»Möglich«, sagte ich. »Aber wir müssen einen Mond auf sie warten, und wir haben immer noch Waren, mit denen wir Handel treiben können; und außerdem habe ich einen persönlichen Grund, warum ich die Maya aufsuchen möchte.«
Er murrte: »Diese Chiapa-Frauen mögen von dunkler Haut sein, aber sie übertreffen bei weitem alle, die du unter den Maya findest.«
»Alter Wüstling, denkst du nie an etwas anderes als an Frauen?«
Cozcatl, der überhaupt nicht an Frauen dachte, bat: »Ja, laßt uns weiterziehen. Sollen wir so weit gewandert sein und dann den Dschungel nicht zu sehen bekommen?«
»Ich denke auch ans Essen«, sagte Blut Schwelger. »Diese Macoboö tragen reichlich auf! Außerdem haben wir mit Zehn unseren einzigen fähigen Koch verloren.«
Ich sagte: »Du und ich, wir ziehen weiter, Cozcatl. Laß diesen trägen Greis hierbleiben und seinem Namen alle Ehre machen.«
Blut Schwelger murrte noch eine Weile weiter, doch wie ich genau wußte, war seine Lust am Weiterziehen genauso groß wie jede andere seiner Lüste. Bald war er in Richtung Marktplatz verschwunden, um einiges einzukaufen, wovon er sagte, daß wir es im Dschungel brauchen würden. Ich hingegen begab mich noch einmal zu Meister Xibalbá und forderte ihn auf, sich aus unseren Handelsgütern auszusuchen, was er wolle – als zusätzlichen Verdienst zu dem, was ich ihm außerdem an Zahlungsmitteln für seinen Vorrat an Kristallen geben wollte. Abermals erwähnte er seine zahlreichen Sprößlinge und freute sich, etliche Umhänge, Schamtücher, Blusen und Röcke aussuchen zu dürfen. Mir machte das gleichermaßen Freude, denn immerhin waren das die Dinge, die in unseren Traglasten am meisten Platz beanspruchten. Damit waren zwei unserer Sklaven frei, und ich hatte keine Mühe, hier in Chiapán willige Käufer zu finden, die in Goldstaub zahlten.
»Jetzt werden wir den Heilkundigen noch einmal aufsuchen«, sagte Blut Schwelger. »Ich habe mir bereits vor langer Zeit meinen Schutz gegen Schlangenbiß geben lassen, aber du und der Junge, ihr seid noch nicht behandelt worden.«
»Vielen Dank für die löbliche Absicht«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich würde mir von diesem Quacksalber nicht einmal einen Pickel auf dem Hintern kurieren lassen.«
Doch er war nicht davon abzubringen. »Im Dschungel wimmelt es von Giftschlangen. Trittst du auf eine, wirst du wünschen, du hättest zuvor den Fuß in die Hütte dieses Heilkundigen gesetzt.« An den Fingern begann er sie alle abzuzählen. »Da ist die Gelbkieferschlange, die Korallenrollschlange, die Nauyáka …«
Cozcatl wurde ganz blaß, und mir fiel der Vorsteher der Pochtéca in Tenochtítlan ein, der erzählt hatte, er sei von einer Nauyáka gebissen worden und habe sich den eigenen Fuß abhacken müssen, um nicht zu sterben. Folglich suchten Cozcatl und ich Doktor Maäsh auf, der einen Giftzahn von jeder Schlangenart hervorholte, die Blut Schwelger erwähnt hatte, und noch drei oder vier andere. Mit jedem Zahn stach er uns in die Zunge, nur ganz wenig, gerade genug, daß ein wenig Blut austrat.
»In jedem dieser Giftzähne sitzt ein Rest von getrocknetem Gift«, erklärte er. »Ihr werdet deshalb jetzt einen harmlosen Ausschlag bekommen. Doch der vergeht nach ein paar Tagen, und danach seid ihr gefeit gegen den Biß jeder bekannten Schlangenart. Eine Vorsichtsmaßnahme müßt ihr freilich noch bedenken.« Er lächelte böse und sagte: »Von diesem Augenblick an für immer wird der Biß eurer Zähne genauso todbringend sein wie der einer Schlange. Seht euch also vor, wen ihr beißt.«
So nahmen wir dann von Chiapán Abschied, sobald wir uns von der hartnäckigen Gastfreundschaft der Macoboö und insbesondere von den beiden Cousinen losreißen konnten, indem wir schworen, bald als ihre Gäste wiederzukommen. Da wir weiter wollten nach Osten, mußten wir mit den uns noch verbliebenen Sklaven eine weitere Bergkette überwinden, doch hatte der Gott Tititl mittlerweile das Wetter wieder so warm gemacht, wie es diesen Gebieten entspricht, und so war der Aufstieg keine Strafe, obgleich er uns über die Baumgrenze hinaufführte. Auf der anderen Seite ging es steil wieder bergab
– von den flechtenbedeckten Felsen der Höhe über die Linie hinweg, wo wieder Bäume wuchsen, bis zu herbduftenden Fichten-, Zedern- und Wacholderwäldern. Danach wurden die uns vertrauten Bäume immer seltener und an ihre Stelle traten Arten, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte; diese Bäume wiederum schienen mit den Schling- und Kletterpflanzen, die sie umkrallten, um ihr Leben zu kämpfen.
Die erste Erkenntnis für mich im Dschungel war, daß meine Kurzsichtigkeit dort kein großer Nachteil war, denn Entfernungen gab es nicht; alles stand dicht beieinander. Sonderbar verzerrte Bäume, Pflanzen mit gigantischen grünen Blättern, hohe, fein gefiederte Farne, scheußlich schwammige Pilze – alles wucherte dicht beieinander, machte sich den Raum streitig und bedrängte uns, daß es uns manchmal war, als müßten wir ersticken. Der Baldachin aus Blättern zu unseren Häuptern war wie eine grüne Wolkendecke; auf dem Dschungelboden standen wir selbst um die Mittagsstunde in grünem Dämmerlicht. Alles, was wuchs, alles Grün, ja selbst die Blütenblätter der Blumen, schienen eine warme, feuchte Klebrigkeit zu verströmen. Wiewohl gerade Trockenzeit war, war die Luft selbst schwer und feucht und nicht leicht einzuatmen, wie ein klarer Nebel. Der ganze Dschungel verströmte einen würzigen, moschusartigen, süßlichgeilen Verwesungsgeruch: sämtliche Düfte üppigen Wachstums, das in Abgestorbenem wurzelte.
In den Baumkronen über uns zeterten Brüll- und Klammeraffen, und unzählige Papageienarten kreischten ihre Empörung über unser Eindringen hinaus, während andere Vögel in allen nur denkbaren Farben gleich warnenden Pfeilen hin- und herschossen. Überall schwirrten Kolibris, kaum größer als Bienen, gaukelten Schmetterlinge, so groß wie Fledermäuse. Zu unseren Füßen raschelte es im Unterholz von Tieren, die sich nur verkrochen oder flohen. Vielleicht waren einige davon tödliche Schlangen, doch die meisten waren harmlos: die kleinen Itzam-Eidechsen, die trippelnd auf den Hinterläufen laufen können; die großfingrigen Frösche, die auf Bäume hinaufklettern; die in allen Farben schillernden Leguane mit dem Rückenkamm und den Kehllappen; der kleine Jaleb mit dem glänzendbraunen Fell, der nur ein kurzes Stück davonsprang, um sich dann umzudrehen und uns mit seinen Knopfaugen anzustarren. Selbst die größeren und häßlicheren Dschungeltiere gehen den Menschen aus dem Weg: der schwerfällige Tapir, das zottelige Capybara-Wasserschwein und der furchterregende, klauenfüßige Ameisenbär.
Jedenfalls stellten wir für die Dschungeltiere mehr eine Gefahr dar als sie für uns. Während unseres Monds im Dschungel versorgte Blut Schwelger uns mit seinen Pfeilen mit Jaleb, Leguan, Capybara und Tapir. Eßbar, ehrwürdige Patres? Aber ja doch! Das Fleisch des Jaleb ist von dem des Opossum nicht zu unterscheiden; Leguanfleisch ist weiß und mürbe wie das jenes Panzerkrebses, den ihr Hummer nennt; das Fleisch des Capybara-Wasserschweins schmeckt wie das zarteste Kaninchen, und Tapirfleisch fast genauso wie Schweinefleisch.
Das einzige größere Tier, das wir zu fürchten hatten, war der Jaguar. Diese Raubkatzen kommen in den Dschungeln im Süden zahlreicher vor als in allen gemäßigten Zonen zusammen. Während wir im Gänsemarsch einer hinter dem anderen durch den Dschungel zogen, mußte auf Blut Schwelgers Geheiß jeder von uns seinen Speer senkrecht tragen, so daß die Spitze nach oben zeigte, denn die Jagdweise des Dschungeljaguars besteht vornehmlich darin, sich auf einen Ast zu ducken und darauf zu warten, daß er von dort oben einen unten Vorübergehenden anfallen kann.
Blut Schwelger hatte in Chiapán für jeden von uns zwei Dinge erstanden, und ich glaube nicht, daß wir im Dschungel ohne sie hätten überleben können. Bei dem einen handelte es sich um ein leichtes, feinmaschiges Moskitonetz, mit dem wir uns manchmal sogar während des Tagesmarsches bedeckten, eine solche Qual bildeten die schwirrenden Insekten. Beim anderen handelte es sich um eine Gishe genannte Art Bett: ein aus dünnen Seilen geknüpftes und wie eine Bohnenschote geformtes Netz, das man zwischen zwei nahe beieinanderstehenden Bäumen aufhängen konnte. Die Gishé war wesentlich bequemer als irgendein Lager auf dem Boden, und fortan führte ich auf allen meinen Reisen eine bei mir, um sie zu benutzen, wo immer Bäume vorhanden waren, sie dazwischen aufzuspannen.
Unsere dergestalt über dem Boden hängenden Schlafgelegenheiten sorgten dafür, daß wir die Nachtruhe außerhalb der Reichweite der meisten Schlangen halten konnten, und die Hülle aus feingewebtem Netz hielt zumindest ekliges Gezücht wie Vampirfledermäuse, Skorpione und anderes, nicht ganz so zudringliches Gewürm davon ab, uns zu quälen. Nicht gefeit hingegen waren wir gegen hartnäckigere Tiere wie etwa Ameisen, welche unsere Gishé als bequeme Brücken benutzten und unter dem Moskitonetz hindurchkrochen, um an uns heranzukommen. Solltet ihr jemals den Wunsch verspüren, zu erfahren, wie sich etwa der Biß einer Dschungelbewohnerin wie der Feuerameise anfühlt, ehrwürdige Patres, braucht ihr nur einen von Meister Xibalbás Kristallen zwischen die Sonne und eure nackte Haut zu halten.
Es gab aber weit Schlimmeres. Eines Morgens wachte ich mit dem Gefühl auf, etwas Bedrückendes auf der Brust zu haben, und als ich vorsichtig den Kopf hob, sah ich eine dicke, dicht behaarte schwarze Hand darauf liegen – eine Hand, nahezu doppelt so groß wie meine eigene. »Wenn mich da ein Affe streichelt«, dachte ich verschlafen, »muß es sich um eine völlig neue, unbekannte Art handeln, die größer ist als ein Mensch.« Dann erkannte ich unversehens, daß es sich bei dem schweren Gewicht um den vogelverschlingenden Langarmigen Tarantelskorpion handelte und nur das dünne Gewebe meines Moskitonetzes mich von ¡hm und seinen Kiefernklauen trennte. An keinem anderen Morgen meines Lebens habe ich mich so jäh aufgesetzt, mich von meinen Decken befreit und bin so schnell bis hinüber zu der Asche des Lagerfeuers gesprungen – und das alles in einer Bewegung – und dabei stieß ich einen gellenden Schrei aus, der alle anderen ebenso hochfahren ließ.
Doch nicht alles im Dschungel ist häßlich oder bedrohlich oder übelkeiterregend. Trifft der Reisende die nötigen Vorsichtsmaßregeln, kann der Dschungel auch gastfreundlich und schön sein. Wild zum Essen läßt sich leicht erlegen, und viele der Pflanzen ergeben ein schmackhaftes Gemüse; sogar einige unangenehm aussehende Pilzgewächse munden überaus köstlich. Es gibt dort eine armdicke Schlingpflanze, die trocken und hart aussieht wie gebrannter Ton; trennt man jedoch eine Armlänge davon ab, sieht man, daß sie im Inneren ein bienenwabenähnliches Gewebe aufweist; stellt man es auf den Kopf, rinnt eine ganze Menge des köstlichsten und kühlsten Trinkwassers heraus.
Zu den prächtigsten Vögeln, die wir sahen, gehörten die zahlreichen Quetzal-Arten mit ihrem leuchtendbunten Gefieder und dem deutlich erkennbaren Federschopf auf dem Kopf. Nur höchst selten zu sehen bekamen wir freilich den prächtigsten Vogel dieser Art, den Quetzal Tototl mit seinen smaragdenen Schwanzfedern, lang wie ein Männerbein. Dieser Vogel ist auf sein Gefieder genauso stolz wie der Edelmann, der sie später trägt. Zumindest erzählte mir das später ein Maya-Mädchen namens Ix Ykóki. Sie sagte, der Quetzal Tototl baue ein kugelförmiges Nest, das seiner beiden Schlupflöcher wegen eine Besonderheit unter den Vogelnestern darstellt. Besagter Schlupflöcher wegen kann der Vogel durch das eine in sein Nest hinein und durch das andere wieder hinausfliegen, ohne sich umzudrehen und dabei Gefahr zu laufen, seine köstlichen Schwanzfedern zu knicken. Auch nähre der Quetzal Tototl sich ausschließlich von kleinen Früchten und Beeren, die er im Vorüberfliegen von Bäumen und Schlingpflanzen abpickt und im Flug hinunterschluckt, statt sich bequem auf einem Zweig niederzulassen und sich seine weit in die Tiefe hinunterhängenden Federn mit dem Saft der Beeren zu bekleckern.
Da ich das Mädchen Ix Ykóki einmal erwähnt habe, kann ich genausogut auch an dieser Stelle schon sagen, daß meiner Meinung nach weder sie noch irgendwelche andere Bewohner dieser Lande merklich zur Schönheit der Dschungelgebiete beigetragen haben.
Nach allem, was man hört, haben die Maya einst eine bei weitem reichere, mächtigere und strahlendere Kultur ihr eigen genannt als wir Mexíca sie jemals erreicht haben, und die Ruinen ihrer einstigen Städte legen beredtes Zeugnis für diese Behauptungen ab. Vieles weist auch darauf hin, daß die Maya all ihre Künste und ihr Können von den unvergleichlichen Toltéca gelernt haben, ehe die Meisterhandwerker verschwanden. So verehrten die Maya zum Beispiel viele derselben Toltéca-Götter, die wir Mexíca später dann auch übernommen haben. Die wohltätige Gefiederte Schlange, die wir Quetzalcoatl nennen, hieß bei ihnen Kukulkán, und den Regengott, den wir Tlaloc heißen, nennen sie Chak.
Auf dieser ersten Expedition und auf späteren habe ich die Überreste vieler Mayastädte gesehen und kein Mensch könnte leugnen, daß sie zur Zeit ihrer Hochblüte überwältigend gewesen sein müssen. Auf den leeren Plätzen und Innenhöfen kann man heute noch bewundernswerte Statuen und Steinreliefs und reich verzierte Fassaden, ja sogar Bilder bewundern, deren lebhafte Farben auch in den Schock vieler Jahre seit ihrem Entstehen nicht verblaßt sind. Ganz besonders steht mir heute noch eine Besonderheit der Mayabauten vor Augen – ihre nach oben sich leicht verjüngenden Türöffnungen –, an denen unsere modernen Baumeister sich noch nie versucht haben oder die sie vielleicht nicht haben nachahmen können.
Auf Generationen hinaus muß es zahllose Mayakünstler und -handwerker unendlich viel Arbeit und liebevolle Sorgfalt gekostet haben, diese Städte zu bauen und auszugestalten. Jetzt stehen sie leer, verlassen und verloren da. Nichts deutet darauf hin, daß sie von irgendwelchen feindlichen Heeren belagert worden oder Naturkatastrophen zum Opfer gefallen wären; trotzdem haben die nach Tausenden zählenden Einwohner jede einzelne davon verlassen. Die Abkommen dieser Bewohner sind – was ihre eigene Geschichte betrifft – von einer Unwissenheit und einer Interesselosigkeit, daß sie weder sagen noch einigermaßen einleuchtend mutmaßen können, warum ihre Vorfahren diese Städte verlassen und warum sie zugelassen haben, daß der Dschungel sich ihrer bemächtigte und sie wieder überwucherte. Die heutigen Mayas vermögen nicht einmal zu sagen, warum sie – die doch all diese Großartigkeit geerbt haben sollten – jetzt so apathisch in Dörfern mit strohgedeckten Flechtwerkhütten am Rande dieser Geisterstädte leben.
Das einst ausgedehnte Reich der Maya, das damals von einer Hauptstadt namens Mayapán aus regiert wurde, ist schon seit langem in einen geographisch voneinander getrennten Nord- und Südteil auseinandergefallen. Ich und meine Gefährten zogen durch den schöneren Teil: das üppige Dschungelland Tamoán Chan oder Land der Nebel, welches sich von den Grenzen des Chiapa-Landes endlos nach Osten erstreckt. Im Norden, den ich bei einer späteren Gelegenheit bereiste, stößt jene große Halbinsel in das Nord-Meer vor, wo ihr Spanier zum erstenmal den Fuß auf diese Erde gesetzt habt. Ich hätte vermutet, nachdem ihr euch in jenen wenig einladenden Ödländern umgesehen hättet wäret ihr wieder abgesegelt, um nie wiederzukommen.
Statt dessen gaben sie diesem Land einen Namen, der noch absurder ist als euer Rinderhorn für Quaunáhuac oder Tortilla für das, was wir einst Texcála nannten. Als die ersten Spanier dort landeten und fragten: »Wie heißt dieses Land?«
antworteten die Einwohner, was doch ganz natürlich war, mit einem »Yectetán«, was nichts weiter bedeutet als: »Ich verstehe nicht.« Diese Forschungsreisenden machten daraus den Namen Yucatán, und jetzt wird die Halbinsel vermutlich für alle Ewigkeit so heißen. Aber ich sollte mich nicht lustig darüber machen. Der Mayaname für dieses Gebiet – Uluümil Kutz oder Land des Überflusses – klingt genauso lächerlich oder ist möglicherweise auch ironisch zu verstehen, da der größte Teil dieser Halbinsel jämmerlich unfruchtbar und denkbar ungeeignet ist für menschliche Besiedelung.
Genauso wie ihr auseinandergefallenes Reich, sind die Maya heute auch kein einheitlich unter einem Herrscher lebendes Volk mehr. Sie haben sich in eine Vielzahl von Stämmen zersplittert, die unter der Herrschaft irgendwelcher kleinen Häuptlinge stehen; alle verachten sie sich gegenseitig und verunglimpfen einander, und die meisten sind entmutigt und machen sich nicht im geringsten etwas daraus, in einem Zustand der Verwahrlosung zu leben, der ihre Ahnen mit Abscheu erfüllt hätte. Gleichwohl rühmt ein jeder dieser Splitterstämme sich, der einzige und einzig wahre Nachkomme der großen Maya zu sein. Ich persönlich glaube, daß die alten Maya entrüstet jede Verwandtschaft mit ihnen geleugnet hätten.
Man stelle sich vor: Diese Elenden können einem nicht einmal die Namen dieser einst blühenden Städte ihrer Vorfahren sagen und nennen sie, wie es ihnen gerade beliebt. Eine dieser Städte, die heute gleichwohl vom Dschungel überwuchert ist besitzt immer noch eine bis in den Himmel reichende Pyramide und einen türmebesetzten Palast sowie zahlreiche Tempel, wird jedoch einfallslos einfach Palemké genannt, das Mayawort für jede beliebige »heilige Stätte«. In einer anderen verlassenen Stadt sind die Kriech- und Schlingpflanzen bis jetzt noch nicht in die Galerien im Inneren vorgedrungen, und die Wände dieser Wandelhallen weisen kunstvoll gemalte Wandbilder mit Krieger- und Schlachtenszenen, Hofzeremonien und dergleichen auf. Fragt man die Abkömmlinge dieser Krieger und Höflinge, was sie über diese Stadt wissen, zucken sie gleichmütig mit den Achseln und nennen die Bilder nur Bonampák, was nichts weiter heißt als »bemalte Wände«.
In Uluümil Kutz liegt eine Stadt, welcher der Zahn der Zeit bis jetzt kaum etwas hat anhaben können und die man zu Ehren der verschlungenen, gleichwohl jedoch zarten Bauweise der vielen Gebäude dort zurecht »Ort menschengeschaffener Schönheit« nennen könnte; dabei wird sie einfach »Uxmal« genannt, was soviel bedeutet wie »Dreimal gebaut«. Noch eine andere Stadt ist dort tief im Dschungel herrlich auf einem Hügel gelegen, welcher auf einen breiten Fluß hinausgeht. Ich zählte die Ruinen oder Grundmauern von mindestens einhundert gewaltigen, aus grünen Granitblöcken gefügten Gebäuden, und ich glaube, es muß das erhabenste aller Maya-Zentren gewesen sein. Aber die Unseligen, die heute rund um diese Stadt leben, nennen sie einfach Yaxchilan – einen Ort, wo es viele »grüne Steine« gibt.
Oh, zugegeben, einige von den Stämmen – insbesondere die Xiu der nördlichen Halbinsel und die Tzotxil der südlichen Dschungel – beweisen noch einige Intelligenz und Lebenskraft und auch einen gewissen Stolz auf ihr verlorenes Erbe. Sie unterscheiden nach Geburt und Stand verschiedene Klassen: Adel, Gemeinfreie, im Frondienst Stehende und Sklaven. Sie erhalten auch immer noch einige der Künste ihrer Ahnen am Leben: ihre Weisen Männer kennen sich in Heilkräutern und der Kunst der Chirurgie aus, in der Arithmetik und in der Kalenderkunde. Sie heben sorgfältig Tausende und Abertausende von Büchern auf, welche von ihren Ahnen geschrieben wurden, wiewohl die Tatsache, daß sie so wenig über ihre eigene Geschichte Bescheid wissen, mich zweifeln läßt, daß selbst die gebildetsten ihrer Priester sich jemals die Mühe machen, diese alten Bücher zu lesen.
Doch selbst die alten, hochzivilisierten und kultivierten Maya hingen manchen Gebräuchen an, die wir heute als wunderlich betrachten müssen – und leider ist es so, daß ihre Abkommen sich ausgerechnet um die Weiterführung dieser Absonderlichkeiten bemühen und so viele andere achtbare Fertigkeiten einfach verkümmern lassen. Für einen Außenstehenden wie mich mutet am groteskesten an, was die Maya an ihrem eigenen Äußeren als schön betrachteten.
Wie die ältesten gemalten und steingehauenen Bilder der Maya beweisen, hat dieses Volk immer Hakennase und fliehendes Kinn ausgezeichnet, und dieses raubvogelhafte Aussehen haben sie stets noch zu steigern getrachtet. Was ich meine, ist, daß die alten und die heutigen Maya ihre Kinder mit Absicht und von Geburt an verformen. Dem Baby wird ein flaches Brett vor die Stirn gebunden, das die ganze Kindheit über da bleibt. Wird es schließlich abgenommen, weist das Kind eine Stirn auf, die genauso flach nach hinten flieht wie ihr Kinn, was bewirkt, daß die von Natur aus vorspringende Nase noch mehr an einen Geierschnabel gemahnt.
Doch das ist nicht alles. Wenn ein Mayajunge oder -mädchen sonst auch ganz nackt herumläuft, wird es an einer Schnur stets ein aus Ton oder Harz bestehendes Kügelchen vor der Stirn herunterhängen haben, so daß dieses ihm zwischen den Augen baumelt. Selbiges dient dazu, die Kinder zum Schielen zu bringen, was bei den Mayas aller Länder und Klassen als ein weiteres Kennzeichen überragender Schönheit gilt. Manche Mayamänner und -frauen schielen dermaßen, daß ich finde, nur die weit vorspringende Nase hindert die beiden Augen überhaupt noch daran, ineinander überzugehen und zu verschmelzen.
