auch sonst keinerlei kriegerischen Ehrgeiz mehr erkennen. Sie fielen in einen Zustand zurück, der schlimmer als heruntergekommen und teilnahmslos genannt werden muß, und soweit ich weiß, verharren sie auch heute noch darin.
Eure spanischen Soldaten, die zuerst nach Xoconochco reisten, haben sich verwundert darüber geäußert, dort, so fern von Tenochtítlan, so viele Völker zu finden, die nicht mit uns verwandt sind – Mame, Mixe, Comitéca und dergleichen –, gleichwohl jedoch unsere Sprache, das Náhuatl, sprechen. Jawohl, das war das entfernteste Land, auf dem man stehen und sagen konnte: »Ich stehe auf Mexíca-Boden.« Denn das war es, trotz der Entfernung vom Herzen Der Einen Welt; vielleicht war es sogar unsere treueste Provinz, doch das beruhte zum Teil darauf, daß nach der Eingliederung in unser Reich so viele von unseren Landsleuten noch Xoconochco zogen.
Noch ehe Motecuzómas Garnison fertig war, fingen andere Neuankömmlinge an, sich dort niederzulassen und Häuser, Marktstände und einfache Herbergen, ja, sogar Freudenhäuser zu bauen. Das waren Mexíca-, Acólhua- und Tecpanéca-Einwanderer auf der Suche nach weiteren Horizonten und größeren Möglichkeiten, als sie ihnen hier im überreich bevölkerten Herzen des Dreibunds geboten wurden. Als die Garnison dann endlich fertig ausgebaut, befestigt und bemannt war, warf sie ihren schützenden Schatten auf eine Stadt von bereits ansehnlicher Größe. Sie erhielt den Náhuatl-Namen Tapáchtlan, Ort Der Koralle, und wenn sie auch nie annähernd die Größe und den Glanz unseres Tenochtítlan erreichte, war sie doch das größte und lebendigste Gemeinwesen östlich der Landenge von Tecuantépec.
Viele von den neu aus dem Norden Zugewanderten blieben zunächst eine Weile in Tapáchtlan oder sonst irgendwo in Xoconochco und zogen dann sogar noch weiter. Ich selbst bin nie ganz so weit gekommen, weiß jedoch, daß sich östlich des Dschungels von Quautemálan weite fruchtbare Hochtäler und Küstenstriche erstrecken. Und daß hinter ihnen noch eine weitere Landenge kommt, womöglich noch schmaler als die von Tecuantépec, welche sich zwischen dem Nordmeer und dem Südmeer erstreckt und von wo es noch weiter nach Süden geht, daß niemand weiß, wo sie endet. Manche behaupten, irgendwo weiter unten gäbe es einen Fluß, welcher die beiden Meere miteinander verbinde. Euer Capitán-General Cortés hat vergeblich danach gesucht, aber es ist ja möglich, daß irgendwelche Spanier ihn doch finden.
Wiewohl es sich bei den in immer weitere Fernen vorrückenden Auswanderern nur um einzelne handelte, die auf eigene Faust auf Entdeckungen ausgingen, höchstens jedoch um Familiengruppen, und wiewohl sie weit verstreut dort unten siedelten, hat man mir berichtet, sie hätten den eingeborenen Völkern, die dort leben, unlöschbar ihren Stempel aufgedrückt. Stämme, die ursprünglich nie auch nur im entferntesten mit einem vom Dreibund verwandt waren, haben jetzt unsere Gesichter; sie sprechen unser Náhuatl, wenn auch in recht verballhornter Form; sie haben viele von unseren Sitten und Gebräuchen, Künsten und Göttern übernommen und weitervererbt; sie haben sogar ihren Dörfern und Bergen und Flüssen neue Namen gegeben – Náhuatl-Namen.
Etliche Spanier, die weit herumgekommen sind, haben mich gefragt: »Hatte euer Aztekenreich wirklich eine so gewaltige Ausdehnung, daß es an das Inkareich auf dem großen Erdteil im Süden anstieß?« Wenn ich die Frage auch nicht ganz begreife, sage ich ihnen stets: »Nein, meine Herrn.« Ich bin mir nicht ganz sicher, was ein Reich ist oder ein Erdteil oder die Inkas. Was ich jedoch genau weiß, ist, daß wir Mexíca – oder Azteken, wenn es denn unbedingt sein muß – unsere Grenzen nie über Xoconóchco hinaus vorgetrieben haben.
Nicht jedermanns Augen und Interesse richtete sich damals auf den Süden. Unser Uey-Tlatoáni etwa vernachlässigte die anderen Himmelsrichtungen auf dem Kompaß keineswegs. Eigentlich war ich recht froh über die Unterbrechung meines zunehmend häuslichen Alltagslebens, als Ahuítzotl mich eines Tages in seinen Palast kommen ließ, um mich zu fragen, ob ich bereit sei, in diplomatischer Mission nach Michihuácan zu reisen.
Er sagte: »Du hast in Xoconóchco und in Uaxyácac Vorzügliches für uns geleistet. Meinst du, du könntest versuchen, bessere Beziehungen zwischen uns und dem Land der Fischer herzustellen?«
Ich sagte, ich könne es immerhin versuchen. »Aber warum, Hoher Gebieter? Die Purémpecha gestatten unseren Reisenden und Kaufleuten ungehinderten Durchzug durch ihr Land. Sie treiben lebhaften Handel mit uns. Was verlangt Ihr mehr an guten Beziehungen?«
»Ach, denk dir irgendwas aus. Gleichgültig was, wenn es nur einen einsichtigen Vorwand bietet, ihren regierenden Uandákuari, den alten Yquingare zu besuchen.« Ich muß ihn verständnislos angestarrt haben, denn er lehnte sich vor, um mir zu erklären, was er meinte. »Deine vorgebliche diplomatische Mission soll nur die Maske für deinen eigentlichen Auftrag sein. Wir wollen, daß du uns das Geheimnis ihres überragend harten Metalls bringst, welches unseren Obsidianwaffen so überlegen ist.«
Ich holte tief Luft und versuchte vernünftig zu wirken, statt ängstlich, und so sagte ich: »Hoher Gebieter, die Handwerker, die wissen, wie man dieses Metall herstellt, sind doch gewiß auf größter Hut vor Begegnungen mit Fremden, die versucht sein könnten, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen.«
»Und das Metall selbst ist stets weggeschlossen, damit Neugierige es nicht zu sehen bekommen«, sagte Ahuítzotl ungeduldig. »All das wissen wir selbstverständlich. Aber wir wissen auch um die einzige Ausnahme von diesen Vorsichtsmaßnahmen. Die engsten Ratgeber des Uandákuari und seine Leibwache sind stets mit Waffen aus diesem Metall bewaffnet um jeden Anschlag auf sein Leben abzuwenden. Verschaff dir Zutritt zu seinem Palast, und du wirst Gelegenheit haben, ein Schwert oder einen Dolch aus dem Metall an dich zu bringen, gleichgültig, was es ist. Das ist alles, was wir brauchen. Wenn unsere eigenen Metallarbeiter auch nur ein einziges Stück davon haben, um es zu untersuchen, werden sie herausbekommen, woraus es sich zusammensetzt«
Ich seufzte und sagte: »Wie mein Gebieter befiehlt – ein Adlerritter hat zu gehorchen.« Ich überdachte die Schwierigkeiten der vor mir liegenden Aufgabe und meinte: »Wenn ich nur hingehe, um zu stehlen, brauche ich eigentlich nicht den verwickelten Vorwand diplomatischer Verhandlungen. Ich könnte doch schlicht als Bote erscheinen, der dem Verehrten Sprecher Yquingare ein Freundschaftsgeschenk des Verehrten Sprechers Ahuítzotl überbringt.«
Ahuítzotl ließ sich diesen Vorschlag durch den Kopf gehen und legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Aber was?« sagte er. »In Michihuácan gibt es die gleichen Kostbarkeiten wie hier. Es müßte etwas sein, was er dort nicht bekommen kann, etwas Einzigartiges.«
Ich sagte: »Die Purémpecha lieben nichts mehr als sexuelle Abwechslung. Doch nein. Der Uandákuari ist ein alter Mann. Zweifellos hat er auf diesem Gebiet jedem Laster gefrönt und jede Köstlichkeit genossen und ist weit hinaus über …«
»Ayyo!« rief Ahuítzotl frohlockend. »Es gibt eine Köstlichkeit, die er unmöglich gekostet haben kann, eine, der er unmöglich widerstehen kann. Ein neues Texquáni, das wir gerade für unser Tierhaus erstanden haben.« Ich zuckte bei diesem Gedanken zusammen, doch er nahm keine Notiz davon; er schickte einen Bedienten, es zu holen.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was für ein menschliches Ungeheuer den Tepúli auch noch des lasterhaftesten alten Wüstlings erregen könnte, da sagte Ahuítzotl: »Sieh dir das hier an, Mixtli. Da sind sie«, und ich hob meinen Topas an die Augen.
Die beiden Mädchen waren von so unscheinbarem Äußeren, wie ich es nur je gesehen hatte, doch hätte ich sie beim besten Willen nicht als monströs bezeichnen können. Gewiß, vielleicht ein wenig ungewöhnlich insofern, als sie völlig gleichaussehende Zwillinge waren. Meiner Schätzung nach mußten sie etwa vierzehn Jahre alt sein und von irgendeinem Olméca-Stamm kommen, denn sie kauten Tzictli, genauso gelassen wie zwei nicht voneinander zu unterscheidende, vollkommen gleich aussehende Seekühe. Sie standen Schulter an Schulter, ein wenig zueinander geneigt da, jede hatte ihren Arm um die Schulter der anderen gelegt. Sie trugen einen einzigen Umhang, welcher sie von der Brust bis zu den Füßen umhüllte.
»Bis jetzt sind sie noch nicht öffentlich zur Schau gestellt worden«, sagte Ahuítzotl, »denn bis jetzt sind unsere Palastnäherinnen noch nicht mit den besonderen Blusen und Röcken fertiggeworden, die sie brauchen. Diener, nimm ihnen die Decke ab.«
Er tat es, und mir fielen gleichsam die Augen aus dem Kopf, als ich die Mädchen nackt sah. Es handelte sich nicht einfach nur um Zwillinge; denn offenbar waren sie im Mutterschoß irgendwie miteinander verschmolzen. Von der Achsel bis zur Hüfte waren sie beide durch dieselbe Haut miteinander verbunden, und zwar so eng, daß sie weder stehen, sitzen, gehen oder sich niederlegen konnten, ohne sich dabei halb zugewendet zu sein und sich anzusehen. Einen Augenblick dachte ich, sie hätten nur drei Brüste, doch als ich nähertrat, erkannte ich, daß die mittlere Brust in Wahrheit zwei normale, nur eng aneinandergepreßte Brüste waren; ich konnte sie mit der Hand auseinanderschieben. Ich betrachtete die Mädchen; vier Brüste vorn, zwei Paar Hinterbacken hinten. Bis auf ihre reizlosen, unintelligenten Gesichter vermochte ich keinerlei Mißbildung bei ihnen zu entdecken außer eben jenem Teil, der ihnen beiden gemeinsam war.
»Ließen sie sich denn nicht trennen?« erkundigte ich mich. »Dann würden sie zwar beide eine Narbe aufweisen, aber sie wären auseinander und normal.«
»Wozu?« knurrte Ahuítzotl. »Wozu um alles auf der Welt wären zwei schmutzgesichtige, tzictlikauende Olméca-Schlampen denn schon zu gebrauchen? Zusammengewachsen sind sie etwas Ungewöhnliches und Wertvolles und können das angenehm müßige Leben von Texquáni führen. Doch wie dem auch sei, unsere Wundärzte sind zu dem Schluß gekommen, daß man sie nicht trennen kann. Unter diesem Stück Haut, das sie zusammenbindet, haben sie lebenswichtige Blutgefäße gemeinsam. Aber – und das ist es, was den alten Yquingare ganz aus dem Häuschen geraten lassen wird – jedes der Mädchen hat sein eigenes Tipili, und beide sind überdies noch Jungfrau.«
»Welch ein Jammer, daß sie nicht auch noch hübsch sind«, sann ich. »Aber Ihr habt recht, Hoher Gebieter. Allein, daß sie etwas völlig Ungewöhnliches sind, macht diesen Nachteil bei weitem wett.« Ich wandte mich an die Zwillinge: »Habt ihr Namen? Könnt ihr sprechen?«
In der Coatlicamac-Sprache und nahezu gleichzeitig sagten sie: »Ich heiße Links«, und »Ich heiße Rechts.«
Ahuítzotl sagte: »Wir hatten vorgehabt, sie der Öffentlichkeit als das Damenpaar vorzustellen. Benamt nach der Göttin Omeciuatl. Eine Art Scherz, verstehst du.«
Ich sagte: »Falls ein ungewöhnliches Geschenk den Uandákuari uns gegenüber freundlicher stimmt, ist das Damenpaar genau richtig, und es wird mir ein Vergnügen sein, es ihm zu überbringen. Nur noch ein Rat, Hoher Gebieter – Ihr solltet sie ansprechender herrichten lassen. Laßt beiden die Haare und die Brauen rasieren. Das ist bei den Purémpecha so Sitte.«
»Eine absonderliche Sitte«, sagte Ahuítzotl erstaunt. »Dabei ist das Haar das einzig wirklich Reizvolle an diesen beiden. Aber es soll geschehenen. Halte dich zur Abreise bereit, sobald ihre Kleidung fertig ist.«
»Wie Ihr befehlt, Hoher Gebieter. Und ich möchte hoffen, daß die feierliche Übergabe des Damenpaars an jenem Hofe genügend Aufregung schafft, daß es mir dabei gelingt, eine der Metallwaffen an mich zu bringen …«
»Du sollst nicht nur darauf hoffen«, sagte Ahuítzotl. »Sorge dafür.«
»Ach, die armen Kinder!« rief Zyanya aus, als ich ihr das Damenpaar vorstellte. Mich überraschte, daß jemand Mitleid mit ihnen bekundete, denn alle anderen, die bislang mit Links und Rechts zu tun gehabt hatten, hatten sie entweder offenen Munds angegafft, oder, wie Ahuítzotl, sie als Ware betrachtet, die man an den Mann bringen konnte, nicht anders als das Fleisch eines seltenen Tieres etwa. Aber Zyanya bemutterte sie die ganze Reise nach Tzintzuntzani über und versicherte ihnen unablässig – als ob sie Verstand genug besessen hätten, daß es ihnen etwas ausgemacht haben würde –, sie gingen einem herrlich aufregenden neuen Leben der Freiheit und des Luxus entgegen. Nun, vermutlich würde es ihnen in der Tat in der vergleichsweise großen Freizügigkeit eines Landpalasts – selbst in ihrer Eigenschaft als auswechselbare Konkubinen – besser gehen denn als Gegenstand des Spotts und der Aufmerksamkeit aller in den engen Verschlagen eines städtischen Tierhauses.
Zyanya begleitete mich, weil sie, nachdem ich ihr von dem neuesten und absonderlichsten Auftrag, welchen man mir übertragen, berichtet hatte, einfach darauf bestand mitzukommen. Zuerst hatte ich laut Nein gesagt, denn ich war mir durchaus darüber im klaren, in dem Augenblick, da man mich dabei erwischte, wie ich eine der unantastbaren Metallwaffen an mich bringen sollte, daß kein einziger meiner Begleiter am Leben bleiben würde. Aber Zyanya hielt mir überzeugend entgegen, daß der Argwohn unserer Gastgeber schon im voraus beschwichtigt werde und ich um so besser Gelegenheit haben würde, an eine solche Waffe heranzukommen und unbemerkt in meinen Besitz zu bringen.
»Und was«, fragte sie mich, »wirkt unverdächtiger als ein Mann und eine Frau, die zusammen reisen? Ich würde Michihuácan wirklich gern einmal sehen, Záa.«
Ihre Mann-und-Frau-Idee hatte manches für sich, überlegte ich, wenn auch vielleicht nicht gerade das, was sie damit meinte. Denn wenn die lüsternen und freizügigen Purémpecha einen Mann sahen, der mit seiner eigenen vertrauten und gewohnten Frau unterwegs war – und das in einem Land, wo er ohne weiteres jeden anderen Bettgenossen oder jede andere Art oder Anzahl von Bettgenossen haben konnte –, so würde das die Purémpecha gewißlich sprachlos machen. Damit würden sie mich in der Tat für jemand halten, der viel zu ohnmächtig, einfallslos und gleichgültig war, um sich als Dieb oder Spion oder sonst etwas Gefährliches zu betätigen. Infolgedessen sagte ich Ja zu Zyanya, und sie begann augenblicklich, für die Reise zu packen.
Als die Zwillinge und ihre Kleider soweit waren, schickte Ahuítzotl mir eine Nachricht, und ich meldete mich im Palast.
Aber ayya, war ich entsetzt, als ich die Mädchen das erstemal sah, nachdem man ihnen die Haare geschoren hatte. Ihre kahlen Köpfe sahen aus wie nackte Brüste – kegelförmig und spitz zulaufend –, und ich fragte mich, ob mein Vorschlag nicht doch ein großer Fehler gewesen sei. Ein kahler Kopf mochte bei den Purémpecha als Inbegriff der Schönheit gelten – aber ein kahler kegelförmig und spitz zulaufender Kopf? Nun, jetzt war es zu spät; sie würden kahlköpfig bleiben müssen.
Außerdem stellte sich erst jetzt heraus, daß Links und Rechts in einem gewöhnlichen Tragstuhl nicht Platz fanden und für ihre besonderen Bedürfnisse eigens ein größerer und breiterer hergestellt werden mußte, wodurch unsere Abreise sich noch um einige weitere Tage verzögerte. Doch Ahuítzotl war entschlossen, keine Mühe und kein Mittel für dieses Unternehmen zu scheuen, und als wir endlich loszogen, boten wir einen eindrucksvollen Anblick.
Zwei Palastwachen zogen voran; was freilich auffiel, war, daß sie keinerlei Waffen trugen. Ich jedoch wußte, daß sie Könner auf dem Gebiet des waffenlosen Kampfes waren. Ich selbst trug nichts weiter als meinen wappengeschmückten Schild, welcher mich als Adlerritter auswies, und das zusammengefaltete Schreiben des Uey-Tlatoáni Ahuítzotl. Ich ging neben Zyanyas von vier Mann getragenem Tragstuhl einher und spielte die Rolle des aufs Wort gehorchenden Ehemannes, welcher die Aufmerksamkeit seiner Frau auf diese und jene Besonderheit und Schönheit der Landschaft lenkte. Uns folgte der von acht Mann getragene Tragstuhl der Zwillinge; acht weitere Träger wechselten sich von Zeit zu Zeit mit den anderen ab, den schweren Tragstuhl zu tragen. Denn bei diesem handelte es sich nicht nur um einen Doppelsitz, sondern um eine Art kleiner Hütte an Tragestangen mit einem Dach darüber und Vorhängen an den beiden offenen Seiten. Den Schluß unseres Zuges bildeten viele mit unserem Gepäck, unseren Wimpeln und Vorräten beladene Sklaven.
Nach drei oder vier Tagen gelangten wir auf der nach Westen führenden Handelsstraße in ein Dorf namens Zitákuaro. Ein dort stationierter Wachtposten ließ erkennen, daß hier die Grenze von Michihuácan begann. Wir hielten, die Wachen der Purémpecha studierten voller Hochachtung das Schreiben, welches ich ihnen vorwies und tasteten danach unsere verschiedenen Gepäckstücke nur ab, ohne sie zu öffnen. Sie schienen einigermaßen verblüfft, als sie in den übergroßen Tragstuhl hineinblickten und darin in anscheinend höchst unbequemer Stellung zwei gleich aussehende Mädchen sitzen sahen. Aber die Wachen enthielten sich jeder Bemerkung. Höflich winkten sie mir und meiner Dame, mit unserem Troß durch Zitákuaro hindurch weiterzuziehen.
Von nun an wurden wir nicht wieder angehalten und auch sonst nicht kontrolliert, doch befahl ich, daß die Vorhänge am Tragstuhl des Damenpaars geschlossen blieben, auf daß sie für die Leute, an denen wir vorüberkamen, unsichtbar blieben. Ich wußte, daß ein Schnellbote den Uandákuari bereits von unserem Kommen unterrichtet hatte, wollte jedoch, daß unser Geschenk ein Geheimnis blieb und möglichst nichts darüber verlautete, bis wir in seinen Palast gelangten und ihn damit überraschen konnten. Zyanya bezichtigte mich der Grausamkeit, die Zwillinge die weite Reise machen zu lassen, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, irgend etwas von dem neuen Land zu sehen, in welchem sie fürderhin leben sollten. Deshalb ließ sie unseren Zug jedesmal, wenn ich sie auf etwas Besonderes aufmerksam gemacht hatte und der Weg frei war von irgendwelchen Zuschauern, halten, ging persönlich zu ihnen, um den Vorhang hochzuheben und ihnen zu zeigen, was immer es war. Davon ließ sie sich den ganzen Weg bis nach Michihuácan nicht abbringen, was mich einigermaßen zur Verzweiflung brachte, da Links und Rechts völlig stumpfsinnig waren und nicht die geringste Neugier für ihre Umgebung bekundeten.
Die ganze Reise wäre langweilig und ermüdend gewesen, hätte Zyanya mich nicht begleitet; jetzt war ich froh, daß sie mich bewegen hatte, sie mitzunehmen. Sie ließ mich gelegentlich sogar die Gefährlichkeit meines Auftrags vergessen, den ich an unserem Ziel auszuführen hatte. Jedesmal, wenn unsere Kolonne um eine Wegbiegung oder über die Kuppe eines Berges kam, entdeckte Zyanya etwas, was neu für sie war, stieß Laute der Bewunderung aus und hörte meinen Erklärungen mit kindlicher Aufmerksamkeit zu.