Wahrscheinlich hätte ich all die wenig reizvollen, geierschnabelnasigen Frauen dort überhaupt nicht wahrgenommen, wäre es mir nicht so vorgekommen, als ob – in einem Dorf, wo wir übernachteten, einem Dorf der auf Sauberkeit bedachten Tzotxil – ein bestimmtes Mädchen mich dermaßen entschlossen und starr ins Auge faßte, daß ich annahm, sie sei auf den ersten Blick in Leidenschaft zu mir entbrannt. Folglich stellte ich mich ihr mit meinem neuesten Namen vor: Dunkle Wolke heißt in ihrer Sprache Ek Muyal, woraufhin sie mir schüchtern erklärte, sie heiße Ix Ykóki oder Abend Stern. Erst als ich ganz nahe vor ihr stand, bemerkte ich, daß sie ganz besonders stark schielte, und mir ging auf, daß sie mich vermutlich überhaupt nie angesehen hatte. Selbst in dem Augenblick, da ich vor ihr stand, hätte man meinen können, daß sie auf einen Baum starre, der schräg hinter mir wuchs, oder auf ihre eigenen Füße, oder, soweit ich feststellen konnte, möglicherweise sogar auf beides zugleich.
Das verstörte mich ein wenig, doch brachte meine Neugier mich dazu, Ix Ykóki zu bewegen, diese Nacht mit mir zu schlafen. Womit ich nicht sagen will, daß geile Neugier mich dazu trieb festzustellen, ob ein schielendes Mädchen hinsichtlich ihrer anderen Organe auch sonst irgendwelche interessanten Besonderheiten aufweise. Es lag einfach daran, daß ich mich schon seit geraumer Zeit gefragt hatte, wie es wohl wäre, überhaupt mit einer Frau mein freischwingendes Netzbett zu teilen. Ich freue mich, berichten zu können, daß selbiges nicht nur möglich ist, sondern sich sogar als äußerst reizvoll erwies. Ich war so sehr von Sinnen, daß ich erst, nachdem wir völlig verausgabt und verschwitzt in der schwingenden Gishé nebeneinander lagen, erkannte, Ix Ykóki eine ganze Reihe von Liebesbissen beigebracht zu haben, und daß zumindest bei einem ein kleiner Tropfen Blut ausgetreten war.
Das erinnerte mich selbstverständlich an Doktor Maäshs warnende Worte, nachdem er mir die Schlangenbißbehandlung hatte angedeihen lassen, und so lag ich den Rest der Nacht über zum größten Teil wach und litt unter tausend Ängsten. Ich wartete darauf, daß Ix Ykóki begänne, sich in Krämpfen zu winden oder an meiner Seite zu erstarren und langsam zu erkalten. Dabei zermarterte ich mir den Kopf, welche Strafen die Tzotxil wohl für Mörder ihrer Frauen vorgesehen hatten. Aber Ix Ykóki tat nichts Erschreckenderes, als die ganze Nacht über durch ihre große Nase zu schnarchen. Am nächsten Morgen sprang sie frisch und mit strahlenden Schielaugen aus dem Bett.
Ich war froh, das Mädchen nicht umgebracht zu haben; auf der anderen Seite fand ich das aber auch höchst beunruhigend. Falls der alte Quacksalber, der uns gesagt hatte, fürderhin seien unsere Zähne giftig, nichts weiter getan hatte, als eine der dummen, abergläubischen Überzeugungen seines Volkes an uns weiterzugeben, bestand die große Wahrscheinlichkeit, daß Cozcatl und ich keineswegs gegen den Biß der Giftschlangen gefeit waren – oder daß Blut Schwelger es jemals gewesen war. Ich unterrichtete meine Teilhaber, und von Stund an sahen wir uns doppelt vor, wohin wir unsere Hände und Füße setzten, als wir durch den Dschungel zogen.
Einige Zeit darauf machte ich die Bekanntschaft eines weiteren Wundarztes – eines jener Heilkundigen, die zu sehen ich mich seit so langer Zeit gesehnt und um dererwillen ich soweit gewandert war: einen jener Maya-Ärzte, welche berühmt waren für ihre Fähigkeit, Krankheiten des Auges zu heilen. Er hieß Ah Chel, gehörte gleichfalls dem Stamm der Tzotxil an, und Tzotxil heißt Fledermausmenschen, was ich für ein Zeichen von guter Vorbedeutung hielt, da Fledermäuse jene Geschöpfe sind, die am besten im Dunkeln sehen. Doktor Ah Chel besaß aber auch noch andere Eigenschaften, welche ihn mir angenehm sein ließen: er sprach ein anständiges Náhuatl und schielte selber nicht. Ich glaube, einem schielenden Arzt hätte ich immer mit einigem Mißtrauen gegenübergestanden.
Er fühlte mir weder den Puls, noch rief er die Götter an, noch bediente er sich irgendeiner anderen geheimnisvollundurchsichtigen Methode der Krankheitsfindung. Er träufelte mir als erstes ein paar Tropfen vom Saft des Camopalxihuitl-Krauts in die Augen, um meine Pupillen zu vergrößern, auf daß er in das Innere des Augapfels hineinsehen könne. Während wir darauf warteten, daß das Mittel wirkte, redete ich – vielleicht nur, um mich selbst zu beruhigen – und berichtete von dem Quacksalber Doktor Maäsh und den Umständen, die zu Zehns Erkrankung und Tod geführt hatten.
»Kaninchenfieber«, sagte Doktor Ah Chel und nickte. »Ihr könnt froh sein, daß keiner von euch anderen dieses kranke Kaninchen angefaßt hat. Nicht das Fieber an sich ist es, das zum Tode führt; es schwächt das Opfer nur so weit, daß es einer anderen Krankheit erliegt, welche die Lungen mit einer schleimigen Flüssigkeit füllt. Euer Sklave könnte vermutlich heute noch leben, hättet Ihr ihn von den Höhen heruntergebracht an einen Ort, wo er dickere und gesündere Luft hätte atmen können. Aber jetzt wollen wir uns mal Eure Augen ansehen.«
Woraufhin er einen klaren Kristall hervorzog – zweifellos einen von Meister Xibalbá gefertigten –, angestrengt in jedes meiner Augen hineinschaute, sich dann zurücksetzte und mit Nachdruck erklärte: »Junger Ek Muyal, mit Euren Augen ist nichts weiter los.«
»Nichts?« rief ich und fragte mich, ob dieser Ah Chel nicht genauso ein Quacksalber sei wie Maäsh. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte ich: »Es ist nichts weiter mit ihnen los, als daß ich alles, was über Armeslänge von mir entfernt ist, nicht klar erkennen kann. Und das nennt Ihr
nichts?«
»Ich meine, Eure Augen leiden unter keiner Krankheit oder Störung, die ich oder irgendein anderer beheben könnte.«
Ich stieß eine von Blut Schwelgers saftigen Verwünschungen aus und hoffte, daß dem großen Gott Huitzilopóchtli ein großer Schmerz in seine Hoden führe. Ah Chel gab mir durch eine Geste zu verstehen, ich solle ihn bis zuende anhören.
»Daß Ihr die Dinge verschwommen seht, liegt an der Form Eurer Augen; und die ist angeboren. Ein ungewöhnlich geformter Augapfel verzerrt die Sicht genauso, wie dieses Stück ungewöhnlich geformten Quarzes. Haltet diesen Kristall zwischen Euer Auge und eine Blume, und Ihr werdet die Blume einfach so sehen, wie sie ist. Haltet Ihr den Kristall jedoch zwischen Euer Auge und einen etwas entfernteren Garten, ist der Garten nichts als ein verschwommenes Durcheinander von Farben.«
Kläglich sagte ich: »Keine Medizin, und kein chirurgischer Eingriff . . .?«
»Es tut mir leid, aber so ist es. Wäret Ihr von der Blindheit bedroht, weil Ihr von der schwarzen Fliege gebissen worden wäret, ja, das könnte ich mit bestimmten Mitteln wegbringen. Littet Ihr an dem, was wir den Weißen Schleier nennen – auch den könnte ich herausschneiden und Euer Sehvermögen verbessern, wenn auch nicht vollkommen machen. Doch gibt es keinen Eingriff, einen Augapfel zu verkleinern oder zu vergrößern, ohne ihn vollständig zu zerstören. Gegen den Zustand Eurer Augen werden wir nie ein Heilmittel haben, genausowenig, wie je ein Mensch den geheimen Platz kennen wird, wohin die alten Alligatoren sich zurückziehen, um zu sterben.«
Womöglich noch kläglicher murmelte ich: »Dann muß ich also mein Leben lang im Nebel umhertappen und blinzeln wie ein Maulwurf?«
»Nun«, sagte er, und das verriet nicht sonderlich viel Verständnis für mein Selbstmitleid, »Ihr könnt auch den Rest Eures Lebens den Göttern danken, daß Ihr durch den Schleier oder die Fliege oder irgend etwas anderes nicht vollständig mit Blindheit geschlagen seid. Ihr werdet viele sehen, bei denen das der Fall ist.« Er hielt inne und sagte dann spitz: »Und die werden Euch nie sehen.«
Ich ließ mich durch den Wahrspruch des Arztes dermaßen niederdrücken, daß ich den Rest unseres Aufenthaltes in Tamoán Chan in ziemlich düsterer Stimmung verbrachte, und ich fürchte, ich war für meine Teilhaber kein sonderlich angenehmer Gefährte. Als wir mit Hilfe eines Führers aus dem Stamm der Pokomám aus dem weit im Osten liegenden Dschungel die herrlichen Seen von Tziskáo besuchten, betrachtete ich sie mit einer solchen Kälte, als ob der Regengott der Maya, Chak, sie gemacht hätte, um mir persönlich einen Tort anzutun. Es handelt sich um eine aus etwa sechzig stehenden Gewässern bestehende Seenplatte; manche waren nur kleine Teiche, andere hingegen Seen von beträchtlichem Ausmaß, welche durch keinerlei Wasserstraßen miteinander verbunden sind; sie weisen aber auch keinerlei sichtbaren Zufluß auf, wiewohl sie weder in der Trockenzeit kleiner werden, noch in der Regenzeit über die Ufer treten. Das erstaunlichste an ihnen ist jedoch, daß keine zwei von diesen Seen die gleiche Farbe aufweisen.
Auf der Anhöhe, von welcher aus wir sechs oder sieben von diesen Gewässern überblicken konnten, streckte unser Führer den Zeigefinger aus und sagte stolz: »Seht, junger Reisender Ek Muyal! Der dort hinten ist dunkelgrün, jener türkisfarben, der dort leuchtet so grün wie ein Smaragd, der daneben ist vom stumpfen Grün des Jadesteins und der dort hinten blaßblau wie der Winterhimmel …«
Mürrisch brummte ich: »Sie könnten, soweit ich es erkennen kann, genausogut blutrot sein.« Doch das stimmte ganz einfach nicht. Die Wahrheit war, daß ich alles und jedes durch das Dunkel meiner eigenen Verzagtheit hindurch sah.
Eine kurze Zeit wiegte ich mich in einer gewissen Hoffnung, als ich Meister Xibalbás Brennkristall ausprobierte, den ich bei mir trug. Daß ich Nahegelegenes durch diesen Kristall hindurch mit noch größerer Schärfe als ohnehin sah, wußte ich bereits, und so versuchte ich, mit seiner Hilfe auch Fernergelegenes klar zu erkennen. Ich versuchte, es beim Betrachten eines Baums nahe an mein Auge heranzuhalten, dann auf Armeslänge von mir entfernt, und dann in unterschiedlichen, dazwischenliegenden Entfernungen. Es nützte nichts. Sobald es um Gegenstände ging, die weiter als eine Spanne von meinen Augen entfernt waren, machte der Quarz sie höchstens noch verschwommener und undeutlicher, als meine Augen sie ohne jede Hilfe wahrnahmen, und meine Versuche machten mich nur noch niedergeschlagener.
Selbst als ich mit den Maya-Käufern über unsere Waren verhandelte, war ich gereizt und mürrisch, doch glücklicherweise bestand eine so große Nachfrage nach unseren Waren, daß mein wenig gewinnendes Betragen übersehen wurde. Brüsk wies ich die Angebote von Pelzen des Jaguars und Ozelots und anderer Tiere ebenso zurück wie das Angebot von Ara- und Tukanfedern. Was ich wollte, waren Goldstaub oder Zahlungsmittel aus Metall, doch diese waren in jenen unzivilisierten Landen kaum gebräuchlich. Infolgedessen ließ ich wissen, daß ich unsere Handelswaren – die Stoffe und Gewänder, den Schmuck und den Tand, die Schönheitsmittel und Medizinen – nur gegen die Federn des Quetzal Tototl hergeben würde.
Dem Gesetz nach mußte jeder Vogelsteller, welcher die beinlangen, smaragdgrünen Schwanzfedern dieses Vogels ergatterte, sie bei Androhung der Todesstrafe augenblicklich dem Stammeshäuptling übergeben, der sie entweder zum eigenen Schmuck verwandte oder als Zahlungsmittel beim Handel mit anderen Häuptlingen der Maya und den mächtigeren Herrschern anderer Völker. In der Praxis jedoch, wie ich wohl kaum zu erwähnen brauche, lieferten die Vogelsteller ihren Häuptlingen nur einen bestimmten Anteil dieser seltensten aller kostbaren Federn ab und behielten den Rest, um sich selbst zu bereichern. Da ich mich standhaft weigerte, meine Waren für irgend etwas anderes als Quetzal Tototl-Federn herzugeben, mußten die Kunden wieder abziehen und eilends gewisse Geschäfte mit ihren Kollegen abschließen … und ich kam zu meinem Quetzal Tototl-Federn.
Während wir nach und nach unsere Waren abstießen, verkaufte ich auch die Sklaven, welche sie getragen hatten. In diesem Land der Faulpelze hatten nicht einmal die Adligen viel Arbeit, auf welche sie Sklaven ansetzen konnten, und noch wenigere Gemeinfreie konnten sich den Besitz derselben leisten. Dafür war jeder Häuptling eifrig darauf bedacht, seine Überlegenheit über andere Häuptlinge augenfällig zu machen, und Sklaven zu besitzen – auch wenn sie nur eine ständige Belastung seiner Schatzkammer und seiner Vorräte bedeuteten; Sklaven waren etwas, womit man anerkanntermaßen großtun konnte. Deshalb verkaufte ich die unsrigen jeweils zu zweit wie es kam und unbefangen gegen guten Goldstaub an die Häuptlinge der Tzotxil, der Quiche und der Tzeltal, und nur die uns verbleibenden begleiteten uns auf unserem Rückweg ins Chiapa-Land. Der eine trug den großen, aber wenig wiegenden Ballen Federn; die Last des anderen bestand aus jenen wenigen Handelsgütern, welche wir noch nicht losgeworden waren.
Wie versprochen, hatte Meister Xibalbá bei unserer Rückkehr nach Chiapán die fertig geschliffenen Kristalle bereitliegen – alles in allem, einhundertsiebenundzwanzig Stück unterschiedlicher Größe – und dank des Verkaufs unserer Sklaven konnte ich ihn in reinem Goldstaub bezahlen. Während er jeden einzelnen Kristall sorgsam in Baumwolle verpackte, sie dann in ein Tuch einschlug und ein sauberes Paket daraus machte, sagte ich mit Hilfe des Dolmetschs zu ihm:
»Meister Xibalbá, diese Kristalle machen Dinge, die man betrachtet, größer. Habt Ihr jemals eine Art von Kristall geschaffen, die Gegenstände kleiner erscheinen läßt?«
»O ja, gewiß doch«, sagte er lächelnd. »Selbst mein Urgroßvater hat vermutlich bereits versucht, anderes als Brenn-Kristalle aus dem Quarz herzustellen. Das haben wir alle versucht. Und ich selbst versuche mich auch darin, nur so zum Spaß.«
Ich erklärte ihm, wie beschränkt mein Sehvermögen sei und fügte noch hinzu: »Ein Maya-Doktor hat mir gesagt, meine Augen verhielten sich so, als ob ich ständig durch eines dieser Vergrößerungskristalle hindurchschaute. Da habe ich mich gefragt, ob ich wohl so etwas wie einen Verkleinerungskristall finden könnte, und wenn ich hindurchblickte …«
Er betrachtete mich voll aufmerksamer Anteilnahme, rieb sich das Kinn, sagte: »Hm« und ging durch den Hintereingang seiner Werkstatt zurück in sein Haus. Bald darauf kehrte er mit einem Tablett mit flachen Mulden darin zurück, von denen ein jedes einen Kristall enthielt. Sie wiesen alle eine unterschiedliche Form auf; manche sahen sogar aus wie winzige Pyramiden.
»Die hier verwahre ich als Kuriosa«, sagte der Kristallschleifer. »Sie besitzen keinerlei praktischen Wert, doch manche von ihnen weisen lustige Eigenschaften auf. Dieser hier zum Beispiel.« Er nahm einen kurzen, dreiseitig geschliffenen Riegel auf. »Allerdings handelt es sich nicht um Quarz, sondern um eine durchsichtige Art von Kalkstein. Und diesen Stein schleife ich auch nicht; er spaltet sich ganz natürlich in flache Schichten auf. Haltet ihn dorthin, in die Sonne, und seht, welch ein Licht er auf Eure Hand wirft.«
Ich tat, wie geheißen, und war halbwegs darauf gefaßt, zurückzuzucken und mich zu verbrennen. Statt dessen rief ich aus: »Der feine Dunst des Wassergeschmeides!« Das Sonnenlicht, welches durch den Kristall hindurchdrang auf meine Hand, war verwandelt: es bildete ein vielfarbenes Band, das von Dunkelrot am einen Ende über Gelb und Grün und Blau zum tiefsten Violett reichte; es handelte sich um eine winzige Nachbildung des Farbenbogens, den man bisweilen nach dem Regen am Himmel stehen sieht.
»Doch Ihr sucht nicht nach Spielereien«, sagte der Mann. »Hier.« Mit diesen Worten reichte er mir einen Kristall, dessen beide Seiten konkav geschliffen waren; das heißt, er sah aus, wie zwei kleine Schalen, die am Boden zusammengeklebt waren.
Ich hielt ihn über den gestickten Saum meines Umhangs, und das Muster darauf schrumpfte um die Hälfte seiner eigentlichen Größe. Den Kristall immer noch vor mich hinhaltend, hob ich den Kopf und sah den Kristallschleifer an. Seine Züge, die eben noch verschwommen gewesen waren, traten unversehens scharf und klar hervor, aber dafür war sein Gesicht plötzlich so klein, als hätte er einen Satz von mir fortgemacht sei durch die Tür hinausgesprungen und stünde jetzt auf der anderen Seite des Platzes.
»Ein Wunder!« sagte ich erschüttert. Ich nahm den Kristall herunter und rieb mir das Auge. »Ich konnte Euch zwar sehen … aber wie ganz weit weg.«
»Oh, dann verkleinert er eben zu sehr. Sie sind von unterschiedlicher Stärke. Versucht es einmal mit diesem hier.«
Es handelte sich um einen Kristall, der nur auf der einen Seite konkav geschliffen war; die andere Seite war vollkommen eben. Behutsam hob ich ihn in die Höhe …
»Ich kann sehen!« sagte ich – und sagte es wie ein Dankgebet zu den gütigsten aller Götter. »Ich kann nah und fern sehen. Zwar ist es an einigen Stellen gefleckt oder gewellt, doch alles andere sieht genauso klar und scharf aus wie zu meiner Kindheit. Meister Xibalbá, Ihr habt etwas vollbracht, wovon die Heilkundigen der Maya zugegebenermaßen behaupten, dazu seien sie nicht imstande. Ihr habt es fertiggebracht, daß ich wieder sehen kann!«
»Und wir haben diese Dinge die vielen Schock Jahre über für wertlos gehalten …«, murmelte er, und es klang, als sei er selbst von so etwas wie ehrfürchtigem Schrecken erfüllt. Dann meinte er munter: »Also braucht es dazu eines Kristalls mit einer glatten und einer nach innen gewölbten Seite. Aber Ihr könnt doch nicht umhergehen und ständig dieses Ding vor Euch hinhalten. Das wäre, als wolltet Ihr ständig durch ein Astloch gucken. Versucht, es nahe an Euer Auge heranzubringen.«
Ich tat es, stieß einen kleinen Schrei aus und entschuldigte mich dann: »Es hat wehgetan, als ob mir der Augapfel aus der Höhle gezogen würde.«
»Immer noch zu stark. Außerdem weist er Flecken und Wellen auf, wie Ihr sagt. Folglich muß ich einen Stein finden, der vollkommener und makelloser ist als der feinste Quarz.« Er lächelte und rieb sich vergnügt die Hände. »Ihr habt mir die erste neue Aufgabe gestellt, welche die Xibalbá seit Generationen gestellt bekommen haben. Kommt morgen wieder.«
Ich war erregt und voller Erwartung, sagte meinen Gefährten jedoch nichts davon, falls sich herausstellen sollte, daß auch aus diesem hoffnungsvollen Versuch nichts werden würde. Wir alle waren wieder bei den Macoboö abgestiegen, worüber die beiden Cousinen höchlichst erfreut waren; insgesamt blieben wir sechs oder sieben Tage bei ihnen. In dieser Zeit suchte ich die Werkstatt der Xibalbá mehrmals am Tag auf, während der Meister sich damit abplagte, den feinsten Kristall zu schleifen, den man jemals bei ihm in Auftrag gegeben hatte.
Er hatte sich einen wunderbar wasserklaren Topas verschafft und angefangen, eine flache Scheibe daraus zu machen, so groß, daß sie mein Auge von der Braue bis zum Jochbein bedeckte. Außen sollte der Kristall glatt bleiben, doch wie tief die Höhlung auf der anderen Seite und wie dick der Kristall dabei bleiben sollte, ließ sich nur dadurch bestimmen, daß ich jedesmal wieder hindurchschaute, wenn der Meister ein wenig mehr weggeschliffen hatte.
»Ich kann ihn nur nach und nach dünn und dünner schleifen und die Wölbung vertiefen«, sagte er, »bis wir die genaue Verkleinerungsstärke erreicht haben, die Ihr braucht. Aber wir müssen wissen, wann diese erreicht ist. Wenn ich zuviel wegschleife, ist der Kristall wertlos für Euch.«
So ging ich ständig zum Probieren wieder hin, und als mein eines Auge durch die Anstrengung ganz blutunterlaufen war, probierte ich es mit dem anderen Auge aus und umgekehrt. Doch zuletzt kam zu meiner unsäglichen Freude der Tag und der Augenblick dieses Tages, da ich den Kristall vor jedes meiner Augen halten und vollkommen dadurch sehen konnte. Alles in der Welt war klar und scharf umrissen, von einem Buch, welches ich in Lesehaltung vor mich hinhielt, bis zu den Bergen, welche die Stadt umringten. Ich war außer mir vor Freude, und Meister Xibalbá nahezu genauso – er jedoch vor Stolz auf sein unerhörtes, nie dagewesenes Werk.
Er rieb den Kristall noch einmal mit einer Paste aus feinem rotem Ton, so daß er glänzte. Sodann glättete er die Ränder des Kristalls und faßte ihn mit einem Kupferreif, welcher dergestalt gehämmert war, daß er ihn fest umschloß; an diesem Reif befand sich ein Griff, mit dessen Hilfe ich den Kristall vor jedes meiner Augen halten konnte, und der Griff wiederum war an einem feinen Lederriemen befestigt, damit ich ihn stets um den Hals bei mir tragen konnte.
Da ich immer nur ein Auge zur Zeit benutzen konnte, wies das, was ich sah, keine sonderliche Tiefe auf und wirkte eher flach. Gleichwohl vermochte ich fast genauso klar zu sehen wie als Kind, und das genügte mir. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß es sich um einen besonders hellen, blaßgelben Topas handelte; blickte ich durch ihn hindurch, sah selbst an trüben Tagen alles wie von Sonnengelb übergossen aus; infolgedessen sah ich die Welt fürderhin womöglich schöner als andere. Doch wie ich feststellen sollte, als ich in einen Spiegel sah, machte der Kristall mich keineswegs schöner, denn das Auge dahinter wirkte viel kleiner als das unbedeckte. Außerdem hielt ich den Kristall zumeist in der Linken, während meine Rechte anderweitig beschäftigt war, was mir eine Zeitlang höchst lästige Kopfschmerzen eintrug. Bald lernte ich, den Topas abwechselnd vor beide Augen zu halten, woraufhin die Kopfschmerzen schwanden.