Das erste, was Zyanyas Aufmerksamkeit erregte, war selbstverständlich, daß die meisten Leute hier mit glänzendem haarlosem Kopf herumliefen. Von dieser Sitte hatte ich ihr bereits erzählt, doch etwas erzählt zu bekommen, ist etwas anderes, als es mit eigenen Augen zu sehen. Bis sie sich schließlich daran gewöhnt hatte, pflegte sie jeden jungen Menschen, an dem wir vorüberkamen, anzustarren und zu murmeln: »Das ist ein Junge. Nein, ein Mädchen …« Und ich muß gestehen, daß ihre Neugier erwidert wurde. Die Purémpecha waren es gewohnt, auch ungeschorene Menschen zu sehen – fremde Reisende, Angehörige ihrer eigenen Unterschicht und vielleicht auch eigenwillige Außenseiter –, was sie jedoch noch nie gesehen hatten, war eine ausnehmend schöne Frau mit einer Fülle langen schwarzen Haares und einer sich davon abhebenden weißen Strähne darin.
Aber es gab nicht nur Menschen zu sehen. Jener Teil von Michihuácan, durch den wir zogen, ist gebirgig, was schließlich die meisten anderen Länder auch sind; hier jedoch standen die Berge überall am Horizont und bildeten gleichsam den Rahmen für ein sonst flaches oder sanft gewelltes Land. Ein Teil dieses Gebietes ist bewaldet, manches von Wiesen mit nutzlosem, aber wunderschönem Gras und Wildblumen bedeckt. Ein großer Teil ist aber auch von ausgedehnten, eine Fülle von Feldfrüchten tragenden Ackerflächen bedeckt. Weithin dehnen sich wogende Maisfelder, Beete mit Bohnen und Chilipfeffer, Obstgärten mit Ahuácatin und noch süßeren Früchten. Hier und da standen inmitten der Felder Lehmziegelspeicher, in welchen Saatgut und die Erzeugnisse des Bodens gelagert werden – kegelförmige Rundhütten, den spitz zulaufenden Köpfen des Damenpaars nicht unähnlich.
In jenen Landen bieten selbst die bescheidensten Bauten noch einen erfreulichen Anblick. Da dort ausgedehnte Wälder wachsen, bestanden sie zumeist aus Holz und wurden nicht mit Mörtel oder Seilen zusammengehalten, sondern mit sinnreich fest ineinanderfassenden Brettern und Bohlen. Jedes Haus weist ein hohes Spitzdach auf, welches rings um das Haus weit vorspringt, um in der heißen Jahreszeit kühlen Schatten zu spenden und in der Regenzeit das Wasser vom Haus abzuhalten; manche dieser Dächer sind so gebaut, daß ihre vier Ecken sich in lustigem Schwung nach oben wölben. Es war gerade die Zeit der Schwalben, und nirgends gibt es mehr Schwalben als in Michihuácan. Sie gleiten und schießen pfeilschnell durch die Luft – und daß es so viele davon gibt, liegt zweifellos daran, daß die ausladenden Dachüberstände ihnen so schöne Gelegenheiten zum Nisten bieten.
Reich an Wäldern und Gewässern, ist Michihuácan die Heimat einer Fülle der verschiedensten Vögel. Auf den Flüssen spiegeln sich die leuchtend blitzenden Farben von Hähern, Fliegenschnäppern und Eisvögeln. In den Wäldern läßt der Specht sein unablässiges Hämmern vernehmen. An den seichten Uferstellen der Seen stehen große Weiß- und Blaureiher und die womöglich noch größeren Kuinko. Dieser Vogel hat einen löffelförmigen Schnabel, weshalb ihr ihn auch Löffelreiher nennt; er ist von wenig schöner Form und stelzt ungeschickt auf seinen langen Beinen. Das wie ein Sonnenuntergang glühende Gefieder des Kuinko freilich ist über die Maßen schön, und wenn ein ganzer Schwarm von ihnen auf einmal auffliegt, ist es, als sei der Wind rosig und sichtbar geworden.
Der überwiegende Teil der Bevölkerung von Michihuácan lebte in zahlreichen Dörfern am Ufer des Binsensees, Pátzkuaro, oder duckte sich auf vielen kleinen Inseln im See. Wiewohl jedes Dorf sich vornehmlich vom Fisch- und Vogelfang ernährte, hatte es vom Uandákuari den Auftrag, irgend etwas Besonderes herzustellen oder irgendeine besondere Dienstleistung zu erbringen und damit alle anderen Dörfer zu versorgen. So stellte ein Dorf wohl kupfergetriebene Geräte her, ein anderes gewebtes Tuch, noch ein anderes Binsengeflecht, ein weiteres Lackgerät und so fort. Der Ort, nach welchem der See seinen Namen hat – Pátzkuaro –, der Marktflecken für all diese Erzeugnisse. Eine der Inseln mitten im See – Xarákuaro – war über und über mit Tempeln und Altären bedeckt und diente den Bewohnern sämtlicher umliegenden Dörfer als Zeremonienzentrum. Tzintzuntzani – Wo Die Kolibris Fliegen – war Hauptstadt und Mittelpunkt all dieser Tätigkeiten, und so lieferte es selbst nichts außer den Entscheidungen und Befehlen und Anordnungen, welche das Leben des gesamten Volkes regelten. Tzintzuntzani bestand ausschließlich aus Palästen und wurde nur von Adligen und ihren Familien, ihren Höflingen, Priestern, Dienern und dergleichen bewohnt.
Als unser Zug sich Tzintzuntzani näherte, war das erste von Menschenhand Geschaffene, das wir aus einer Entfernung von mehreren Malen Ein Langer Lauf erblickten, die uralte Iyákata, wie eine Pyramide auf Pore heißt, welche sich auf den Höhen östlich von den Palästen der Adligen erhob. Uralt, nicht besonders hoch, aber von ungewöhnlich länglicher Form, stellte diese Iyákata – eine merkwürdige Mischung aus quadratischen und runden Teilen – immer noch einen ehrfurchtgebietenden Steinhaufen dar, wiewohl er, längst aller Stein- und Stuckverkleidung und aller Farben verlustig gegangen, schon recht verfallen und von Pflanzenwuchs überwuchert war.
Man könnte meinen, daß die zahlreichen Paläste von Wo Der Kolibri Fliegt, da sie ganz aus Holz errichtet waren, weniger eindrucksvoll gewesen wären als die steinernen Paläste von Tenochtítlan, doch wiesen sie ihre eigene Art von Großartigkeit auf. Unter den weit vorspringenden Sparren der spitzgiebligen Dächer mit den nach oben gebogenen Ecken waren sie sämtlichst zwei Stockwerke hoch, und das Obergeschoß war rings von einer Außengalerie umgeben. Die massigen Zedernstämme, welche diese Gebäude trugen, die Säulen und die Geländer, die vielen unter dem Dachvorsprung sichtbaren Balken – alles war über und über mit schnörkeligen Schnitzereien und durchbrochener Arbeit bedeckt. Wo immer die Künstler noch hinkamen, waren emsig mit der Hand Lackarbeiten angebracht worden. Jeder Palast war verschwenderisch geschmückt, schimmerte in vielen Farben und Blattgold, aber neben dem Palast des Uandákuari nahmen alle anderen sich nichtig aus.
Schnellboten hatten Yquingare von unserem Nahen laufend unterrichtet, so daß uns eine Schar von Edelleuten samt Damen bereits erwartete. Um ungestört zu sein, war unser Zug zuvor zum Seeufer abgebogen, wo jeder allein gebadet und die feinsten Gewänder angelegt hatte. Erfrischt und stolz aussehend, gelangten wir in den Vorhof des Palastes – einen mauerumwehrten Garten mit großen, schattenspendenden Bäumen –, wo ich befahl, daß die Tragstühle abgesetzt würden. Ich entließ unsere Wachen und Träger, welche in die Quartiere der Dienerschaft geleitet und dort untergebracht wurden. Nur Zyanya, das Damenpaar und ich betraten durch den Garten das gewaltige Palastgebäude. Im allgemeinen Durcheinander der Begrüßung war die eigenartige Gehweise unserer Zwillinge nicht weiter aufgefallen.
Unter dem Willkommensgemurmel und dem Geplauder, von dem ich nicht allzuviel verstand, wurden wir durch das aus Zedernstämmen gebildete Portal des Palastes auf eine zedernbohlenbelegte Terrasse geführt, sodann durch eine große, offenstehende Tür, danach über einen kurzen Korridor bis in Yquingares Empfangshalle. Sie war zwei Stockwerke hoch und von gewaltigen Ausmaßen, ähnlich wie der Innenhof von Ahuítzotls Palast, nur mit einem Dach darüber. Treppen führten zu beiden Seiten auf eine Innengalerie, von welcher die Gemächer des Oberstocks abgingen. Der Uandákuari saß auf einem Thron, der nur ein niedriger Stuhl war, freilich sehr weit vom Eingang entfernt aufgestellt so daß man ein beträchtliches Stück bis zu ihm zurücklegen mußte, was offensichtlich dazu dienen sollte, jedem Besucher das Gefühl einzuflößen, er komme als Bittsteller.
So groß sie war, war die Halle voll von elegant gekleideten Herren und Damen, welche jedoch nach beiden Seiten zurückwichen, um einen Gang für uns freizumachen. Feierlich schritten ich, dann Zyanya und hinter uns das Damenpaar auf den Thron zu, und ich hob meinen Topas nur lange genug vor die Augen, um einen guten Blick auf Yquingare zu werfen. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal zuvor gesehen, anläßlich der Einweihung der Großen Pyramide, und damals war mein Sehvermögen noch sehr schlecht gewesen. War er damals bereits alt gewesen, so war er heute uralt: ein verschrumpelter Wicht von einem Mann. Vielleicht hatte seine natürliche Kahlköpfigkeit zu dieser Mode unter seinem Volk geführt; jedenfalls brauchte er kein scharfes Messer aus Obsidian, um sich seine Kahlköpfigkeit zu bewahren. Er hatte nicht nur keine Haare, sondern war auch noch zahnlos und fast stimmlos: mit leiser Stimme, die klang wie das Rascheln einer kleinen Samenschote, hieß er uns willkommen. Wenngleich ich froh war, endlich mein ausladendes Damenpaar loszuwerden, verspürte ich doch einige Gewissensbisse, den Rankenfingern dieses verknitterten und verhutzelten alten Unkrauts überhaupt etwas zu übergeben, und sei es auch nur eine Mißgeburt.
Ich überreichte Ahuítzotls Brief. Der Uandákuari gab ihn an seinen ältesten Sohn weiter und befahl ihm mürrisch, ihn laut vorzulesen. Kronprinzen waren in meiner Vorstellung stets junge Männer gewesen; doch dieser Kronprinz, Tzimtzicha, hätte er sein Haar wachsen lassen, wäre bereits grauhaarig gewesen; sein Vater jedoch kommandierte ihn immer noch herum, als ob er noch nicht das Schamtuch der Erwachsenen unter seinem Umhang getragen hätte.
»Ein Geschenk für mich, eh?« krächzte der Vater auf poré. Er heftete seine Triefaugen auf Zyanya, die hinter mir stand, und schmatzte begehrlich. »Ah. Könnte mal was Neues sein, gewiß. Wenn man ihr die Haare abrasierte und nur die weiße Strähne stehen ließe …«
Die entsetzte Zyanya trat einen Schritt zurück, und ich beeilte mich zu sagen: »Hier ist das Geschenk, Hoher Gebieter Yquingare«, und streckte die Hand nach dem Damenpaar aus. Ich ließ sie unmittelbar vor dem Thron Aufstellung nehmen und riß das purpurn gefärbte Gewand vom Halsausschnitt bis zum Saum auf. Die versammelte Menge hielt die Luft an, als ich ein so kostbares Stück Stoff zerriß – und dann noch einmal, als das Gewand zu Boden fiel und die Zwillinge nackt dastanden.
»Bei den gefiederten Eiern Kurikáuris!« hauchte der alte Mann und gebrauchte den Pore-Namen für Quetzalcóatl. Dann sagte er noch etwas, doch ging das im allgemeinen Lärm verwunderter Ausrufe unter, und ich konnte nur sehen, daß ihm der Speichel aus dem Mund floß. Das Geschenk war offensichtlich ein Erfolg.
Alle Anwesenden, darunter etliche noch am Leben befindliche alte Ehefrauen und Konkubinen, erhielten Gelegenheit, nahe an das Damenpaar heranzutreten und es genau in Augenschein zu nehmen. Etliche Männer und auch ein paar Frauen streckten mutig die Hand aus und betasteten den einen oder anderen Körperteil des einen oder anderen Mädchens. Als die speicheltreibende Neugier aller befriedigt war, stieß Yquingare krächzend einen Befehl aus, woraufhin die ganze Empfangshalle sich leerte und nur er selbst, wir Besucher, der Kronprinz und ein paar unbewegt in den Ecken des Raumes aufgestellte Wachen zurückblieben.
»Jetzt zum Essen«, sagte der alte Mann und rieb sich die trockenen Hände. »Muß schließlich einen guten Eindruck machen, eh?«
Kronprinz Tzimtzicha gab den Befehl an eine der Wachen weiter, welche daraufhin den Saal verließ. Gleich darauf kamen einige Diener, und breiteten das Speisetuch vor uns aus, und nachdem Zyanya die Blöße der Zwillinge wieder mit dem zerrissenen Gewand bedeckt hatte, nahmen wir alle sechs Platz. Ich vermute, daß dem Kronprinzen für gewöhnlich nicht gestattet war, zur selben Zeit wie sein Vater zu essen, doch sprach er fließend Náhuatl und mußte gelegentlich als Dolmetsch dienen, wenn der alte Mann oder ich selbst mit der Sprache des anderen nicht zurechtkamen. Zyanya fütterte unterdessen das Damenpaar mit einem Löffel, denn für gewöhnlich beförderten sie alles Essen, selbst den Schaum ihrer Schokolade, mit den Fingern in den Mund und kauten auch mit offenem Mund, was normalerweise alle Anwesenden ekelte.
Allerdings waren ihre Manieren auch nicht schlechter als die des alten Mannes. Nachdem wir anderen alle von dem köstlichen weißen Fisch vorgesetzt bekommen hatten, den es nur im Pátzkuaro-See gibt, sagte er zahnlos grinsend: »Eßt! Genießt! Kann selbst nichts anderes zu mir nehmen als Milch.«
»Milch?« fragte Zyanya höflich nach. »Milch von der Hirschkuh, Hoher Gebieter?«
Dann jedoch schossen ihre schwingengleichen Brauen in die Höhe. Eine sehr große, sehr kahlköpfige Frau trat ein, kniete nebem dem Uandákuari nieder, hob ihre Bluse in die Höhe und bot ihm eine sehr üppige Brust dar, welche – hätte sie ein Gesicht aufgewiesen – genausogut ihr haarloser Kopf hätte sein können. Während des Rests der Mahlzeit, und wenn Yquingare sich nicht gerade nach Einzelheiten über die Herkunft und den Erwerb des Damenpaars erkundigte, saugte er schmatzend zuerst an einer der nasenähnlichen Brustwarzen, dann an der anderen.
Zyanya vermied es, ihn nochmals anzusehen; desgleichen tat der Kronprinz; beide schoben nur die Speisen auf den goldeingelegten Lacktellern umher. Die Zwillinge ließen es sich nach Herzenslust schmecken, weil sie das immer taten, und ich selbst griff gleichfalls tüchtig zu, weil ich dann weniger auf die Gewöhnlichkeit im Benehmen von Yquingare achtete und mich mehr auf etwas anderes an ihm konzentrieren konnte. Gleich beim Eintreten war mir aufgefallen, daß die Wachen Speere in Händen hielten, deren Spitzen in einem warmen Kupferton glänzten, freilich in einem merkwürdig dunklen Kupferton. Sodann war mir aufgefallen, daß sowohl der Uandákuari als auch sein Sohn kurze Dolche aus dem gleichen Metall trugen, die ihnen an langen Schlaufen von der Hüfte herunterhingen.
Der alte Mann erging sich in einer weitschweifigen Rede an mich, die, wie ich argwöhnte, wohl darin enden würde, daß er mich fragte, ob ich ihm nicht auch noch ein zusammengewachsenes Paar Zwillingsmänner verschaffen könne, da fiel Zyanya – gleichsam, als könne sie einfach nicht mehr zuhören – ihm in die Rede und fragte: »Was ist das für ein köstliches Getränk?«
Der Kronprinz schien entzückt von dieser Unterbrechung, lehnte sich über das Speisetuch hinüber und erklärte ihr, das sei Chápari, ein aus Bienenhonig hergestelltes Getränk, außerordentlich stark, daß es sich empfehle, beim ersten Versuch nicht allzu viel zu trinken. »Köstlich!« rief sie aus und leerte den Lackbecher. »Wenn Honig so berauschend wirken kann, warum sind die Bienen dann nicht ständig betrunken?« Sie hatte einen Schluckauf und saß nachdenklich da; offenbar war sie mit ihren Gedanken immer noch bei den Bienen, denn als der Uandákuari versuchte, sich noch weiter sabbernd nach Einzelheiten zu erkundigen, erklärte Zyanya laut: »Aber vielleicht sind sie das ja. Wer will das wissen?« woraufhin sie sich selbst und mir noch einen Becher vollschenkte und dabei ein wenig verschüttete.
Der alte Mann seufzte, nuckelte noch ein letztes Mal an der speichelnassen Brust der Frau und versetzte ihr dann einen laut klatschenden Klaps, als Zeichen, daß die grauenhafte Mahlzeit beendet sei. Zyanya und ich tranken eilends noch unseren zweiten Becher Chápari aus. »Jetzt«, sagte Yquingare murmelnd, so daß Nase und Kinn etliche Male miteinander in Berührung kamen. Sein Sohn sprang auf, trat hinter ihn und half ihm auf die Füße.
»Einen Augenblick, Hoher Gebieter«, sagte ich. »Laßt mich dem Damenpaar noch ein paar letzte Anweisungen geben.«
»Anweisungen?« sagte er argwöhnisch.
»Damit sie auch wirklich willfährig sind«, erklärte ich und kniff das Auge zusammen wie ein erfahrener Zuhälter. »Da sie noch Jungfrau sind, könnten sie sich abscheulich zieren.«
»Ah?« entfuhr es ihm heiser, und er erwiderte mein Zwinkern. »Jungfrau auch noch? Willfährig, jawohl, um alles auf der Welt, willfährig sollen sie sein.«
Zyanya und Tzimtzicha bedachten mich gleichermaßen mit einem verächtlichen Blick, als ich die Zwillinge beiseiteführte und ihnen Anweisungen erteilte – die dringenden Anweisungen, welche mir in diesem Augenblick erst eingefallen waren. Es war nicht einfach, und ich mußte sehr raschzüngig sprechen, dazu noch in ihrer Muttersprache Coatlicamac, und sie waren nun einmal schrecklich begriffsstutzig. Zuletzt nickten sie jedoch kurz und schienen einigermaßen begriffen zu haben, und mit einem ebenso hoffnungsvollen wie verzweifelten Achselzucken schob ich sie auf den Uandákuari zu.
Ohne jede Widerrede folgten sie ihm die Treppe hinauf; halfen ihm sogar, emporzusteigen, was so aussah, als ob ein Krebs einer Küchenschabe half. Kurz bevor sie den umlaufenden Balkon erreichten, drehte die Schabe sich noch einmal um und rief dem Sohn etwas zu. Tzimtzicha nickte gehorsam und wandte sich dann wieder uns zu, um uns zu fragen, ob ich und meine Gemahlin bereit wären, uns zurückzuziehen. Sie antwortete nur mit einem neuerlichen Schluckauf, woraufhin ich erklärte, ja, das seien wir: es sei immerhin ein langer Tag gewesen. Wir folgten dem Kronprinzen die Treppe auf der anderen Seite des Empfangssaals hinauf.
So kam es, daß Zyanya und ich in Tzintzuntzaní zum ersten- und einzigen Mal in unserer Ehe nicht allein schliefen. Allerdings bitte ich zu berücksichtigen, ehrwürdige Patres, daß wir von dem starken Chápari beide ein wenig betrunken waren. Doch wie dem auch sei, das ganze war nicht das, wonach es sich anhört; ich will mich bemühen, es zu erklären.
Ehe wir aus Tenochtítlan abgereist waren, hatte ich versucht, Zyanya klarzumachen, daß die Purémpecha eine besondere Vorliebe für ausgefallene, ausschweifende, ja, sogar wider die Natur gerichtete sexuelle Praktiken hätten. Wir waren übereingekommen, weder Überraschung noch Abscheu zu bekunden, ganz gleich, welche Gesten der Gastfreundschaft dieser Art unsere Gastgeber uns bieten mochten, und daß wir so höflich wie möglich dankend ablehnen wollten. Zumindest bildeten wir uns ein, uns darauf geeinigt zu haben. Als es dann soweit war, und ehe wir erkannten, worum es überhaupt ging, waren wir bereits mitten drin und konnten nicht mehr zurück. Auch packte uns darob keineswegs das Entsetzen, weil wir es – wenngleich wir uns hinterher nie darüber klar werden konnten, ob es nun verrucht oder ganz harmlos gewesen war – überaus köstlich fanden.
Auf dem Weg die Treppe hinauf ins Obergeschoß, drehte Tzimtzicha sich um und zwinkerte mir ähnlich zuhälterhaft zu wie zuvor ich seinem Vater, und erkundigte sich: »Wünschen der Ritter und seine Dame getrennte Räume? Getrennte Lagerstätten?«
»Aber ganz gewiß nicht«, erwiderte ich – und sagte das recht frostig, weil ich befürchtete, daß er als nächstes fragen würde: »Und jeder einen anderen Bettgenossen?« oder irgendwelche anderen unschicklichen Vorschläge machen würde.