Ich weiß, ehrwürdige Patres, euch belustigt mein übertrieben langes Geschwätz über ein Instrument, welches bei euch nichts Neues ist. Doch ich sollte so etwas erst viele Jahre später ein zweitesmal sehen. Das war bei meiner Begegnung mit den ersten Spaniern, die hier eintrafen. Einer der Patres, die zusammen den Capitán-General Cortés begleiteten, trug zwei solche Kristalle, einen für jedes Auge, die mit einem Lederband um seinen Kopf befestigt waren.
Doch für mich und für den Kristallschleifer war mein Instrument eine unerhörte Erfindung. Er weigerte sich, auch nur das geringste Entgelt für seine Mühe anzunehmen, nicht einmal für seinen Topas, der alles andere als billig gewesen sein muß. Er ließ sich nicht davon abbringen; er sei in reichem Maße durch den Stolz auf seine Leistung entschädigt. Da er also nichts annehmen wollte, ließ ich bei der Macoboö-Familie eine Anzahl von Quetzal Tototl-Federn zurück und bat sie, ihm diese zu übergeben, nachdem wir lange genug fort wären, daß er sie nicht mehr zurückweisen könne – und ließ genug zurück, den Meister Xibalbá zum vermutlich reichsten Mann in Chiapán zu machen. Ich fand, das habe er verdient. Spätabends betrachtete ich die Sterne.
Nach einer langen Zeit größter Niedergeschlagenheit war ich plötzlich und verständlicherweise von überschäumender guter Laune erfüllt und verkündete meinen Teilhabern: »Jetzt, wo ich wieder richtig sehen kann, möchte ich gern das Meer sehen.«
Sie waren über den Wandel, der mit mir vorgegangen war, gleichfalls hoch erfreut und hatten deshalb nichts dawider, daß wir von Chiapán aus in südlicher statt in westlicher Richtung weiterzogen und noch einmal über eine große Anzahl zerklüfteter Berge hinwegmußten – Berge, die schlummernde Vulkane waren. Wir schafften es jedoch ohne unvorhergesehene Zwischenfälle und gelangten hinunter in die von den Mame bevölkerten feuchtheißen Küstenstriche. Dieses Flachland wird Xoconóchco genannt, und die Mame leben von Baumwollanbau und der Salzgewinnung und tauschten diese Erzeugnisse bei anderen Völkern gegen deren Erzeugnisse ein. Die Baumwolle wird auf dem breiten lehmigen Streifen fruchtbaren Landes zwischen den felsigen Bergen und den sandigen Stranden angebaut. Damals, gegen Ende des Winters, war an diesen Feldern nichts Besonderes zu sehen, doch als ich Xoconóchco später in der heißesten Jahreszeit wieder besuchte und die aufgeplatzten Samenkapseln so groß waren und in einer solchen Fülle an den Zweigen hängen, daß von den grünen Sträuchern selbst eigentlich nichts mehr zu sehen war, schien das ganze Land unter einer dichten Schneedecke dazuliegen, wiewohl die Sonne heiß darauf herniedersengte.
Salz wird das ganze Jahr über gewonnen, indem man die seichten Lagunen an der Küste eindeicht, das Wasser verdunsten läßt und das Salz sodann vom Boden trennt. Das gleichfalls schneeweiße Salz ist vom Sand leicht zu unterscheiden, denn die ganzen Strande von Xoconóchco bestehen aus bröseligem schwarzem Sand – der eigentlich aus dem Geröll, dem Staub und der Asche besteht, welchen die Inlandsvulkane ausspeien. Selbst der Brandungsgischt dieses Süd-Meeres ist durch den ständig aufgewühlten dunklen Sand von schmutziggrauer Farbe.
Da das Einbringen der Baumwoll- und Salzernten zu den trostlosesten und langweiligsten Arbeiten überhaupt gehört, waren die Mame froh, einen guten Preis in Goldstaub für die beiden letzten uns noch verbliebenen Sklaven zu zahlen und nahmen uns überdies auch noch die allerletzten Handelswaren ab. Damit blieb uns – Cozcatl, Blut Schwelger und mir – nur unser jeweiliges Reisegepäck, das kleine Bündel Kristalle und der große, aber nicht schwere Federballen zu tragen – keine große Last, so daß wir beim Tragen durchaus auf weitere Hilfe verzichten konnten. Den ganzen Heimweg über wurden wir nicht ein einziges Mal von Banditen belästigt, vielleicht deshalb, weil wir den üblichen Pochtéca-Kolonnen so gar nicht ähnelten, vielleicht aber auch, weil die Räuber dort von unserem früheren Treffen mit ihren Zunftgenossen und seinem Ausgang gehört hatten.
Der Weg nach Nordwesten war nicht beschwerlich. Es ging die ganze Zeit über die Küstenebene, wobei zu unserer Linken die stillen Lagunen oder die rauschende Brandung und zu unserer Rechten die hohen Berge ragten. Das Wetter war so lind, daß wir nur zweimal unterwegs in einer Herberge abstiegen – im Mame-Dorf Pijijía und dem Mixe-Dorf Tonalá – und auch da nur, um uns den Luxus erlauben zu können, in frischem Wasser zu baden und ein köstliches Gericht aus Seegetier zu uns zu nehmen: rohe Schildkröteneier und gegartes Schildkrötenfleisch, gekochte Garnelen, gekochtes und rohes Krebsfleisch jeder Art, sogar gesottene Filets von etwas, was Yeyemichi genannt wurde und, wie man mir erzählte, der größte Fisch der ganzen Welt war; ich kann bezeugen, daß dieses zu dem wohlschmeckendsten Fleisch überhaupt zählt.
Zuletzt wandten wir uns ganz nach Westen und gelangten abermals zur Landenge von Tecuantépec, durchquerten die Stadt gleichen Namens jedoch nicht noch einmal. Ehe wir dorthin gelangten, begegneten wir einem anderen Händler, der uns sagte, wenn wir uns ein wenig nördlich unserer nach Westen führenden Route hielten, würden wir es leichter haben, die Tzempuülá-Berge zu überwinden, als auf dem Herweg. Ich hätte zwar gern die bezaubernde Gié Bele wiedergesehen und mich nebenher doch noch einmal nach den geheimnisvollen Verwahrern des Purpurfarbstoffs erkundigt, doch meine ich, nach unseren langen Wanderungen drängte es mich, endlich wieder nach Hause zurückzukehren. Ich weiß, daß das bei meinen Gefährten der Fall war, und so ließ ich mich von ihnen bereden, jener Route zu folgen, die der Händler uns geraten hatte. Dieser Weg hatte überdies den Vorzug, daß er uns lange Zeit über durch einen Teil von Uaxyácac führte, den wir zuvor noch nicht durchquert hatten, und so stießen wir erst wieder auf die Route, auf der wir hergekommen waren, als wir durch die Hauptstadt Záachilà hindurchkamen.
Wie beim Aufbruch zu einer Handelsexpedition, galten auch für die Rückkehr einer solchen bestimmte Tage als glückverheißend. Als wir uns der Stadt näherten, säumten wir unterwegs und verbummelten sogar einen Extratag in der angenehmen, in einem Hochtal gelegenen Stadt Quaunáhuac.
Als wir endlich die letzte Bergkette überwunden hatten und die Seen und die Insel Tenochtítlan in Sicht kamen, blieb ich immer wieder stehen, um den Anblick durch meinen Kristall zu genießen. Dadurch, daß ich nur mit einem Auge hinblickte, verkleinerte sich die Stadt ein wenig und bekam etwas Flächig-Eintöniges, aber trotzdem war der Anblick herzerhebend: die im Frühlingssonnenschein schimmernden weißen Häuser und Paläste, die bunten Dachgärten, die blauen Rauchwölkchen von Altären und Herdfeuern, die weichen Federbanner, welche nahezu regungslos in der Luft standen, die wuchtige Große Pyramide mit den Zwillingstempeln, die das ganze beherrschte.
Stolz und froh zugleich zogen wir schließlich über den Damm von Coyohuácan und betraten die mächtige Stadt am Abend des als günstig geltenden Tages Ein Haus jenes Monds, den wir Das Große Erwachen nannten, im Jahre Neun Messer. Insgesamt waren wir einhundertzweiundvierzig Tage unterwegs gewesen, mehr denn sieben von unseren Monden, hatten viele Abenteuer bestanden und viele phantastische Orte und Menschen gesehen; trotzdem tat es gut, zurückzukehren in den Mittelpunkt der Mexíca-Herrlichkeit, in Das Herz Der Einen Welt.
Es war verboten, daß heimkehrende Pochtécatl ihre Trägerkolonnen bei Tageslicht in die Stadt zurückführten oder daß sie ihren Einzug zu einer prahlerischen Zurschaustellung machten, gleichgültig, wie erfolgreich und gewinnträchtig die Reise verlaufen war. Selbst wenn ein solches Luxusgesetz nicht bestanden haben würde, jeder Pochtécatl würde von sich aus erkannt haben, wie klug es sei, möglichst unauffällig zurückzukehren. Nicht jeder in Tenochtítlan war sich darüber im Klaren, welchen Wohlstand die unerschrockenen Fernhändler allen Mexíca brachten, und so verargten viele es den Kaufleuten, daß zuvorderst und zu Recht sie von diesem Reichtum profitierten. Das galt insbesondere für die herrschende Schicht des Adels, denn deren Wohlstand beruhte auf den Tributzahlungen der unterworfenen Völker, und die Adligen vertraten die Ansicht, friedlicher Handel schmälere den ihnen zustehenden Anteil an der Kriegsbeute, und so wetterten sie ständig gegen diejenigen, die »nur Handel« trieben. Aus diesem Grunde sorgte jeder Pochtécatl dafür, daß er die Stadt bei seiner Heimkehr in den einfachsten Kleidern und im Schutze der Dämmerung wieder betrat und daß seine mit Schätzen beladenen Träger ihm einzeln oder höchstens zu zweit folgten.
Am nächsten Vormittag, nach mehreren Wechsel- und Schwitzbädern nacheinander, zog ich meine besten Kleider an und meldete mich im Palast des Verehrten Sprechers Ahuítzotl. Da ich dem Palastverwalter kein Fremder mehr war, brauchte ich nicht lange zu warten, bis ich vorgelassen wurde. Ich küßte die Erde vor Ahuítzotl, unterließ es jedoch, meinen Kristall zu erheben und ihn mir genau zu betrachten; ich war mir nicht sicher, ob nicht ein großer Herr etwas dawider haben könne, auf diese Weise gemustert zu werden. Da ich diesen jedoch kannte, konnte ich davon ausgehen, daß er ein finsteres Gesicht machte wie immer und nicht minder wild blickte als der Bär, welcher seinen Thron schmückte.
»Wir sind angenehm überrascht, daß du heil und gesund wieder nach Hause gekommen bist, Pochtécatl Mixtli«, sagte er mürrisch. »Dann ist deiner Expedition also Erfolg beschieden gewesen?«
»Ich glaube, sie wird mir einiges an Gewinn bringen, Verehrter Sprecher«, erwiderte ich. »Sobald die Vorsitzenden der Pochtéca-Gilde das Mitgebrachte geschätzt haben, könnt Ihr selbst das nach dem Anteil beurteilen, der Eurem Schatzhaus zusteht. Bis dahin, Hoher Gebieter, hoffe ich, daß diese Chronik für Euch von Interesse sein wird.«
Womit ich einem seiner Bediensteten die von der Reise arg mitgenommenen Bücher überreichte, welche ich so getreulich unterwegs geführt hatte. Sie enthielten so ziemlich den gleichen Bericht, den ich auch euch gegeben habe, ehrwürdige Patres, nur daß darin selbstredend nicht von solchen belanglosen Dingen wie etwa meinen Begegnungen mit Frauen die Rede war. Dafür enthielten sie beträchtlich mehr Beschreibungen von Landstrichen und Ortschaften und Menschen nebst den zugehörigen Karten, die ich gezeichnet hatte.
Ahuítzotl dankte mir und sagte: »Wir und unser Staatsrat werden sie uns genau ansehen.«
Ich sagte: »Für den Fall, daß einige Eurer Berater bereits betagt sind und ihre Augen nachgelassen haben, Verehrter Sprecher, könnte sich dieses hier als hilfreich für sie erweisen«, und reichte ihm einen der Kristalle hinüber. »Davon habe ich eine Anzahl zum Verkaufen mitgebracht, doch den größten und leuchtendsten möchte ich dem Uey-Tlatoáni schenken.«
Er schien nicht weiter beeindruckt bis ich um Erlaubnis bat näherzutreten und ihm zu zeigen, wie man damit Wort-Bilder und andere Dinge eingehender betrachten könne. Dann führte ich ihn an ein offenes Fenster und zeigte ihm an einem Stück Borkenpapier, wie man ihn benutzen konnte, um ein Feuer zu entzünden. Er war hingerissen und dankte mir überschwenglich.
Lange hinterher erzählte man mir, Ahuítzotl habe seinen Kristall zum Feueranmachen auf jedem Kriegszug, den er mitmachte, dabeigehabt sich jedoch in Friedenszeiten auf weniger nützliche Weise damit vergnügt. Dieses Verehrten Sprechers erinnert man sich bis auf den heutigen Tag wegen seines jähzornigen Wesens und seiner willkürlichen Grausamkeiten; sein Name ist sogar in unsere Sprache eingegangen: jeder Unruhestifter wird heute ein Ahuítzotl genannt. Der Despot scheint jedoch auch eine Ader für kindische Streiche gehabt zu haben. Bei der Unterhaltung mit den gesetztesten und würdigsten seiner Weisen Männer pflegte er diese ans Fenster zu locken. Unbemerkt pflegte Ahuítzotl dann seinen Brennkristall so zu halten, daß er den heißesten Punkt der Sonnenstrahlen auf irgendeine besonders empfindliche Stelle wie etwa ein nacktes Knie lenkte – und dann in unbändiges Gelächter auszubrechen, wenn der alte Weise in die Höhe sprang wie ein junges Kaninchen.
Vom Palast aus kehrte ich in die Herberge zurück, um unsere beiden Warenbündel und Cozcatl und Blut Schwelger abzuholen, die beide gleichfalls neu und sauber gekleidet waren. Die Bündel trugen wir nun ins Haus der Pochtéca, wo man uns sogleich bei den drei Vorsitzenden vorließ, welche uns geholfen hatten, uns auszurüsten. Während Schalen mit Schokolade gereicht wurden, die nach Magnolien dufteten, knotete Cozcatl den größeren unserer Ballen zur Besichtigung auf.
»Ayyo!« entfuhr es bewundernd einem der alten Männer. »Ihr habt allein an Federn ein beachtliches Vermögen mit zurückgebracht. Ihr müßt unbedingt die reicheren der Edelleute dazu bringen, Angebote an Goldstaub darauf abzugeben, bis der Preis nicht mehr steigt, und erst dann dem Verehrten Sprecher vom Vorhandensein dieses Schatzes Kenntnis geben. Schon allein, um auch der am prächtigsten Geschmückte zu sein, wird er mehr bezahlen als den gebotenen Höchstpreis.«
»Wir werden euren Rat befolgen, meine Herren«, stimmte ich zu und gab Cozcatl zu verstehen, er solle nun das kleinere Bündel aufschnüren.
»Ayya!« sagte nun ein anderer der alten Männer. »Hier, fürchte ich, habt ihr allzu unüberlegt gehandelt.« Bekümmert fingerte er an zwei oder drei Kristallen herum. »Diese Steine sind zwar hübsch geformt und geschliffen, aber Edelsteine sind es nicht, wie ich Euch leider sagen muß. Es handelt sich um Stücke ganz gewöhnlichen Quarzes, ein Stein, der womöglich noch häufiger vorkommt als Jade und noch dazu ohne die religiöse Bedeutung, welche der Jade noch zusätzlich Wert verleiht.«
Cozcatl konnte sich nicht enthalten zu kichern, und Blut Schwelger setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. Auch ich selbst konnte mich eines Lächelns nicht erwehren, als ich sagte: »Aber seht euch einmal folgendes an«, woraufhin ich ihnen die beiden Eigenschaften meiner Kristalle vorführte, so daß alle drei sogleich in helle Aufregung gerieten.
»Unglaublich«, erklärte einer der Vorsitzenden. »Ihr habt etwas völlig Neues nach Tenochtítlan gebracht.«
»Wo habt Ihr sie gefunden?« sagte ein anderer. »Nein, Ihr solltet nicht einmal in Erwägung ziehen, mir zu antworten! Verzeiht, daß ich gefragt habe! Ein so einzigartiger Schatz sollte wirklich dem Entdecker allein gehören.«
Der dritte sagte: »Die größeren werden wir den ranghöchsten Adligen anbieten, und …«
Ich unterbrach ihn, um darauf hinzuweisen, daß sämtliche Kristalle, ob groß oder klein, gleichermaßen geeignet seien, Dinge sowohl zu vergrößern als auch Feuer mit ihnen zu entzünden, doch er brachte mich ungeduldig zum Schweigen.
»Das spielt keine Rolle. Jeder Pili wird einen Kristall für sich wollen, dessen Größe seinem Rang und seiner Selbsteinschätzung entspricht. Ich schlage vor, daß Ihr jeden einzelnen nach Gewicht verkauft und damit anfangt daß Ihr das Gewicht achtmal in Gold verlangt. Da die Pipiltin sich dann gegenseitig überbieten, werdet Ihr beträchtlich mehr dafür bekommen.«
Jetzt war es an mir, vor Erstaunen Mund und Nase aufzureißen. »Aber meine Herren, das würde uns ja mehr als mein eigenes Gewicht in Gold einbringen. Selbst nach Abzug des Anteils, welcher der Weiblichen Schlange und eurer ehrbaren Gilde gebührt … und selbst unter uns dreien aufgeteilt … würden wir auf einen Schlag zu den reichsten Leuten von ganz Tenochtítlan gehören.«
»Habt Ihr etwas dagegen?«
Ich stammelte: »Es … es erscheint mir nicht recht. Durch unser erstes Unternehmen derartig reich belohnt zu werden … und noch dazu von gewöhnlichem Quarz, wie Ihr sagt … und durch ein Erzeugnis, das ich in reicher Menge beibringen kann. Denn bedenkt, ich kann so viele Brennkristalle beschaffen, daß jeder Haushalt im gesamten Herrschaftsbereich des Dreibunds einen haben könnte.«
Schneidend legte einer der Vorsitzenden sich ins Mittel. »Möglich, daß Ihr dazu imstande seid, aber wenn Ihr auch nur einen Funken Verstand habt, tut Ihr das nicht. Ihr habt gesagt, daß der Verehrte Sprecher jetzt im Besitz eines dieser Zaubersteine ist. Im Augenblick könnten also nur einhundertundzwanzig andere Edelleute einen ähnlichen Kristall besitzen. Mein Junge, sie werden sich wie wild überbieten, selbst wenn diese Dinge aus gepreßtem Lehm bestünden! Später könnt Ihr hinziehen und mehr herbeischaffen, um sie an noch weitere Edelleute zu verkaufen, aber niemals mehr als ein paar zur Zeit.«
Cozcatl strahlte vor Glück, und Blut Schwelger wußte sich kaum zu fassen. Ich sagte: »Selbstverständlich habe ich nichts gegen die Aussicht, wirklich reich zu werden.«
»Oh, ihr drei werdet einen Teil dieses Reichtums ungesäumt ausgeben«, erklärte einer der Vorsitzenden. »Ihr habt den Anteil erwähnt, welcher an die Schatzkammern von Tenochtítlan und an unseren Gott Yacatecútli geht. Vielleicht seid Ihr Euch nicht darüber im klaren, daß unserer Tradition entsprechend jeder heimkehrende Pochtécatl – sofern er mit reichem Gewinn heimkommt – einen Festschmaus für alle anderen Pochtéca zu geben hat, die zu dieser Zeit in der Stadt weilen.«
Ich sah meine Teilhaber an, die sofort zustimmend nickten, so daß ich sagte: »Mit dem größten Vergnügen, meine Herren. Aber wir sind neu in diesem Geschäft und kennen uns nicht aus …«
»Es wird uns ein Vergnügen sein, Euch zu helfen«, sagte derselbe Mann. »Setzen wir es auf übermorgen abend fest. Wir stellen für diese Gelegenheit die gesamten Einrichtungen unseres Gildehauses zur Verfügung. Außerdem werden wir dafür sorgen, daß Essen und Trinken, Musikanten, Tänzer und Gesellschafterinnen zur Verfügung stehen, und selbstverständlich werden wir darauf sehen, daß sämtliche in Frage kommenden und erreichbaren Pochtéca eine Einladung erhalten, während Ihr als Gast dazuladen könnt, wen Ihr wollt. Nun – ein solcher Festschmaus kann in bescheidenem und höchst ausgefallenem Rahmen stattfinden, ganz nach Eurem Geschmack und Eurer Großzügigkeit.«
Abermals beriet ich mich schweigend mit meinen Teilhabern, und dann sagte ich großspurig: »Es ist unser erster, und er sollte unserem Erfolg angemessen sein. Wenn Ihr daher die Liebenswürdigkeit haben würdet – ich würde darum bitten, daß jedes Gericht, jedes Getränk und alles, was dazugehört, nur vom allerbesten sein sollte, gleichgültig, wieviel es kostet. An dieses Gastmahl soll man sich noch lange erinnern!«
Ich jedenfalls erinnere mich noch sehr lebhaft daran.
Gäste wie Gastgeber erschienen auf das feinste gekleidet. Da wir nun voll anerkannte Pochtéca geworden waren, hatten wir ein Anrecht darauf, bestimmten gold- und edelsteinbesetzten Zierrat und Geschmeide zu tragen, um unsere neue Stellung im Leben kundzutun, doch beschränkten wir uns bewußt auf ein paar bescheidene Kleinigkeiten. Ich trug nur die Umhangschließe mit dem Heliotrop daran, welchen die Dame von Tolan mir einst zum Geschenk gemacht, sowie einen einzelnen kleinen Smaragd in meinem linken Nasenflügel. Dafür war mein Umhang aus dem allerfeinsten Baumwollstoff und reich bestickt; meine Sandalen bestanden aus Alligatorleder und waren bis unters Knie verschnürt; das Haar, welches mir unterwegs sehr lang gewachsen war, hielt ich im Nacken mit einer geflochtenen roten Lederschnur zusammen.
Im Innenhof des Gildehauses der Pochtéca brutzelten drei Hirsche, die am Spieß über einem mächtigen Holzkohlenbett gedreht wurden. Alle anderen Gerichte waren von entsprechender Qualität und Reichhaltigkeit. Musikanten spielten auf, freilich nicht zu laut, eine Unterhaltung unmöglich zu machen. Eine Schar wunderschöner Frauen bewegte sich unter den Gästen, und immer wieder führte eine von ihnen zur Musik einen reizvollen Tanz auf. Drei zum Haus gehörige Sklaven hatten nichts anderes zu tun, als uns drei Teilhaber zu bedienen, und wenn sie sonst nichts zu tun hatten, fächelten sie uns mit großen Federfächern Kühlung zu. Man stellte uns den anderen eintreffenden Pochtéca vor, und wir lauschten ihren Berichten über ihre eigenen bemerkenswerten Unternehmungen und Erwerbungen. Blut Schwelger hatte vier oder fünf seiner alten Kriegerkameraden eingeladen, und gemeinsam mit ihnen betrank er sich auf schöne Weise. Cozcatl und ich kannten niemand in Tenochtítlan, den wir hätten einladen können, doch ein unerwarteter Gast erwies sich als ein alter Bekannter von mir.
Eine Stimme neben mir sagte: »Maulwurf, du überraschst mich doch immer wieder.« Ich wandte den Kopf und erblickte den kakaobraunen verhutzelten alten Mann mit den Zahnlücken, der mir auch bei anderen Wendepunkten meines Lebens über den Weg gelaufen war. Diesmal freilich war er weniger abgerissen und besser gekleidet und trug zumindest einen Umhang über seinem Schamtuch.
Lächelnd sagte ich: »Nichts da mehr von Maulwurf«, hob meinen Kristall vors Auge und betrachtete ihn zum erstenmal sehr eingehend. Dabei ging mir auf, daß er mir doch irgendwie bekannter vorkam, als ich gedacht hatte.
Er setzte ein durchtriebenes, nahezu böses Lächeln auf und sagte: »Für mich bist du jedesmal ein anderer: erst ein Nichts, dann ein Student, dann Schreiber, Höfling und freigesprochener Missetäter, schließlich ein Kriegsheld und jetzt ein wohlhabender Kaufmann – der mich mit einem goldenen Auge anstarrt.«
Ich sagte: »Schließlich ist es Euer Vorschlag gewesen, Verehrungswürdiger, daß ich hinausziehe und weite Reisen unternehme. Warum sollte ich nicht mein eigenes Festmahl genießen und mein erstes erfolgreiches Unternehmen feiern?«
»Deines?« sagte er spöttisch. »Dann wären alle deine früheren Erfolge nur auf dein eigenes Wollen und Können zurückzuführen? Ohne fremde Hilfe? Ganz allein dein Werk?«
»O nein«, sagte ich in der Hoffnung, damit die dunkleren Andeutungen, die sich hinter seinen Worten verbargen, abzuwehren. »Ihr werdet hier meine Teilhaber bei diesem Unternehmen kennenlernen.«
»Bei diesem Unternehmen? – Wäre das denn überhaupt möglich gewesen ohne jenes unerwartete Geschenk an Waren und Kapital, welches du in dieses Unternehmen hineingesteckt hast?«
»Nein«, gab ich abermals zu. »Und ich bin auch entschlossen, dem Spender voll und ganz meinen Dank abzustatten mit einem Anteil an …«
»Zu spät«, fiel er mir in die Rede. »Sie ist tot.«
»Sie?« wiederholte ich verständnislos, denn selbstverständlich hatte ich an meinen ehemaligen Gönner, Nezahualpíli von Texcóco, gedacht.
»Deine verstorbene Schwester«, erklärte er mir. »Das geheimnisvolle Geschenk war das Vermächtnis, welches Tzitzitlíni dir zugedacht hatte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Meine Schwester ist tot, alter Mann, wie Ihr richtig gesagt habt. Und sie ist ganz gewiß nie im Besitz eines solchen Vermögens gewesen, es mir zu hinterlassen.«
Ohne auf diesen Einwand einzugehen, fuhr er fort: »Auch der Herr Rot Reiher von Xaltócan hat das Zeitliche gesegnet, während du im Süden unterwegs warst. Er hat einen Priester der Göttin Tlazoltéotl an sein Sterbelager gerufen, und eine so aufsehenerregende Beichte, wie er sie ablegte, konnte kaum geheim bleiben. Etliche deiner erlauchten Gäste hier kennen die Geschichte zweifellos, wiewohl es für sie ein Gebot der Höflichkeit ist, dich nicht darauf anzusprechen.«
»Was für eine Geschichte? Was für eine Beichte?«
»Wie Rot Reiher die Scheußlichkeiten vertuscht hat, die sein Sohn Pactli an deiner Schwester verübt hat.«
»Mir ist das nicht verborgen geblieben«, erklärte ich erbost. »Und ausgerechnet Ihr dürftet sehr wohl wissen, auf welche Weise ich den Mord an ihr gerächt habe.«
»Richtig – nur hat Pactli Tzitzitlíni nicht umgebracht.«
Das erschütterte mich in den Grundfesten; ich konnte den alten Mann nur offenen Mundes anstarren.
»Der Herr Freude hat sie gefoltert und verstümmelt – mit Feuer und Dolch – und hat sich dazu allerlei Verruchtheiten einfallen lassen. Nur war es nicht ihr Tonáli, an diesen Martern zu sterben. Folglich ließ Pactli sie im geheimen Einverständnis mit seinem Vater und zumindest der stillschweigenden Billigung der leiblichen Eltern des Mädchens von der Insel verschwinden. Das war es, was Rot Reiher der Göttin Kot Fresserin beichtete, und als der Priester das öffentlich bekanntmachte, erregte das großen Aufruhr auf Xaltócan. Es schmerzt mich, dir außerdem mitteilen zu müssen, daß der Leichnam deines Vaters auf der Sohle des Steinbruchs aufgefunden wurde; offensichtlich hat er sich von oben hinuntergestürzt. Deine Mutter ist einfach feige geflohen. Niemand weiß, wo sie sich aufhält, und das ist ein Glück für sie.« Er schickte sich an, mich stehenzulassen, und sagte gleichmütig: »Ich glaube, das ist alles an Neuigkeiten, die seit deiner Abreise geschehen sind. Genießen wir jetzt …?«
»Wartet!« rief ich wild und packte ihn bei der Schließe seines Umhangs. »Ihr wandelndes Teil von Mictlans Finsternis! Erzählt mir auch den Rest! Was ist aus Tzitzitlíni geworden? Und was soll das heißen, daß dieses Geschenk von ihr stamme?«
»Sie hat dir die gesamte Summe vermacht, die sie erhielt – und Ahuítzotl hat einen ansehnlichen Preis bezahlt –, als sie sich in das Tierhaus von Tenochtítlan verkaufte. Sie wollte oder konnte nicht sagen, woher sie kam und wer sie war, und so wurde sie allgemein die Tapir-Frau genannt.«
Hätte ich ihn nicht immer noch an der Schulter gepackt gehalten, ich wäre zu Boden gestürzt. Für einen Augenblick verschwand alles und alle um mich herum, und ich starrte den langen Tunnel der Erinnerung hinunter. Ich sah die Tzitzitlíni wieder, die ich von Herzen geliebt hatte: meine Schwester mit dem bezaubernden Gesicht, dem wohlgeformten Körper und den geschmeidigen Bewegungen. Und dann sah ich jenes abstoßende Wesen, das reglos im Tierhaus der Monstrositäten gelegen hatte, sah mich erbrechen vor Abscheu und sah die einzelne traurige Träne, die ihr aus dem einen Auge rollte …
Meine Stimme klang mir ganz hohl in den Ohren, als stünde ich wirklich in einem langen Tunnel, als ich anklagend sagte: »Ihr habt es gewußt! Schändlicher Alter, Ihr habt es gewußt, noch ehe Rot Reiher sein Geständnis ablegte! Und habt mich absichtlich vor sie hingeführt – erwähnt die Frau, der ich gerade beigewohnt hatte – und fragtet mich, wie es mir gefallen würde, mit ihr …« Ich würgte, und beinahe hätte ich in der Erinnerung daran noch einmal erbrochen.
»Es ist gut, daß du sie noch ein letztes Mal gesehen hast«, sagte er aufseufzend. »Sie ist bald hinterher gestorben. Eine Gnade, meiner Meinung nach, wiewohl Ahuítzotl ziemlich aufgebracht darüber war, einen so hohen Preis bezahlt zu haben …«
Ich sah mich wieder selbst und stellte fest, daß ich den Mann wie rasend schüttelte und wie von Sinnen zu ihm sagte: »Nie hätte ich Tapirfleisch im Dschungel essen können, hätte ich das gewußt. Aber Ihr habt es die ganze Zeit über gewußt. Woher habt Ihr es gewußt?«
Die Antwort blieb er mir schuldig. Er sagte einfach: »Man nahm allgemein an, daß die Tapir-Frau die Masse ihres aufgeschwemmten Leibes nicht bewegen könne. Aber irgendwie hat sie es fertiggebracht, sich umzudrehen und mit dem Gesicht nach unten zu fallen, so daß ihr Tapirrüssel nicht mehr atmen konnte. So ist sie erstickt.«
»Nun, dann ist es jetzt an dir, zu sterben, verfluchter Seher des Bösen!« Ich glaube, ich war außer mir vor Kummer, Entsetzen und Wut.
»Ihr fahrt zurück nach Mictlan, wo Ihr herkommt!« Und ich stieß ihn zurück in die Menge der Festgäste und hörte nur undeutlich, wie er sagte:
»Die Wärter des Tierhauses behaupten immer noch, daß die Tapir-Frau nicht ohne fremde Hilfe hat sterben können. Sie war jung genug, noch viele, viele Jahre in ihrem Käfig zu leben …«
Ich fand Blut Schwelger und unterbrach unhöflich die Unterhaltung, welche er mit seinen Kriegerkameraden pflegte: »Ich brauche eine Waffe und habe keine Zeit, erst in unsere Herberge zu laufen. Hast du deinen Dolch dabei?«
Er griff unter seinen Umhang und hinter sich, um die Waffe aus der Verknotung seines Schamtuchs zu lösen, und sagte mit einem Schluckauf: »Zerlegst du jetzt den Hirschbraten?«
»Nein«, erklärte ich. »Ich will jemand umbringen.«
»Schon so früh am Abend?« Er zog die kleine Obsidianklinge hervor und kniff die Augen zusammen: »Jemand, den ich kenne?«
Ich verneinte abermals. »Nur einen abscheulichen alten Mann. Braun und verhutzelt wie eine Kakaobohne. Dem weint keiner eine Träne nach.« Ich streckte die Hand aus. »Bitte, den Dolch.«
»Weint keiner eine Träne nach?« rief Blut Schwelger entsetzt und hielt den Dolch zurück. »Du willst den Uey-Tlatoáni von Texcóco umbringen? Mixtli, du mußt betrunken sein wie die sprichwörtlichen vierhundert Kaninchen!«
»Einer von uns beiden ist das bestimmt!« fuhr ich ihn verärgert an. »Hör auf mit deinem Gefasel und gib mir die Klinge!«
»Niemals. Ich habe den braunen Mann gesehen, als er kam; diese ganz bestimmte Verkleidung kenne ich.« Blut Schwelger steckte die Waffe wieder fort. »Er ehrt uns mit seiner Anwesenheit, selbst wenn er es vorzieht, das in seiner Vermummung zu tun. Gleichgültig, welcher Kummer an dir nagt, mein Junge, ich werde nicht zulassen …«
»Vermummung?« sagte ich. Blut Schwelger hatte leidenschaftslos genug gesprochen, um mir meinen erhitzten Kopf etwas zu kühlen.
Einer der Kriegergäste sagte: »Vielleicht erkennen nur wir ihn, die wir oft genug mit ihm in den Krieg gezogen sind. Nezahualpíli liebt es nun mal, gelegentlich so umherzugehen, um seine Mitmenschen auf ihrer Ebene zu beobachten und nicht von seinem erhöhten Thronsitz aus. Doch diejenigen, die ihn lange genug kennen, um ihn auch zu erkennen, verlieren kein Wort darüber.«
»Ihr seid alle jämmerlich betrunken«, sagte ich. »Auch ich kenne Nezahualpíli und weiß zum Beispiel, daß er noch im Besitz aller seiner Zähne ist.«
»Ein Batzen Oxitl, zwei oder drei davon zu schwärzen«, erklärte Blut Schwelger und hatte neuerlich einen Schluckauf. »Oxitl-Striche auf dem mit Walnuß-Gerbsäure braun gefärbten Gesicht – das sind die Runzeln. Außerdem versteht er sich darauf, gebückt zu gehen und seine Hände so knorrig erscheinen zu lassen wie die eines uralten Mannes …«
»Aber im Grund braucht er weder Masken noch Verstellung«, sagte der andere. »Er braucht sich bloß mit dem Staub der Straße zu bestäuben – dann sieht er aus wie ein Wildfremder.« Dieser Krieger hatte seinerseits einen Schluckauf und meinte: »Wenn Ihr schon einen Verehrten Sprecher erschlagen müßt, junger Herr, dann nehmt Euch jedenfalls Ahuítzotl vor; dann tut Ihr dem Rest der Welt noch einen Gefallen.«
Ich wandte mich zum Gehen. Irgendwie kam ich mir töricht vor und war völlig durcheinander, ganz abgesehen davon, daß Zorn und Ärger in mir brodelten – es waren tausend widersprüchliche Gefühle, die in mir kämpften …
Ich blickte mich noch einmal suchend nach dem Mann um, der Nezahualpíli war – oder ein Zauberer oder ein böser Gott –, jetzt nicht mehr von dem Wunsch beseelt ihm den Dolch in den Leib zu stoßen, sondern die Antworten auf tausend andere Fragen aus ihm herauszuzwingen. Ich konnte ihn nicht finden. Er war verschwunden, und mit ihm meine Freude am Festschmaus verflogen, an der Geselligkeit, an jeder Fröhlichkeit. Heimlich verließ ich das Haus der Pochtéca, kehrte zurück ¡n die Herberge und packte dort ein Bündel mit dem Notwendigsten, das ich für unterwegs brauchte. Tzitzis Figürchen der Liebesgöttin Xochiquétzal fiel mir ins Auge, doch meine Hand zuckte davor zurück, als wäre es glühend heiß. Ich steckte es nicht mit in das Bündel und nahm es nicht mit.
»Ich habe gesehen, wie du dich davongeschlichen hast und bin dir gefolgt«, sagte der junge Cozcatl von der Tür meines Gemachs her. »Was ist geschehen? Und was hast du vor?«
Ich sagte: »Ich bringe es einfach nicht fertig, dir zu erzählen, was alles geschehen ist, doch scheinen die Vögel es von den Dächern zu pfeifen. Und deswegen will ich für eine Zeitlang fort.«
»Darf ich mitkommen?«
»Nein.«
Er machte ein langes Gesicht. »Ich glaube, es ist für mich das beste, ich bleibe eine Weile allein; ich muß mir darüber klarwerden, was ich mit dem Rest meines Lebens machen will. Und ich lasse dich ja nicht als wehrlosen und herrenlosen Sklaven zurück, wie du einst fürchtetest. Du bist jetzt dein eigener Herr, und ein reicher dazu. Du erhältst deinen Anteil an unserem Vermögen, sobald die Vorsteher es uns auszahlen. Außerdem übertrage ich dir die Aufgabe, meinen Anteil und die anderen Habseligkeiten von mir zu verwahren, bis ich zurückkehre …«
»Selbstverständlich, Mixtli.«
»Blut Schwelger wird aus seiner ehemaligen Kriegerunterkunft ausziehen. Vielleicht kauft ihr ein Haus oder baut eines – oder jeder eines. Du kannst deine Studien wieder aufnehmen, ein Handwerk ergreifen oder irgendein Geschäft aufmachen. Irgendwann kehre ich zurück. Und wenn ihr – du und unser alter Beschützer – dann noch Lust habt zu reisen, können wir weitere Expeditionen unternehmen.«
»Irgendwann«, sagte er traurig, straffte dann jedoch die Schultern. »Nun, kann ich dir dann jedenfalls bei den Vorbereitungen für deine plötzliche Abreise helfen?«
»Ja, das kannst du. In meinem Schulterbeutel und in der Börse, die ich in mein Schamtuch eingenäht habe, werde ich kleinere Zahlungsmittel für unterwegs bei mir führen. Aber ich möchte auch Gold mitnehmen, falls ich auf etwas ganz Ungewöhnliches stoße – und dieses Gold möchte ich dort verstecken, wo Räuber es nicht so ohne weiteres finden.«
Cozcatl überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Manche Reisende schmelzen ihr Gold in Körner um und verbergen die in ihrem Darm.«
»Das ist ein Trick, den jeder Räuber gleichfalls kennt. Nein, mir ist das Haar lang gewachsen, und ich glaube, das kann ich mir zunutze machen.
Sieh, ich habe allen Goldstaub aus meinen Federkielen herausgeholt und in dieses Tuch geschüttet. Mach ein kleines Päckchen daraus, Cozcatl, und dann laß uns irgendeine Möglichkeit finden, wie ich es unter meinem Haar verborgen am Hinterkopf befestige – wie einen Umschlag oder eine Kompresse.«
Während ich meinen Beutel fertigpackte, faltete er das Tuch säuberlich mehrere Male zusammen, bis es nicht größer war als seine kleinen Hände; trotzdem war es so schwer, daß er beide Hände brauchte, um es emporzuheben. Ich setzte mich nieder, beugte den Kopf, und er legte es mir auf den Nacken …
»Und jetzt, damit es nicht herabfällt …« murmelte er. »Mal sehen …«
Er befestigte es mit einer festen Schnur, die er mit den Enden des kleinen Pakets verknotete und dann über Ohren und Stirn führte; weiterhin verborgen wurde es dadurch, daß ich mir ein gefaltetes Tuch über die Stirn band, wie ein Polster für den Stirnriemen zum Lastentragen, und selbiges gleichfalls am Hinterkopf verknotete. Viele Reisende trugen solche Tücher, damit ihnen Haare und Schweiß nicht in die Augen gerieten.
»Es ist ganz und gar nicht zu sehen, Mixtli. Höchstens, wenn der Wind weht. Aber dann kannst du dir immer den Umhang wie eine Kapuze über den Kopf ziehen.«
»Ja. Ich danke dir, Cozcatl. Und« – ich sagte es rasch; ich wollte so schnell wie möglich fort – »jetzt erst einmal Lebewohl!«
Ich fürchtete mich weder vor der Weinenden Frau noch vor den vielen anderen bösen Wesen, die unvorsichtigen Abenteurern wie mir im Dunkeln auflauern. Ich stieß sogar ein verächtliches Schnauben aus, als ich an Nacht Wind dachte – und den staubbedeckten Fremden, dem ich so häufig nächtens begegnet war. Ich ließ die Stadt hinter mir und marschierte wieder über den nach Süden und Coyohuácan führenden Damm. Als ich ihn zur Hälfte hinter mir hatte – in der Festung Acachinánco – waren die Schildwachen mehr als nur ein wenig erstaunt, zu nachtschlafender Zeit einen Menschen durchkommen zu sehen. Da ich jedoch immer noch festlich gekleidet war, hielten sie mich nicht fest und verdächtigten mich nicht, ein Dieb oder ein Flüchtling zu sein.
Ein Stück weiter wandte ich mich auf die nach Mexícaltzinco führende Abzweigung des Dammes, marschierte durch diese schlafende Stadt hindurch und ging die ganze Nacht über in östlicher Richtung weiter.
An diesem Vormittag schritt ich kräftig aus und ging der aufgehenden und rasch steigenden Sonne entgegen; ich verspürte weder Mattigkeit noch hatte ich das Bedürfnis zu schlafen, so sehr brodelten Gedanken und Erinnerungen noch in mir. (Das ist das Quälendste am Kummer: daß man von Erinnerungen an glücklichere Zeiten bedrängt wird und man stets Vergleiche zieht mit dem Elend der Gegenwart.) Den größten Teil des Tages über folgte ich der Straße am Gestade des Sees entlang, die ich vor langer Zeit mit dem siegreich aus Texcála heimmarschierenden Heer genommen hatte. Doch nach einiger Zeit bog diese Straße von meinem Weg ab, ich ließ den See hinter mir und befand mich bald in einem Land, das ich noch nicht kannte.
Mehr als anderthalb Jahre war ich unterwegs und kam durch viele neue Lande, ehe ich schließlich so etwas wie ein Ziel erreichte. Einen großen Teil dieser Zeit über war ich verzweifelt und niedergedrückt daß ich euch nicht sagen kann, ehrwürdige Patres, was ich in dieser Zeit alles sah und erlebte. Ich glaube sogar, wenn ich nicht immer noch viele Wörter der Sprachen, die ich damals lernte, im Gedächtnis behalten hätte, ich wüßte heute nicht, wie ich auch nur die allgemeine Route nachvollziehen könnte, der ich damals folgte. Ein paar Anblicke und Ereignisse freilich sind mir heute noch gegenwärtig und stehen mir vor Augen, wie die Vulkane, welche in jenen nach Osten sich dehnenden Landen alles tiefer liegende Land überragen.
Mutig zog ich in Cuautexcálan ein, Das Land der Adlerklippen, das Gebiet jenes Volkes, in das ich einst zusammen mit dem Heer einmarschiert war. Kein Zweifel – hätte ich mich als Mexíca zu erkennen gegeben, ich wäre nie wieder lebendig herausgekommen. Eigentlich bin ich auch ganz froh, damals in Texcála nicht umgebracht worden zu sein, denn das Volk dort hängt religiösen Vorstellungen an, die ebenso simpel wie lächerlich sind. So glauben sie zum Beispiel, daß ein Edelmann – gleichgültig, wie und wann er stirbt – fürderhin ein lustiges Leben in der Gegenwelt führt; wenn jedoch ein Nichtadliger stirbt, dieser ein recht erbärmliches Leben dortselbst zu führen gezwungen ist. Tote von Adel – gleichgültig, ob Männer oder Frauen – legen nur ihren menschlichen Leib ab und kehren als segelnde Wolken oder Vögel mit prächtigem Gefieder oder als Edelsteine von unschätzbarem Wert wieder. Tote Nichtadlige hingegen kehren als Mistkäfer, schleichende Wiesel oder Stinktiere wieder.
Doch wie dem auch sei, ich starb nicht in Texcála und wurde auch nicht als verhaßter Mexíca erkannt. Wiewohl die Texcaltéca von jeher unsere Feinde gewesen sind, unterscheiden sie sich körperlich nicht von uns, sprechen auch dieselbe Sprache, und es fiel mir nicht schwer, ihre Aussprache nachzuahmen und als einer der ihren zu gelten. Das einzige, was mich in ihren Landen etwas auffallen ließ, war die Tatsache, daß ich ein gesunder junger Mann war, lebendig und nicht verstümmelt. Die Schlacht, an welcher ich teilgenommen, hatte die männliche Bevölkerung aller Altersgruppen, von eben mannbaren Jünglingen bis zu den Greisen, nahezu ausgerottet. Gleichwohl wuchs jetzt eine junge Generation von Knaben heran, erfüllt vom Haß auf uns Mexíca; sie schworen uns Rache und waren erwachsen, als ihr Spanier kamt, und ihr wißt ja, wie die Rache aussah, welche sie an uns nahmen.
Damals jedoch, als ich müßig und ohne bestimmtes Ziel durch Texcála streifte, lag all das noch weit in der Zukunft. Daß ich einer der wenigen erwachsenen und altersmäßig zu ihnen passenden Männer war, brachte mich bei den Frauen nicht in Schwierigkeiten. Im Gegenteil: viele verführerische Texcaltéca-Witwen hießen mich auf ihrem Lager willkommen, das so lange kein Mann geteilt hatte.
Von dort gelangte ich in aller Gemächlichkeit in die Stadt Cholólan, die Hauptstadt der Tya Huü, ja, die einzige größere noch verbliebene Ansammlung dieser Menschen der Erde. Es war nicht zu verkennen, daß die Mixtéca, wie sie von allen außer sich selbst genannt wurden, einst eine beneidenswert verfeinerte Kultur entwickelt und aufrechterhalten hatten.
So sah ich in Cholólan zum Beispiel altehrwürdige Bauten, verschwenderisch mit Mosaiken geschmückt, die wie versteinerte Gewebe wirkten; einzig diese Bauten konnten die Vorbilder für die, wie es heißt, von den Tzapotéca errichteten Tempel der Heiligen Heimat der Wolkenmenschen von Lyobáan gewesen sein.
Es gab auch einen Berg in Cholólan, welcher in jenen Tagen auf der Spitze einen prachtvollen Quetzalcóatl-Tempel trug, einen Tempel, außerordentlich kunstreich mit bemalten Skulpturen der Gefiederten Schlange verziert. Ihr Spanier habt diesen Tempel geschleift, doch offensichtlich trachtet ihr, etwas von der Heiligkeit der Stätte auszuborgen, denn soviel ich höre, seid ihr dabei, anstelle des Tempels eine christliche Kirche zu bauen. Laßt mich euch sagen: dieser Berg ist kein Berg. Es handelt sich um eine von Menschenhand geschaffene Pyramide aus luftgetrockneten Lehmziegeln, mehr Ziegeln, als Haare auf einer ganzen Herde Weißwedelhirsche sind, seit unvordenklicher Zeit mit Schlamm überdeckt und von Pflanzen überwuchert. Wir glauben, daß es sich um die älteste aller Pyramiden in unseren Landen handelt; aber wissen tun wir auf jeden Fall, daß es die gigantischste ist, die überhaupt jemals errichtet wurde. Heute mag sie aussehen wie jeder andere bäum- und strauchbewachsene Berg, und sie mag auch dazu dienen, eure neuerbaute Kirche zu tragen und zu erhöhen, doch meine ich, eurem Herrgott müsse unbehaglich zumute sein auf diesen Höhen, die so mühevoll für die Verehrung von Quetzalcóatl und niemand sonst aufgetürmt wurden.