»Ein eheliches Schlafgemach also, mein Herr«, sagte er daraufhin durchaus freundlich. »Doch manchmal«, fuhr er im Plauderton fort, »ist nach einem anstrengenden Reisetag auch noch das liebendste Ehepaar abgespannt. Der Hof von Tzintzuntzani würde es sich nie verzeihen und meinen, als Gastgeber versagt zu haben, wenn seine Gäste das Gefühl hätten, zu – nun, ja – müde zu sein, einander auch nur eine einzige Nacht nicht zu genießen. Aus diesem Grunde bieten wir ihnen etwas an, was wir Atánatanárani nennen. Es steigert die Kraft des Mannes und die Empfänglichkeit der Frau, und zwar in einem Maße, wie sie sie bisher möglicherweise noch nie erlebt haben.«
Das Wort Atánatanárani bedeutete, soweit ich die darin enthaltenen Wortelemente begriff, nichts weiter als »Ein Zusammenbündeln«. Noch ehe ich nachfragen konnte, wieso ein Zusammenbündeln irgend etwas zu steigern imstande sei, ließ er uns mit geneigtem Kopf in unsere Schlafkammer eintreten, zog sich rückwärtsgehend zurück und schloß behutsam die lackierte Tür.
Der lampenerhellte Raum enthielt die größte, tiefste und weicheste Lagerstatt aus aufeinandergetürmten Decken, die ich je gesehen hatte. Außerdem erwarteten uns zwei ältere Sklaven, ein Mann und eine Frau. Argwöhnisch betrachtete ich sie, doch baten sie nur um die Erlaubnis, uns das Bad zu bereiten. An die Schlafkammer angrenzend, hatte jeder von uns seine eigene Badestube samt Badezuber und bereits dampferfülltem Schwitzbad. Mein Diener half mir, mich im Zuber zu waschen und war mir hinterher im Schwitzbad behilflich, mir den ganzen Körper mit Bimsstein abzureiben, doch sonst tat er nichts, jedenfalls nichts Ungehöriges. Offenbar hatte der Kronprinz unter »Atánatanárani« nichts weiter als »Baden und Schwitzen« verstanden. Traf das zu, handelte es sich lediglich um eine zivilisierte Annehmlichkeit und nicht um etwas Unanständiges; und es tat mir ausgesprochen wohl. Ich war erfrischt, meine Haut prickelte, und ich fühlte mich durchaus im Vollbesitz meiner »Kraft«, um – wie Tzimtzicha es auszudrücken beliebt hatte – meine Frau »zu genießen«.
Unsere Sklaven verneigten sich und zogen sich zurück, und als wir aus unseren Badestuben heraustraten, stellten wir fest, daß die Schlafkammer dunkel war. Die Vorhänge waren zugezogen, die Öllampen gelöscht. Infolgedessen dauerte es eine Weile, ehe wir in dem großen Schlafgemach einander und noch etwas länger, ehe wir die riesige Lagerstatt gefunden hatten. Die Nacht war lau; nur die oberste Decke war zurückgeschlagen worden; wir schlüpften darunter, legten uns auf den Rücken und waren es für den Augenblick zufrieden, einfach weich wie auf Wolken gebettet dazuliegen.
Verschlafen murmelte Zyanya: »Weißt du, Záa, ich habe immer noch das Gefühl, betrunken zu sein wie eine Biene.« Dann durchzuckte sie es unversehens ganz leicht, und sie stieß überrascht die Luft aus. »Ayyo, bist du aber hitzig! Du hast mich ja völlig überrumpelt.«
Ich hatte gerade das gleiche sagen wollen. Ich griff nach unten, wo eine kleine Hand mich sanft berührte – ihre Hand, die ich annahm – und sagte voller Verwunderung: »Zyanya?«, doch da sagte sie bereits:
»Záa, ich fühle … Das muß ein Kind sein da unten. Das mit meinen … mit mir spielt.«
»Bei mir ist das auch so«, sagte ich von einem scheuen Schrecken erfüllt. »Sie haben auf uns gewartet, unter den Decken. Was machen wir jetzt?«
Ich erwartete, daß sie sagte: »Strample mit den Beinen!« oder? »Schrei doch!« – oder daß sie beides selber täte. Statt dessen ging ihr Atem unversehens heftig, stieß sie ein unterdrücktes, honigtrunkenes Kichern aus und wiederholte meine Frage: »Was machen wir jetzt? Was macht deins ?«
Ich sagte es ihr.
»Meins auch.«
»Unangenehm ist es nicht.«
»Nein. Das wahrhaftig nicht.«
»Sie müssen darauf abgerichtet sein.«
»Aber nicht zu ihrer eigenen Befriedigung. Dazu ist dieses jedenfalls viel zu jung.«
»Nein. Dazu, unsere Lust zu steigern, wie der Prinz gesagt hat.«
»Vielleicht werden sie bestraft, wenn wir sie fortschicken.«
So, wie ich es erzähle, klingt dieser Wortaustausch kühl und leidenschaftslos. Das war er aber durchaus nicht. Wir sprachen beide mit belegter Stimme, immer wieder unterbrochen durch unwillkürliches Keuchen und Bewegungen unsererseits.
»Ist deins ein Junge oder ein Mädchen. Ich reiche nicht weit genug runter, um …
»Ich auch nicht. Spielt das eine Rolle?«
»Nein. Der Kopf ist glatt, doch das Gesicht fühlt sich an, als ob es schön sein könnte. Die Wimpern sind so lang, daß – ah! ja! – mit den Wimpern!«
»Das hat man ihnen gut beigebracht.«
»Ach, köstlich! Ob man sie wohl nur dazu abgerichtet hat, mit den … Ich meine …«
»Laß uns tauschen. Vielleicht finden wir es dann heraus.«
Die beiden Kinder hatten nichts dagegen, unter der Decke die Plätze zu tauschen, was jedoch ihrer Leistung keinen Abbruch tat. Möglich, daß der Mund meines neuen um ein weniges wärmer und feuchter war als der seines Vorgängers; schließlich kam er gerade von …
Nun, um nicht über Gebühr bei dieser Episode zu verweilen: Zyanya und ich standen bald in Flammen, küßten uns gierig und umschlangen einander und kratzten uns – und taten andere Dinge oberhalb des Nabels, während die Kinder unten womöglich noch geschäftiger zu Werke gingen. Als ich mich nicht länger zurückhalten konnte, begatteten wir uns wie die Jaguare, die Kinder schlüpften zwischen uns heraus und ergingen sich auf unserem ganzen Leib, winzige Finger hier, winzige Zungen dort.
Es geschah nicht nur einmal, sondern viele Male – wie oft, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Jedesmal, wenn Zyanya und ich innehielten, um eine Pause einzulegen, kuschelten die Kinder sich eine Weile an unsere schwer atmenden und schwitzenden Körper. Doch dann begannen sie mit der äußersten Behutsamkeit aufs Neue, uns zu streicheln und zu liebkosen. Sie wechselten mehrere Male von ihr zu mir und umgekehrt, werkten manchmal allein, manchmal zusammen, und gelegentlich war es so, daß die beiden und auch noch meine Frau mir ihre Aufmerksamkeiten zuteil werden ließen – um sich gleich darauf gemeinsam mit mir ihr zuzuwenden. Es nahm kein Ende, bis sie und ich einfach nicht mehr konnten und wir völlig entkräftet entschlummerten. Wir fanden niemals heraus, welchen Geschlechts, Alters oder Aussehens unsere kleinen Bettgenossen waren. Als ich in aller Morgenfrühe geweckt wurde, waren sie verschwunden.
Was mich weckte, war ein leises Kratzen an der Tür. Noch nicht ganz bei mir, erhob ich mich und machte auf. Ich sah nichts weiter als die frühmorgendliche Dunkelheit der Galerie und des riesigen Schachts der Halle unten, doch dann kratzte mich ein Finger am bloßen Bein. Ich schrak zusammen, blickte hinunter, und da kroch das Damenpaar, genauso nackt wie ich – auf allen Achten, sollte ich wohl sagen; wieder der Krebs – und beide grinsten wollüstig zu meinem Gemächt empor.
»Schönes Ding«, sagte Links.
»Seins auch«, sagte Rechts und wies ruckend mit dem spitz zulaufenden Kopf – in Richtung auf das Schlafgemach des alten Mannes, wie ich annahm.
»Was macht ihr hier?« fuhr ich sie so erbost an, wie es mir im Flüsterton möglich war.
Eine von ihren acht Extremitäten reichte herauf und drückte mir Yquingares Dolch in die Hand. Ich starrte auf das dunkle Metall, das im Dämmer womöglich noch dunkler wirkte als sonst, und fuhr mit dem Daumen darüber hin. Wahrhaftig, hart und scharf!
»Ihr habt es geschafft!« sagte ich, und so etwas wie Dankbarkeit, ja, fast wie Zuneigung zu dem Ungeheuer, das da zu meinen Füßen hockte, stieg in mir auf.
»Leicht«, sagte Rechts.
»Hat Kleider neben Lagerstatt gelegt«, sagte Links.
»Hat das da in mich reingesteckt«, sagte Rechts und tippte mit dem Finger gegen mein Tepúli, daß ich unwillkürlich zurückzuckte. »Glücklich.«
»Langweilig«, sagte Links. »Nichts zu tun. Nur durchgeschüttelt zu werden. Greif runter nach Kleidern, taste herum, finde Dolch.«
»Sie hält Dolch, während ich glücklich«, sagte Rechts.
»Ich halte Dolch, während sie glücklich. Sie hält Dolch, während …«
»Und jetzt?« unterbrach ich sie.
»Schnarcht jetzt endlich. Bringen Dolch. Jetzt gehen und wecken. Wollen mehr glücklich.«
Als ob sie es kaum erwarten könnten und ehe ich ihnen recht danken konnte, krochen die Zwillinge im Krebsgang die dunkle Galerie entlang. Infolgedessen dankte ich statt dessen schweigend den kraftsteigernden Eigenschaften der Muttermilch und kehrte in unser Schlafgemach zurück, um den Sonnenaufgang zu erwarten.
Die Angehörigen des Hofstaats von Tzimtzicha leisteten Zyanya und mir zum Frühstück Gesellschaft, und bei dieser Gelegenheit sagte ich dem älteren Prinzen, ich und mein Troß würden jetzt gern die Rückreise antreten. Sein Vater finde offenbar großen Gefallen an seinem Geschenk; wir wollten weder säumen, noch ihn in seinem Genuß stören, bloß damit er ungeladene Gäste unterhalte.
Höflich sagte der Prinz: »Nun, wenn Ihr meint, Ihr müßt aufbrechen, werden wir Euch nicht aufhalten. Nur eine Formalität ist noch zu beachten: Ihr und Eure Wachen und Sklaven, Eure Habseligkeiten und Euer Gepäck und was Ihr sonst noch mitnehmt, müssen durchsucht werden. Es richtet sich nicht gegen Euch, des könnt Ihr gewiß sein. Selbst ich muß mich dem unterziehen, wenn ich den Hof verlasse, um irgendwo hinzureisen.«
Ich zuckte so gleichmütig mit den Achseln, wie es einem nur möglich ist, wenn sich eine Rotte von Palastwächtern um einen schart. Taktvoll und ehrerbietig, doch deshalb nicht weniger gründlich, klopften sie Zyanyas und meine Kleidung ab und baten uns dann höflich, uns für einen Augenblick unserer Sandalen zu entledigen. Im Hof taten sie das gleiche mit allen unseren Leuten, ließen sämtliche Lasten auspacken und fingerten sogar an den Kissen der Tragstühle herum. Mittlerweile waren auch andere aufgestanden, wurlten zwischen uns herum, die meisten Kinder des Palasts, und verfolgten die Durchsuchung mit leuchtenden und wissenden Augen. Ich sah Zyanya an. Sie faßte eines der Kinder nach dem anderen ins Auge, offensichtlich bemüht, herauszufinden, welches von ihnen … Als sie mich dabei ertappte, wie ich lächelte, überzog sich ihr Gesicht mit dunklerer Farbe als die – vom Holzgriff befreite – Klinge es war, welche ich unter meinem Haar im Nacken befestigt hatte.
Die Wachen meldeten Tzimtzicha, wir nähmen nichts weiter mit als das, was wir auch hergebracht hätten. Seine Wachsamkeit schlug unversehens in reine Freundlichkeit um, und er sagte: »Dann müssen wir darauf bestehen, daß Ihr zumindest etwas mitnehmt, als Gegengeschenk für Euren Uey-Tlatoáni.« Woraufhin er mir einen kleinen Lederbeutel reichte, welcher – wie ich später feststellte – eine Handvoll der feinsten Austernherzperlen enthielt. »Und«, fuhr er fort, »etwas noch Kostbarereres. Sie wird wohl gerade in Euren übergroßen Tragstuhl hineinpassen.
Ich weiß zwar nicht, was mein Vater ohne sie machen will, denn immerhin ist es sein kostbarster Besitz –, aber er hat es nun einmal befohlen.«
Woraufhin er uns die gewaltige, kahlköpfige und großbrüstige Frau übergab, welche den alten Mann gestern beim Abendessen genährt hatte.
Sie war mindestens doppelt so schwer, wie es die beiden Zwillinge gewesen waren, und den ganzen Rückmarsch über verfluchten die Träger ihr Los. Etwa jeden Ein Langer Lauf mußte die gesamte Kolonne halten und stand unruhig herum, während sie sich eigenhändig molk, um den Druck in ihren Brüsten zu lindern. Zyanya lachte den ganzen Rückweg über und lachte sogar, als wir Ahuítzotl das Geschenk übergaben, woraufhin er befahl, mich auf der Stelle mit der Würgschlinge zu töten. Als ich mich jedoch beeilte, ihm zu erklären, welche Kräfte dieses Milchtier in dem runzelig-verdorrten Yquingare zu wecken imstande sei, machte er ein nachdenkliches Gesicht, nahm den Befehl, mich zu erwürgen, wieder zurück, und Zyanya lachte nur noch mehr – so daß zuletzt weder ich noch der Verehrte Sprecher sich enthalten konnten, in ihr Lachen einzustimmen.
Wenn Ahuítzotl jemals in den kraftspendenden Genuß der Milch dieser Frau kam, ist sie ein womöglich kostbareres Beutestück gewesen als – wie es sich herausstellten sollte – der Dolch aus dem harten Metall. Unsere Mexíca-Schmiede untersuchten ihn mit größter Gründlichkeit, kratzten tief daran herum, nahmen Feilspäne davon und gelangten zuletzt zu dem Schluß, daß es sich um eine Mischung aus geschmolzenem Kupfer und geschmolzenem Zinn handelte. Doch so viele Versuche sie auch machten, sie kamen nie hinter das richtige Mischungsverhältnis, oder die richtige Temperatur beim Mischen oder irgend etwas anderes – kurz, sie schafften es nie, das Metall nachzumachen.
Als wir aus Michihuácan heimkehrten, waren Zyanya und ich seit rund sieben Jahren Mann und Frau und galten in den
Augen unserer Freunde gewiß als altes Ehepaar; wir selbst, sie und ich, betrachteten unser Leben als festgelegt und gegen jede Veränderung und jede Unterbrechung gefeit; dabei waren wir glücklich und zufrieden miteinander und wollten gar nichts anderes. Die Götter jedoch wollten es anders, und Zyanya ließ es mich auf ihre Weise wissen:
Eines Nachmittags hatten wir der Ersten Dame in ihrem Palast einen Besuch abgestattet. Beim Hinausgehen sah ich auf einem Gang die Milchtierfrau, welche wir aus Tzintzuntzani mitgebracht hatten. Ich vermute, daß Ahuítzotl sie als einfache Dienerin im Palast leben ließ, doch diesmal war ich es, der in der Erwartung, daß Zyanya darüber lachen würde, irgendeine witzige Bemerkung über seine »Amme« machte. Doch statt zu lachen, erklärte sie mit einer Schärfe, wie ich sie sonst gar nicht an ihr kannte.
»Záa, du solltest keine üblen Witze über Milch machen. Über Muttermilch. Und über Mütter ganz allgemein.«
Ich sagte: »Wenn es dich kränkt, ganz gewiß nicht. Aber warum sollte es dich kränken?«
Ein wenig verlegen, wohl auch bänglich und übervorsichtig sagte sie:
»Irgendwann um die Jahreswende werde ich … werde ich … selbst ein Milchtier sein.«
Ich starrte sie an. Es brauchte eine Weile, ehe ich begriff, doch noch ehe ich etwas dazu sagen konnte, fügte sie hinzu: »Ich vermute es schon seit einiger Zeit, aber erst vorgestern hat der Arzt es mir bestätigt. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie ich es dir sanft und liebevoll beibringen könnte. Und jetzt« – sie schniefte unglücklich – »jetzt platze ich einfach damit heraus. Záa, wohin gehst du? Záa, bleib hier!«
Ich hatte mich zwar würdelos in Trab gesetzt, doch einzig und allein, um einen Tragstuhl des Palastes zu besorgen, damit sie den Weg zurück in unser Haus nicht zu Fuß zurücklegen müsse. Sie lachte und sagte: »Das ist doch lächerlich!« als ich darauf bestand, sie unbedingt in die Sitzkissen heben zu wollen. »Aber bedeutet das, daß du dich freust, Záa?«
»Mich freue?« rief ich aus. »freue?«
Daheim setzte Türkis ein besorgtes Gesicht auf, als sie sah, daß ich der protestierenden Zyanya die wenigen Stufen hinaufhalf. Ich jedoch schrie sie an: »Wir bekommen ein Baby!«, woraufhin sie einen kleinen Freudenschrei ausstieß. Daraufhin kam Kitzlig herbeigelaufen und ich befahl: »Kitzlig und Türkis, macht euch augenblicklich an die Arbeit und reinigt gründlich die Kinderkammer! Trefft alle nötigen Vorbereitungen! Lauft und kauft alles, was man braucht! Eine Wiege. Blumen. Stellt überall Blumen auf!«
»Záa, wirst du jetzt wohl still sein?« sagte Zyanya halb belustigt, halb verlegen. »Es wird noch etliche Monde dauern! Das mit der Kammer hat Zeit.«
Doch die beiden Sklavinnen waren bereits gehorsam und frohlockend die Treppe hinaufgerannt. Und mich über ihre Proteste hinwegsetzend, führte ich auch Zyanya hinauf und bestand darauf, daß sie sich nach dem anstrengenden Besuch im Palast ausruhte. Dann ging ich nach unten und genehmigte mir zur Feier des Tages einen Becher Octli und eine Picietl, setzte mich im Dämmerlicht nieder, saß da und kostete meine Freude ganz allein für mich aus.
Nach und nach legte sich mein Überschwang, gab ich mich ernsteren Überlegungen hin, und allmählich ging mir das eine oder andere auf, warum Zyanya gezaudert hatte, mir mitzuteilen, was um die Jahreswende geschehen sollte. Mit den Fingern zurückrechnend, kam ich zu dem Schluß, daß sie unser Kind in jener Nacht in Yquingares Palast empfangen haben mußte, worüber ich schmunzeln mußte. Zweifellos hatte diese Tatsache Zyanya einigermaßen in Verlegenheit gebracht. Gewiß wäre es ihr lieber gewesen, das Kind wäre unter weniger aufregenden Umständen gezeugt worden. Nun, dachte ich, es ist weit besser, ein Kind in Flammen stehend zu empfangen als in gleichgültiger Pflichterfüllung, wie es bei den meisten Eltern der Fall ist.
Das Schmunzeln freilich verging mir, als mir der nächste Gedanke kam. Wer weiß, ob das Kind nicht vom ersten Augenblick an behindert war, denn immerhin war es möglich, daß es mit meiner Sehschwäche zur Welt kam. Gewiß, es würde sich nicht jahrelang täppisch und tastend seinen Weg suchen müssen wie ich, ehe ich den Sehkristall entdeckt hatte. Gleichwohl tat mir ein Kind leid, daß lernen mußte, einen Topas vor die Augen zu halten, ehe es lernte, wie es einen Löffel zum Mund führt, und das ohne dies Hilfsmittel rührend unfähig sein würde, seine kleine Welt zu entdecken, und das von seinen Spielkameraden herzlos Gelb Auge oder dergleichen genannt wurde … Sollte es ein Mädchen werden, wäre eine solche Nahsichtigkeit kein so großer Nachteil. Weder ihre Kinderspiele, noch das, womit sie sich als Erwachsene später beschäftigte, würden besonders davon abhängen, wie gut ihre Sinne ausgebildet wären. Mädchen wetteifern ja nicht so sehr miteinander wie Knaben, bis zu dem Alter wenigstens nicht, wo sie darauf aus waren, den begehrenswertesten Mann für sich zu gewinnen, und dann kam es weniger darauf an, wie meine Tochter sah, als vielmehr darauf, wie sie aussah. Aber einmal angenommen – ein quälender Gedanke! –, sie sah auch noch aus wie ich! Ein Knabe würde sich darüber freuen, die stattliche Größe seines Großvaters Kopf Neiger über mich geerbt zu haben. Ein Mädchen hingegen wäre untröstlich und würde mich dieserhalb hassen, und ich wiederum würde mich vermutlich von einem solchen Anblick abgestoßen fühlen. Schon malte ich mir aus, daß unsere Tochter genauso aussah wie die gewaltige Milchtierfrau …
Und das brachte mich dazu, mir einer weiteren Sorge bewußt zu werden. Während der vielen Tage vor dem Tag, da das Kind empfangen worden war, war Zyanya dem monströsen Damenpaar ganz nahe gewesen! Immerhin war wohlbekannt, daß zahllose Kinder als Krüppel oder Behinderte zur Welt kamen, wenn ihre Mütter auch nur weit weniger schauerlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen waren. Schlimmer noch: Zyanya hatte gesagt: »Irgendwann um die Jahreswende.« Und genau in diese Zeit fielen die fünf Nemontemtin-Tage! Ein Kind, welches in diesen namenlosen und unlebendigen Tagen zur Welt kam, galt als unter so sehr unglücklichen Verheißungen stehend geboren, daß man von seinen Eltern erwartete, ja, sie geradezu ermunterte, es schlicht verhungern zu lassen. So abergläubisch, als daß ich das fertiggebracht hätte, war ich nicht. Aber immerhin: zu welcher Bürde, welchem Ungeheuer oder Bösewicht konnte ein solches Kind heranwachsen …?