Über die Stadt Cholólan herrschten nicht ein, sondern zwei gleich mächtige Männer. Sie wurden Tlaquiach, Herr Dessen, Was Oben Ist, und Tlalchiac, Herr Dessen, Was Unten Ist genannt, was bedeutete, daß der eine mit geistigen, der andere mit irdischen Dingen zu tun hatte. Man hat mir erzählt, daß die beiden oft Streit miteinander hätten, doch zu dem Zeitpunkt, da ich in Cholólan eintraf, waren sie zumindest vorübergehend vereint in irgendeinem Groll gegen Texcála, wo ich gerade herkam. Worum es bei diesem Streit ging, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kam kurz darauf eine Abordnung von vier Texcaltéca-Edelleuten, die von ihrem Verehrten Sprecher Xicoténca geschickt wurden, über die strittige Frage zu verhandeln und sie beizulegen.
Die Herren Dessen, Was Unten Ist, und Dessen, Was Oben Ist, weigerten sich, die Abgesandten auch nur zu empfangen. Statt dessen befahlen sie den Palastwachen, sie zu ergreifen, zu verstümmeln und dann wieder heimzujagen. Den vier Edelleuten war die Gesichtshaut vollständig abgezogen worden, ehe sie wankend und stöhnend zurückkehrten nach Texcála; ihre Köpfe waren rohes Fleisch mit Augäpfeln darin, und ihre Gesichter hingen ihnen bis auf die Brust. Ich glaube, sämtliche Fliegen von Cholólan müssen ihnen zur Stadt hinaus nach Norden gefolgt sein. Da sich vorhersehen ließ, daß die Folge dieser unerhörten Behandlung nur ein Krieg sein konnte und ich keine Lust hatte, als Krieger ausgehoben zu werden, um darin mitzukämpfen, verließ ich Cholólan gleichfalls in aller Eile und wandte mich weiter nach Osten.
Als ich nochmals eine unsichtbare Grenze überschritt und mich im Totonáca-Land befand, blieb ich einen Tag und eine Nacht in einem Dorf, in dem die Fenster meiner Herberge auf den mächtigen Citlaltépetl – Sternen Berg – hinausging und genoß es, ihn aus respektvoller Entfernung durch meinen Topaskristall zu betrachten und den Blick von der grünen, blumenbesetzten Wärme des Dorfes bis zu den eisigen Höhen des wolkenumdrängten Gipfels hinaufwandern zu lassen.
Der Citlaltépetl ist der höchste Berg in der gesamten Einen Welt, so hoch, daß das obere Drittel über und über mit einer weißen Schneekappe bedeckt ist – bis auf die Zeiten, da der Krater von geschmolzener Lava und glühender Asche überfließt und der Berg eine rote statt einer weißen Haube trägt. Soviel ich gehört habe, ist der Gipfel das erste Wahrzeichen des Landes, welches man von euren Schiffen aus erblickt. Tagsüber sehen die Ausgucks den schneebedeckten Kegel, oder nächtens den rotglühenden Schimmer des Kraters, längst ehe sonst irgend etwas von Neuspanien auftaucht. Citlaltépetl ist so alt wie die Welt selbst, doch bis auf den heutigen Tag ist noch kein Mensch, weder Eingeborener noch Spanier, ganz bis nach oben hinaufgeklettert. Sollte jemand das wagen, würden die vorüberziehenden Sterne ihn vermutlich streifen und von seinem luftigen Sitz aus in die Tiefe schleudern.
Ich gelangte an die andere Grenze des Totonáca-Landes, das Gestade des Ost-Meeres, an eine freundliche Bucht namens Chálchihuacuécan, was soviel heißt wie: Ort, Wo Überfluß An Schönen Dingen Herrscht. Ich erwähne das nur, weil es dort später zu einem bedeutsamen Zusammentreffen kommen sollte, wiewohl ich damals noch nichts davon ahnen konnte. Im Frühling eines späteren Jahres sollten andere Männer ihren Fuß dorthin setzen, das Land für Spanien in Besitz nehmen, ein hölzernes Kreuz und eine Flagge in den Farben des Bluts und des Goldes dort aufrichten und ihn den Ort des Wahren Kreuzes nennen: Vera Cruz.
Die Küste dort war wesentlich angenehmer und weniger abweisend als die Küste des Xoconóchco-Landes. Die Strande bestanden nicht aus schwarzem zerbröseltem Lavagestein, sondern aus feinem weißem oder gelbem, ja, manchmal sogar aus korallenrosafarbenem Sand. Auch war das Meer dort nicht ein grünschwarzer Aufruhr, sondern von durchsichtigem Türkisblau, sanft und murmelnd. Die Wellen brachen sich nur als wispernder Schaum, und an manchen Stellen ging es so flach ins Wasser hinein, daß man fast solange hinauswaten konnte, bis man vom Land kaum noch etwas sah und das Wasser einem dennoch nicht weiter reichte als bis zur Hüfte. Anfangs führte die Küste mich direkt in den Süden, doch nach ungezählten Malen Ein Langer Lauf schlägt diese einen weiten Bogen. Nahezu unmerklich kam es daher, daß ich erst nach Südosten und später ganz nach Osten weiterzog, ja zuletzt sogar in nordöstlicher Richtung. Und so wurde aus dem, was wir in Tenochtítlan das Ost-Meer nannten, recht eigentlich ein Nord-Meer.
Dieser Küstenstreifen dort besteht nun keineswegs aus palmengesäumten sandigen Stranden; ich hätte es auch eintönig gefunden, wäre das der Fall gewesen. Auf meinem Weg begegnete ich des öfteren Flüssen, die sich hier ins Meer ergossen; ich mußte dann mein Lager aufschlagen und auf einen Fischer oder Fährmann warten, der mich mit seinem Einbaum ans andere Ufer hinüberbrachte. An anderen Stellen wurde der trockene Sand unter meinen Sandalen unversehens feucht, dann ausgesprochen naß, bis er sich schließlich in einen regelrechten Sumpf verwandelte, wo die anmutigen Palmen verfilzten Mangrovenwäldern mit Luftwurzeln wichen, knotig wie die Beine alter Männer. Um an diesen Sümpfen vorbeizukommen, schlug ich gelegentlich gleichfalls mein Lager auf und wartete auf vorüberfahrende Fischerboote, welche mich über See auf die andere Seite brachten. Gelegentlich aber wanderte ich auch auf dem Landweg um sie herum, bis die Sümpfe wieder in trockenes Land übergingen, und ich einen großen Bogen um sie herum schlagen konnte.
Ich weiß noch, welch ein Schrecken mir in die Glieder fuhr, als ich das zum erstenmal erlebte. Am morastigen Rand eines solchen Sumpfes wurde ich von der Nacht überrascht, und es hielt außerordentlich schwer, genügend trockenes Gras und ein paar Zweige zu finden, um jedenfalls ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. Als ich es schließlich schaffte, war es so klein und gab so wenig Licht, daß ich – als ich den Kopf hob – unter den moosbehangenen Mangroven auf der anderen Seite ein viel helleres Feuer als meines erblickte, das freilich mit einer unnatürlich blauen Flamme brannte.
»Die Xtabai!« fuhr es mir augenblicklich durch den Kopf, hatte ich doch Geschichten genug über die Geisterfrau gehört, welche jene Gebiete heimsucht und stets in ein Gewand gekleidet ist, das ein unheimliches Licht verströmt. Jeder Mann, so heißt es in den Geschichten, der sich ihr nähert, stellt fest, daß es sich bei ihrem Gewand nur um eine Kapuze handelt, unter der sie den Kopf versteckt, und daß der übrige Körper nackt ist – und von verführerischer Schönheit. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, näher an sie heranzugehen, sie jedoch weicht spröde immer zurück, bis er plötzlich voller Schrecken feststellt, daß er in einen Treibsand geraten ist, aus dem er nicht mehr herauskommt. Er wird von dem Sand in die Tiefe gezogen, und kurz bevor er gänzlich darin versinkt, läßt die Xtabai endlich ihre Kapuze fallen und zeigt ihr Gesicht – einen böse grinsenden Totenschädel,
Mit meinem Sehkristall beobachtete ich die in der Ferne flackernde blaue Flamme eine Zeitlang, wobei mir ein Schauder über den Rücken lief, bis ich mir zuletzt sagte: »Du tust gut daran, dich nicht schlafen zu legen, solange dieses Licht dort draußen herumgeistert. Doch da ich gewarnt bin, erhasche ich vielleicht doch einen Blick auf sie und gerate trotzdem nicht in Treibsand hinein.«
Mein Obsidianmesser in der Hand, bewegte ich mich geduckt vorwärts auf das Gewirr von Bäumen und Schlingpflanzen zu und dann durch sie hindurch. Das blaue Licht wartete auf mich.
Ich probierte jede Stelle aus, auf die ich einen Fuß setzte, um mein Gewicht darauf zu verlagern, doch wiewohl ich stets bis zu den Knien einsank und mein Umhang von dem Buschwerk zerfetzt wurde, sank ich niemals tiefer. Das erste, was mir als ungewöhnlich auffiel, war der Geruch. Selbstverständlich roch der gesamte Morast übel – nach Brackwasser, verwesenden Pflanzen und muffigen Giftpilzen –, doch dieser Geruch, der mir jetzt ¡n die Nase stieg, war grauenhaft: wie nach faulen Eiern. Ich dachte bei mir: »Wie käme ein Mann dazu, auch noch die schönste Xtabai zu verfolgen, wenn sie so stinkt?« Dennoch arbeitete ich mich weiter vor und stand zuletzt vor dem Licht; es handelte sich keineswegs um eine Geisterfrau, sondern nur um eine hüfthohe, rauchlose blaue Flamme, welche geradenwegs aus dem Boden selbst aufstieg. Wer sie in Brand gesetzt hatte, wußte ich nicht doch genährt wurde sie offensichtlich von der widerwärtig riechenden Luft, die aus irgendeiner Erdspalte aufstieg.
Andere mögen durch dieses Licht in den Tod gelockt worden sein, aber die Xtabai an sich ist gänzlich harmlos. Ich bin nie dahintergekommen, warum verpestete Luft brennt, wohingegen normale Luft es für gewöhnlich nicht tut. Doch bei etlichen anderen Gelegenheiten bin ich diesem blauen Feuer nochmals begegnet, und als ich mir beim letztenmal die Mühe machte, es zu untersuchen, entdeckte ich einen nicht minder erstaunlichen Stoff als Luft, die brannte. In der Nähe der Xtabai-Flamme trat ich in eine Art von besonders klebrigem Schlamm und dachte augenblicklich: »Jetzt hat es mich doch erwischt!« Doch dem war nicht so; ich kam leicht wieder heraus und trug eine Handvoll dieser merkwürdigen Substanz zurück an mein Lagerfeuer.
Es war schwarz wie das Oxitl, welches wir aus dem Saft der Fichten gewinnen, nur eher schleimig als klebrig. Als ich es ans Feuer hielt, um es genauer zu betrachten, fiel ein kleiner Brocken davon in die Flammen, woraufhin diese sogleich höher und viel heißer aufflammten. Erfreut über diese Zufallsentdeckung, warf ich nach und nach meine ganze Handvoll ins Feuer, und ohne, daß ich noch ein einziges Stück Feuerholz hätte nachlegen müssen, brannte es hell die ganze Nacht über. Von diesem Tag an machte ich mir, wenn ich ein Lager irgendwo in der Nähe eines Morastes aufschlagen mußte, nicht erst die Mühe, umständlich Brennholz zu sammeln, sondern hielt nach diesem schwarzen Unrat Ausschau, der aus dem Boden gesickert kam, und hatte auf diese Weise immer ein helleres und wärmeres Feuer und ein strahlenderes Licht als jedes, das wir von den Ölen erhielten, mit denen wir unsere Lampen füllten.
Damals befand ich mich im Land jenes Volkes, welches wir Mexíca unterschiedslos Olméca nannten, einfach deshalb, weil dies das Land war, aus welchem wir den größten Teil unseres Óli bezogen. Die Bewohner selbst unterscheiden eine ganze Reihe von Volksstämmen – Coátzacoáli, Coatlícamac, Cupílco und andere –, doch ähneln diese Stämme einander sehr: jeder Mann geht gebeugt unter der Last seines Namens, und jede Frau und jedes Kind bewegt in einem fort kauend die Kiefer. Doch das erkläre ich wohl besser.
Unter den dort heimischen Bäumen gibt es zwei Arten, die, sobald ihre Rinde aufgeschlitzt wird, einen Saft ausscheiden, der bald eine vergleichsweise feste Form annimmt. Die eine Baumart bringt das Óli hervor, welches wir in verflüssigter Form als Kleister benutzen und aus welchem wir, in der erstarrteren Form, unsere Tlachtli-Bälle fertigen. Die andere Baumart bringt eine weichere, süßschmeckende, Tzictli genannte Gummiart hervor, und dieses Tzictli dient zu nichts anderem als zum Gekautwerden. Womit ich nicht meine, daß man es ißt: es wird nie hinuntergeschluckt. Verliert es seinen Geschmack, wird es fade und weich, spuckt man es aus und steckt sich ein anderes Stück in den Mund. Nur Frauen und Kinder kauen Tzictli; bei einem Mann gilt diese Gewohnheit als weibisch. Doch danke ich den Göttern, daß diese Unsitte nicht anderwärts eingeführt wurde, denn sie läßt die Olméca-Frauen, die sonst recht ansprechend aussehen, so stumpf und geistlos erscheinen wie dickgesichtige Seekühe, die fortwährend auf Riedstengeln herumkauen.
Die Männer kauen zwar kein Tzictli, haben sich jedoch ihrerseits etwas zur Gewohnheit gemacht was nicht minder kindisch ist. Irgendwann in der Vergangenheit haben sie angefangen, Namensschildchen zu tragen. Jeder Mann trug auf der Brust einen Anhänger aus möglichst kostbarem Material von Muscheln bis Gold mit seinen Namenssymbolen darauf, damit jeder Vorübergehende sie lesen könne. So konnte ein Fremder, der einem Unbekannten eine Frage stellte, diesen mitseinem Namen anreden. Überflüssig vielleicht, doch damals galt das Namensschild als eine Aufforderung, sich möglichst höflicher Umgangsformen zu befleißigen.
Über die Jahre war dieser schlichte Anhänger immer aufwendiger gearbeitet worden. Jetzt treten zu seinen Namenssymbolen auch noch die seines Berufes: ein Büschel Federn läßt erkennen, daß er Handel treibt; dazu einen Hinweis auf seinen Rang innerhalb des Adels oder der Schicht der Gemeinfreien: hinzu treten noch entferntere Vorfahren; und Gold- und Silberklümpchen oder kostbare Steine, um mit dem Reichtum zu prahlen, den man besitzt; und ein Gewirr bunter Bänder, um anzuzeigen, ob man verheiratet, Junggeselle, Witwer oder der Vater von wie vielen Kindern ist; und Abzeichen für Kriegstaten: etwa kreisförmige Scheiben mit den Namen von Städten, an deren Besiegung man teilgenommen hat. Es konnte aber bis zu den Knien hinunter hängen. Daher geht heutzutage jeder Olmécatl gebeugt unter der Last seines Namens und verborgen von dem Gewirr von kostbarem Metall, Geschmeide, Federn, Bändern, Muscheln und Korallen. Und kein Fremder braucht jemals eine Frage nach dem anderen zu stellen; die Antwort auf jede Frage und auf alles, was er über ihn wissen möchte, hängt jedem Mann von der Brust.
Diesen wunderlichen Eigenheiten zum Trotz, sind die Olméca keineswegs Narren, die ihr Leben nur darauf abgestellt hätten, Bäume anzuzapfen. Sie werden zurecht auch ihrer früheren und heutigen Kunstfertigkeiten wegen gerühmt. Verstreut im Küstenbereich liegen die verlassenen Städte ihrer Vorfahren, und manches von dem, was übriggeblieben ist, ist schon erstaunlich. Ich persönlich war zumal tief beeindruckt von den Standbildern, welche sie aus dem Lavagestein herausgemeißelt haben und die heute bis zum Hals oder Kinn im Boden stecken und von Bäumen und Sträuchern überwuchert werden. Nichts außer ihren Köpfen ist von ihnen sichtbar. Sie tragen einen höchst lebendigen Ausdruck von Wildheit zur Schau, und alle tragen sie Helme, die dem Kopfschutz unserer Tlachtli-Ballspieler ähneln; möglich also, daß es sich bei den Standbildern um jene Götter handelt, welche dieses Spiel erfunden haben. Ich sage mit Bedacht Götter und nicht Menschen, denn jeder einzelne von diesen Köpfen, ganz zu schweigen von den unvorstellbaren Körpern im Boden, ist viel zu groß, um in das Haus eines Menschen hineinzupassen.
Außerdem finden sich dort steinerne Friese und Säulen und dergleichen, auf denen nackte männliche Gestalten dargestellt sind – manche sehr nackt und sehr männlich –, die offenbar tanzen oder trunken sind oder sonstwie ihre Glieder verrenken, so daß ich meine, die Vorfahren der Olméca müssen sehr ausgelassene Menschen gewesen sein. Und es gibt kleine Figuren aus Jadestein, wundervoll gearbeitet und sehr genau in den Einzelheiten, wiewohl es schwer hält, die neueren von den älteren zu unterscheiden, denn unter den Olméca gibt es noch heute viele Kunsthandwerker, die im Schneiden von Steinen Erstaunliches leisten.
Im Cupilco genannten Land und seiner Hauptstadt Xicalánca – herrlich gelegenen auf einer schmalen Landzunge, welche auf der einen Seite von blauem, auf der anderen von grünem Meereswasser umspült wird – fand ich einen Schmied namens Tuxtem, dessen Spezialität das Schnitzen winziger Vögel und Fische war, nicht größer als Fingerknöchel, und deren unendlich viele Federn oder Schuppen abwechselnd aus Gold und Silber gearbeitet waren. Später brachte ich einige seiner Arbeiten zurück nach Tenochtítlan, und jene Spanier, die sie gesehen haben, waren voll des Lobes über sie – ein paar Stücke sind immer noch da – und behaupteten, kein Künstler in dem, was sie die Alte Welt nennen, habe jemals ähnlich Meisterhaftes geschaffen.
Ich folgte der Küstenlinie, welche mich ganz um die Uluümil Kutz genannte Maya-Halbinsel herumführte. Dieses traurige Land habe ich euch bereits beschrieben, ehrwürdige Patres; ich will mich daher jetzt nicht weiter damit aufhalten, sondern nur erwähnen, daß ich mich an der Westküste nur an eine einzige Stadt erinnere, welche zurecht die Bezeichnung Stadt trägt: Kimpech. An der Nordküste liegt eine andere: Tihó; und an der Ostküste noch eine: Chaktemál.
Ich war mittlerweile über ein Jahr von Tenochtítlan fort und nahm mir vor, allmählich dorthin zurückzukehren. Von Chaktemál aus wandte ich mich ins Landesinnere, nach Westen, und durchquerte die gesamte Halbinsel. Ich hatte mich reichlich mit Atóli und Schokolade sowie anderem Reiseproviant und reichlich Wasser eingedeckt. Wie ich bereits gesagt habe, handelt es sich um ein dürres Land mit einem höchst ungesunden Klima und einer nicht genau zu bestimmenden Regenzeit. Ich gelangte in jenem Mond über die besagte Grenze, den ihr Juli nennt – nach dem Kalender der Maya der achtzehnte, Kumkú – Donnerschlag – genannte Mond, nicht, weil er heftige Regenfälle oder überhaupt Niederschlag brachte, sondern weil dieser Mond so trocken ist, daß das ausgeglühte Land selbst so unter der Hitze stöhnt und ächzt, als ob es sich zusammenzöge und schrumpfte.
Vielleicht war dieser Sommer noch heißer als sonst, jedenfalls ließ er mich eine merkwürdige und – wie sich herausstellte – außerordentlich folgenreiche Entdeckung machen. Eines Tages gelangte ich an einen kleinen See, der so aussah, als bestünde er aus jenem schwarzen Schlamm, wie ich ihn zuvor in den Morästen des Olméca-Landes gefunden hatte und der sich so vorzüglich als Brennmaterial eignet. Doch als ich einen Stein aufhob und hineinwarf, mußte ich feststellen, daß dieser nicht einsank, sondern sprang, ein paarmal auf der Oberfläche aufschlug und weiterrollte, als ob der See aus erstarrtem Óli bestünde. Zögernd setzte ich einen Fuß auf die schwarze Fläche und stellte fest, daß sie nur ganz wenig unter meinem Gewicht nachgab. Es handelte sich um Chapopótli, einen harzartigen Stoff, aber nicht braun, sondern schwarz. Schmolz man es, ließen sich vorzügliche helleuchtende Fackeln daraus machen, Risse in Gebäuden damit ausfüllen, zahlreiche Heilmittel damit mischen und als Farbe verwenden, die kein Wasser durchließ. Zwar kannte ich es, doch hatte ich nie zuvor einen ganzen See davon gesehen.
Ich setzte mich ans Ufer, aß einen Bissen und dachte über meine Entdeckung nach. Und während ich dasaß, brachte die Kumkú-Hitze – die das ganze Land um mich her knistern und grollen ließ – unmittelbar vor meinen Augen auch den Chapopótli-See zum Bersten. Die Oberfläche barst plötzlich nach allen Richtungen auseinander, so daß es aussah, als wäre sie von einem Augenblick zum anderen mit einem Spinnennetz überzogen, und es wurden ganze Brocken in die Höhe geschleudert, darunter etliche braunschwarze längliche Gegenstände, die wohl einst Stämme und Äste eines lange vergrabenen Baums gewesen sein mochten.
Selbstverständlich war ich heilfroh, daß ich mich nicht gerade in diesem Augenblick auf den See hinausgewagt hatte, denn dann wäre ich unweigerlich gleichfalls in die Höhe geschleudert worden und hätte mich womöglich verletzt. Als ich mit dem Essen fertig war, hatte sich alles wieder beruhigt. Der See lag freilich nicht mehr als glatte Fläche da, sondern bildete ein Durcheinander von emporgeschleuderten, schwarz schimmernden Brocken, doch sah es nicht so aus, als ob es noch einmal zu einem Ausbruch kommen würde, und mich packte die Neugier zu erfahren, was es mit den länglichen Gegenständen auf sich hatte, welche ich durch die Luft hatte segeln sehen. Infolgedessen betrat ich behutsam abermals den See, suchte mir, als ich nicht einsank, zwischen den schwarzen Brocken den Weg und stellte fest, daß es sich bei den herausgeschleuderten Dingen, die ich für Baumstämme oder Äste gehalten hatte, um Knochen handelte.
Dadurch, daß sie lange Zeit unterm See gelegen hatten, waren sie nicht mehr weiß, wie es alte Knochen für gewöhnlich sind; dafür waren sie unvorstellbar groß, und ich mußte daran denken, daß unsere Lande einst von Riesen bevölkert gewesen waren. Doch wiewohl ich hier und da eine Rippe und auch einen Oberschenkelknochen erkannte, wurde mir auch klar, daß sie nicht von einem menschlichen Riesen stammen konnten, sondern von einem unvorstellbar großen Tier. Ich konnte mir nur denken, daß das Chapopótli vor langer, langer Zeit flüssig gewesen sein mußte, irgendein Tier ahnungslos darin eingebrochen und in die Tiefe gezogen worden war – und daß die Flüssigkeit sich zu ihrem heutigen Zustand verfestigt hatte.
Zwei Knochen fand ich, die noch weit größer waren als die anderen – zumindest hielt ich sie anfangs für Knochen. Jeder war so lang, wie ich groß bin, dabei an einem Ende rund wie mein Oberschenkel; zum anderen Ende hin verjüngte er sich, daß die stumpfe Spitze nicht größer war als mein Daumen. Jeder wäre in voller Ausdehnung wohl auch noch länger, nur, daß sich beide bogen und nochmals bogen wie eine sehr widerspenstige Spirale. Beide hatten genauso wie die Knochen durch das Chapopótli eine braunschwarze Färbung angenommen. Ich zerbrach mir einige Zeit lang den Kopf darüber, bis ich mich hinkniete und mit meinem Messer an der Oberfläche kratzte und die richtige Farbe zum Vorschein kam; ein warm schimmerndes Perlweiß. Was ich da vor mir hatte, waren Zähne – lange Zähne wie die Hauer eines riesigen Wildebers. Freilich, dachte ich bei mir, wenn das eingesunkene und in die Tiefe gezogene Tier ein Eber gewesen war, dann mußte es wahrhaftig ein Eber gewesen sein, welcher so recht in ein Zeitalter der Riesen hineingepaßt hatte.
Ich richtete mich auf und überlegte. Ich hatte Lippenscheiben und Nasenpflöcke und ähnliche Schmuckstücke gesehen, die aus den Zähnen von Bären und Haifischen und den Hauern ganz normaler Eber geschnitzt worden und so teuer gewesen waren, daß sie nahezu mit Gold aufgewogen wurden. Was, dachte ich bei mir, hätte ein Meister des Schnitzmessers wie der arme Tlatli aus solchem Material alles machen können!
Das Land war dünn besiedelt – was angesichts der Ödnis kein Wunder war. Ich mußte in das grünere und lieblichere Cupilco-Land hinüberwandern, ehe ich endlich auf das Dorf eines mir unbekannten Olméca-Stamms stieß. Die Männer gingen sämtlichst dem Beruf des Óli-Zapfers nach, doch war gerade nicht die geeignete Zeit zum Anzapfen der Bäume, und so saßen sie alle müßig herum. Ich brauchte vier von den kräftigsten unter ihnen nicht einmal viel Lohn zu bieten, als Träger in meine Dienste zu treten. Allerdings wären sie fast wieder abgesprungen, als sie begriffen, wohin unser Marsch ging. Der schwarze See, erklärten sie, sei sowohl ein heiliger als auch ein schreckenerregender Ort, etwas, um das man besser einen weiten Bogen machte; folglich mußte ich den Lohn erhöhen, ehe sie sich bereiterklärten weiterzumarschieren. Als wir hinkamen und ich auf die hauerähnlichen Zähne zeigte, beeilten sie sich zu zweit jeweils einen zu schultern; dann machten sie so schnell wie möglich, daß sie vom See wegkamen.
Ich führte sie durch Cupilco zurück an die Küste und an dem vorspringenden Land entlang bis in die Hauptstadt Xicalánca und dort bis zu der Werkstätte des Meistersteinschneiders Tuxtem. Er machte ein verwundertes und keineswegs erfreutes Gesicht, als meine Träger mit ihren sonderbaren, baumstammähnlichen Lasten herangewankt kamen. »Ich bin kein Holzschnitzer«, erklärte er sofort. Doch dann erzählte ich ihm, wie ich durch einen glücklichen Zufall auf sie gestoßen sei, und um was für Seltenheiten es sich dabei handeln müsse. Er berührte die Stelle, an der ich mit dem Messer geschabt hatte, seine Hand verweilte dort, streichelte darüber hin und in seine Augen trat ein Leuchten.
Ich bedankte mich mit etwas mehr als dem vereinbarten Lohn bei meinen Trägern und entließ sie. Dann erklärte ich dem Künstler Tuxtem, ich würde seine Dienste gern in Anspruch nehmen, doch hätte ich nur recht undeutliche Vorstellung von dem, was er aus meinem Fund für mich machen solle.
»Ich möchte Schnitzereien, die ich in Tenochtítlan verkaufen kann. Ihr könnt die Zähne auseinanderschneiden, wie Ihr es für richtig haltet. Vielleicht könnt Ihr aus den größeren Stücken Figuren von Mexíca-Göttern und – Göttinnen schnitzen, und aus den kleineren vielleicht Poquietl-Röhrchen, Kämme und kunstvolle Messergriffe. Selbst aus den kleinen Stücken könnt Ihr noch Lippenscheiben schnitzen, oder was Ihr sonst wollt. Das überlasse ich Euch, Meister Tuxtem, und Eurer künstlerischen Urteilskraft.«
»Unter all den Materialien, mit denen ich in meinem Leben schon gearbeitet habe«, erklärte er feierlich, »ist dieses hier einzigartig. Es bietet vielerlei Möglichkeiten und stellt gleichzeitig eine wunderbare Herausforderung dar, wie sie mir im Leben bestimmt nicht wieder begegnet. Ich werde lange und gründlich darüber nachsinnen, ehe ich auch nur ein kleines Stück zur Probe schnitze und mit Werkzeugen und Schleifmaterial experimentiere …« Er hielt inne und sagte dann beinahe trotzig: »Aber eines laßt Euch von mir gesagt sein. Von mir und meiner Arbeit fordere ich nichts Geringeres als immer das beste. Und das läßt sich nicht an einem Tag machen, junger Herr Gelb Auge, und auch nicht in einem Mond.«,
»Selbstverständlich nicht«, stimmte ich zu. »Hättet Ihr gesagt, das ginge, würde ich meine Trophäen genommen haben und wieder abgezogen sein. Ich weiß ja auch noch nicht, wann ich einmal wieder nach Xicalánca komme. Ihr könnt Euch also Zeit lassen, soviel Ihr braucht. Und was Euren Lohn betrifft …«
»Es ist zweifellos töricht von mir, aber ich würde es als den höchsten Preis betrachten, der mir jemals gezahlt worden ist, wenn Ihr mir versprecht bekanntzumachen, daß diese Dinge von mir geschaffen seien – und daß Ihr meinen Namen nennt.«
»Töricht im Kopf, Meister Tuxtem, doch sage ich das voller Bewunderung für die Klugheit und Reinheit Eures Herzens. Entweder Ihr nennt Euren Preis, oder ich mache folgendes Angebot. Ihr nehmt den zwanzigsten Teil an Gewicht von dem, was die fertigen Dinge wiegen werden – oder von dem rohen Material, so wie es jetzt ist. Ihr könnt es Euch aussuchen.«
»Das ist ein großmütiges Angebot.« Er neigte zustimmend den Kopf. »Wäre ich der habgierigste aller Männer gewesen, ich hätte es nicht gewagt, mich so über die Maßen bezahlen zu lassen.«
»Und keine Angst«, fügte ich noch hinzu. »Die Käufer der Sachen, die Ihr schnitzt, werde ich mir sorgfältig aussuchen. Es werden nur Personen sein, die solche Dinge zu würdigen wissen. Und jedem einzelnen von ihnen werde ich sagen: geschaffen hat es Meister Tuxtem aus Xicalánca.«
Mochte es auf der Halbinsel Uluümil Kutz auch noch so trocken gewesen sein, in Cupilco herrschte gerade Regenzeit, und es ist dann nicht gerade angenehm, in jenen Heißen Ländern mit fast dschungelartigem Pflanzenwuchs unterwegs zu sein. Deshalb hielt ich mich auf meinem Weg gen Westen abermals an Küstenstreifen und Strande und gelangte zuletzt in die Stadt Coátzacoálcos, die Ihr heute Espíritu Santo nennt, den Endpunkt der Nord-Süd-Handelsroute über die kleine Landenge von Tecuantépec. Ich dachte bei mir: Diese Landzunge besteht fast nur aus flachem Land, ist nicht sonderlich bewaldet und weist sogar noch eine gute Straße auf, so daß es eine leichte Reise sein muß, selbst, wenn ich unterwegs häufig Regen abbekomme. Und auf der anderen Seite der Landenge lockte eine gastliche Herberge und meine bezaubernde Gié Bele von den Wolkenmenschen und damit die Aussicht auf eine erquickende Ruhepause, ehe ich mich auf den Rückweg nach Tenochtítlan machte.
Deshalb wandte ich mich von Coátzacoálcos aus nach Süden. Manchmal schloß ich mich den Trägerkolonnen anderer Pochtéca an, manchmal auch einzeln reisenden Händlern, und wir kamen an vielen vorüber, die genau in die entgegengesetzte Richtung wollten. Doch eines Tages ging ich ganz allein und die Straße war leer. Ich gelangte auf den Scheitel einer Anhöhe und sah auf der anderen Seite der Straße vier Männer unter einem Baum sitzen, zerlumpte, brutal aussehende Männer, die sich, als ich mich näherte, langsam und erwartungsfreudig erhoben. Ich dachte an die Räuber, denen ich einst begegnet war, und legte sogleich die Hand an den Obsidiandolch, den ich in der Leibbinde des Schamtuchs stecken hatte. Mir blieb wirklich nichts anderes übrig, als weiterzugehen und zu hoffen, mit einem Gruß friedlich an ihnen vorüberzukommen. Doch diese vier gaben nicht einmal vor, mich zu einem Mahl einladen zu wollen oder meines mit mir zu teilen, oder mich auch nur anzusprechen. Sie bildeten einfach einen Kreis um mich und drangen von allen Seiten auf mich ein.
Ich kam zu mir – zumindest soweit, daß ich wußte: du liegst unbekleidet auf einem Lager und hast eine dicke weiche Decke unter und eine über dir, deine Blöße zu bedecken. Ich lag in einer Hütte, welche sonst offenbar völlig leer stand und dunkel war bis auf den gelegentlichen Schimmer von Tageslicht, welcher durch die Flechtwände und das strohgedeckte Dach hindurchdrang. Ein Mann in mittleren Jahren kniete neben mir, und seinen ersten Worten entnahm ich, daß er Arzt sein müsse.
»Er kommt zu sich«, sagte er zu jemand, der hinter ihm stand. »Ich hatte schon Angst, er würde überhaupt nicht mehraus seiner Bewußtlosigkeit aufwachen.«
»Dann stirbt er also nicht?« fragte eine weibliche Stimme.
»Nun, zumindest kann ich jetzt anfangen, ihn zu behandeln, was unmöglich gewesen wäre, hätte er weiterhin im Dämmer verharrt. Ich muß schon sagen, er hat gerade noch rechtzeitig zu Euch gefunden.«
»Dabei hätten wir ihm fast die Tür gewiesen, so schreckenerregend sah er aus. Doch dann erkannten wir durch das Blut und den Schmutz hindurch den Záa Nayàzú.«
Das klang irgendwie nicht richtig. Irgendwie wollte mir in diesem Augenblick nicht einfallen, wie ich hieß, doch meinte ich, zumindest könne mein Name nicht ganz so wohllautend klingen, wie das, was da volltönend aus einem weiblichen Mund kam.
Mein Kopf schmerzte abscheulich; ich hatte das Gefühl, alles darin sei entfernt und durch einen rotglühenden Stein ersetzt worden. Ich fühlte mich wie durchgeprügelt. Aber nicht nur, was meinen Namen betraf, ließ mich mein Gedächtnis im Stich; ich war mir nur bewußt, daß ich nicht einfach an irgend etwas erkrankt war. Irgendwie war ich verletzt worden. Ich wollte fragen, wie, wo ich mich befände und wie ich hierhergekommen sei, aber ich brachte keinen Laut über die Lippen.
Der Doktor sagte zu der Frau, die ich nicht sehen konnte: »Wer immer die Räuber waren, sie haben ihm den Garaus machen wollen. Wäre nicht die dicke Bandage gewesen, die er um den Kopf trug, ihm wäre das Genick gebrochen oder sein Schädel geborsten wie eine Kalebasse. Trotzdem hat sein Gehirn eine schlimme Erschütterung davongetragen. Daher das viele Nasenbluten. Und jetzt, wo seine Augen offen sind, seht: die Pupille des einen ist wesentlich geweiteter als die des anderen.«
Eine Frau beugte sich über die Schulter des Doktors und starrte mir ins Gesicht. Trotz meiner Benommenheit erkannte ich, daß ihr Antlitz wunderschön anzusehen war und daß die schwarze Fülle ihres Haares eine weiße Strähne aufwies, welche sich von der Stirn nach hinten zog. Irgendwie kam ihr Gesicht mir bekannt vor, und zu meiner Verwunderung hatte selbst der Anblick der Unterseite des Strohdachs irgendwie etwas Vertrautes für mich.
»Die ungleichen Pupillen«, sagte die Frau. »Ist das ein schlechtes Zeichen?«
»Ein sehr schlechtes sogar«, erklärte der Arzt. »Es weist darauf hin, daß irgend etwas in seinem Kopf nicht stimmt. Deshalb müssen wir nicht nur seinen Körper stärken und die Wunden und Prellungen heilen, sondern auch achtgeben, daß er sich nicht aufregt und sein Gehirn nicht bewegt wird. Haltet ihn warm und sorgt dafür, daß die Hütte im Dämmerlicht bleibt. Flößt ihm die Brühe und die Medizin ein, immer wenn er wach ist; auf keinen Fall jedoch darf er sich aufsetzen. Er sollte möglichst auch nicht sprechen.«
Törichterweise versuchte ich, dem Doktor klarzumachen, daß ich ganz außerstande sei zu sprechen. Doch dann wurde es in der Hütte unversehens noch dunkler, und ich hatte das elende Gefühl, mit großer Geschwindigkeit in eine tiefe Schwärze hineinzufallen.
Später erzählten sie mir, ich hätte viele Tage und Nächte so dagelegen, daß ich nur vorübergehend kurz zum Bewußtsein gekommen sei und zwischen diesen flüchtigen Augenblicken in einer so tiefen Bewußtlosigkeit dagelegen hätte, daß der Doktor sich große Sorgen gemacht habe. Ich selbst erinnerte mich, daß in den kurzen Pausen des Wachseins manchmal der Doktor, die junge Frau jedoch immer an meinem Lager saß. Mit einem Löffel flößte sie mir dann wohl eine warme, kräftig schmeckende Brühe oder bittere Medizin ein, oder sie wusch mir mit einem Schwamm jene Körperteile, die sie erreichen konnte, ohne daß ich meine Rückenlage veränderte, oder rieb mich mit einer nach Blumen duftenden Salbe ein. Ihr Gesicht war immer das gleiche – ein wunderschönes Gesicht, das mich besorgt und aufmunternd zugleich anlächelte, nur daß ihr schwarzes Haar manchmal die kräftig sich vom üblichen Schwarz abhebende schlohweiße Strähne aufwies und manchmal nicht – zumindest kam es mir in meiner Benommenheit so vor.
Ich muß zwischen Tod und Leben gehangen haben, und die Götter müssen es mir bestimmt oder mich dazu ausersehen haben, oder es ist mein Tonáli gewesen, mir letzteres zu gewähren. Jedenfalls kam der Tag, da ich mit einigermaßen klarem Kopf aufwachte, zu dem sonderbar vertrauten Dach aufschaute, dann der jungen Frau ins Gesicht sah, welches sie so nahe über dem meinen hielt, daß ich die weiße Strähne im Haar darin erblickte und es schaffte, krächzend »Tecuantépec« hervorzustoßen.
»Yáa«, sagte sie, und sagte dann noch einmal »Ja«, diesmal freilich auf Náhuatl, und lächelte. Ein müdes Lächeln war das, nach den vielen Nächten des Wachens und des an meinem Lager Sitzens an den vielen Tagen. Ich wollte etwas fragen, doch sie legte mir kühl einen Finger über den Mund.
»Sprecht nicht! Der Doktor sagt. Ihr solltet das vorerst noch unterlassen.« Ihr Náhuatl kam zögernd, aber besser, als ich es zuvor in dieser Hütte gehört zu haben meinte. »Wenn Ihr wieder gesund seid, könnt Ihr uns erzählen, was geschehen ist oder woran Ihr Euch noch erinnert. Bis dahin werde ich Euch das wenige erzählen, was wir wissen.«
Sie hatte eines Nachmittags die Truthähne im Garten der Herberge gefüttert, als eine Erscheinung auf sie zugewankt gekommen sei, freilich nicht von der Handelsstraße her, sondern von Norden, über die leeren Felder am Fluß hinweg. Sie würde auch in die Hütte geflohen sein und die Tür verrammelt haben, doch habe sie sich vor Schrecken und Verwunderung solange nicht von der Stelle rühren können, bis ihr etwas Vertrautes an dem nackten, schmutz- und blutverkrusteten Mann aufgefallen sei. Wiewohl halbtot müsse ich es mit letzter Kraft bis zu der vertrauten Herberge geschafft haben. Die untere Gesichtshälfte sowie meine Brust seien blutverkrustet gewesen, und Blut sei mir aus den Nasenlöchern getropft. Mein übriger Körper sei von Dornen zerkratzt und mit blauen Flecken übersät gewesen, entweder von Schlägen, oder weil ich immer wieder gestürzt sei. Die Sohlen meiner bloßen Füße seien rohes Fleisch gewesen, eingehüllt in eine Kruste aus Schmutz und schartigen kleinen Steinen. Gleichwohl habe sie den Wohltäter ihrer Familie in mir erkannt und mich ins Haus gebracht. Nicht in die Herberge freilich, denn dort hätte ich nicht ungestört ruhen können. In der gehe es nämlich hoch her, ja, sie gehe jetzt prächtig, da insbesondere Mexíca-Pochtéca wie ich selbst sie allen anderen vorzögen – und das, so sagte sie, sei der Grund, warum sie heute soviel besser Náhuatl spreche als früher.
»Deshalb haben wir Euch in unsere alte Hütte geschafft, wo wir Euch unbehelligt vom Kommen und Gehen der Gäste pflegen konnten. Schließlich gehört Euch die Hütte ja auch, falls Ihr Euch erinnert, daß Ihr sie gekauft habt.« Durch eine Handbewegung gab sie mir zu verstehen, ich solle nicht sprechen, und fuhr fort: »Wir nehmen an, daß Räuber Euch ausgeraubt haben. Jedenfalls habt Ihr, als Ihr schließlich hier ankamt, nichts am Leibe gehabt.«
Schrecken fuhr mir in die Glieder, als mir plötzlich alles wieder einfiel. Unter größter Anstrengung hob ich den schmerzenden Arm und tastete mir die Brust ab, bis meine Finger den Topaskristall fanden, der an seinem Riemen immer noch dahing – und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Selbst die habgierigsten Räuber mußten darin irgendein Götterangebinde gesehen haben und abergläubisch genug gewesen sein, es mir nicht abzunehmen.
»Ja, das hattet Ihr immerhin an«, sagte die junge Frau und folgte mit den Augen meinem Tasten. »Und dieses schwere Ding – was immer es sein mag.« Mit diesen Worten holte sie unter dem Lager das verschnürte Tuch mit dem Stirnband daran hervor.
»Macht es auf«, sagte ich. Da ich so lange kein Wort mehr gesprochen hatte, klang meine Stimme ganz heiser.
»Sprecht nicht«, wiederholte sie, tat jedoch wie geheißen und faltete das Tuch immer weiter auseinander. Der durch meinen Schweiß etwas verklebte Goldstaub leuchtete so hell, daß er die Dunkelheit in der Hütte fast verdrängte – und goldene Lichter in ihren Augen aufleuchten ließ.
»Wir hatten immer angenommen, daß Ihr ein sehr reicher junger Mann sein müßtet«, murmelte sie. Dann überlegte sie einen Augenblick und sagte: »Aber zuerst habt Ihr nach dem Anhänger gegriffen, um Euch zu vergewissern, daß er noch da sei. Noch vor dem Gold.«
Ich wußte nicht, ob ihr meine wortlose Erklärung verständlich war, doch mit neuerlicher Kraftanstrengung hielt ich den Kristall vors Auge und betrachtete sie dadurch solange, wie ich ihn halten konnte. Doch selbst, wenn ich gewollt hätte – ich hätte nicht sprechen können. Sie war wunderschön, schöner noch, als ich gedacht oder sie in der Erinnerung gehabt hatte. Ihr Name jedoch gehörte zu den Dingen, an die ich mich nicht erinnern konnte.
Der Blitz in ihrem Haar bannte den Blick, doch war das nicht nötig angesichts einer Schönheit, die ohnehin zu Herzen ging. Ihre langen Wimpern waren wie die Flügel des winzigsten schwarzen Kolibris. Selbst ihre Lippen hatten an den Mundwinkeln etwas flügelhaft Geschwungenes und ihre Brauen wölbten sich leicht wie die ausgebreiteten Schwingen einer Seemöwe. Selbst ihren Lippen eignete an den Mundwinkeln etwas Beschwingtes: die Andeutung eines Grübchens bewirkte, daß es aussah, als ob sie ständig heimlich lächelte. Lächelte sie jedoch wirklich, gab es keinen Zweifel mehr, denn jetzt tat sie es, vielleicht, weil sie den fragenden Ausdruck auf meinen eigenen Zügen erkannte. Die Andeutungen von Grübchen vertieften sich zu liebreizenden echten Grübchen, und das Strahlen, welches von ihrem Gesicht ausging, überstrahlte selbst das meines Goldes. Wäre die Hütte mit noch so vielen unglücklichen Menschen vollgestopft gewesen – gramgebeugten Trauernden oder ernst dreinblickenden Priestern –, sie hätten sich wider Willen von ihrem Lächeln anstecken lassen und gleichfalls gelächelt.
Der Topas entfiel meiner kraftlosen Hand, die Hand selbst fiel hernieder, doch versank ich selbst nicht nochmals in Bewußtlosigkeit, sondern in einen heilenden Schlaf. Später erzählte sie mir, ich habe dabei ein beseligtes Lächeln auf dem Gesicht getragen.
Wie überaus glücklich ich war, nach Tecuantépec zurückgekehrt zu sein, und die Bekanntschaft mit dieser Frau gemacht – oder sie erneuert – zu haben, vermochte ich nicht zu sagen; gleichwohl wünschte ich, ich wäre gesund und im Vollbesitz meiner Kräfte als erfolgreicher junger Kaufmann gekommen. Statt dessen war ich ans Bett gefesselt, schlaff, bot keinen besonders reizvollen Anblick und war mit dem Schorf vieler Kratzer und Wunden bedeckt. Ich fühlte mich immer noch zu schwach, um auch nur selber essen oder meine Medizin einnehmen zu können; sie mußte mir beides einflößen. Und – wenn ich außerdem nicht übel riechen wollte – mußte ich es mir sogar gefallen lassen, daß sie mich am ganzen Leib wusch.
»Das schickt sich nicht«, protestierte ich. »Eine Jungfrau sollte nicht den nackten Körper eines erwachsenen Mannes waschen.«
Gelassen erklärte sie: »Es ist nicht das erstemal, daß wir Euch nackt sehen. Und außerdem müßt Ihr ganz von der Landenge her nackt hierhergekommen sein. Doch gleichviel« – ihr Lächeln bekam etwas Mutwilliges – »selbst eine Jungfrau kann den schlanken Körper eines jungen Mannes bewundern.«
Ich muß wohl errötet sein, und zwar über die ganze Länge meines schlanken Körpers; glücklicherweise wurde mir jedoch in meiner Schwäche die Qual erspart, daß ein bestimmter Teil meines Körpers besonders auf ihre Berührung ansprach und sie vielleicht dazu gebracht hätte, entsetzt das Weite zu suchen.
Seit den nicht zu verwirklichenden Träumen, denen ich zusammen mit Tzitzitlíni nachgehangen hatte, als wir noch sehr jung gewesen waren, hatte ich über die Vorteile einer Ehe nicht mehr nachgedacht. Doch bedurfte es keiner langen Überlegungen, um zu dem Schluß zu gelangen, daß ich wohl nirgends und nie wieder eine so begehrenswerte Braut finden würde wie dieses Mädchen aus Tecuantépec. Mein Kopf war längst noch nicht wieder richtig verheilt; mit meinem Gedächtnis und meinem Denken haperte es immer noch; an eines jedoch, was die Traditionen der Tzapotéca betraf, erinnerte ich mich sehr wohl – daß nämlich die Wolkenmenschen wenig Grund hatten und wohl auch keinerlei Neigung verspürten, außerhalb ihres eigenen Volkes zu heiraten, und daß jeder, der das dennoch tat, für immer ein Ausgestoßener war.