Ich rauchte Picietl und trank Octli, bis Türkis kam, und erkannte, in welch einem Zustand ich mich befand. »Schämt Euch, Herr!« sagte sie und holte Stern Sänger mich zu Bett zu bringen.
»Ich breche noch zusammen, ehe es soweit ist«, sagte ich am nächsten Morgen zu Zyanya. »Machen sich denn alle Väter soviel Angst und Sorgen?«
Sie lächelte und sagte: »Jedenfalls bei weitem nicht soviel wie Mütter sie sich machen, glaube ich. Nur – eine Mutter weiß, daß sie nichts, aber auch gar nichts ändern kann.«
Seufzend sagte ich: »Einen anderen Weg sehe ich für mich auch nicht. Ich kann nichts anderes tun, als dich zu hegen und zu pflegen und dafür zu sorgen, daß dir nicht das geringste zustößt und du nicht …«
»Tu das, und ich breche zusammen!« rief sie, als ob es ihr ernst sei. »Bitte, Liebling, such dir etwas anderes, womit du dich beschäftigen kannst.«
Von dieser Zurückweisung getroffen und ernüchtert, schlurfte ich davon, mein Morgenbad zu nehmen. Doch nachdem ich hinuntergekommen war und gefrühstückt hatte, bot sich eine Ablenkung in Form eines Besuchers – Cozcatl kam uns besuchen.
»Ayyo, wie kommt es, daß du schon davon gehört hast?« rief ich aus.
»Immerhin ist es sehr liebenswürdig von dir, uns sofort besuchen zu kommen.«
Meine Begrüßung schien ihn verlegen zu machen. Er sagte: »Wovon soll ich gehört haben? Eigentlich bin ich gekommen …«
»Nun, daß wir ein Baby erwarten«, sagte ich.
Trauer malte sich flüchtig auf seinem Gesicht, ehe er sagte: »Das freut mich für dich, Mixtli, und für dich, Zyanya. Ich flehe die Götter an, euch mit einem gesunden Kind zu beglücken.« Dann jedoch murmelte er: »Das Zusammentreffen hat mich nur einen Augenblick verwirrt. Ich bin nämlich hergekommen, um dich um die Erlaubnis zu bitten zu heiraten.«
»Zu heiraten? Aber das ist ja eine genauso herrliche Neuigkeit wie meine!« Ich schüttelte den Kopf. »Man stelle sich vor … der Knabe Cozcatl, und jetzt ist er schon so alt, daß er sich eine Frau nehmen kann. Manchmal merkt man gar nicht, wie die Zeit verfliegt. Aber was soll das heißen – mich um Erlaubnis zu fragen?«
»Die Frau, die ich heiraten möchte, ist nicht frei, zu tun, was sie möchte. Sie ist eine Sklavin.«
»So?« Ich begriff immer noch nicht. »Aber du kannst es dir doch gewiß leisten, sie freizukaufen.«
»Das kann ich«, bestätigte er. »Aber wirst du sie auch verkaufen? Ich möchte Quequelmiqui heiraten, und sie mich.«
»Was?«
»Durch euch habe ich sie kennengelernt, und ich gestehe, daß viele meiner Besuche bei euch so etwas wie ein Vorwand waren, damit sie und ich eine kleine Weile Zusammensein konnten. Der größte Teil meiner Werbung hat sich in eurer Küche abgespielt.«
Ich war wie vom Donner gerührt. »Kitzlig? Unser kleines Hausmädchen? Aber sie ist doch fast noch ein Kind!«
Sanft machte er mich darauf aufmerksam: »Das war sie, als ihr sie kauftet, Mixtli. Die Jahre sind wirklich geflogen.«
Ja, in der Tat, dachte ich. Kitzlig konnte nur ein oder zwei Jahre jünger sein als Cozcatl, und der war – mal sehen –, nun ja, er war immerhin schon zweiundzwanzig. Großmütig sagte ich daher:
»Du hast meine Erlaubnis – und meine Glück- und Segenswünsche dazu, Cozcatl. Aber warum sie kaufen? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Sie soll das erste unserer Hochzeitsgeschenke für dich sein. Nein, nein – keine Widerrede! Ich bestehe darauf. Wäre sie nicht durch deine Schule gegangen, wäre sie nie wert gewesen, als mögliche Ehefrau in Betracht gezogen zu werden. Ich weiß noch, wie sie war, als sie zu uns kam. Dieses ewige Gekicher!«
»Dann danke ich dir, Mixtli, und sie wird das gleiche tun. Und außerdem möchte ich noch sagen« – abermals schien er zutiefst verwirrt , »daß ich ihr selbstverständlich gesagt habe, was mit mir los ist und ihr von der Wunde erzählt habe, die ich davongetragen habe. Sie ist sich also darüber im klaren, daß sie nie Kinder bekommen kann, so wie du und Zyanya.«
Erst da ging mir auf, wie meine völlig unvermutete Eröffnung ihn in seinem eigenen Hochgefühl getroffen haben mußte. Ohne etwas davon zu ahnen und völlig unabsichtlich, war ich grausam gewesen. Doch ehe ich Worte der Entschuldigung dafür fand, fuhr er fort:
»Quequelmiqui schwört, daß sie mich liebt und mich so nehmen will wie ich bin. Ich muß mir nur sicher sein, daß sie sich über das Ausmaß meiner – nun ja, das Ausmaß – meiner Behinderung im klaren ist. Bei den Liebkosungen, die wir in der Küche ausgetauscht haben, sind wir nie soweit gegangen …«
Er wand sich vor Verlegenheit, und so versuchte ich, ihm zu helfen. »Du meinst, du hast sie noch nicht …«
»Sie hat mich noch nicht einmal unbekleidet gesehen«, platzte es aus ihm heraus. »Und sie ist eine Jungfrau und nicht eingeweiht in das, was für eine Beziehung zwischen Mann und Frau bestehen kann.«
Ich erklärte: »Das wird Zyanya übernehmen. Schließlich ist es ihre Pflicht als ihre Herrin, sich von Frau zu Frau mit ihr zu unterhalten. Ich bin sicher, Zyanya wird sie über die intimeren Seiten des Ehelebens gründlich aufklären.«
»Das wäre sehr freundlich«, sagte Cozcatl. »Aber hinterher – würdest du bitte auch noch mit ihr sprechen, Mixtli? Du kennst mich länger und – hm, besser als Zyanya. Du könntest Quequelmiqui genauer sagen, wo meine Grenzen als Ehemann liegen. Würdest du das für mich tun?«
Ich sagte: »Ich werde mein Bestes tun, Cozcatl, aber ich warne dich. Ein jungfräulich unschuldiges Mädchen wird schon von Zweifeln und Ängsten geplagt, wenn es darum geht, einen Burschen mit den selbstverständlichsten körperlichen Attributen zum Mann zu nehmen. Wenn ich ihr unverblümt sage, was sie sich von dieser Ehe erwarten kann – und was nicht – könnte sie das noch weiter verängstigen.«
»Sie liebt mich«, bekannte Cozcatl aus vollem Herzen. »Sie hat mir ihr Wort gegeben. Ich kenne ihr Herz.«
»Dann bist du einzigartig unter den Männern«, erklärte ich trocken. »Ich weiß nur soviel: für eine Jungfrau ist eine Ehe gleichbedeutend mit Blumen, Vogelgesang und Schmetterlingsgegaukel. Wenn ich Kitzlig gegenüber plötzlich anfange, von Fleisch, Organen und Geweben zu reden, werde ich bestenfalls einen schönen Traum zerstören. Schlimmstenfalls schreckt sie aber entsetzt davor zurück, dich oder überhaupt irgendeinen Mann zu heiraten. Dafür würdest du mir bestimmt nicht danken.«
»Doch würde ich das«, erklärte er. »Quequelmiqui verdient Besseres, als eine schlimme Überraschung in ihrer Hochzeitsnacht. Kommt sie zu dem Schluß, mir einen Korb zu geben, dann lieber jetzt als später. Ach, es würde mich vernichten, gewiß. Wenn die gute und liebende Quequelmiqui mich nicht haben will, dann bestimmt auch nie eine andere Frau. Dann werde ich mich freiwillig zu den Kriegern melden, irgendwo in den Krieg ziehen und darin fallen. Doch was auch geschieht, Mixtli – nie würde ich dir einen Vorwurf daraus machen. Nein, ich flehe dich an –, tu mir diesen Gefallen.«
Folglich berichtete ich Zyanya, nachdem er gegangen war, von dieser Neuigkeit und seinem Ansinnen. Sie rief Kitzlig aus der Küche, und das Mädchen kam, errötete bis unter die Haarwurzeln, zitterte und verschlang ihre Finger in den Blusensaum. Beide umarmten wir sie und gratulierten ihr, die Liebe eines so tüchtigen jungen Mannes errungen zu haben. Dann legte Zyanya ihr mütterlich den Arm um die Hüfte und führte sie nach oben, während ich mich bei meinen Farbtöpfen und dem Borkenpapier niederließ. Nachdem ich die Freilassungsurkunde ausgefertigt hatte, rauchte ich unruhig eine Poquiétl – mehrere sogar, bis Kitzlig wieder herunterkam.
War sie zuvor schon rot übergossen gewesen, so glühte sie jetzt wie ein Kohlenbecken und zitterte wie Espenlaub. Vielleicht machte ihre Aufregung sie noch hübscher, als sie es sonst war, doch ging mir offen gestanden zum erstenmal auf, daß sie in der Tat ein höchst reizvolles Mädchen war.
Vermutlich hat man nie recht ein Auge für das, was man täglich im Hause vor sich sieht, bis jemand von außerhalb kommt und einem zu etwas Bestimmtem beglückwünscht.
Ich reichte ihr das Papier, und sie sagte: »Was ist das, Herr?«
»Eine Urkunde, in welcher steht, daß die freie Frau Quequelmiqui nie wieder einen Menschen ›Herr‹ nennen muß. Versuch vielmehr, in mir einen Freund der Familie zu sehen, denn Cozcatl hat mich gebeten, dir einige Dinge zu erklären.«
Ich machte nicht viel Umschweife und ging, fürchte ich, nicht sonderlich zartfühlend vor. »Die meisten Männer haben etwas, was man Tepúli nennt, Kitzlig …«
Sie ließ mich nicht weiterreden, sondern sagte, freilich ohne den Kopf zu heben: »Ich weiß, was das ist, Herr. Ich habe Brüder gehabt in meiner Familie. Meine Herrin sagt, ein Mann steckt es in eine Frau hinein … hier.« Sittsam zeigte sie auf ihren Schoß. »Zumindest tut er das, wenn er einen hat. Cozcatl hat mir erzählt, wie er seinen verloren hat.«
»Womit er gleichzeitig die Fähigkeit verloren hat, dich jemals zur Mutter zu machen. Außerdem sind ihm damit bedauerlicherweise etliche Freuden der Ehe versagt. Was ihm jedoch nicht genommen werden konnte, ist sein Wunsch, dich diese Freuden kosten zu lassen – und seine Fähigkeit, sie dir zu schenken. Wenn er auch kein Tepúli mehr hat, dich mit ihm zu verbinden, gibt es andere Möglichkeiten, den Liebesakt zu vollziehen.«
Ich wandte mich ein wenig ab, um uns beiden die Peinlichkeit zu ersparen, zu sehen, wie sie womöglich noch flammender errötete, und bemühte mich, im gleichbleibenden, gelangweilten Ton eines Schulmeisters weiterzusprechen. Nun, Grundsätzliches läßt sich durchaus mit schulmeisterlicher Stimme vermitteln, doch – als ich bei den vielfältigen Möglichkeiten verweilte, die Brüste, das Tipili und insbesondere den empfindlichen Xacapíli mit Fingern, Zunge, Lippen, ja sogar mit den Wimpern zu reizen und zu befriedigen – nun, ich konnte einfach nicht umhin, mich all der Feinheiten und unterschiedlichen Arten zu erinnern, die ich früher und in letzter Zeit genossen und geschenkt hatte, so daß meine Stimme unsicher und brüchig wurde. Infolgedessen beeilte ich mich, zum Schluß zu kommen:
»Eine Frau vermag diese Freuden fast genauso befriedigend zu finden wie den üblicheren Liebesakt. Viele genießen sie sogar lieber, als einfach vom Tepúli eines Mannes gepfählt zu werden. Manche teilen sie sogar mit anderen Frauen und scheren sich dabei nicht im geringsten um das Fehlen eines Tepúli.«
Kitzlig sagte: »Das klingt …« – sagte das so sehr mit zitternder Stimme, daß ich mich ihr doch wieder zuwandte und sie ansah. Den Körper ganz steif, saß sie da; Augen und Fäuste hatte sie fest geschlossen. »Man hat das Gefühl …« Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt. »Wunder … Wun-der-bar …« Lange brauchte sie dazu, das Wort herauszubringen, gleichsam als werde es ihr mühselig abgerungen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Fäuste öffnen und die Augen aufmachen konnte. Sie hob sie zu mir auf, und sie waren wie trübe Lampen. »Ich … ich danke Euch … daß Ihr mir diese Dinge gesagt habt.«
Mir fiel ein, wie Kitzlig früher immer ohne jeden Grund gekichert hatte. War es möglich, daß sie auf andere Weise zu erregen war, ohne daß man sie anrührte oder gar erst entkleidete?
Ich sagte: »Ich habe dir nichts mehr zu befehlen, und folglich ist das, worum ich dich jetzt bitte, eine Dreistigkeit, die du ablehnen kannst. Aber ich möchte gern deinen Busen sehen.«
Mit unschuldig geweiteten Augen sah sie mich an. Erst zögerte sie, doch dann hob sie langsam ihre Bluse in die Höhe. Ihre Brüste waren nicht groß, dafür jedoch wohlgeformt, und ihre Brustwarzen richteten sich allein unter der Berührung meines Blickes auf; die Höfe waren dunkel und fast zu groß, als daß ein Mann sie ganz hätte in den Mund nehmen können. Ich seufzte und gab ihr zu verstehen, sie könne gehen. Ich hoffte, mich zu irren, doch fürchtete ich sehr, daß Kitzlig sich nicht immer mit weniger denn einem richtigen Beischlaf zufriedengeben würde – und Cozcatl Gefahr lief, irgendwann einmal der unglücklichste aller Ehemänner zu werden.
Ich ging nach oben und fand Zyanya auf der Schwelle der Kinderkammer stehen, wo sie zweifellos mit sich zu Rate ging, was darin noch fehle und was zu verbessern sei. Ich ließ nichts von meinen bösen Ahnungen verlauten, die mich in Hinblick auf Cozcatls Eheschließung quälten, sondern sagte nur:
»Wenn Kitzlig uns verläßt, wird uns eine Dienerin fehlen. Türkis kann unmöglich den Haushalt führen und sich außerdem noch um dich kümmern. Cozcatl hat einen unglücklichen Augenblick gewählt, uns seine Absichten zu eröffnen. Denkbar unglücklich für uns.«
»Unglücklich!« rief Zyanya strahlend. »Ach, Záa, du hast einmal gesagt, wenn ich Hilfe brauchte, könnten wir Béu vielleicht bewegen, zu uns zu kommen. Daß Kitzlig uns verläßt, ist – den Göttern sei Dank – nur ein höchst unbedeutendes Mißgeschick; dafür bietet es uns aber einen guten Vorwand. Bestimmt brauchen wir eine andere Frau im Haus. Ach, Záa, laß sie uns bitten herzukommen.«
»Ein guter Einfall«, sagte ich. Ich sah der Aussicht, eine verbitterte Béu um mich zu haben, nicht gerade erwartungsfreudig entgegen, zumal in einer so aufregenden Zeit wie dieser, doch war ich entschlossen, Zyanya jeden Wunsch zu erfüllen. Deshalb erklärte ich: »Ich werde die Einladung so dringlich abfassen, daß sie einfach nicht ablehnen kann.«
Überbringen ließ ich das Schreiben von denselben sieben Kriegern, welche einst mit mir gen Süden gezogen waren; falls Wartender Mond sich also einverstanden erklären sollte, nach Tenochtítlan zu kommen, hätte sie dann gleich eine Begleitung, die sie beschützen konnte. Und sie tat es, ohne irgendwelche Einwände zu erheben und ohne Zögern. Gleichwohl brauchte sie einige Zeit, alle Vorkehrungen zu treffen, welche es ihr ermöglichten, die Weiterführung der Herberge ihren Dienern und Sklaven zu überlassen. Inzwischen richteten Zyanya und ich ein großartiges Hochzeitsfest für Cozcatl und Kitzlig, und die beiden lebten fortan in seinem Hause.
Der Winter war bereits fortgeschritten, als die sieben Krieger Béu Ribé an unserer Tür ablieferten. Mittlerweile war ich offen gestanden genauso erfreut, sie zu sehen, wie Zyanya. Meine Frau war dick geworden – erschreckend dick, wie ich fand – und fing an, unter bestimmten Schmerzen und nervösen Zuständen und anderen Anzeichen der Erschöpfung zu leiden. Wiewohl sie mir immer wieder aufs neue gereizt erklärte, so etwas sei ganz natürlich, beunruhigten sie mich und brachten mich dazu, sie nie aus den Augen zu lassen und ständig zu versuchen, ihr ihre Lage zu erleichtern, was alles nur dazu angetan war, sie noch gereizter zu machen.
Sie rief: »Ach, Béu, ich danke dir, daß du gekommen bist. Ich danke Uizye Tao und allen anderen Göttern, daß du gekommen bist.« Und fiel ihrer Schwester in die Arme wie einer Retterin. »Vielleicht hast du mir das Leben gerettet! Ich werde förmlich zu Tode verwöhnt.«
Béus Gepäck wurde in die für sie vorbereitete Gästekammer gebracht, doch den größten Teil dieses Tages verbrachte sie zusammen mit Zyanya in unserem Zimmer, aus dem ich mit sanfter Gewalt vertrieben wurde, so daß mir nichts anderes übrig blieb, als schmollend durch den Rest des Hauses zu ziehen. Als es Abend wurde, kam Béu allein herunter. Während wir zusammen unsere Schokolade tranken, sagte sie in geradezu verschwörerischem Ton:
»Zyanya hat bald jene Zeit ihrer Schwangerschaft erreicht, wo du dich deiner … deiner ehelichen Rechte enthalten mußt. Was wirst du während dieser Zeit tun?«
Fast hätte ich ihr gesagt, das gehe sie nichts an, doch meinte ich dann nur: »Nun, ich werd's überleben.«
Sie jedoch ließ nicht locker. »Es würde sich nicht schicken, wenn du auf eine Fremde zurückgriffest.«
Verletzt stand ich auf und erklärte steif: »Die erzwungene Enthaltsamkeit mag mir zwar gerade keine Freude bereiten, aber …«
»Aber du hoffst, einen annehmbaren Ersatz für Zyanya zu finden?« Sie legte den Kopf schief, als erwartete sie ernstlich eine Antwort. »Und könntest du in ganz Tenochtítlan keine finden, die so schön wäre wie sie? Und deshalb schickst du ganz bis ins ferne Tecuantépec, um mich kommen zu lassen?« Sie lächelte, erhob sich und trat so nahe an mich heran, daß ihre Brüste meine Brust streiften. »Sehe ich Zyanya nicht so ähnlich, daß du mich als einen befriedigenden Ersatz für sie betrachten könntest?« Schelmisch fingerte sie an meiner Umhangspange herum, als wolle sie sie öffnen. »Aber Záa, wenn auch Zyanya und ich Schwestern und uns körperlich so ähnlich sind, bedeutet das noch lange nicht, daß wir nicht doch unterschiedlich wären. Im Bett könntest du uns sehr verschieden finden …«
Entschlossen schob ich sie fort von mir. »Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt in diesem Haus, Béu Ribé. Aber wenn du deinen Abscheu vor mir nicht für dich behalten kannst – könntest du dich nicht zumindest enthalten, ihn auf so boshaft unaufrichtige Weise zu demonstrieren? Könnten wir beide es nicht einfach fertigbringen, so zu tun, als bemerken wir einander nicht?«
Als ich davonschritt, war ihr Gesicht so brennend rot übergossen, als hätte ich sie bei etwas Ungehörigem ertappt – und sie rieb sich die Wange, als hätte ich sie dieserhalb geschlagen.
Señor Bischof Zumárraga, es ist mir eine schmeichelhafte Ehre, daß Ihr uns wieder einmal beehrt. Euer Exzellenz kommen gerade rechtzeitig, um zu hören, wie ich – nicht minder stolz als vor so vielen Jahren – die Geburt meiner geliebten Tochter verkünde.
Alle meine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet wie ich zu meiner Freude gestehen muß. Das Kind bewies Klugheit, noch ehe es überhaupt auf die Welt kam, denn es wartete seine Zeit im Mutterleib ab, bis die leblosen Nemontémtin-Tage vorüber waren, und erschien dann am Tage Ce-Malinali oder Ein Gras des ersten Monds im Jahre Fünf Haus. Ich war damals dreißig, eigentlich schon ein wenig zu alt, um zum erstenmal Vater zu werden, doch führte ich mich eingebildet und albern auf wie nur je ein junger Mann – als ob ich allein das Kind empfangen, ausgetragen und zur Welt gebracht hätte.