Gleichviel, als der Doktor mir endlich gestattete zu reden, soviel ich wollte, sagte ich Dinge, von denen ich hoffte, daß sie mich in den Augen des Mädchens anziehend machten. Obwohl nichts weiter als ein verachteter Mexícatl und im Augenblick auch noch ein lächerlich armseliges Exemplar dieser Rasse, übte ich allen Charme aus, dessen ich fähig war. Ich dankte ihr für die Güte, die sie mir erwiesen, beglückwünschte sie zu ihrer Herzensgüte, die ihrer Schönheit in nichts nachstehe, und sprach noch viele andere schmeichelhafte und einnehmende Worte. Neben den blumigeren Komplimenten ließ ich jedoch auch Bemerkungen über das nicht unbeträchtliche Vermögen einfließen, welches ich bereits in jungen Jahren angesammelt hätte, verweilte bei meinen Überlegungen, wie ich es weiter mehren könne und ließ erkennen, daß ein Mädchen, welches mich zum Manne nahm, niemals Not leiden werde. Wiewohl ich mich zurückhielt und keinmal mit einem direkten Antrag herausplatzte, machte ich vielsagende Bemerkungen wie folgende:
»Ich wundere mich, daß ein so schönes Mädchen wie Ihr noch nicht verheiratet ist.«
Woraufhin sie wohl lächelte und meinte: »Bis jetzt hat noch kein Mann mich so beeindruckt, daß ich meine Unabhängigkeit hätte aufgeben mögen.«
Bei anderer Gelegenheit sagte ich: »Aber gewiß werdet Ihr von vielen Freiern umworben.«
»Oh, gewiß. Doch unglücklicherweise haben die jungen Männer von Uaxyácac nicht viel zu bieten. Ich glaube, es geht ihnen mehr darum, einen Anteil an der Herberge zu besitzen als mich.«
Bei noch anderer Gelegenheit sagte ich: »Bei dem ständigen Kommen und Gehen in Eurer Herberge müßt Ihr doch viele Männer kennenlernen, die für Euch in Frage kämen.«
»Nun, sie behaupten alle, sie kämen in Frage. Nur wißt Ihr ja selbst, daß die meisten Pochtéca ältere Männer sind, jedenfalls zu alt für mich, und überdies auch noch Ausländer. Doch gleichviel: so sehr sie mich auch umwerben, ich kann mich selten des Verdachts erwehren, daß sie daheim bereits eine Frau haben und wahrscheinlich sogar andere Frauen am Ende eines jeden ihrer Handelswege.«
Woraufhin ich mich erkühnte zu sagen: »Ich bin weder alt, noch habe ich irgendwo eine Frau. Wenn ich je eine nehme, dann soll sie die einzige bleiben, und das mein Leben lang.«
Lange bedachte sie mich mit einem nachdenklichen Blick, um nach einigem Schweigen zu sagen: »Vielleicht hättet Ihr Gié Bele heiraten sollen, meine Mutter.«
Ich wiederhole: mit meinem Kopf stand es noch nicht so, wie es hätte sein sollen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich das Mädchen entweder mit seiner Mutter verwechselt oder aber die Mutter völlig vergessen. Was ich jedenfalls vollständig vergessen hatte, war, daß ich mich mit ihrer Mutter und – ayya, diese Schande! – dazu auch noch in Gegenwart dieses Mädchens gepaart hatte. Unter den gegebenen Umständen musste sie mich damals für den schlimmsten aller Schwerenöter gehalten haben, welcher plötzlich sie umwarb, die Tochter dieser Frau.
Unendlich verlegen konnte ich bloß murmeln: »Gié Bele … aber ich erinnere mich … alt genug, um meine Mutter zu sein.«
Woraufhin sie mich abermals mit einem langen, nachdenklichen Blick bedachte, jedoch nichts weiter sagte und ich so tat, als ob ich eingeschlafen sei.
Ich wiederhole, meine Herren Skribenten, daß mein Gemüt durch den Schlag auf den Kopf arg in Mitleidenschaft gezogen worden war und es quälend lange dauerte, bis ich wieder ganz präsent und gesund war. Das ist die einzige Entschuldigung für die unbedachten Bemerkungen, mit denen ich herausplatzte. Die schlimmste – jene, welche die traurigsten und am längsten andauernden Konsequenzen zur Folge hatte – machte ich, als ich eines Morgens zu dem Mädchen sagte:
»Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie Ihr es macht und warum?«
»Wie ich was mache?« fragte sie und lächelte ihr beseligendes Lächeln.
»An manchen Tagen habt Ihr die ganze Länge Eures Haares hindurch eine weiße Strähne. Und an anderen Tagen – wie heute – keine.«
Unwillkürlich fuhr sie sich, wie Frauen es tun, wenn sie überrascht sind, mit der Hand übers Gesicht, und zum erstenmal las ich so etwas wie Bestürzung darin. Zum erstenmal sackten die nach oben geschobenen, schwingengleich gebogenen Mundwinkel herab. Regungslos stand sie da und schaute auf mich hernieder. Ich bin überzeugt, daß mein Gesicht nichts weiter zeigte als Bestürzung meinerseits. Was in ihr vorging, vermochte ich nicht zu sagen, doch als sie endlich sprach, war ein ganz leichtes Zittern in ihrer Stimme.
»Ich bin Béu Ribé«, sagte sie und hielt inne, gleichsam als erwartete sie, daß ich etwas dazu sagte: »In Eurer Sprache bedeutet das Wartender Mond.« Abermals hielt sie inne, und ich erklärte wahrheitsgemäß:
»Das ist ein bezaubernder Name. Und paßt vollkommen zu Euch.«
Offenbar hatte sie etwas anderes zu hören gehofft. Sie sagte: »Danke«, doch klang das halb zornig, halb verletzt. »Meine jüngere Schwester, Zyanya, ist es, welche die weiße Strähne im Haar hat.«
Ich war sprachlos. Abermals dauerte es eine Weile, ehe eine bestimmte Erinnerung in mir wach wurde: nicht eine Tochter, sondern deren zwei waren dagewesen. Und in der Zeit, die ich fortgewesen war, war die jüngere und kleinere zu einem nahezu zum Verwechseln ähnlichen Ebenbild der Älteren herangewachsen. Oder die beiden hätten sich zum Verwechseln ähnlich gesehen, wäre da nicht die unverkennbare weiße Strähne gewesen, die Folge – auch das fiel mir jetzt ein – davon, daß sie als kleines Kind von einem Skorpion gebissen worden war.
Und ich in meiner Benommenheit hatte einfach nicht wahrgenommen, daß es zwei gleichermaßen schöne Mädchen waren, die mich abwechselnd pflegten. Ich hatte mich leidenschaftlich in etwas verliebt, was ich in meiner geistigen Verwirrung für ein unwiderstehliches Mädchen gehalten hatte. Und das hatte ich nur fertiggebracht, weil ich in meiner geistigen Beschränktheit vollständig vergessen hatte, einst zumindest ein bißchen in ihre Mutter verliebt gewesen zu sein – ihrer beider Mutter. Wäre ich damals, bei meinem ersten Aufenthalt in Tecuantépec, etwas länger geblieben, es hätte sehr wohl sein können, daß ich der Stiefvater der beiden Mädchen geworden wäre. Doch am erschreckendsten war, daß ich während der Tage meiner langsamen Genesung unterschiedslos und gleichzeitig mit gleicher Leidenschaftlichkeit beiden Mädchen den Hof gemacht welche meine Stieftöchter hätten werden können – und mich nach beiden gleichermaßen gesehnt hatte.
Ich wünschte, ich wäre tot. Ich wünschte, ich wäre in der Ödnis der Landenge zugrunde gegangen. Ich wünschte, ich wäre nie aus der Benommenheit erwacht, in welcher ich so lange gelegen. Doch ich konnte nichts anderes tun, als den Augen des Mädchens auszuweichen und nichts mehr zu sagen. Béu Ribé tat ein Gleiches. Sie versorgte mich so tüchtig und zartfühlend wie immer, hielt jedoch die Augen von mir abgewendet, und wenn sie nichts mehr für mich tun konnte, ging sie ohne große Umstände. Während der folgenden Besuche, die sie mir an diesem Tage abstattete, um mir Essen und Medizin zu bringen, bewahrte sie Schweigen und übte sich in Zurückhaltung.
Am nächsten Tag war die jüngere Schwester mit der weißen Strähne im Haar an der Reihe, mich zu pflegen. Ich begrüßte sie mit einem fröhlichen »Guten Morgen, Zyanya«, ohne im geringsten auf das anzuspielen, was sich gestern ereignet hatte, denn wider alle Vernunft hoffte ich, den Eindruck zu erwecken, ich hätte nur gespielt und von Anfang an über den Unterschied zwischen den beiden Mädchen Bescheid gewußt. Doch selbstverständlich mußten sie und Béu Ribé die Lage gründlich durchgesprochen haben, und vermochte ich ihr trotz all meines fröhlichen Geplappers nichts vorzumachen, wie ihr euch wohl schon gedacht haben werdet. Während ich redete, sah sie mich immer wieder von der Seite an; gleichwohl schien sie eher belustigt als zornig oder verletzt. Vielleicht lag das jedoch auch nur an dem Ausdruck, den beide Mädchen für gewöhnlich gleichermaßen zur Schau trugen: als ob sie insgeheim über etwas lächelten.
Zu meinem Bedauern muß ich jedoch berichten, daß ich auch weiterhin Patzer machte oder zumindest meinerseits bestürzt oder verzweifelt war über das, was ich jetzt erfahren sollte. Ich fragte sie nämlich: »Kümmert eure Mutter sich um die Herberge, während ihr Mädchen mich hier pflegt? Warum nimmt Gié Bele sich nicht einmal einen Augenblick Zeit, bei mir vorbeizuschauen und nach mir zu sehen …«
»Unsere Mutter ist gestorben«, unterbrach sie mich und sah einen Moment unendlich traurig aus.
»Was?« entfuhr es mir. »Wann denn? Und wieso?«
»Vor über einem Jahr. Hier in dieser Hütte, denn sie konnte ihre Niederkunft schließlich nicht unter dem Gewühl der Gäste in der Herberge abwarten.«
»Ihre Niederkunft?«
»Als sie auf die Ankunft des Babys wartete.«
Mit schwacher Stimme sagte ich: »Sie hat ein Baby bekommen?«
Zyanya bedachte mich mit einem besorgten Blick. »Der Arzt hat gesagt, Ihr dürftet Euch nicht aufregen. Sobald es Euch wieder bessergeht, erzähle ich Euch alles.«
»Mögen die Götter mich ins Mictlan fahren lassen!« entfuhr es mir mit größerer Heftigkeit, als ich überhaupt bereits aufzubringen können glaubte. »Dann muß doch das Baby von mir gewesen sein, oder?«
»Nun …« sagte sie und holte tief Atem. »Ihr wart der einzige Mann, dem sie nach unseres Vaters Tod beigewohnt hat. Ich bin sicher, sie wußte genau, wie sie Vorsorge zu treffen hatte. Denn als ich geboren wurde, hat sie sehr gelitten, und der Arzt hatte sie gewarnt, sie dürfe keine Kinder mehr bekommen. Daher auch mein Name. Nur waren inzwischen so viele Jahre vergangen … sie muß wohl gedacht haben, über die Jahre hinaus zu sein, noch ein Kind zu empfangen. Doch wie auch immer« – Zyanya rang die Finger –, »jawohl, sie war schwanger von einem Fremden, und Ihr wißt ja, wie die Wolkenmenschen über solche Verbindungen denken. Deshalb weigerte sie sich, einen Doktor oder eine Hebamme von den Ben Záa kommen zu lassen.«
»Sie ist gestorben, weil sich niemand um sie gekümmert hat?« wollte ich wissen. »Weil eure verbohrten Landsleute sich weigern, einer Frau zu helfen, die …«
»Vielleicht hätten sie sich sogar geweigert. Ich weiß es nicht, denn sie hat nie darum gebeten. Ein junger reisender Mexícatl war einen Mond oder noch länger in der Herberge abgestiegen. Er zeigte sich höchst besorgt über ihren Zustand und gewann ihr Vertrauen, und zuletzt erzählte sie ihm, wie alles gekommen sei, und er brachte soviel Verständnis für sie auf wie nur je eine Frau es hätte tun können. Er sagte, er habe auf einer Calmécac studiert und kenne sich in den Grundlagen der Heilkunst aus. Als ihre Zeit kam, war er da, ihr zu helfen.«
»Was heißt: ihr geholfen, wo sie doch gestorben ist?« sagte ich und verfluchte schweigend den Mann, der sich eingemischt hatte.
Schicksalsergeben zuckte Zyanya mit den Achseln. »Sie war ja gewarnt worden, wie gefährlich es für sie sei. Und es war eine schwere und langwierige Geburt. Sie verlor sehr viel Blut, und als der Mann versuchte, die Blutung zu stillen, verstrickte das Baby sich in der Nabelschnur und erstickte.«
»Beide tot?« rief ich.
»Es tut mir leid. Ihr wolltet es ja unbedingt wissen.
Hoffentlich bekommt Ihr jetzt keinen Rückfall.«
Abermals fluchte ich: »Ins Mictlan mit mir! Das Kind … was war es denn?«
»Ein Knabe. Sie hatte vor – wenn es am Leben geblieben wäre –, es nach Euch Záa Nayázú zu nennen. Aber selbstverständlich ist es nie zu einer Namensgebungszeremonie gekommen.«
»Ein Knabe! Mein Sohn!« sagte ich zähneknirschend.
»Bitte, regt Euch nicht auf, Záa«, sagte sie und redete mich zum erstenmal mit herzlicher Vertrautheit mit diesem Namen an. Und fügte dann noch verständnisvoll hinzu: »Es trifft niemanden eine Schuld. Ich bezweifle, daß unsere eigenen Ärzte es besser hätten machen können als der freundliche Fremde. Wie ich gesagt habe, sie verlor viel Blut. Wir haben die Hütte hinterher gesäubert, doch einige Spuren lassen sich nicht wegwaschen. Seht Ihr?«
Sie nahm den Vorhang vor der Tür beiseite und ließ einen Schaft Sonnenstrahlen hereinfallen. Am hölzernen Türpfosten wurde das eingetrocknete, ins Holz eingefressene Zeichen sichtbar – jemand hatte dort den blutigen Abdruck einer Hand hinterlassen.
Ich erlitt keinen Rückfall. Ich genas weiterhin, meinem Geist gelang es schließlich, sich von allen Spinnweben zu befreien, und mein Körper nahm an Gewicht und Kraft wieder zu. Béu Ribé und Zyanya pflegten mich abwechselnd weiter, und selbstverständlich hütete ich mich, beiden gegenüber auch nur das geringste zu sagen, was man als Werbung hätte auslegen können. Ja, ich wunderte mich geradezu über die Duldsamkeit, mit der sie mich überhaupt aufgenommen hatten und mir ein solches Maß an liebevoller Pflege hatten angedeihen lassen, wo ich doch offensichtlich der Hauptgrund für den Tod ihrer Mutter gewesen war. Daß ich mich jetzt nach allem, was vorgefallen war – selbst wenn ich immer noch widernatürlich verbissen beide liebte –, in der Hoffnung wiegte, die Zuneigung eines der beiden Mädchen zu gewinnen und zu heiraten, war zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie je meine Stieftöchter geworden wären, war nichts weiter als reine Spekulation; doch daß ich ihren schon nach kurzer Zeit gestorbenen Halbbruder gezeugt, war eine unumstößliche Tatsache.
Es kam der Tag, da ich das Gefühl hatte, jetzt weiterziehen zu können. Der Doktor untersuchte mich und erklärte, meine Pupillen hätten wieder ihre normale Größe erlangt. Allerdings riet er mir dringend, meinen Augen etwas Zeit zu lassen, sich an das helle Tageslicht draußen zu gewöhnen, was ich dadurch tun könne, daß ich jeden Tag ein wenig länger draußen bliebe. Béu Ribé meinte, es sei für mich doch gewiß bequemer, wenn ich diese Zeit der Anpassung in der Herberge verbrächte, zumal sie zufällig gerade jetzt einen Raum frei hätten. So willigte ich ein, und Zyanya brachte mir ein paar Kleidungsstücke von ihrem verstorbenen Vater. Zum erstenmal nach wer weiß wie vielen Tagen legte ich wieder Schamtuch und Umhang an. Die Sandalen, welche sie mir brachte, erwiesen sich als viel zu klein für mich, und so gab ich Zyanya eine kleine Fingerspitze Goldstaub, woraufhin sie auf den Markt lief und ein paar in meiner Größe erstand. Dann verließ ich mit wankenden Schritten – ich war bei weitem noch nicht so gekräftigt, wie ich gedacht hatte – zum letzten Mal die Hütte.
Es hielt nicht schwer zu erkennen, warum die Herberge zu einer beliebten Absteige der Pochtéca und anderer Reisender geworden war. Jeder Mann, der Augen ¡m Kopf hatte zu sehen, wäre mit Freuden dort abgestiegen, und sei es auch nur, um in der Nähe der wunderschönen, einander fast aufs Haar gleichenden Herbergswirtinnen zu weilen. Die Herberge selbst erwies sich jedoch gleichfalls als sauber und bequem, das Essen als gut und die Dienerschaft als aufmerksam. Auf diese Verbesserungen hatten die beiden Mädchen sehr wohl hingearbeitet; darüber hinaus hatten sie aber das ganze gastliche Haus ohne bewußte Absicht mit ihrer lächelnden Liebenswürdigkeit durchdrungen. Da sie Bedienstete genug hatten, die Plackerei und die Schmutzarbeit zu übernehmen, brauchten die Mädchen nur die Aufsicht über das ganze zu führen. Infolgedessen kleideten sie sich immer in ihren besten Staat und – um den Augenschein von Zwillingsschönheit noch zu erhöhen – stets in denselben Farben. Wiewohl ich zunächst nicht wenig erbost darüber war, wie die Herbergsgäste die beiden Wirtinnen angafften und mit ihnen scherzten, war ich später von Dankbarkeit erfüllt, daß sie vollauf mit ihrem Schöne-Augen-Machen beschäftigt waren und ihnen nicht – wie mir – eines Tages noch etwas wesentlich Erstaunlicheres an den Gewändern der beiden Mädchen auffiel.
»Woher habt Ihr diese Blusen?« tragte ich die Schwestern außer Hörweite der anderen Händler und Reisenden.
»Vom Markt«, erklärte Béu Ribé. »Aber sie waren schlicht weiß, als wir sie kauften. Die Muster haben wir selbst gemacht.«
Die Muster befanden sich unten am Saum und oben am quadratischen Halsausschnitt, und zwar war es das Töpfermuster – was ich eure spanischen Baumeister habe voller Verwunderung offenbar wiedererkennen sehen und was ich sie das griechische Mäanderband habe nennen hören, wiewohl ich nicht weiß, um was es sich bei dem griechischen Mäanderband handelt. Dieses Muster bestand nicht aus Stickerei, sondern aus aufgetragenem Farbstoff; und diese Farbe nun war ein leuchtendes, tiefglühendes Purpurrot.
Ich fragte: »Und woher habt ihr den Farbstoff, es damit zu machen?«
»Ach, den«, sagte Zyanya. »Die Farbe ist hübsch, nicht wahr? Unter der Hinterlassenschaft unserer Mutter haben wir eine kleine Lederflasche mit Farbstoff gefunden, welcher diese Farbe ergibt. Und sie wiederum hatte ihn kurz vor seinem Verschwinden von unserem Vater geschenkt bekommen. Es reichte nur, um das Muster dieser beiden Blusen damit einzufärben, und wir wußten nicht, was wir sonst damit hätten anfangen sollen.« Sie zögerte, setzte ein etwas betretenes Gesicht auf und fragte: »Meint Ihr, es war unrecht von uns, es an so etwas Eitles zu verschwenden, Záa?«
Ich sagte: »Nein, keineswegs. Wirklich Schönes sollte nur wahrhaft schönen Menschen vorbehalten bleiben. Aber sagt mir, habt ihr diese Blusen schon einmal gewaschen?«
Die Mädchen tauschten verwirrt einen Blick. »Wieso, ja, schon ein paarmal.«
»Dann verändert sich die Farbe also nicht? Und verblaßt auch nicht?«
»Nein, es ist ein sehr guter Farbstoff«, erklärte Béu Ribé, und dann berichtete sie mir, was ich mit aller Vorsicht und Behutsamkeit herauszufinden versucht hatte. »Dieser Farbstoff ist eigentlich der Grund, weswegen wir unseren Vater verloren haben. Er ist an den Ort gezogen, wo diese Farbe herstammt, um eine große Menge davon zu erstehen und dadurch reich zu werden. Aber wie Ihr wißt, ist er nicht von diesem Unternehmen zurückgekehrt.«
Ich sagte: »Das ist schon Jahre her. Ihr seid damals noch sehr jung gewesen – oder könnt ihr euch erinnern? Hat euer Vater gesagt, wohin er wollte?«
»Nach Südosten, die Küste hinunter«, sagte sie und überlegte angestrengt. »Er hat von einer aus großen Felsen bestehenden Wildnis gesprochen, gegen die das Meer anrennt und sich bricht.«
»Wo ein Stamm lebt, der sich ganz von allen anderen abkapselt und sich Die Fremden nennt«, fügte Zyanya hinzu. »Ach, und dann hat er noch gesagt – erinnerst du dich nicht, Béu? –, er werde uns leuchtende Schneckenschalen mitbringen, aus denen wir uns Halsketten machen könnten.«
Ich fragte: »Könnt ihr mich in die Gegend führen, wohin er wollte?«
»Das könnte jeder«, erklärte die ältere der beiden Schwestern und wies mit der Hand unbestimmt in westliche Richtung. »Die einzige felsige Küste weit und breit gibt es dort.«
»Aber woher genau der Purpurfarbstoff kommt, muß ein wohlgehütetes Geheimnis sein. Niemand anders hat es gefunden, seit euer Vater auszog ihn zu finden. Vielleicht, wenn wir uns gemeinsam aufmachten, fallen euch noch andere Hinweise ein, die er hat fallen lassen.«
»Das ist gut möglich«, sagte die Jüngere. »Aber Záa, wir müssen uns doch um die Herberge kümmern.«
»In der langen Zeit, da ihr mich pflegtet, habt ihr euch dabei doch auch abgewechselt. Eine von euch kann sich doch bestimmt einmal freinehmen.« Sie tauschten einen unsicheren Blick, doch ich ließ nicht locker. »Ihr würdet dem Traum eures Vaters folgen, und der war kein Tor. Mit diesem Purpur läßt sich ein Vermögen machen.« Ich streckte die Hand aus und brach zwei Zweige von einer Topfpflanze ab, einen längeren und einen kürzeren, und hielt sie so in meiner geschlossenen Faust, daß gleich lange Teile hervorschauten. »Hier, wählt! Wer den kürzeren Zweig zieht, hat ein paar Tage Ferien gewonnen und erwirbt sich ein Vermögen, das wir alle drei miteinander teilen werden.«
Die Mädchen zögerten nur kurz, dann hoben sie die Hand und wählten. Das war vor einigen vierzig Jahren, ehrwürdige Patres, und bis auf den heutigen Tag könnte ich euch nicht sagen, wer von uns dreien bei dieser Wahl gewann und wer verlor. Ich kann euch nur sagen, daß es Zyanya war, welche den kürzeren Zweig zog.
Während die Mädchen Pinóli-Mehl bereiteten und trockneten und Kakaopulver für unsere Vorräte mahlten und mischten, begab ich mich auf den Markt von Tecuantépec, um andere Dinge zu kaufen, die wir unterwegs brauchen würden. In der Werkstatt eines Waffenmachers nahm ich verschiedene Waffen zur Hand, probierte sie aus und entschied mich zuletzt für ein Maquáhuitl und einen kurzen Speer, welche mir besonders gut in der Hand lagen.
Der Waffenmacher sagte: »Der junge Herr stellt sich darauf ein, irgendwelchen Gefahren zu begegnen?«
Ich sagte: »Ich will ins Land der Chontaltin hinüber. Habt Ihr schon von ihnen gehört?«
»Ayya, ja. Zu diesen häßlichen Menschen, die an der Küste leben. Chontaltin ist selbstverständlich das Náhuatl-Wort dafür, bedeutet aber dasselbe: Die Fremden. Eigentlich sind sie nichts weiter als Huave, einer der verkommeneren und wilderen Huave-Stämme. Die Huave besitzen kein eigenes Land, was auch der Grund ist, warum sie überall Die Fremden genannt werden. Wir dulden, daß sie in kleinen Gruppen hier und dort leben, auf Land, das sonst zu nichts nütze ist.«
Ich sagte: »In den Bergen habe ich einmal in einem ihrer Dörfer übernachtet. Kein besonders gastfreundliches Volk.«
»Nun, wenn Ihr unter ihnen geschlafen habt und lebendig aufgewacht seid, habt Ihr einen der friedfertigeren Stämme kennengelernt. Die Zyú an der Küste sind nicht so gastfreundlich, das werdet Ihr schon sehen. Oh, gewiß, sie heißen Euch vielleicht willkommen – allzu warmherzig, würde ich sagen. Sie freuen sich darauf, Vorüberziehende am Feuer zu rösten und zu verspeisen, weil das ein wenig Abwechslung in ihre nur aus Fisch bestehende Ernährung bringt.«
Ich meinte, das höre sich wirklich vielversprechend an, erkundigte mich dann jedoch nach dem mühelosesten und schnellsten Weg dahin.