Während Béu an Zyanyas Lager sitzen blieb, kamen der Arzt und die Hebamme zu mir heraus, um mir zu sagen, daß das Kind ein Mädchen sei, und mir alle ängstlichen Fragen zu beantworten. Sie schienen zu meinen, ich sei von Sinnen, als ich die Hände rang und sagte: »Sprecht die Wahrheit. Ich kann sie ertragen. Sind es nicht in Wirklichkeit zwei Mädchen in einem Körper?« Nein, erklärten sie, es handele sich keineswegs um irgendwelche Zwillinge, sondern um eine einzige Tochter. Nein, sie sei auch keineswegs ungewöhnlich groß. Nein, sie sei alles andere als monströs, und nichts an ihr weise auf irgendwelche schlimmen Vorbedeutungen hin. Als ich dem Arzt mit Fragen zusetzte, wie es denn mit ihrem Augenlicht stehe, erwiderte er verzweifelt, Neugeborene seien nun einmal nicht für ihren Adlerblick bekannt, und man habe auch noch nie gehört, daß sie sich dessen gerühmt hätten. Ich müsse schon warten, bis sie sprechen und es mir selbst sagen könne.
Sie übergaben mir die Nabelschnur des Kindes und kehrten dann in die Kinderkammer zurück, um Ein Gras in kaltes Wasser zu tunken, sie zu wickeln und sie den traditionellen Ermahnungen und Verhaltensmaßregeln zu überantworten. Ich ging nach unten, wickelte die noch feuchte Nabelschnur mit zitternder Hand um ein Spinnrad aus gebranntem Ton, sprach ein paar stumme Gebete zu den Göttern und vergrub sie unter den Herdsteinen der Küche. Dann eilte ich wieder nach oben und wartete ungeduldig darauf, daß man mir gestattete, einen ersten Blick auf meine Tochter zu werfen.
Ich gab meiner matt lächelnden Frau einen Kuß und betrachtete durch meinen Topas das in ihre Armbeuge gebettete Zwergengesicht. Ich hatte die frischgeborenen Sprößlinge anderer Eltern gesehen, und so war ich nicht erschrocken über den Anblick; gleichwohl war ich ein wenig enttäuscht, daß unserer den anderen in keiner Weise überlegen war. Sie war gerötet und verschrumpelt wie eine Chopini-Pfefferschote und kahlköpfig und häßlich wie ein alter Purémpe. Ich bemühte mich, eine Woge aufsteigender Liebe in mir zu empfinden, wie es sich gehörte, doch vergebens. Alle versicherten mir, sie sei wirklich und wahrhaftig meine Tochter, ein neues Menschenkind, doch wäre ich wohl genauso bereit gewesen, ihnen zu glauben, wenn sie mir gesagt hätten, es handele sich um ein frischgeborenes, noch unbehaartes Brülläffchen. Zumindest brüllte sie so.
Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß das Kind mir von Tag zu Tag menschlicher vorkam und ich anfing, sie wohlwollender und liebevoller zu betrachten. Ich nannte sie Cocóton, was ein gebräuchlicher Kosename bei uns für kleine Mädchen ist und soviel bedeutet wie Brotkrume oder Krümel. Es dauerte auch nicht lange, da bekundete Cocóton eine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und damit notwendigerweise auch mit ihrer Tante, womit ich sagen will, daß kein Baby schneller schön geworden ist als sie. Als sie Haare bekam, waren es Löckchen. Die Wimpern bildeten sich aus, und zwar – wenn auch winzig klein – genauso wie die kolibri-flügelhaften Wimpern von Zyanya und Béu. Ihre Brauen traten deutlich hervor, und auch sie zeigten den gleichen Flügelschwung wie die von Zyanya und Béu. Sie fing an, öfter zu lächeln als zu weinen, und ihr Lächeln war das von Zyanya und zwang alle um sie herum, gleichfalls zu lächeln. Selbst Béu, die in den letzten Jahren zunehmend griesgrämig geworden war, sah sich jetzt häufig genötigt, das gleiche strahlende Lächeln aufzusetzen.
Zyanya konnte bald wieder aufstehen, wiewohl ihr ganzes Tun sich eine Zeitlang nur um Cocóton drehte, die einfach forderte, daß ihr Milchtier ihr häufig zur Verfügung stehe. Béus Anwesenheit machte es unnötig, daß ich mich weiterhin um das Wohlergehen von Zyanya und dem Baby kümmerte, und beide Frauen gingen häufig über meine unerbetenen Vorschläge und Aufmerksamkeiten einfach hinweg. Gleichwohl bestand ich bisweilen darauf, daß man mir gehorche, einfach weil ich der Herr im Hause war. Als Cocóton fast zwei Monde alt war und nicht mehr so häufig auf ihre Milchversorgerin angewiesen war, ließ Zyanya Zeichen der Unruhe erkennen.
Sie war nunmehr seit Monden ans Haus gefesselt gewesen und nicht weiter hinausgekommen ins Freie als auf unseren Dachgarten, um in den Strahlen von Tonatíu zu baden und die frische Brise von Ehécatl zu genießen. Gern würde sie sich einmal wieder weiter hinauswagen, erklärte sie, um mich dann daran zu erinnern, daß bald die Feier zu Ehren von Xipe Totec in Dem Herzen Der Einen Welt abgehalten werde. Daran wolle sie teilnehmen, was ich ihr aber rundheraus abschlug.
Ich erklärte: »Cocóton ist ohne Makel, gesund an allen Gliedern und offenbar auch mit vollem Sehvermögen auf die Welt gekommen – dank ihrem Tonáli, oder unserem, oder dank dem guten Willen der Götter. Warum sie jetzt irgendwelchen Gefahren aussetzen? Solange du sie nährst, müssen wir dafür sorgen, daß keine bösen Einflüsse in deine Milch übergehen, dadurch etwa, daß du dich erschrickst oder dich aufregst, wenn du etwas Furchtbares siehst. Und ich kann mir nun mal nichts vorstellen, was geeigneter wäre, dich nicht zu entsetzen, als die Feier des Xipe-Totec-Festes. Laß uns irgendwo anders hingehen, Geliebte, nur nicht dorthin.«
Oh ja, Euer Exzellenz, ich war oft Zeuge gewesen, wie Xipe Totec geehrt wurde, denn ihr Fest war eines der wichtigsten religiösen Rituale, welche wir Mexíca und auch viele andere Völker befolgten. Die Zeremonie war beeindruckend, man könnte sogar sagen, unvergeßlich, doch nicht einmal damals konnte ich recht glauben, daß irgendeiner, der daran teilnahm oder auch nur zuschaute, es genossen haben kann. Wiewohl mittlerweile viele Jahre vergangen sind, seit ich das letzte Mal Zeuge von Xipe Totecs Sterben und Wiedergeburt gewesen war, kann ich es kaum ertragen, zu beschreiben, wie das vonstatten ging – wobei mein Abscheu nichts damit zu tun hat, daß ich ein zivilisierter Christ geworden bin.
Doch wenn Euer Exzellenz es so sehr interessiert und wenn Ihr darauf besteht …
Xipe Totec war unser Gott der Saatzeit die bei uns in unseren Mond Tlacaxípe Ualíztli fiel, was man als »Das Sanfte Schinden« übersetzen kann. Es war die Jahreszeit, in welcher die abgestorbenen Strünke und Stoppeln der Vorjahrsernte abgebrannt, abgerecht oder untergegraben wurden, auf daß der Boden sauber und bereit gemacht werde, die neue Saat zu empfangen. Tod, welcher dem Leben weicht, versteht ihr, wie er das sogar für die Christen tut, wenn jedes Jahr zur Saatzeit der Herr Jesus stirbt und wiedergeboren wird. Euer Exzellenz brauchen nicht abwehrend zu schnauben. Weiter geht die ruchlose Ähnlichkeit nicht.
Ich will nicht alle Vorbereitungen und all die Dinge beschreiben, die bei diesem Fest eine Rolle spielten: die Blumen und die Musik, die Tänze und die Farben, die Gewänder und Umzüge und den Donner der Trommel, die das Herz herausreißt. Ich will mich gnädig kurz fassen, so gut es geht.
Wisset also, daß schon im voraus ein junger Mann oder ein junges Mädchen ausgewählt wurden, die geehrte Rolle von Xipe Totec, Unserem Herrn Dem Geschundenen, zu spielen. Welchen Geschlechts der Darsteller war, war weniger wichtig als das Erfordernis, daß er oder sie voll ausgewachsen und immer noch jungfräulich wären. Für gewöhnlich handelte es sich um einen Fremden von edler Geburt, welcher noch als Kind in irgendeinem Krieg in Gefangenschaft geraten war und von vornherein bestimmt wurde, sobald er oder sie erwachsen wäre, den Gott darzustellen. Niemals wurde für diesen Zweck ein Sklave gekauft, denn Xipe Totec verdiente und verlangte einen jungen Menschen edelsten Geblüts und bekam ihn auch.
Einige Tage vor Beginn des Festes wurde der Jüngling oder die Jungfrau im Xipe Totec-Tempel untergebracht und mit allem überhäuft, was Freude machte: gutem Essen und Trinken und schöner Unterhaltung. Nachdem die Jungfräulichkeit des oder der Betreffenden überzeugend festgestellt worden war, wurde sie rasch beseitigt. Er oder sie durfte sich jeder Ausschweifung hingeben – man ermunterte die Betreffenden ausdrücklich dazu, und falls nötig, wurden sie sogar dazu gezwungen –, denn das gehörte unumgänglich dazu, galt es doch, den Gott der Frühlingsfruchtbarkeit darzustellen. Handelte es sich bei dem Xochimíqui um einen jungen Mann, durfte er sämtliche Frauen und Mädchen nennen, welche er jemals begehrt hatte, gleichgültig, ob sie verheiratet waren oder nicht. Erklärten diese Frauen sich einverstanden – was viele taten, selbst von den verheirateten –, brachte man sie ihm. War der Xochimíqui ein Mädchen, durfte sie alle Männer nennen, die sie wollte, und für sie die Beine spreizen.
Gelegentlich kam es jedoch vor, daß der junge Mensch, welcher für die Ehre des Gottseins ausersehen war, etwas gegen diesen Teil der Darstellung hatte. Handelte es sich um ein junges Mädchen und lehnte es die Gelegenheit ab, allen Lüsten zu frönen, wurde sie vom Hohenpriester von Xipe Totec mit Gewalt ihrer Jungfernschaft beraubt. Handelte es sich um einen zur Keuschheit entschlossenen jungen Mann, wurde er gefesselt und von einer Tempeldienerin bestiegen. Widerstrebte der junge Mensch selbst dann noch, wenn er die Freuden des Fleisches kennengelernt hatte, mußte er wiederholte Vergewaltigungen durch die Priester oder Tempelfrauen über sich ergehen lassen und, wenn diese genug davon hatten, selbst vom gemeinen Volk, wer immer Lust dazu hatte. Davon gab es immer genügend: Fromme, welche danach gierten, sich mit einem Gott oder einer Göttin zu paaren, solche, die nur ihrer Geilheit frönten, solche, die einfach neugierig waren, kinderlose Frauen und impotente Männer, welche hofften, durch die Gottheit zu empfangen oder ihre Jugendkraft wiederzufinden. Jawohl, Euer Exzellenz, es kam zu jeder Ausschweifung, welche Ihr Euch ausdenken könnt – nur nicht zur Paarung von Gott und Mann oder Göttin und Frau. Da solches der Fruchtbarkeit im höchsten Maße zuwiderlief, wäre das Xipe Totec alles andere als wohlgefällig gewesen.
Am Tag des Festes – nachdem die Menschen, welche zusammengeströmt waren, durch Vorführungen von Zwergen und Gauklern, Tocotine und ähnlichen unterhalten worden waren – trat Xipe Totec öffentlich auf. Das junge Mädchen oder der junge Mann war wie der Gott gekleidet und trug ein Gewand, welches aus trockenen alten Maishülsen und frischem jungem Grün bestand; auf dem Kopf trug er eine fächerförmige Krone aus leuchtend bunten Federn; um die Schultern hatte er einen fließenden Umhang liegen und an den Füßen goldene Sandalen. Viele Male wurde der junge Mensch in einem eleganten Tragstuhl unter viel Gepränge und ohrenbetäubender Musik um Das Herz Der Einen Welt herumgetragen, und er streute Saat- und Maiskörner in die jubelnde und singende Menge. Wenn der Umzug vor der in einer Ecke des riesigen Platzes errichteten niedrigen Pyramide des Xipe Totec anlangte, hörte alles Getrommel, alle Musik und alles Singen auf, verstummte die Menge und wurde der Gottesdarsteller zu Füßen der Tempeltreppe niedergesetzt.
Dort halfen zwei Priester ihr, sich ihres Gewands zu entledigen, eines Stücks nach dem anderen, bis sie vor aller Augen vollständig nackt dastand – von denen manche bereits jede Einzelheit und jede Öffnung ihres Körpers kannten. Die Priester reichten ihr ein Bündel von zwanzig kleinen Rohrflöten, und sie wandte der Menge den Rücken zu. Die beiden Priester faßten neben ihr Fuß, während sie zum Altarstein und zum Tempel hinaufstieg. Auf jeder einzelnen der zwanzig nach oben führenden Stufen ließ sie aus einer der Flöten einen Triller erschallen, um dann die Flöte mit den Händen entzweizubrechen. Möglich, daß sie auf der letzten Stufe ein wenig länger und ausgedehnter und auch ein wenig trauriger auf ihrer letzten Flöte spielte, doch ließen die Priester, welche sie begleiteten, nicht zu, daß sie ihr Spiel ungebührlich in die Länge zog. Das Leben Xipe Totec hatte zu enden, nachdem der letzte Triller der letzten Flöte verklungen war.
Dann wurde sie von den anderen, oben auf der Pyramide wartenden Priestern ergriffen und rücklings über den niedrigen Opferstein gelegt, zwei von ihnen schwangen ihre Obsidianmesser. Während einer die Brust zerteilte und das noch klopfende Herz herausriß, trennte der andere den Kopf vom Leibe, an dem Wimpern und Mund noch zuckten. Bei keiner anderen unserer religiösen Zeremonien wurde das Opfer enthauptet, nur bei dieser, doch auch in diesem Falle kam diesem Umstand keinerlei religiöse Bedeutung zu. Er diente einzig praktischen Gründen, denn es ist nun mal leichter, einem Toten die Haut abzuziehen, wenn Kopf und Leib getrennt sind.
Das Schinden vollzog sich nicht vor den Augen der Menge. Die beiden Teile, welche eben noch ein junger Mensch gewesen waren, wurden in aller Eile in den Tempel geschafft, und die Priester verstanden sich vorzüglich auf ihr Geschäft. Die Kopfhaut wurde am Hinterkopf vom Hals bis zum Scheitel aufgeschnitten und über den Kopf gezogen; nur die Augenlider wurden herausgeschnitten. Auch der übrige Körper wurde hinten vom After bis zum Halsstumpf aufgeschlitzt, die Haut von Armen und Beinen jedoch sorgsam gelockert, um unversehrte Schläuche zu erhalten. Hatte es sich beim Xochimíqui um eine junge Frau gehandelt, wurde das weiche Fleisch von Brüsten und Gesäß unversehrt belassen, um ihre Rundungen zu bewahren. War es jedoch ein junger Mann, beließ man sein Tepúli und die Olóltin unversehrt, und sie baumelten von der Haut herab.
Der kleinste Priester Xipe Totecs – und es gab immer einen kleinen unter ihnen – entledigte sich geschwind seiner Gewänder und streifte sich die Hautteile des Xochimíqui über. Da die Haut innen immer noch feucht und schlüpfrig war, bereitete es ihm keine Schwierigkeit, mit Armen und Beinen in die entsprechenden Hautschläuche hineinzuschlüpfen. Die Füße des Toten waren entfernt worden, weil sie dem Priester sonst beim Tanzen hinderlich gewesen wären, doch die Hände des Toten blieben dran und baumelten winkend neben seinen eigenen. Da die Rumpfhaut hinten nicht schloß, wurde sie entlang der Schnittlinie durchlöchert, Riemen hindurchgezogen und mit ihrer Hilfe die Haut straff um seinen Körper gezogen. Sodann zog der Priester Haar und Gesicht des Toten dergestalt über, daß er durch die leeren Augen sehen und durch die schlaffen Lippen hindurch singen konnte; auch sie wurde an seinem Hinterkopf verschnürt und gestrafft. Alle Blutspuren wurden abgewaschen und der Schlitz auf der Brust zugenäht.
All das dauerte nicht länger als ich brauche, es Eurer Exzellenz zu erzählen. Den Zuschauern mußte es vorkommen, als habe der tote Xipe Totec den Altarstein kaum verlassen und erscheine flugs darauf unterm Tempeltor. Gebeugt stand er da, tat so, als sei er ein schwacher Greis und stützte sich auf zwei schimmernde Hüftknochen, die einzigen anderen Teile des Xochimíqui, welche außer der Haut noch bei der Zeremonie Verwendung fanden. Wenn die Trommeln aufdröhnten, ihn zu begrüßen, richtete Unser Herr Der Geschundene sich langsam auf wie ein alter Mann, der plötzlich wieder jung wird. Er hüpfte die Stufen der Pyramide herunter und tanzte wie toll über den Platz, fuchtelte mit den schlüpfrigen Hüftknochen herum und benützte sie, um jeden, der es schaffte, nahe genug an ihn heranzukommen, segnend damit zu berühren.
Vor der Zeremonie pflegte der betreffende Priester viele von den Fleisch der Götter genannten Pilzen zu verzehren und sich dadurch in einen Zustand der Trunkenheit und Ekstase zu versetzen. Das hatte er auch bitter nötig, denn ihm fiel der anstrengendste Teil dessen zu, was jetzt noch folgte. Es wurde von ihm erwartet, daß er wie rasend unablässig tanze, bis auf die Unterbrechungen, da er zusammenbrach und bewußtlos liegenblieb – und das fünf Tage und fünf Nächte hintereinander. Selbstverständlich ging nach und nach seine hemmungslose Ausgelassenheit beim Tanzen verloren, fing die Haut, die er übergestreift hatte, an, sich zusammenzuziehen und trocken zu werden. Nach Ablauf der fünf Tage war sie so geschrumpft und spröde geworden, daß sie ihn wirklich beengte, war sie durch Sonne und Luft abstoßend fahlgelb geworden – aus diesem Grunde nannte man sie übrigens das Goldgewand – und roch so grauenhaft, daß niemand von denen, die jetzt noch auf dem Platz waren, dem Xipe Totec nahekommen wollten, um sich mit einem Knochen segnen zu lassen …
Daß Seine Exzellenz sich wieder einmal zornig entfernt haben, zwingt mich – wenn es nicht allzu unehrerbietig klingt, meine Herren Schreiber – zu der Feststellung, daß Seine Exzellenz eine bemerkenswerte Fähigkeit besitzen, uns immer gerade dann mit ihrer Anwesenheit zu beehren, wenn es Dinge zu hören gibt, die zu hören sie am meisten erbosen und entsetzen.
In späteren Jahren sollte ich voller Bedauern erklären, ich wünschte, ich hätte Zyanya niemals etwas abgeschlagen; daß ich sie alles hätte tun und sehen und erfahren lassen sollen, was sie interessierte und sie dazu brachte, es mit staunengeweiteten Augen zu betrachten, daß ich ihrer Begeisterung für noch die unscheinbarsten Dinge in der Welt kein einziges Mal hätte einen Stoß versetzen dürfen. Gleichwohl kann ich mir immer noch keinen Vorwurf daraus machen, daß ich sie davon abhielt, jemals der Xipe Totec-Zeremonie beizuwohnen.
Ob mir dabei nun irgendein Verdienst zufiel oder nicht, jedenfalls gerieten keine schlechten Einflüsse in Zyanyas Milch. Das Baby Cocóton gedieh prächtig davon, wuchs und wurde dabei immer hübscher, ein winziges Abbild ihrer Mutter und ihrer Tante. Ich war ganz vernarrt in sie, doch war ich, was das betraf, nicht der einzige. Als Zyanya und Béu eines Tages das Baby auf den Markt mitnahmen, sah ein vorübergehender Totonácatl Cocóton aus dem Tragtuch heraus lächeln, in welchem ihre Mutter sie trug, und bat die beiden Frauen um Erlaubnis, dieses Lächeln in Ton festzuhalten. Er war einer jener wandernden Künstler, die aus ihren Gußformen oder Modeln große Mengen von Terrakotta-Figürchen herstellen, dann auf dem Lande umherziehen und sie billig an arme Bauersleute verkaufen. Auf der Stelle fertigte er höchst treffend ein Abbild von Cocóton aus Ton, und später – nachdem er es benutzt hatte, um seine Gußform damit herzustellen, mit deren Hilfe er viele Abbilder herstellte – suchte er unser Haus auf und schenkte Zyanya das Original. Die Ähnlichkeit war eigentlich wirklich nicht sonderlich groß, und er hatte sie auch noch mit dem üppigen Totonáca-Kopfputz ausgestattet, ich jedoch erkannte augenblicklich das herzliche und ansteckende Lächeln und die Grübchen meiner Tochter darin. Wie viele Abbilder er hergestellt hat, weiß ich nicht, aber eine lange Zeit hindurch könne man überall kleine Mädchen mit dieser Puppe spielen sehen. Sogar einige Erwachsene kauften sie, weil sie glaubten, es handelte sich um den lachenden jungen Gott Xochipili – Blumenprinz – oder um die glückliche Göttin Xilónen – Junge Mais Mutter. Es würde mich keineswegs überraschen, wenn es hier und da immer noch einige von diesen Figürchen gäbe, die nicht entzweigegangen sind, doch würde es mir das Herz brechen, wenn ich heute eine fände und dem Lächeln meiner Tochter und meiner Frau wiederbegegnete.
Gegen Ende des ersten Lebensjahres von Cocóton, als sie ihre ersten kleinen Maiskern-Zähne bekommen hatte, wurde sie auf dieselbe Weise der Mutterbrust entwöhnt, wie seit unvordenklichen Zeiten alle Mexíca-Mütter ihre Kinder entwöhnt hatten. Wenn sie schrie, um genährt zu werden, trafen ihre Lippen immer häufiger nicht auf Zyanyas süße Brust, sondern auf ein darübergelegtes Blatt: eines der bitteren, den Mund zusammenziehenden und kleine Pusteln hervorrufenden Blätter der Sabila-Agave. Nach und nach ließ Cocóton sich bewegen, statt der Muttermilch weichen Brei wie etwa Atóli zu sich zu nehmen, bis sie schließlich der Brust ganz entsagte. Als das soweit war, verkündete Béu Ribé, da unsere Familie sie nicht mehr brauche, werde sie zu ihrer Herberge zurückkehren; die Pflege des Kindes könne jetzt mühelos Türkis übernehmen, wenn Zyanya müde sei oder anderes zu tun habe.
Ich brachte wieder eine Eskorte für Béu zusammen, und zwar dieselben sieben Krieger, welche ich nachgerade als mein kleines Privatheer betrachtete, und ich begleitete diese und Béu bis an den großen Damm.
»Wir hoffen, du kommst wieder, Schwester Wartender Mond«, sagte ich. Dabei hatten wir uns fast schon den ganzen Morgen über Lebewohl gesagt, hatte Béu viele Geschenke bekommen und beide Frauen reichlich geweint.
»Ich werde kommen, wann immer ich gebraucht … oder gewünscht werde«, sagte sie. »Da ich nun zum erstenmal aus Tecuantépec fortgewesen bin, wird es mir in der Zukunft leichter fallen. Doch denke ich, ich werde nicht oft gebraucht oder jemals gewünscht werden. Im Grunde möchte ich selbstverständlich nicht zugeben, daß ich mich geirrt habe, Záa, doch die Ehrlichkeit zwingt mich dazu. Du bist meiner Schwester in der Tat ein guter Ehemann.«
»Das ist nicht schwer«, sagte ich. »Derjenige ist der beste Ehemann, welcher die beste Ehefrau hat.«
Mit einem Anflug ihres früheren Spotts sagte sie: »Woher willst du das wissen? Du hast schließlich nur eine geheiratet. Sag mir, Záa, fühlst du dich nie auch nur vorübergehend von … von anderen Frauen angezogen?«
»Aber gewiß doch«, sagte ich und lachte über mich selbst.
»Ich bin ein Mensch, menschliche Gefühle können höchst ungebärdig sein, und es gibt viele andere verführerische Frauen. Wie zum Beispiel dich, Béu. Ich fühle mich sogar von Frauen angezogen, die weniger schön sind als Zyanya oder du – und sei es nur aus Neugierde, zu erfahren, was sich unter ihren Kleidern oder hinter ihren Gesichtern verbirgt. Trotzdem bin ich in den nunmehr fast neun Jahren niemals vom Gedanken zur Tat übergegangen, und wenn ich neben Zyanya liege, verflüchtigen sich derlei Gedanken augenblicklich. Deshalb erröte ich ihretwegen nicht einmal.«
Ich möchte rasch hinzufügen, ehrwürdige Patres, daß meine christlichen Katechismuslehrer mich da eines besseren belehrt haben: Daß schon ein geiler Gedanke genauso sündhaft sein kann wie die lasterhafteste Unzucht. Aber damals war ich noch ein Heide; das waren wir alle. Infolgedessen bedrückten und quälten meine Launen, um die ich nicht gebeten und denen ich nicht nachgegeben hatte, mich genausowenig wie irgendein anderer durch sie gequält und belästigt wurde.
Béu bedachte mich mit einem langen Seitenblick aus ihren herrlichen Augen und sagte: »Du bist bereits ein Adlerritter. Bleibt nur noch, daß dir die Ehre zuteil wird, das -tzin an deinen Namen zu hängen. Als Adliger brauchtest du auch die geheimsten Begierden nicht mehr zu unterdrücken. Zyanya könnte nichts dagegen einwenden, die Erste Gattin unter anderen zu sein, falls sie mit den anderen einverstanden wäre. Dann könntest du alle Frauen haben, die du willst.«
Lächelnd sagte ich: »Das habe ich bereits. Sie heißt nicht von ungefähr Immer.«
Béu nickte, drehte sich um und schritt, ohne sich auch noch ein einziges Mal umzuwenden, davon, bis sie auf dem Damm meinen Blicken entschwand.
Dort, wo der Damm über den Béu dahinzog, auf die Insel trifft, arbeiteten an diesem Tage Männer, und andere waren den ganzen Damm entlang bis halb nach der Feste Acachinánco mit Arbeiten beschäftigt, genauso, wie auf dem Festland im Südwesten Arbeiter am Werk waren. Diese Männer waren dabei, die beiden Enden eines neuen steineren Aquädukts zu errichten, welcher süßes Wasser in die Stadt bringen sollte.
Eine lange Zeit hindurch waren die vielen Städte und Dörfer des Seenbezirks so rasch gewachsen, daß die Übervölkerung in den Gebieten des Dreibunds unerträglich geworden war. Am meisten litt selbstverständlich Tenochtítlan darunter, und zwar einfach deshalb, weil die Insel sich nicht weiter ausdehnen konnte. Das ist der Grund, warum, als Xoconóchco dem Reich einverleibt wurde, so viele Stadtbewohner ihre Familien sowie ihr bewegliches Hab und Gut nahmen und dorthin zogen, um sich dort anzusiedeln. Diese freiwillige Auswanderung gab dem Uey-Tlatoáni den Anstoß dazu, andere gleichfalls zum Wegziehen zu bewegen.
Mittlerweile war offenkundig, daß die Garnison von Tapáchtlan Feinde für immer davon abhalten würde, Raubzüge nach Xoconóchco hinein zu unternehmen, und so wurde Motecuzóma der Jüngere von seiner Aufgabe dort entbunden. Wie ich bereits erklärt habe, hatte Ahuítzotl gute Gründe, seinen Neffen nicht in allzu großer Nähe um sich haben zu wollen. Gleichwohl war er gewitzt genug, sich das erwiesene Organisations -und Verwaltungstalent des Mannes weiterhin nutzbar zu machen. Als nächstes schickte er Motecuzóma daher nach Teloloápan, ein zwischen Tenochtítlan und dem Südmeer gelegenes Dorf, nicht größer als ein Fliegendreck, und befahl ihm, nach dem Vorbild von Tapáchtlan eine weitere befestigte und blühende Stadt daraus zu machen.
Um dazu auch in der Lage zu sein, wurde Motecuzóma ein stattliches Heer und eine gleichfalls stattliche Schar von Gemeinfreien unterstellt. Bei letzteren handelte es sich um Familien und Einzelpersonen, von denen nicht bekannt ist, ob sie mit dem Leben in Tenochtítlan oder Umgebung zufrieden waren oder nicht; auf jeden Fall gehorchten sie, als der Verehrte Sprecher befahl: »Ihr habt hinzugehen!« Und als Motecuzóma ihnen in und um Teloloápan nicht gerade geringe Mengen an Land zuwies, ließen sie sich alle unter seiner Verwaltung dort nieder, um aus dem armseligen kleinen Dorf eine blühende Stadt zu machen.
Nachdem die Garnison in Teloloápan feste Unterkünfte bekommen hatte und die Stadt imstande war, sich aus eigener Kraft zu ernähren, wurde Motecuzóma der Jüngere abermals seines Postens entbunden und beauftragt, das gleiche noch einmal woanders zu wiederholen. Ahuítzotl schickte ihn von einem kleinen Ort zum anderen: Otzóman, Alahuítzlan – ich weiß nicht mehr, wie sie alle heißen. Auf jeden Fall lagen sie jedoch alle an den fernsten Grenzen des Dreibunds. Als diese abgelegenen Kolonien sich vermehrten und jede von ihnen wuchs, bewirkten sie drei Dinge, die Ahuítzotl alle wohlgefällig waren. Sie nahmen mehr und mehr von dem Bevölkerungsüberschuß unseres Seengebietes auf – aus Texcóco, Tlácopan und anderen am See gelegenen Städten genauso wie aus Tenochtítlan. Sie bildeten für uns Mexíca starke Außenposten an den Grenzen. Und außerdem hielt der ständige Kolonisationsprozeß Motecuzóma beschäftigt und fern von jeder Möglichkeit, Ränke gegen seinen Onkel zu spinnen.
Freilich, Auswanderung und Zwangsumsiedlung vermochten nur der Bevölkerungszunahme von Tenochtítlan Einhalt zu gebieten; es zogen nie genug Menschen fort, um die Zahl derer, die sich dort gegenseitig bedrängten, zu vermindern. Das Hauptbedürfnis der Stadt bestand darin, mehr süßes Wasser zu bekommen. Die Wasserversorgung war von Motecuzóma dem Ersten einigermaßen sichergestellt worden, als er vor über einem Schock Jahre den Aquädukt von den Süßwasserquellen von Chapultépec herüber bauen ließ, um die gleiche Zeit, da er den Großen Damm baute, um die Stadt vor den Überflutungen zu schützen, welche der Wind hervorrief. Doch das Süßwasser von Chapultépec ließ sich nicht einfach bewegen, reichlicher zu fließen, bloß weil man mehr Wasser brauchte. Das war erwiesen: eine Reihe von Priestern und Zauberern hatte jedes Mittel eingesetzt – doch nichts hatte gefruchtet.
Daraufhin beschloß Ahuítzotl, eine neue Wasserquelle zu finden. Er schickte diese selben Priester und Zauberer und einige wenige von den Weisen Männern seines Staatsrats aus, andere Gebiete des nahegelegenen Festlands danach abzusuchen. Durch welches Mittel der Weissagung oder des Ahnungsvermögens auch immer – sie stießen jedenfalls auf eine bislang unentdeckt gebliebene Quelle, und der Verehrte Sprecher plante augenblicklich den Bau eines neuen Aquädukts. Da der neuentdeckte Quell in der Nähe von Coyohuácan wesentlich reichlicher sprudelte als der von Chapultépec, plante Ahuítzotl sogar, Springbrunnen im Herzen Der Einen Welt damit zu speisen.
Aber nicht alle waren gleichermaßen davon begeistert, und einer derjenigen, die zur Vorsicht rieten, war der Verehrte Sprecher Nezahualpíli von Texcóco. Ahuítzotl hatte ihn eingeladen, die neue Quelle und die Arbeiten am Aquädukt zu besichtigen, mit denen gerade der Anfang gemacht wurde. Ich habe nicht gehört, was sie bei dieser Gelegenheit gesprochen haben; vermutlich war ich daheim und spielte mit meiner kleinen Tochter. Gleichwohl vermag ich den Gang der Beratungen zwischen den beiden Verehrten Sprechern nach dem vielen zu rekonstruieren, was ich später von denen gehört habe, die dabei waren.
Zunächst einmal warnte Nezahualpíli: »Mein Freund, Ihr und Eure Stadt könntet Euch vor die Entscheidung zwischen zuviel und zuwenig Wasser gestellt sehen«, und rief Ahuítzotl dann ein paar historische Tatsachen ins Gedächtnis.
Diese Stadt ist heute und bereits seit vielen Schock Jahren eine von Wasser umringte Insel gewesen, doch das war nicht immer so. Als die frühesten Ahnen von uns Mexíca vom Festland herüberkamen, um sich hier für immer niederzulassen, kamen sie zu Fuß hierher. Zweifellos war es ein schlammiger und unbequemer Weg für sie, aber sie brauchten jedenfalls nicht zu schwimmen. Das ganze Gebiet zwischen der Insel und dem Festland im Westen, Norden und Süden war früher ein aus Schlamm und Wasserlachen bestehender, von Riedgras bewachsener Morast; die Insel stellte damals nur den einzigen festen und trockenen Landbuckel in dem weithin sich dehnenden Sumpf dar.
Im Lauf der Jahre und während des Baus der Stadt legten diese frühen Siedler auch festere Zugangswege zum Festland an. Vielleicht waren ihre ersten Wege nichts weiter als niedrige Dämme festgestampfter Erde, nur um ein weniges höher als der Morast. Doch zuletzt trieben die Mexíca Doppelreihen von Baumstämmen in den Boden, füllten den Raum dazwischen mit Geröll und bauten auf diesem Grund eine steingepflasterte Straße mit Seitenbrüstungen – die drei Dämme, die es heute noch gibt. Diese Dämme verhinderten, daß das Oberflächenwasser in den dahintergelegenen See abfloß, doch die Folge davon war, daß der Wasserspiegel darin merklich stieg.
Das alles bedeutete einen großen Fortschritt gegenüber den bisherigen Bedingungen. Das Wasser überdeckte den stinkenden Morast und das Riedgras, an dessen scharfen Rändern die Bauern sich die Waden aufgeschnitten hatten, und es verschwanden auch die Lachen stehenden Wassers, in denen unablässig neue Schwärme von Moskitos ausgebrütet wurden. Selbstverständlich hätte das Wasser – wäre es weiterhin ständig gestiegen – zuletzt auch die Insel überschwemmt und wäre in die Straßen von Tlácopan und anderer Städte auf dem Festland hereingeflossen. Doch die Dämme wiesen in bestimmten Abständen von hölzernen Brücken überspannte Abflüsse auf, und die Insel selbst war von vielen Kanälen durchzogen, auf welchen unsere Einbäume verkehren konnten. Diese Sammelrinnen gestatteten, daß auf der Ostseite der Insel genügend Wasser in den Texcóco-See hinein abfloß, so daß der Wasserspiegel der Lagune nur bis zu einem bestimmten Pegel stieg, aber nicht weiter.
»Oder hat es zumindest bis jetzt noch nicht getan«, sagte Nezahualpíli zu Ahuítzotl. »Doch jetzt habt Ihr vor, neues Wasser vom Festland herüberzuleiten. Das muß doch irgendwohin.«
»Es fließt in die Stadt und wird von der Bevölkerung verbraucht«, erklärte Ahuítzotl eigensinnig. »Zum Trinken, Baden, Waschen …«
»Verbraucht wird immer nur sehr wenig Wasser«, sagte Nezahulapili. »Selbst wenn Eure Leute den ganzen Tag über trinken – sie müssen es schließlich auch wieder ausscheiden. Ich wiederhole: Das Wasser muß irgendwohin. Und wohin, wenn nicht in diesen eingedämmten Teil des Sees? Der Wasserpegel darin würde schneller steigen als das Wasser durch Eure Kanäle und die Durchbrüche in den Dämmen in den dahinterliegenden Texcóco-See abfließen.«
Ahuítzotl lief rot an und fragte: »Wollt Ihr damit vorschlagen, wir sollten unseren neugefundenen Quell, dieses Geschenk der Götter, einfach ungenutzt lassen? Daß wir nichts unternehmen, um den Durst von Tenochtítlan zu stillen?«
»Es könnte sich als klüger erweisen. Zumindest, schlage ich vor, solltet Ihr Euer Aquädukt dergestalt bauen, daß der Wasserfluß überwacht und gelenkt werden kann – und nötigenfalls abgestellt.«
Aufknurrend erklärte Ahuítzotl: »Mit zunehmendem Alter, mein Freund, werdet Ihr immer mehr wie ein furchtsames altes Weib. Wenn wir Mexíca immer auf jene gehört hätten, die uns sagen wollten, was nicht zu machen sei, hätten wir nie etwas auf die Beine gestellt.«
»Ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt, alter Freund, und ich habe sie Euch gesagt«, erklärte Nezahualpüi. »Aber die letzte Verantwortung liegt bei Euch und« – er lächelte – »Ihr heißt schließlich nicht umsonst Wasser Ungeheuer.«
Der Bau des Aquädukts wurde ungefähr ein Jahr nach dieser Unterhaltung abgeschlossen, und die Seher des Palasts gaben sich größte Mühe, einen möglichst glückverheißenden Tag für die Einweihung und das Fließenlassen des Wassers auszusuchen. Ich erinnere mich genau an diesen Tag – Dreizehn Wind –, denn er machte seinem Namen alle Ehre.
Die Menschen strömten lange vor Beginn der Zeremonie zusammen, handelte es sich doch um ein Ereignis von nahezu genauso großer Bedeutung wie die Einweihung der Großen Pyramide vor zwölf Jahren. Doch selbstverständlich konnten nicht alle Menschen auf dem Damm von Coyohuácan Platz finden, wo die Hauptrituale abgehalten werden sollten. Die Masse der Gemeinfreien mußte sich am südlichen Ende der Stadt zusammendrängen, sich den Hals ausrenken und die Augen zusammenkneifen, um einen Blick auf Ahuítzotl und seine Frauen, seinen Staatsrat, die erlauchtesten Vertreter des Adels, Priester, Ritter und andere Persönlichkeiten zu erhäschen, welche mit dem Kanu vom Palast kamen, um ihren Platz auf dem Damm zwischen der Stadt und der Feste Acachinánco einzunehmen. Unseligerweise hatte ich mich in der vollen Kampfkleidung des Adlerritters unter diesen Würdenträgern und in der Gesellschaft der anderen Adlerritter einzufinden. Zyanya wollte gleichfalls dabei sein und Cocóton mitbringen, doch abermals redete ich ihr das aus.
»Selbst wenn ich es schaffte, euch einen Platz zu reservieren, von dem aus ihr etwas sehen könntet«, sagte ich, als ich mich an diesem Morgen in den gesteppten und federngeschmückten Kampfanzug hineinzwängte »würdet ihr nur unter dem Wind zu leiden haben und vom Gischt bis auf die Haut naß werden. Außerdem könntest du im Gewühl stürzen oder ohnmächtig werden und das Kind zu Tode gedrückt.«
»Vermutlich hast du recht«, sagte Zyanya und schien nicht sonderlich enttäuscht. Leidenschaftlich drückte sie das kleine Mädchen an sich. »Und Cocóton ist viel zu hübsch, als daß sie von irgend jemand gedrückt werden sollte als von uns.«
»Nicht drücken!« klagte Cocóton, allerdings recht würdevoll. Sie entwand sich den Armen ihrer Mutter und lief auf unsicheren Beinchen auf die andere Seite der Kammer hinüber. Zwar gebot unsere Tochter mit ihren zwei Jahren über einen beträchtlichen Wortschatz, aber sie war kein Plappermaul; sie verwendete selten mehr als zwei Wörter auf einmal.
»Als Krümelchen auf die Welt kam, fand ich sie häßlich«, sagte ich, als ich mich weiter anzog. »Und jetzt finde ich sie so hübsch, daß ich mir gar nicht vorstellen kann, wie sie noch hübscher werden soll. Sie kann höchstens weniger schön werden, und das wäre ein Jammer. Wenn sie soweit ist, daß wir sie unter die Haube bringen möchten, wird sie aussehen wie eine Wildsau.«
»Wildsau«, stimmte Cocóton aus ihrer Ecke her zu.
»Das wird sie nicht«, erklärte Zyanya mit Entschiedenheit. »Wenn ein Kind überhaupt hübsch ist, erreicht es den Gipfel seiner Kleinkinderschönheit irn Alter von zwei Jahren und bleibt weiterhin bezaubernd – wobei es selbstverständlich zu kaum merklichen Veränderungen kommt-, bis sie mit sechs den Gipfel ihrer Kinderschönheit erreicht. Kleine Jungen werden dann zwar nicht mehr hübscher, aber kleine Mädchen…«
Ich knurrte.
»Ich meine, Knaben hören auf, schön zu sein. Kann sein, daß sie stattlich werden, anmutig und männlich, aber nicht schön. Zumindest sollten sie hoffen, es nicht zu werden. Die meisten Frauen haben genausosehr etwas gegen schöne Männer wie andere Männer auch.«
Woraufhin ich sagte, dann sei ich doch froh, so ein häßlicher Bursche geworden zu sein. Als sie dem nicht widersprach, setzte ich ein spöttisch schmollendes Gesicht auf.
»Einen weiteren Höhepunkt der Schönheit«, fuhr sie fort, »erreichen kleine Mädchen dann ungefähr mit zwölf Jahren, kurz bevor sie ihre erste Blutung bekommen. Während ihrer Reifezeit sind sie zumeist viel zu ungestüm und zu jungenhaft, als daß man sie überhaupt bewundern könnte. Doch dann fangen sie wieder an zu blühen, und ungefähr mit zwanzig – ja, mit zwanzig, würde ich sagen – ist ein Mädchen dann schöner als sie es je zuvor war oder je wieder werden wird.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Du warst zwanzig, als ich mich in dich verliebte und dich heiratete. Und du bist seither nicht um einen Tag gealtert.«
»Schmeichler und Lügner«, sagte sie, lächelte freilich dabei. »Ich habe Krähenfüße an den Augen, und meine Brüste sind nicht mehr so fest wie damals, und auf meinem Bauch sieht man Schwangerschaftsstreifen. Und …«
»Das macht nichts«, sagte ich. »Deine Schönheit mit zwanzig hat einen derartigen Eindruck auf mich gemacht, daß er sich mir unauslöschlich eingegraben hat. Ich werde dich nie anders sehen, selbst wenn eines Tages irgendwelche Leute zu mir sagen sollten: ›Du Narr, was du siehst, ist ein altes Weib.‹ Ich werde ihnen nicht glauben, das kann ich einfach nicht.«
Ich hielt inne, um einen Augenblick nachzudenken, doch dann sagte ich in ihrer Muttersprache: »Rizalazi Zyanya chuüpa chii, chuüpa chii zy-anya« – eine Art Wortspiel, um mehr oder weniger zu sagen: »Sich Immer mit zwanzig vorzustellen, macht sie für immer zur Zwanzigjährigen.«
Zärtlich fragte sie: »Zyanya?«
Und ich bestätigte ihr: »Zyanya.«
»Das ist schön«, sagte sie mit verschleierten Augen, »mir vorzustellen, daß ich, solange ich bei dir bin, immer ein Mädchen von zwanzig Jahren sein werde. Oder selbst dann, wenn wir uns eines Tages voneinander trennen müßten. Wo immer du in der Welt sein wirst, ich werde immer noch ein Mädchen von zwanzig Jahren sein.« Sie zwinkerte ein paarmal, bis ihre Augen wieder hell strahlten. Dann lachte sie und sagte: »Ich hätte es vorhin schon sagen sollen, Záa – du bist nicht wirklich häßlich.«
»Wirklich häßlich«, sagte meine geliebte und zärtliche Tochter.
Darüber mußten wir beide lachen, und damit war dieser verzauberte Augenblick vorbei. Ich nahm meinen Schild auf und erklärte: »Ich muß gehen.« Zyanya gab mir zum Abschied einen Kuß, und ich verließ das Haus.
Es war noch sehr früh am Tag. Am Ende unserer Straße kamen die Lastkähne durch den Kanal, welche die Abfälle einsammelten. Die Beseitigung dieses Abfalls fiel unter die niedrigsten aller Arbeiten in Tenochtitlan, und nur die Niedrigsten und Unglücklichsten aller waren damit beschäftigt – hoffnungslose Krüppel, unheilbare Trinker und dergleichen. Ich wandte mich von dem niederdrückenden Anblick ab und ging in die andere Richtung hügelan bis zum Hauptplatz und war schon eine ganze Weile gegangen, da hörte ich Zyanya meinen Namen rufen.
Ich drehte mich um und hob meinen Topas ans Auge. Sie war aus der Haustür herausgetreten, um mir zum Abschied noch einmal zuzuwinken und etwas zuzurufen, ehe sie wieder hineinging. Es konnte etwas sein, was Frauen interessiert, wie etwa: »Erzähl mir, was die Erste Dame angehabt hat.« Oder etwas, wie Ehefrauen es ihren Männern ans Herz legen: »Paß auf, daß du nicht zu naß wirst.« Oder etwas, was aus dem Herzen kam: »Vergiß nicht, daß ich dich liebe.« Was immer es war, ich verstand es nicht, denn ein Wind kam auf, ein Wind, welcher ihre Worte hinwegwehte.
Da der Quell von Coyohuácan irgendwo an einer Stelle auf dem Festland entsprang, die höher lag als die Straßen von Tenochtítlan, kam der Aquädukt von dorther mit sanftem Gefalle herunter. Er war um etliches breiter und tiefer als ein Mann mit ausgestreckten Armen reichen kann und war nahezu zweimal Ein Langer Lauf lang. Er traf bei der Feste Acachinánco auf den Damm, bog dort ab und verlief parallel zur Brüstung, welche den Damm säumte, bis hin zur Stadt. Sobald er die Inselstadt erreichte, verzweigte er sich und speiste ein ganzes Netz von kleineren Rinnen sowohl in Tenochtítlan als auch in Tlaltelólco, füllte große Becken, welche an geeigneten Stellen in jedem Viertel gebaut worden waren, und sollte mehrere neu gebaute Springbrunnen auf dem Hauptplatz aufschießen lassen.
Bis zu einem gewissen Grade hatten Ahuítzotl und seine Baumeister die Warnungen Nezahualpílis beherzigt, der Wasserstrom müsse gelenkt und gebändigt werden können. Dort, wo der Aquädukt auf den Damm stieß, und noch einmal dort, wo er die Insel erreichte, waren Schlitze in die Wandung der Rinne eingegraben worden, in welche feste hölzerne Schotten hineinpaßten. Die Schotten brauchten nur in die Schlitze hinuntergelassen zu werden, um dem Wasserstrom nötigenfalls Einhalt zu gebieten.
Das neue Bauwerk sollte der Göttin der Teiche, Flüsse und anderer Gewässer geweiht werden, der froschgesichtigen Chalchihuítlicué – Die Mit Dem Edelsteinhüfttuch –, welche nicht so ausschließlich auf Menschenopfer erpicht war wie manche unserer anderen Götter. Infolgedessen sollten nur so viele Opfer dargebracht werden, wie unbedingt notwendig waren. Am ferneren Ende oder vielmehr am Anfang des Aquädukts, bei der Quelle und von uns aus nicht zu sehen, hatte sich eine andere Abordnung von Adligen und Priestern sowie eine Anzahl von Kriegern versammelt, die eine Reihe von Gefangenen bewachte. Da wir Mexíca in letzter Zeit zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen waren, um irgendwelche Blumenkriege zu führen, handelte es sich bei der Mehrzahl dieser Gefangenen um gewöhnliche Räuber, die der jüngere Motecuzóma auf seinen verschiedenen Hin- und Hermärschen aufgegriffen und für eben solche Zwecke nach Tenochtítlan geschickt hatte.
Auf dem Damm, dort wo Ahuítzotl stand – zusammen mit mir und Hunderten anderer, die wir uns alle bemühten, unseren Federschmuck und die Federnwimpel daran zu hindern, vom Ostwind davongetragen zu werden – wurden Gebete gesprochen und Beschwörungen gesungen, in deren Verlauf die niederen Priester eine gewisse Menge von lebendigen Fröschen und Axolóltin und anderem Wassergetier hinunterschluckten, um Chalchihuítlicué eine Freude zu machen. Sodann wurde in einer Urne ein Feuer entzündet und irgendeine, nur den Priestern bekannte Substanz hineingestreut, damit mächtige bläuliche Rauchwolken aufstiegen. Wiewohl die Windstöße über sie herfielen, stieg die Rauchsäule doch rasch hoch genug, um der anderen an der Zeremonie beteiligten Gruppe am Quell von Coyohuácan ein Zeichen zu geben.
Dort warfen die Priester den ersten Gefangenen in die Wasserrinne, schlitzten ihm vom Schritt bis zum Hals den Leib auf, ließen den Leichnam darin liegen, und sein Blut floß heraus. Ein weiterer Gefangener wurde hineingeworfen und das gleiche mit ihm gemacht. Sobald die Leichen der früher Geopferten nicht mehr bluteten, wurden sie herausgerissen, um mehr und frisch Getötete darin aufzuhäufen. Ich weiß nicht, wie viele Xochimique getötet wurden, um sie ausbluten zu lassen, ehe das erste Blut zähflüssig so weit heruntergeronnen kam, daß Ahuítzotl und die Priester seiner ansichtig wurden und einen dankbaren Lobruf erschallen ließen. Eine weitere Substanz wurde auf das Urnenfeuer gestreut, woraufhin eine rote Rauchwolke aufstieg: das Zeichen für die Priester an der Quelle, mit ihrer Schlächterei aufzuhören.
Es war der Augenblick gekommen, da Ahuítzotl das wichtigste Opfer darbringen sollte, und man hatte ihm zu diesem Zweck etwas Einzigartiges zur Verfügung gestellt: ein etwa vier Jahre altes kleines Mädchen, gekleidet in ein wasserblaues, über und über mit grünen und blauen Edelsteinen besetztes Gewand. Sie war die Tochter eines Vogelstellers, welcher ertrunken war, als sein Acáli einige Zeit vor ihrer Geburt gekentert war, woraufhin sie mit einem Gesicht auf die Welt gekommen war, das dem eines Frosches – oder der Göttin Chalchihuítlicué – schon verblüffend ähnlich sah. Die verwitwete Mutter des Mädchens hatte dieses Zusammentreffen von Ereignissen, die alle mit dem Wasser in Verbindung standen, als Zeichen der Göttin genommen und ihre Tochter freiwillig für die Zeremonie zur Verfügung gestellt.
Unter viel Gesinge und Gekrächz der Priester hob der Verehrte Sprecher das kleine Mädchen in die Rinne. Andere Priester nahmen neben dem Urnenfeuer Aufstellung. Ahuítzotl drückte das Kind mit dem Rücken auf den Boden und griff nach dem Obsidianmesser an seiner Hüfte. Der Rauch des Urnenfeuers wurde grün – wieder ein Zeichen –, und die Priester auf dem Festland ließen das Wasser des Quells in den Aquädukt einfließen.
Das Wasser zuerst war rotgefärbt, aber kam nicht dickflüssig heruntergesickert wie zuvor das Blut. Mit der ganzen Wucht seines langen Wegs vom Festland kam es wie ein gewaltiger flüssiger Speer mit rotzüngelnder Spitze herangerauscht. Dort, wo das Wasser beim Damm im rechten Winkel abbiegen mußte, tat es das nicht zur Gänze; ein Teil stieg steil in die Höhe und schwappte über die Brüstung der Dammstraße wie ein Brecher am Meer. Dennoch floß genügend weiter um die Biegung herum und überraschte Ahuítzotl. Er hatte dem Kind gerade die Brust aufgeschlitzt und sein Herz gepackt, jedoch nicht mehr Zeit genug, die Hauptschlagadern zu durchtrennen, da entriß die Wucht des Wassers ihm das noch zuckende Kind, dieses riß sich selbst von seinem kleinen Herzen los und kam durch die Rinne auf die Stadt zugeschossen wie ein Geschoß durch ein Blasrohr. Das Herz in der Hand, stand Ahuítzotl da wie vom Donner gerührt.
Alle, die wir uns auf dem Damm drängten, standen bis auf unsere heftig im Wind flatternden Umhänge, Banner und Federkopfputz wie aus Stein gehauen. Dann merkte ich, daß ich bis zu den Knöcheln im Wasser stand – genau wie alle anderen auch. Ahuítzotls Frauen fingen an zu kreischen. Das Pflaster unter uns stand bereits unter Wasser, das rasch höher stieg. Es rannte bei der Abbiegung des Aquädukts immer noch gegen die Brüstung, und die ganze Feste Acachinánco bebte unter der Wucht seines Anpralls.
Doch gleichviel – der größere Teil des Wassers raste weiterhin durch die Rinne auf die Stadt zu und schoß mit einer derartigen Gewalt dahin, daß es sich beim Auftreffen auf die Abzweigungen am Stadtrand wie Brandungswellen an einem Strand brach. Durch meinen Kristall hindurch konnte ich erkennen, wie die dichtgedrängten Zuschauer im Gischt- und Wasserschauer durcheinander wurlten und miteinander kämpften, um das Weite zu suchen. In der ganzen Stadt – was wir freilich nicht sahen – flossen die Kanäle und neugebauten Versorgungsbecken über, ergossen sich in die Straßen und flossen zuletzt in die Kanäle. Die neuen Springbrunnen auf dem Großen Platz stiegen jubelnd in so große Höhe, daß die Wassersäulen nicht zurückfielen in die Auffangbecken, welche man um sie herum gebaut hatte. Das Wasser breitete sich rings um sie herum aus und bedeckte bald die riesige Fläche des gesamten Herzens Der Einen Welt.
Die Chalchihuítlicué-Priester brachen in vielstimmige Gebeteaus, ihre Göttin anzuflehen, der Überfülle des Wassers Einhalt zu gebieten. Ahuítzotl herrschte sie an zu schweigen und bellte ein paar Namen heraus: »Yolcatl! Papaquiliztli!« – die Namen der Männer, welche den neuen Quell entdeckt hatten. Diejenigen, die anwesend waren, wateten gehorsam durch die nunmehr kniehohen Fluten, wußten nur allzu gut, warum sie gerufen worden waren, und lehnten sich rücklings über die Brüstung. Ohne irgendwelche rituellen Worte oder Gebärden trennten Ahuítzotl und die Priester ihnen die Brust auf, rissen den Männern die Herzen heraus und warfen sie in das wie rasend vorübereilende Wasser. Acht Männer wurden in diesem Akt der Verzweiflung geopfert zwei davon altehrwürdige Mitglieder des Staatsrats – doch fruchtete das nicht im mindesten.
Deshalb schrie Ahuítzotl: »Laßt die Schleusen herunter!«, und ein paar Pfeilritter sprangen auf die Brüstung zu. Sie packten das hölzerne Schott, um die Wasserflut zu bändigen, und senkten es in die dafür vorgesehenen Seitenschlitze. Doch trotz heftigsten gemeinsamen Bemühens und trotz ihres gesamten Gewichts, mit dem sie sich daraufstützten, drückte die mächtige Strömung das Schott im Schlitz zur Seite, so daß es festgeklemmt wurde. Einen Augenblick herrschte Schweigen auf dem Damm, man hörte nichts als das Rauschen und Gurgeln des Wassers, das Seufzen und Stöhnen des Ostwinds, das Knacken der holzgebauten Feste unter dem Ansturm der Fluten und den gedämpften Lärm der Menge, welche am Ende der Insel auseinanderhastete. Der Verehrte Sprecher sah aus wie ein geschlagener Mann, sein ganzer Federschmuck hatte sich mit Wasser vollgesogen und war erschlafft, als er so laut sagte, daß alle wir es hören konnten:
»Wir müssen zurück in die Stadt und sehen, welcher Schaden dort angerichtet worden ist und was wir tun können, um die Panik in den Griff zu bekommen. Pfeil- und Jaguarritter, kommt mit uns. Ihr werdet sämtliche Acáltin der Insel zusammenziehen und sofort nach Coyohuácan hinüberrudern. Die Narren dort drüben feiern vermutlich immer noch weiter. Tut alles, was ihr könnt, um dem Wasser Einhalt zu gebieten oder es an seiner Quelle abzuleiten. Adlerritter, bleibt hier!« Er zeigte auf die Stelle, wo der Aquädukt auf den Damm stieß. »Zerschlagt ihn! Dort! Sofort!«
Es entstand einige Verwirrung, als die Gruppen mit den unterschiedlichen Aufträgen sich entwirrten und zusammenfanden. Dann wateten Ahuítzotl, seine Frauen und sein Gefolge, die Priester und die Adligen, die Pfeil-und Jaguarritter in Richtung Tenochtítlan davon, so rasch ihnen das bei dem mittlerweile kniehoch stehenden Wasser möglich war. Wir Adlerritter standen ein wenig ratlos vor den schweren Steinen und dem festen Mörtel der Wasserrinne. Zwei oder drei Ritter schlugen mit ihren Maquahuime dagegen, und wir anderen duckten uns, um den umherfliegenden Obsidiansplittern zu entgehen. Voller Abscheu blickten diese Ritter auf ihre ruinierten Schwerter und warfen sie dann in den See.
Dann ging einer der älteren Ritter ein Stück den Damm hinunter, um über die Brüstung zu spähen. Er rief uns zu: »Wie viele von euch können schwimmen?«, woraufhin die meisten von uns die Hand hoben. Er zeigte auf eine bestimmte Stelle und erklärte: »Dort hinten, wo der Aquädukt abbiegt, läßt die Gewalt des Wassers die Pfeiler erzittern. Wenn wir sie mit unseren Maquahuime bearbeiten, können wir sie vielleicht so weit schwächen, daß das Gerüst zusammenbricht.«
Und genau das taten wir. Ich und acht weitere Ritter zogen mühselig unsere feuchten und völlig verschmutzten Kampfanzüge aus und tauchten dann über die Brüstung hinweg in die Fluten auf der anderen Seite. Wie ich schon gesagt habe, war das Wasser westlich des Damms damals nirgends besonders tief. Hätten wir schwimmen müssen, wäre es unmöglich gewesen, den Pfeilern mit unseren Waffen etwas anzuhaben, doch noch reichte das steigende Wasser uns an jener Stelle erst bis zur Schulter. Trotzdem war es kein Kinderspiel. Diese als Pfeiler dienenden Stämme waren mit Chapopótli getränkt worden, um der Verwesung entgegenzuwirken, doch waren sie dadurch auch widerstandsfähig gegen unsere Klingen geworden. Die Nacht war gekommen und vergangen, und die Sonne war bereits wieder aufgegangen, als ein Ruck durch einen der dicken Pfeiler ging und es ohrenbetäubend krachte. Ich stand in diesem Augenblick unter Wasser, und die Erschütterung hätte mich nahezu gelähmt, doch als ich wieder an die Oberfläche kam, hörte ich einen meiner Ritterkameraden uns allen zurufen, wir sollten zurückkommen auf den Damm.
Wir schafften es gerade noch rechtzeitig. Jener Teil des Aquädukts, welcher vom Damm abbog, wankte heftig. Mit einem knirschenden Geräusch riß er an der Biegung auseinander. Wasser spritzte in alle Richtungen, und das lockere Ende des Bauwerks schüttelte sich wie der warnende Schwanz einer Coacuéchtli-Schlange. Dann legte sich ein etwa zehn Schritt langes Stück auf die Seite, und die Pfeiler, an denen wir herumgehackt hatten, gaben unter ihnen nach; die Rinne brach knarrend los und kippte hochaufspritzend ins Wasser. Zwar schoß immer noch Wasser in mächtigem Schwall aus dem zerfetzten Ende des Aquädukts hinein in den See, aber jedenfalls nicht mehr hinein nach Tenochtítlan. Noch während wir dastanden, fing das Wasser auf dem Damm bereits merklich an zu sinken.
»Kehren wir nach Hause zurück«, sagte aufseufzend einer meiner Ritterkameraden. »Hoffentlich sind ein paar Häuser übrig, die wir Zuhause nennen können.«
Zuhause. Laßt mich den Bericht über meine Heimkehr nach Hause noch ein wenig aufschieben.
Das Wasser, welches den größten Teil eines Tages und eine ganze Nacht hindurch nach Tenochtítlan hineingeleitet worden war, hatte Teile der Stadt übermannshoch überschwemmt. Viele tief und nicht aus Stein gebaute Häuser waren in der Flut zusammengebrochen; selbst einige auf Pfeilern errichtete Häuser waren von ihren Stützen heruntergestürzt; viele Menschen waren verletzt worden, und rund zwanzig – Kinder zumeist – waren ertrunken oder zermalmt worden oder auf andere Weise umgekommen. Gleichwohl hatten sich der Schaden und die Todesfälle auf jene Teile der Stadt beschränkt, wo die Verteilerkanäle und Wasserspeicher übergeflossen waren, und dieses Wasser war dann bald, nachdem wir Adlerritter den Aquädukt unterbrochen hatten, durch die Kanäle abgeflossen.
Doch noch ehe die Folgen dieser kleineren Überschwemmung hatten beseitigt werden können, war es zu einer zweiten und wesentlich größeren Überschwemmung gekommen. Wir hatten den Aquädukt zwar unterbrochen, doch dem Wasser hatten wir keinen Einhalt geboten, und den anderen Rittern, die Ahuítzotl aufs Festland hinübergeschickt hatte, war es nicht gelungen, den Quell dort zum Versiegen zu bringen. Infolgedessen rauschten die Wassermassen weiter in den von den Dammstraßen im Westen und im Osten eingefaßten Teil des Sees herein. Der Wind wehte weiterhin aus dem Osten und hinderte die Fluten daran, durch die überbrückten Lücken in den Dämmen und durch die Kanäle, deren Netz unsere Stadt durchzog, in den großen Texcóco-See abzufließen. Infolgedessen stieg das Wasser in diesen Kanälen, floß über die Ränder und stieg auf der Insel, und ganz Tenochtítlan wurde zu einem Gewirr von Gebäuden, die nicht vom Erdboden aufragten, sondern sich aus dem Wasser einer endlosen Wasserfläche erhoben.
Gleich nach seiner Rückkehr von der fehlgeschlagenen Einweihungszeremonie hatte Ahuítzotl einen Ruderer nach Texcóco geschickt, und Nezahualpíli war auf diesen Hilferuf augenblicklich herbeigeeilt. Er hatte in aller Eile einen Trupp Bauarbeiter zu der nicht zum Stillstand zu bringenden Quelle von Coyohuácan geschickt, und diese Leute hatten, wie erhofft, eine Möglichkeit gefunden, den Wasserfluß abzuschneiden. Ich habe die Stelle nie gesehen, aber ich weiß, daß sie auf einem Hügel liegt, und ich vermute, daß Nezahualpíli befahl, ein System von Gräben auszuheben, durch welches ein Teil des überschüssigen Wassers auf die andere Seite des Hügels abgeleitet werden konnte, wo es sich, ohne Schaden anzurichten, in freies Land ergießen konnte. Nachdem das geschafft, der Quell gezähmt war und die Flut sich verlaufen hatte, konnte der Aquädukt ausgebessert und weiter benutzt werden. Nezahualpíli entwickelte Schleusentore, mit deren Hilfe je nach dem Bedarf der Stadt wenig oder viel Quellwasser hindurchgelassen wurde. So kommt es, daß wir bis auf den heutigen Tag von diesem süßen Wasser trinken.
Freilich schaffte Nezahualpíli seine Rettungsaktion nicht über Nacht. Während er und seine Arbeiter schufteten, stand diese zweite Flut vier volle Tage lang auf ihrem Höhepunkt. Wenn auch nur wenige oder gar keine Menschen darin umkamen, wurden mindestens zwei Drittel der Stadt zerstört, und der Wiederaufbau von Tenochtítlan war erst nach vier Jahren abgeschlossen. Die Flut würde nicht soviel Schaden angerichtet haben, hätte das Wasser nur unsere Straßen überfüllt und dort ruhig gestanden. Statt dessen wogte es hin und her, einerseits in eine Richtung bewegt von den Kräften, welche das Wasser zwangen, einen gleichmäßigen Pegel zu suchen, auf der anderen von dem bösartigen Ostwind. Die meisten Häuser ruhten auf Pfeilern oder irgendeiner anderen Grundmauer über dem Straßenniveau, doch das hatte man nur gemacht, um sie vor der Bodenfeuchtigkeit zu schützen. Diese Fundamente waren nie dazu gedacht gewesen, der Gewalt von Strömungen zu widerstehen, denen sie dann ausgesetzt wurden –, und die meisten von ihnen hielten nicht stand. Lehmziegelhäuser lösten sich im Wasser einfach auf, Steinhäuser, ob kleine oder große, stürzten zusammen, wenn ihr Stützwerk weggefressen wurde, und brachen in die Blöcke auseinander, aus denen sie ursprünglich gefügt worden waren.
Mein eigenes Haus blieb unbeschädigt, vermutlich aber nur deshalb, weil es neu und deshalb stärker gebaut war als die anderen. Die Pyramiden und Tempel im Herzen Der Einen Welt blieben gleichfalls stehen; nur das vergleichsweise zerbrechliche Schädelgerüst brach zusammen. Doch außerhalb des Großen Platzes stürzte ein ganzer Palast ein – der neueste und prächtigste von allen –, der des Uey-Tlatoáni Ahuítzotl. Ich habe berichtet, daß er einen der Hauptkanäle der Stadt überspannte, damit die vorüberfahrenden Menschen das Innere bewundern könnten. Als dieser Kanal wie alle anderen Kanäle auch über die Ufer trat, drang das Wasser erst in das Erdgeschoß des Palastes ein, drückte dann die tiefer gelegenen Mauern nach außen, woraufhin das gesamte Gebäude zusammenkrachte.
Von alledem wußte ich nichts. Ich hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, zu den vom Glück Begünstigten zu gehören, welche immer noch ein eigenes Haus hatten, bis das Wasser endlich abfloß. Bei dieser zweiten und weit verheerenderen Flut stieg das Wasser jedenfalls weniger rasch, so daß Zeit blieb, die Stadt zu räumen. Bis auf Ahuítzotl und seine regierenden Edelleute, die Palastwache, einige andere Kriegerverbände und eine Anzahl von Priestern, die eigensinnig fortfuhren, um göttliches Einsehen zu flehen, floh jeder sonst in Tenochtítlan über die nördliche Dammstraße und suchte in den auf dem Festland gelegenen Städten Tepeyáca und Atzacoálco Zuflucht; zu diesen gehörte auch ich, meine beiden Diener und das, was mir von meiner Familie geblieben war.
Doch um zu diesem früheren Tag zurückzukehren, jenem Morgen, an dem ich mich in meinem vollständig mit Wasser vollgesogenen Adlerritter-Kampfanzug nach Hause schleppte …
Als ich näherkam, wurde mir deutlich, daß das Ixacuálco-Viertel zu jenen Stadtteilen gehörte, welche am schlimmsten unter dem ersten, völlig überraschenden Wasseransturm gelitten hatte. Ich konnte an den Hochwasserlinien in Höhe meines Kopfes an den Häusern erkennen, wie hoch das Wasser gestanden hatte, und hier und da hatte sich ein Lehmziegelbau schief gelegt. Der gestampfte Lehm meiner Straße war schlüpfrig; eine Schlammschicht bedeckte sie; hier und da standen Wasserlachen, lag Gerumpel und selbst wertvolleres Gerät umher – Dinge, die Menschen offensichtlich auf der Flucht hatten fallen lassen. In diesem Augenblick waren keine anderen Menschen zu sehen – ohne Zweifel saßen sie ängstlich in ihren Häusern und warteten ab, ob die Flut noch einmal zurückkommen würde –, doch die ungewohnte Leere der Straße erfüllte mich mit Unruhe. Ich war zu zerschlagen, um laufen zu können, ging jedoch, so rasch mich meine Füße trugen, und mein Herz machte einen Satz, als ich mein Haus stehen sah, völlig unbeschädigt, nur mit einer Schlammschicht auf den Treppenstufen, welche hinaufführten zur Haustür.
Türkis riß die Tür auf und rief: »Ayyo, es ist unser Herr! Dank sei Chalchihuítlicué, daß sie Euch verschont hat!«
Ausgepumpt, doch aus vollem Herzen, sagte ich, ich wünschte diese besondere Göttin ins Mictlan.
»Sprecht nicht so!« flehte Türkis, und Tränen rannen ihr über das verrunzelte Gesicht. »Wir hatten schon Angst, auch unseren Herrn verloren zu haben!«
»Auch?« Es entrang sich mir nur dieses eine Wort, und ein unsichtbarer Reif legte sich mir beklemmend um die Brust. Die ältere Sklavin brach in Schluchzen aus und war nicht imstande zu antworten. Ich ließ alles fallen, was ich in der Hand hatte, und packte sie bei den Schultern. »Das Kind?« wollte ich wissen. Sie schüttelte den Kopf, doch ob in Verneinung meiner Frage oder nur aus Kummer, konnte ich nicht sagen. Ich schüttelte sie heftig noch einmal und sagte: »Sprich, Weib!«
»Es war unsere Herrin, Zyanya«, ließ sich eine andere Stimme hinter ihr vernehmen, die des Dieners Stern Sänger, welcher händeringend an die Tür kam. »Ich habe alles gesehen. Ich habe versucht, sie zurückzuhalten.«
Ich ließ Türkis nicht los, sonst wäre ich zu Boden gestürzt. Ich konnte nur noch sagen: »Sprich, Stern Sänger!«
»Erfahret es also, Herr! Es war gestern, als es dunkelte, um die Zeit, da für gewöhnlich die Leute kommen, die Straßenfackeln zu entzünden. Aber selbstverständlich kamen sie nicht; die ganze Straße war ja eine kochende Stromschnelle. Nur ein Mann kam – wurde vorübergetrieben und prallte gegen Fackelpfähle und Haustreppen. Er versuchte immer wieder, irgendwo Halt zu finden, sich an etwas festzuklammern, um nicht weitergeschwemmt zu werden. Doch selbst, als er noch gar nicht nahe herangekommen war, konnte ich erkennen, daß er bereits verkrüppelt war und nicht …«
So barsch, wie ich es in meinem Schmerz und meiner Schwäche fertigbrachte, sagte ich: »Was hat das alles mit meiner Frau zu tun? Wo ist sie?«
»Hier am Vorderfenster hat sie gestanden«, sagte er, – zeigte mit dem Finger auf die Stelle und ging mit einer Langsamkeit hinüber, die mich rasend machte. »Den ganzen Tag hat sie hier gestanden, sich Sorgen gemacht und auf Eure Rückkehr gewartet, Herr. Ich stand bei ihr, als der Mann die Straße heruntergeschwemmt kam und dabei mit den Armen um sich schlug, und sie rief mir zu, ich müsse ihn retten. Ich war selbstverständlich nicht besonders scharf darauf, mich in das tosende Wasser hinauszuwagen, und sagte ihr: ›Herrin, ich kann ihn von hier aus erkennen. Es ist nur ein alter Krüppel, der manchmal auf den Abfallbooten gearbeitet hat, die für unser Viertel hier zuständig sind. Es lohnt sich nicht um ihn.‹«
Stern Sänger hielt inne, schluckte und sagte dann heiser: »Ich kann mich nicht beschweren, wenn mein Herr mich prügelt oder verkauft oder totschlägt, denn ich hätte hinausgehen und den Mann retten müssen. Denn meine Herrin hat mir einen zornflammenden Blick zugeworfen und ist dann selbst hinausgegangen. Zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, während ich von diesem Fenster aus hinterhergesehen habe, wie sie sich in die Flut hinauslehnte und ihn zu fassen bekam.«
Abermals hielt er inne und schluckte, woraufhin ich ihn anherrschte: »Ja und? Wenn sie beide in Sicherheit waren …?«
Stern Sänger schüttelte den Kopf. »Das ist es, was ich nicht begreife. Gewiß, Herr, die Treppenstufen waren naß und schlüpfrig. Aber so wie es aussah – es sah aus, als ob die Herrin mit dem Mann sprach und ihn fahrenließ, aber dann … aber dann riß das Wasser sie mit. Beide, denn er klammerte sich an ihr fest. Ich konnte nur ein sich umeinanderdrehendes Bündel sehen, als sie fortgeschwemmt wurden, bis ich sie nicht mehr sah. Aber da bin ich hinausgerannt und habe mich in die Fluten gestürzt und bin hinter ihnen her.«
»Stern Sänger wäre fast ertrunken, Herr«, sagte Türkis schniefend. »Er hat getan, was in seinen Kräften stand, wirklich.«
»Es war keine Spur von ihnen zu sehen«, fuhr er kläglich weiter fort. »Bis ans Ende der Straße, wo ein paar alte Lehmziegelhäuser eingestürzt waren – vielleicht haben sie sie unter sich begraben. Aber es wurde zu dunkel, um überhaupt etwas zu sehen, und ein Balken, der heruntergeschwemmt kam, prallte mir gegen den Kopf, daß mir fast die Sinne geschwunden wären. Ich klammerte mich am Türpfosten eines Hauses fest, das noch stand, und blieb die ganze Nacht über dort.«
»Erst als das Wasser anfing, sich zu senken, ist er nach Hause gekommen – heute morgen«, sagte Türkis. »Und dann sind wir beide hinausgegangen und haben gesucht.«
»Und … nichts?« krächzte ich.
»Wir haben nur den Mann gefunden«, sagte Stern Sänger. »Halb vergraben von herabgestürzten Trümmern, wie ich vermutet hatte.«
Türkis sagte: »Cocóton haben wir bis jetzt noch nichts von ihrer Mutter gesagt. Will der Herr jetzt hinaufgehen?«
»Ja, soll ich ihr sagen, was ich selbst noch nicht glauben kann?« stöhnte ich. Ich raffte mich mit letzter Kraft auf, straffte meinen erschlafften Körper und sagte: »Nein, das werde ich nicht tun. Komm, Stern Sänger. Laß uns noch mal suchen.«
Hinter meinem Haus senkte sich die Straße sanft zur Kanalbrücke hin, und die Häuser dort unten hatten selbstverständlich mehr unter der Wucht der Wasserflut gelitten als die weiter oben stehenden. Außerdem waren es die am wenigsten eindrucksvollen Häuser der Straße, nur Lehm- und Holzbauten. Wie Stern Sänger gesagt hatte, waren es jetzt keine Häuser mehr; es waren Haufen halb zerbrochener, halb vom Wasser aufgelöster Ziegel aus Lehm und Stroh, zerspellten Brettern und einem Durcheinander von Mobiliar. Mein Diener deutete auf ein zerknülltes Tuch, das darunter lag, und sagte:
»Da liegt der Unglückliche. Kein großer Verlust. Er hat davon gelebt, sich den Männern auf den Abfallbooten zu verkaufen. Diejenigen, die sich keine Frau leisten konnten, bedienten sich seiner, und er verlangte nur eine einzige Kakaobohne.«
Er lag mit dem Gesicht zum Boden, ein Haufen zerfetzter Lumpen und völlig von Schlamm verklebten langen grauen Haaren. Mit dem Fuß drehte ich ihn um und sah ihn mir zum letzten Mal an. Mit leeren Augenhöhlen und klaffend aufgerissenem Mund starrte Chimáli mich an.
Nicht sogleich, aber hinterher, später, als ich imstande war zu überlegen, dachte ich über Stern Sängers Worte nach: daß der Mann in der letzten Zeit auf den Booten gewesen war, welche den Abfall unseres Viertels fortgeschafft hatten. Ich überlegte: hatte Chimáli erst in letzter Zeit entdeckt, wo ich lebte? Hatte er uns heimsuchen wollen, immer in der Hoffnung und blind nach einer Gelegenheit suchend, mir und den Meinen ein letztes Mal etwas anzutun? Hatte die Überschwemmung ihm die Möglichkeit gegeben, mir den schlimmsten Schlag zu versetzen und sich dann für immer meiner Rache zu entziehen? Oder war das ganze eine Machenschaft der Götter gewesen? Es sieht in der Tat so aus, als ob es sie belustige, Dinge zusammentreffen zu lassen, die sonst unwahrscheinlich, ja unerklärlich scheinen und die man nicht glauben könnte.
Ich sollte es nie erfahren.
In diesem Augenblick wußte ich nur, daß ich meine Frau verloren hatte, daß ich mich mit dieser Tatsache nicht abfinden konnte und daß ich weitersuchen mußte. Ich sagte zu Stern Sänger: »Wenn dieser Unselige hier ist, dann muß Zyanya es auch sein. Wir werden jeden von diesen Millionen Ziegeln umkehren. Ich fange schon an, und du gehst hin und holst andere, uns dabei zu helfen. Geh!«
Stern Sänger machte, daß er fortkam, und ich beugte den Rücken, um einen hölzernen Balken hochzuheben und beiseitezuschieben, doch konnte ich nicht wieder hochkommen, rutschte nach vorn und fiel auf das Gesicht.
Es war später Nachmittag, als ich auf meinem eigenen Lager wieder zu mir kam und die beiden Diener sich besorgt über mich beugten. Das erste, was ich fragte, war: »Haben wir sie gefunden?« Als beide den Kopf schüttelten, fuhr ich sie an: »Ich habe euch befohlen, jeden Ziegel umzudrehen!«
»Herr, das ist unmöglich«, wimmerte Stern Sänger. »Das Wasser steigt wieder. Ich bin zurückgekehrt und gerade noch rechtzeitig gekommen, sonst wäret Ihr ertrunken.«
»Wir wußten nicht recht, ob wir Euch wecken sollten«, sagte Türkis offensichtlich voller Angst. »Der Verehrte Sprecher hat befohlen, daß alle die Stadt zu verlassen haben, ehe sie ganz untergegangen ist.«
Und so kam es, daß ich diese Nacht schlaflos auf einem Hügel saß, einer von vielen schlafenden Flüchtlingen. »Langer Weg«, hatte Cocóton unterwegs bemerkt. Da nur die ersten Menschen, welche Tenochtítlan verlassen hatten, auf dem Festland Unterkunft gefunden hatten, blieben diejenigen, die ihnen folgten, einfach stehen, wo sie waren, und hatten sich auf dem Boden ausgestreckt. »Dunkle Nacht«, sagte meine Tochter zutreffend. Wir vier hatten nicht einmal einen Baum, Schutz darunter zu suchen, doch hatte Türkis vorsorglich daran gedacht, Decken mitzunehmen. Sie, Stern Sänger und Cocóton hatten sich in die ihren eingewickelt, lagen auf der Erde und schliefen fest, wohingegen ich, die Decke um die Schultern gelegt, dasaß und mein Kind betrachtete, mein Krümelchen, das Kostbarste und Einzige, was mir von meiner Frau noch geblieben war. Und Trauer erfüllte mein Herz.
Vor einiger Zeit, ehrwürdige Patres, habe ich versucht, Zyanya zu beschreiben, indem ich sie der wohltätigen und alles gebenden Schwarzgrünen Agave verglich, doch eines habe ich vergessen zu erwähnen. Einmal in ihrem Leben, nur ein einziges Mal, treibt sie einen einzelnen Schaft, welcher eine Fülle von süßduftenden gelben Blüten trägt; dann stirbt die Schwarzgrüne Agave.
Schwer habe ich in dieser Nacht um den Trost gerungen, welcher von den salbungsvollen Beteuerungen der Priester ausgeht: daß die Toten weder aufbegehren noch trauern. Der Tod, behaupteten unsere Priester, ist nichts weiter als das Erwachen aus dem Traum, gelebt zu haben. Vielleicht stimmt das. Eure christlichen Priester behaupten Ähnliches. Aber das war nur ein geringer Trost für mich, der ich zurückbleiben mußte in dem Traum, lebendig, allein, schmerzlich verlassen. Und so verbrachte ich die Nacht damit, mich Zyanyas zu erinnern und der allzu kurzen Zeit, die wir zusammen hatten verbringen dürfen, ehe ihr Traum geendet hatte.
Ich erinnere mich heute noch …
Einst, auf unserer Reise nach Michihuácan, hatte sie eine Blume entdeckt, die aus einem Spalt in einer Felswand etwas über uns hervorwuchs, und die sie nicht kannte, die sie aber bewunderte, und sie sagte, sie wünschte, sie hätte eine solche Pflanze daheim; es wäre mir ein leichtes gewesen, hinaufzuklettern und sie ihr zu holen …
Und einmal – ach, es war keine besondere Gelegenheit – erwachte sie, verliebt in den Tag, was nichts Ungewöhnliches war für Zyanya – und da machte sie ein kleines Gedicht, und dann ersann sie eine Melodie dafür und ging leise singend umher, um sie sich einzuprägen, und sie bat mich, ihr eine jener kleinen Flöten aus Ton zu kaufen, die wir Gluckerflöten nannten, um ihr Lied darauf zu spielen. Ich sagte, das würde ich tun, sobald ich das nächstemal einen Bekannten von mir, einen Musikanten, träfe und ihn bewegen könne, mir eine zu machen. Aber ich vergaß es, und sie – als sie sah, daß ich den Kopf mit anderen Dingen voll hatte – erinnerte mich nie daran.
Und einmal …
Ayya, die vielen Male …
Oh, ich weiß, sie hat niemals an meiner Liebe zu ihr gezweifelt. Aber warum habe ich jemals die geringste Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, sie ihr zu zeigen? Ich weiß, sie verzieh mir meine gedankenlosen kleinen Fehler und belanglosen Versäumnisse; wahrscheinlich hat sie sie gleich hinterher vergessen, was ich nie fertiggebracht habe. All die vielen Jahre seither ist mir immer wieder diese oder jene Gelegenheit eingefallen, da ich dieses oder jenes hätte tun können, es jedoch versäumte, und wozu ich jetzt nie wieder eine Gelegenheit haben werde. Heute ist es so, daß die Dinge, an die ich mich am liebsten erinnern möchte, sich mir entziehen. Wenn ich mich der Worte dieses kleinen Liedes entsinnen könnte, das sie machte, als sie besonders glücklich war, oder zumindest der Melodie, könnte ich sie manchmal vor mich hinsummen. Oder wenn ich wüßte, was sie mir nachrief, als der Wind ihr die Worte vom Mund riß, damals, als ich sie das letztemal sah …
Als wir Flüchtlinge endlich wieder auf die Insel zurückkehren konnten, war so viel von der Stadt zerstört, daß die Trümmer, welche zuvor auf der Straße gelegen hatten, nicht mehr von denen zu unterscheiden waren, die hinterher darauf gefallen waren. Arbeiter und Sklaven waren bereits dabei, den Schutt beiseite zu räumen und zu retten, was von den Kalksteinblöcken nicht zerbrochen und noch zu gebrauchen war. Was übrig blieb, wurde eingeebnet, um die neuen Häuser darauf zu bauen. So wurde Zyanyas Leichnam nie gefunden, keine Spur von ihr, nicht einmal einer ihrer Ringe oder Sandalen. Sie verschwand so vollständig und unwiederbringlich wie das kleine Lied, das sie einst geschrieben. Gleichwohl, meine Herren Skribenten, weiß ich, daß sie immer noch irgendwo hier ist – obwohl nacheinander zwei neue Städte über ihrem unentdeckten Grab in die Höhe gewachsen sind. Ich weiß es, denn sie konnte ja ihr Stück Jade nicht mitnehmen, welches ihr den Weg in die Gegenwelt gesichert hätte.
Viele Male bin ich spät nachts durch diese Straßen gewandert und habe leise ihren Namen gerufen. Das habe ich in Tenochtítlan getan und das tue ich jetzt noch in dieser Stadt Mexíco; ein alter Mann schläft nachts nur wenig. Und ich habe viele Erscheinungen gesehen, doch keine darunter, die ihr geglichen hätte.
Ich bin nur unglücklichen und boshaften Geistern begegnet, und keinen einzigen davon habe ich mit Zyanya verwechseln können, die ihr Leben lang glücklich war und starb, als sie etwas Gutes tun wollte. Ich bin so manch einem toten Krieger der Mexíca begegnet und habe ihn erkannt; die ganze Stadt wimmelte von diesen jammervollen, trüben Gespenstern. Ich habe die Weinende Frau gesehen; sie ist wie ein treibender Nebelfetzen in Gestalt einer Frau, und ich habe ihren trauervollen Klagelaut vernommen. Aber sie hat mich nicht geschreckt; sie tat mir leid, denn auch ich weiß, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren; und als sie mich mit ihrem Jammergeheul nicht schrecken konnte, entfloh sie meinen Trostworten. Einmal wollte es mir so vorkommen, als hätte ich zwei wandernde Götter getroffen und mit ihnen gesprochen, dem Gott Nacht Wind und Dem Altesten Der Alten Götter. Zumindest haben sie behauptet, es zu sein, doch sie taten mir nichts Böses an und schienen zu meinen, ich hätte genug Kummer gehabt im Leben.
Manchmal habe ich auf vollkommen dunkel und verlassen daliegenden Straßen etwas gehört, was Zyanyas fröhliches Lachen hätte sein können. Vielleicht sind das Einbildungen, die Phantasien eines sehr alten Mannes, doch ist dies Lachen jedesmal von einem Licht in der Dunkelheit begleitet gewesen, ähnlich dem hellen Blitz in ihrem schwarzen Haar. Möglich, daß mir mein schwaches Sehvermögen da einen Streich spielt, denn bis ich es schaffte, meinen Topas vors Auge zu halten, war es jedesmal verschwunden. Doch ich weiß, sie ist hier, irgendwo, und es bedarf für mich dazu keines Beweises, so sehr ich mich auch danach sehne.
Ich habe lange und tief darüber nachgedacht und jetzt frage ich mich. Stoße ich nur auf die traurigen und menschenfeindlichen Bewohner der Nacht weil ich selbst ihnen so sehr ähnele? Ist es möglich, daß Menschen besseren Wesens und froheren Herzens bereiter sind, lieblichere Trugbilder zu schauen? Ich bitte euch, ehrwürdige Patres, falls einer von euch Zyanya irgendwann einmal nachts treffen sollte – würdet ihr es mir dann sagen? Ihr werdet sie auf Anhieb erkennen, und ein Geist von solcher Schönheit wird euch keinen Schrecken einjagen. Sie wird aussehen wie ein Mädchen von zwanzig Jahren, wie sie damals ausgesehen hat; denn der Tod hat ihr zumindest die Krankheiten und die Runzeln des Alters erspart. Und ihr werdet dieses Lachen erkennen, denn ihr werdet gar nicht anders können, als es zu erwidern. Sollte sie sprechen … etwas sagen …
Aber nein, ihr würdet ihre Sprache nicht verstehen. Habt nur die Güte, mir zu sagen, wo ihr sie gesehen habt. Denn sie wandelt immer noch durch diese Straßen. Ich weiß es. Sie ist hier und wird immer hier sein.
Immer.