»Ihr könntet von hier aus geradenwegs gen Südwesten ziehen, doch dann liegt eine Bergkette dazwischen. Ich würde vorschlagen, daß Ihr den Fluß entlang bis zur Küste hinunterzieht und dann an der Küste entlang gen Westen. Vielleicht findet Ihr aber auch in unserem Fischhafen Nozibe einen Bootsbesitzer, der Euch schneller übers Meer dorthin bringt.«
Genau das taten Zyanya und ich. Wäre ich allein losgezogen, hätte ich mir nicht sonderlich viel Mühe gegeben, eine leichte Route zu finden, doch sollte ich unterwegs feststellen, daß sie eine sehr ausdauernde Reisegefährtin war. Nie kam ein Wort der Klage über das schlechte Wetter über ihre Lippen, darüber, daß wir im Freien übernachteten, nur kalt aßen oder überhaupt nicht, darüber, daß wir mitten in der Wildnis waren und von wilden Tieren umgeben. Der erste Teil der Strecke bis ans Meer war allerdings leicht und in keiner Weise beschwerlich. Es war nur ein Tagesmarsch, ein angenehmer Spaziergang gleichsam durch die Flußebene bis hinunter zum Hafen Nozibe. Dieser Name bedeutet nichts weiter als »salzig«, und der »Hafen« bestand aus nichts anderem als ein paar palmwedelgedeckten Pfahlbauten, unter denen die Fischer im Schatten sitzen konnten. Der Strand war übersät mit Netzen, die zum Trocknen ausgelegt waren; durch die Brandung kamen Einbäume herein oder fuhren hinaus oder wurden auf Strand gezogen.
Ich fand einen Fischer, der – wenn auch widerstrebend – zugab, gelegentlich den Zyú-Abschnitt der Küste aufzusuchen, seine Ausbeute an Fischen bisweilen dadurch zu ergänzen, daß er ihnen einen Teil der ihren abkaufte, und sich auch ein wenig in ihrer Sprache verständigen konnte. »Aber sie erlauben mir nur höchst ungern, bei ihnen zu landen«, warnte er mich. »Jemand, den sie überhaupt nicht kennen, kann das nur auf eigene Gefahr tun.« Ich mußte schon einen außerordentlich hohen Preis bieten, ehe er sich einverstanden erklärte, uns die Küste entlang hin- und wieder zurückzurudern und mir dort als Dolmetsch zu dienen – falls ich überhaupt Gelegenheit bekam, etwas zu sagen. Zyanya hatte inzwischen einen freien Wetterschutz gefunden und breitete auf dem Strand die weichen Decken aus, die wir von der Herberge mitgebracht hatten. In dieser Nacht schliefen wir keusch jeder für sich allein.
In aller Frühe fuhren wir los. Das Boot hielt sich nahe an der Küste, gerade eben außerhalb der Brandungslinie, und der Fischer ruderte in verbissenem Schweigen, während Zyanya und ich lustig plauderten und uns gegenseitig auf die Herrlichkeiten der Küste aufmerksam machten. Die Strände waren wie fein zermahlenes Silber, welches sich zwischen der türkisfarbenen See und den smaragdgrünen Palmen erstreckte, von denen bisweilen Schwärme rubinfarbener und goldener Vögel aufstiegen. Je weiter wir nach Westen kamen, desto dunkler wurde der Sand jedoch, erst grau, dann geradezu schwarz, und hinter den Palmen erhob sich eine aus feuerspeienden Bergen bestehende Gebirgskette, wo von etlichen träge Rauchfahnen aufstiegen. Heftige Ausbrüche und Erdbeben kämen an dieser Küste häufig vor, sagte Zyanya.
Am späten Nachmittag brach unser Fischer das Schweigen. »Das da drüben ist das Zyú-Dorf, das ich immer anlaufe«, sagte er und schwenkte sein Ruder, als unser Einbaum auf die am schwarzen Ufer zusammengedrängten Hütten zulief.
»Nein!« rief Zyanya plötzlich aufgeregt. »Ihr habt mir gesagt daß ich mich möglicherweise an andere Dinge erinnern würde, die mein Vater noch erwähnt hat, Záa. Und in der Tat! Er erwähnte den Berg, der ins Wasser schreitet.«
»Was?«
Sie zeigte über den Bug des Einbaums hinüber. Etwa Ein Langer Lauf jenseits des Zyú-Dorfes endete der schwarze Sand unvermittelt an einem gewaltigen, steil aufragenden Felsen, einem Sporn, der von der weiter hinten im Inland sich erstreckenden Gebirgskette vorsprang. Wie eine Mauer ragte er über dem Strand und stieß weit ins Meer hinein. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich durch meinen Kristall hindurch Gischt von den Brechern aufschäumen sehen, die hoch und schäumend weiß gegen die dem Felssporn vorgelagerten gewaltigen Felsbrocken anrannten.
»Seht, was für gewaltige Brocken vom Felsen heruntergestürzt sind!« sagte Zyanya. »Das ist der Ort, wo der Purpur herkommt! Dorthin müssen wir!«
Ich berichtigte sie. »Wohin ich muß, mein Mädchen.«
»Nein«, sagte der Fischer kopfschüttelnd. »Das Dorf ist schon gefährlich genug.«
Ich nahm mein Maquáhuitl und hielt es so, daß er es sehen konnte, fuhr mit dem Daumen über die Obsidianklinge und sagte: »Ihr setzt das Mädchen hier ab. Sagt den Leuten aus dem Dorf, sie sollen sie in Frieden lassen, sich nicht an ihr vergreifen; und daß wir vor Einsetzen der Dunkelheit wieder zurück sein werden. Und dann werden wir zu dem Berg fahren, der ins Wasser schreitet.«
Grollend sagte er unheilvolle Dinge voraus, lenkte den Einbaum jedoch durch die Brandung an Land. Ich vermutete die Zyu-Männer draußen beim Fischfang, denn es kamen nur ein paar Frauen aus den Hütten, als wir auf den Sand liefen. Verschmutzte Wesen waren das; barbrüstig und barfüßig, trugen sie nur ein paar zerrissene Röcke, hörten sich jedoch an, was der Fischer ihnen erklärte, bedachten das schöne Mädchen, das da an ihr Gestade gespült worden war, mit häßlichen Blicken, machten jedoch, solange ich sehen konnte, keinerlei Anstalten, sich ihr in feindseliger Absicht zu nähern. Ich war keineswegs glücklich darüber, Zyanya allein zurückzulassen, doch schien es mir immer noch besser, das zu tun, als sie in womöglich noch größere Gefahren zu bringen.
Als der Fischer und ich die Brandung wieder überwunden hatten, vermochte selbst eine Landratte wie ich einzusehen, daß es unmöglich sein würde, an der dem Meer zugekehrten Seite des Berges zu landen. Die heruntergebrochenen Felsbrocken, von denen manche so groß waren wie die kleineren Paläste von Tenochtítlan, erstreckten sich erschreckend weit bis ins Meer hinein. Die heranrollenden Wogen brachen sich an ihnen und stiegen zu hochragenden Klippen, Türmen und Säulen aus weißschäumendem Wasser empor. Sie stiegen unglaublich weit in die Höhe und fielen mit einem Gebrüll wieder in sich zusammen, als ob sämtliche Donner Tlalocs auf einmal ertönten, rauschten dann gurgelnd zurück ins Meer und bildeten dabei Strudel, die dermaßen machtvoll glucksende und schmatzende Laute von sich gaben, daß ein paar von den hausgroßen Felsen sichtbarlich erzitterten.
Die aufgewühlte See erstreckte sich so weit, daß der Fischer all seine Kraft und sein Können aufbieten mußte, uns eben östlich hinter dem Felssporn sicher an die Küste zu bringen. Aber er schaffte es, und nachdem wir seinen Einbaum auf den Strand heraufgezogen hatten, so daß die gischtende Brandung ihn nicht mehr erreichen konnte, und nachdem wir hustend all das Salzwasser wieder ausgespuckt hatten, welches wir zuvor geschluckt, beglückwünschte ich ihn aufrichtigen Herzens zu seinem Geschick.
»Wenn Ihr das tückische Meer so überlegen bezwingen könnt, habt Ihr von den verachtenswerten Zyú bestimmt nichts zu fürchten.«
Das schien ihm wieder Mut einzuflößen, und so gab ich ihm meinen Speer zu tragen und bedeutete ihm, mir zu folgen. Wir stiegen den Strand hinauf auf die Bergwand zu und entdeckten einen Hang, den wir hinaufklettern konnten. Dieser Aufstieg brachte uns bis zum Grat des Berges, welcher sich etwa in halber Höhe zwischen dem Gipfel und der brandenden See erstreckte, und von dort aus konnten wir sehen, daß das unterbrochene Ufergestade auf der Westseite des Berges weiterlief. Wir jedoch wandten uns auf dem Grat nach links, bis wir auf dem vorspringenden Sporn oberhalb der riesigen Felsbrocken und dem brodelnden Wasser dazwischen standen. Gewiß, es war bestimmt der Ort, von dem Zyanyas Vater gesprochen hatte, aber gleichzeitig ein höchst unwahrscheinlicher Ort, hier den kostbaren Purpurfarbstoff zu finden – oder zarte Schnecken.
Was ich jedoch entdeckte, war eine Gruppe von fünf Männern, die von der Meerseite auf uns zugeklettert kamen, offensichtlich Zyú-Priester, denn sie waren ungewaschen, hatten zerzaustes Haar und sahen verlottert aus, wie nur je einer von unseren Mexíca-Priestern; überdies waren sie nicht in Lumpen gekleidet, wie die unseren, sondern in zerschlissene Tierfelle, deren durchdringend ranziger Gestank eher unsere Nasen erreichte als die Männer selbst. Alle fünf machten einen alles andere als freundlichen Eindruck, und als der vorderste uns in seiner Sprache anherrschte, klang das recht abweisend.
»Sagt ihnen – und zwar schnell –, daß ich gekommen sei, ihnen Gold für etwas von ihrem Purpurfarbstoff zu bieten«, sagte ich zum Fischer.
Noch ehe er etwas sagen konnte, krächzte einer von ihnen: »Ihn nicht brauchen. Ich spreche Lóochi genug. Ich Priester von Tiat Ndik, Meeresgott, und dies hier sein Heiligtum. Ihr sterben, weil Fuß darauf gesetzt.«
Ich versuchte ihm mit den einfachsten Lóochi-Worten begreiflich zu machen, daß ich nicht in den heiligen Bezirk eingedrungen wäre, hätte ich eine Möglichkeit gehabt, ihnen meinen Vorschlag woanders und auf andere Weise zu machen. Ich bat ihn um Nachsicht für unser Eindringen und legte ihm nahe, sich mein Angebot zu überlegen. Wiewohl seine vier Gefährten uns weiterhin mörderisch anfunkelten, schien der Oberpriester durch mein unterwürfiges Verhalten ein wenig besänftigt. Zumindest fielen seine nächsten Worte nicht ganz so bedrohlich aus.
»Jetzt fortgehen, Gelb Auge, vielleicht Ihr kommt mit Leben davon.«
Ich versuchte ihm klarzumachen, da ich die heilige Stätte ohnehin entweiht hätte, könnte ich genausogut noch etwas länger bleiben, um mein Gold gegen seinen Purpur einzutauschen.
Er sagte: »Purpur Meeresgott heilig. Kein Preis kann kaufen.« Und er wiederholte: »Ihr fortgehen, vielleicht Ihr kommt mit Leben davon.«
»Nun denn. Aber ehe ich gehe – würdet Ihr zumindest meine Neugier befriedigen? Was haben Schnecken mit dem Purpur zu tun?«
»Chachi?« wiederholte er verständnislos das Lóochi-Wort für Schnecken und wandte sich hilfesuchend an meinen Fischer, der angstschlotternd dastand.
»Ah, die Ndik Diok«, sagte der Priester, der nunmehr begriff. Er zauderte, dann wandte er sich um und gab mir durch eine Geste zu verstehen, ich solle ihm folgen. Der Fischer und die anderen vier Zyú blieben oben auf dem Grat stehen, während der Oberpriester und ich hinunterkletterten zur See. Der Abstieg dauerte lange, die herandonnernden weißen Wasserwände und -zungen um uns herum wurden immer höher und ließen einen feinen kalten Gischtregen auf uns herniedergehen. Zuletzt gelangten wir jedoch zwischen den Felsen in eine geschützte Mulde mit einem kleinen Teich darin, dessen Wasser nur leicht hin- und herschwappte, während das Meer draußen brodelte und kochte.
»Heilige Stätte von Tiat Ndik«, erklärte der Priester. »Wo der Gott uns seine Stimme hören läßt.«
»Seine Stimme?« sagte ich. »Ihr meint, das Rauschen des Meeres?«
»Seine Stimme!« Der Mann ließ sich nicht abbringen. »Um sie zu hören, müßt Ihr Kopf hinunterhalten.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, und das Maquahuitl kampfbereit in der Hand, ließ ich mich auf die Knie nieder und senkte den Kopf, bis ich ein Ohr unter dem hin und her schwappenden Wasser hatte. Zuerst konnte ich nur meinen eigenen Herzschlag in den Ohren hören, was schon ein unheimliches Geräusch ist, doch dann drang ein wesentlich kräftigerer Laut an mein Ohr, sanft zuerst, dann lauter und immer lauter werdend. Es hätte jemand sein können, der unter Wasser pfiff – sofern jemand unter Wasser pfeifen könnte – und noch dazu eine Weise pfiff, viel lieblicher, als je ein menschlicher Musiker sie hätte zustande bringen können. Nicht einmal heute wüßte ich, womit ich die Melodie vergleichen sollte. Später erklärte ich es mir damit, daß es ein Wind sein müsse, welcher durch die Spalten und Klüfte der Felsen hindurchsang, gleichzeitig jedoch gluckerte und unter Wasser dahinzulaufen schien. Das verräterische Gluckern jedoch mußte zweifellos von anderswo herkommen; das Wasser machte die unirdische Musik nur hörbar. Doch da und dort und unter den gegebenen Umständen war ich nur allzu bereit, den Priester beim Wort zu nehmen und zu glauben, daß es sich wirklich um die Stimme eines Gottes handelte.
Der Priester war inzwischen um die Wasserfläche herumgegangen, faßte sie von verschiedenen Stellen aus genau ins Auge, bis er sich schließlich vorneigte und den Arm in eine unter Wasser liegende Felsspalte hineinstieß. Er arbeitete einen Augenblick darin herum, dann zog er die Hand wieder hervor, öffnete sie, damit ich sehen könne und sagte: »Ndik Diok.« Ich glaube wohl, daß das Geschöpf eine Verwandte der uns bekannten Landschnecke ist, doch hatte Zyanyas Vater sich geirrt, als er meinte, ihr eine Halskette aus schimmernden Schneckenhäusern versprechen zu können, denn das schleimige Getier trug kein Haus auf dem Rücken und zeichnete sich auch sonst, soweit ich erkennen konnte, durch nichts Besonderes aus.
Doch dann neigte der Priester den Kopf dicht an die Schnecke heran und bestrich sie kräftig mit seinem Atem, was dem Tier offensichtlich ganz und gar nicht behagte, denn entweder entleerte es seinen Kot oder seinen Urin in seine Hand: eine kleine blaßgelbe Schliere. Behutsam setzte der Priester die Schnecke wieder auf den Unterwasserfelsen ab, dann streckte er mir die schalenförmig gehaltene Hand hin, mir die Schliere zu zeigen, und ich fuhr zurück, denn diese schleimige Substanz verbreitete einen bestialischen Gestank. Doch zu meiner Überraschung verfärbte sich die Schliere in seiner Hand: erst in ein Gelbgrün, dann ein Grünblau, ein Blaurot, um dann immer dunkler und leuchtender zu werden, bis es ein lebhaftes Purpurrot geworden war.
Grinsend streckte der Mann die Hand aus und wischte den Stoff an der Vorderseite meines Umhangs ab. Der leuchtende Fleck stank zwar immer noch abscheulich, aber ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß es sich um jenen Farbstoff handelte, der nie verblaßte und sich auch nicht herauswaschen ließ. Abermals forderte er mich durch eine Geste auf, ihm zu folgen, und wir kletterten über die wahllos heruntergestürzten Felsen, wobei der Priester mir mit beredten Gesten und lakonischen Lóochi-Worten erklärte, was es mit den Schnecken auf sich habe.
Die Männer der Zyú sammelten die Schnecken nur zweimal im Jahr ein und brachten sie dazu, ihre Ausscheidungen zu machen, und das nur an heiligen Tagen, welche aufgrund verzwickter Weissagungen ermittelt wurden. Wiewohl die Schnecken zu Abertausenden auf den Felswänden saßen, gab eine doch nur eine winzige Menge ihres Farbstoffs ab. Infolgedessen mußten die Männer sich in die Gefahren des brodelnden Wassers weiter draußen hinausbegeben, hinabtauchen, die Schnecken vom Felsen in der Tiefe lösen, sie dazu bringen, sich auf einen Bausch Baumwollfäden oder in eine Lederflasche hinein zu entleeren und die Tierchen heil wieder auf die Felsen zurücksetzen. Die Schnecken mußten bis zur nächsten Entleerung am Leben erhalten werden, doch Menschen waren leichter zu entbehren; bei jedem dieser alle halbe Jahre vollzogenen Rituale ertranken vier oder fünf von den Tauchern.
»Doch wozu all die Mühe, und warum so viele von euren Leuten opfern, wenn ihr hinterher auf jeden Gewinn daraus verzichtet?« fragte ich und brachte es fertig, daß der Priester mich verstand. Abermals winkte er mir und führte mich noch weiter in eine feuchte Grotte hinein, um dann stolz zu erklären:
»Unser Meeresgott, dessen Stimme Ihr gehört habt. Tiat Ndik.«
Es handelte sich um ein ungeschlachtes, plumpes Standbild, das ausschließlich aus runden Felsen bestand: ein mächtiger Brocken – der Leib, darauf ein kleinerer –, die Brust, und darauf ein noch kleinerer – der Kopf. Doch dieser ganze Haufen unbeseelter Felsbrocken war leuchtend purpurrot gefärbt. Überall um den Tiat Ndik herum stapelten sich Flaschen voller Farbstoff und Wickel von Baumwollgarn, welche damit gefärbt waren: ein verborgener Schatz von unerhörtem Wert.
Als wir wieder bis zum Grat hinaufgestiegen waren, versank die rotglühende Scheibe von Tonatíu fern im Westen ins Meer und ließ eine Fülle von Wolken aufquellen. Gleich darauf war die Feuerscheibe verschwunden, und für einen Augenblick sahen wir noch Tonatíus Licht weit draußen, dort, wo es am Rande der Welt fahler wird, im Wasser glühen – ein kurzes, grell smaragdgrünes Aufleuchten, mehr nicht. Der Priester und ich kehrten zu jener Stelle zurück, wo wir die anderen zurückgelassen hatten, und er erklärte weiter: daß die Opfergaben roten Purpurs unbedingt erforderlich seien, weil Tiat Ndik sonst keine Fische mehr in die Netze der Zyú treiben würde.
Ich hielt ihm entgegen: »Für diese ganzen Opfer an Menschen und Purpuropfergaben läßt Euer Meeresgott Euch aber ein recht erbärmliches Leben vom Fischfang führen. Gestattet mir, daß ich Euren Purpur auf den Markt bringe, und ich bringe Euch Gold, soviel, daß Ihr eine ganze Stadt davon kaufen könnt – eine Stadt in einem schönen und angenehmen Land, in welchem es eine Fülle von eßbaren Dingen und auch Fischen gibt, und mit Sklaven darin, sie Euch vorzusetzen.«
Er ließ sich jedoch nicht erweichen: »Das würde der Gott nie zulassen. Der Purpur steht nicht zum Verkauf.« Und nach einem Augenblick fügte er noch hinzu: »Manchmal wir essen keinen Fisch, Gelb Auge.«
Er lächelte und zeigte zu den vier anderen Priestern hinüber, welche um ein Feuer aus Treibholz herumstanden, an dem auf meinem eigenen Speer aufgespießt zwei frische menschliche Schenkel brieten. Sonst war vom Fischer .nichts mehr zu sehen. Ich zwang mich, mir meine zitternde Angst nicht anmerken zu lassen, holte mein Päckchen mit dem Goldstaub aus dem Schamtuch heraus und warf es zwischen mir und dem Oberpriester auf den Boden.
»Seid vorsichtig, wenn Ihr es auswickelt«, sagte ich, »sonst weht der Wind es fort.« Als er niederkniete, um das Gold auszuwickeln, fuhr ich fort: »Wenn ich meinen Einbaum mit Purpur beladen könnte, könnte ich ihn nahezu mit Gold gefüllt wieder zurückbringen. Dieses Gold jedoch biete ich Euch für so viele Flaschen, wie ich mit meinen eigenen beiden Armen tragen kann.«
Mittlerweile hatte er das Tuch ganz auseinandergefaltet, und das Häufchen Gold glomm im Licht des Abendrots. Seine vier Mitpriester näherten sich, um ihm mit großen Augen über die Schulter zu sehen. Der Oberpriester ließ ein wenig von dem Goldstaub durch die Finger rieseln, nahm dann das ganze Tuch in eine Hand und wiegte es, um sein Gewicht abzuschätzen. Ohne zu mir aufzublicken, sagte er: »Ihr gebt soviel Gold für den Purpur. Wieviel gebt Ihr für das Mädchen?«
»Was für ein Mädchen?« sagte ich, und mein Herz machte einen Satz.
»Das Mädchen hinter Euch!«
Ich warf rasch einen Blick zurück. Zyanya stand unmittelbar hinter mir, machte ein todunglückliches Gesicht, und ein wenig hinter ihr standen sechs oder sieben weitere Zyú-Männer, welche eifrig die Hälse reckten, um einen Blick um sie und mich herum auf das Gold zu werfen. Der Priester kniete immer noch und wog das Päckchen in den Händen, als ich den Kopf wieder zurückwandte und mein Maquahuitl schwang. Das Päckchen und die Hände, welche es hielten, fielen zu Boden, wiewohl der Priester kaum eine Bewegung machte, sondern nur entsetzt auf den Blutstrom starrte, der aus seinen Armstümpfen hervorgeschossen kam.
Die Unterpriester und die Fischer schossen auf uns zu – um sich des Goldes zu bemächtigen, oder um ihrem Oberpriester zu Hilfe zu kommen, weiß ich nicht –, doch im selben Augenblick wirbelte ich herum, packte Zyanyas Hand und zog sie in einem halsbrecherischen Lauf den Grat entlang und den Hang auf der Ostseite hinunter hinter mir her. Kaum waren wir den Blicken der durcheinander quirlenden Zyú entschwunden, schlugen wir einen linken Haken, um uns zwischen etlichen übermannshohen Felsen zu verstecken. Die Zyú würden selbstverständlich unsere Verfolgung aufnehmen und mußten davon ausgehen, daß wir versuchen würden, unser Kanu zu erreichen. Doch selbst wenn wir dieses hätten erreichen und zu Wasser bringen können, besaß ich doch keinerlei Erfahrung im Umgang mit einem seegängigen Einbaum; wahrscheinlich hätten unsere Verfolger nur hinter uns herzuwaten brauchen, und wir wären gefangen gewesen.
Eine Anzahl von ihnen kam in der Tat herunter gerannt und lief laut rufend an unserem Unterschlupf vorüber – hinunter zum Strand, genauso, wie ich es gehofft hatte. »Jetzt bergan!« sagte ich zu Zyanya, und sie verschwendete keinen Atem, mich erst umständlich zu fragen, warum, sondern hastete zusammen mit mir in die Höhe. Der größte Teil des Vorberges bestand aus nacktem Fels, und wir mußten uns sorgsam unseren Weg zwischen Rissen und Spalten suchen, durften jedoch gleichzeitig von denen unten nicht gesehen werden. Weiter in der Höhe wuchsen auf dem Felsen Bäume und Buschwerk, in welchem wir uns besser verbergen konnten, doch diese grüne Zuflucht war noch ein beträchtliches Stück von uns entfernt, und ich hatte Angst, daß die Vögel darin uns verraten würden. Bei jedem Schritt, den wir machten, schienen ganze Schwärme von Seeschwalben, Pelikanen und Kormoranen aufzusteigen.
Dann jedoch ging mir auf, daß die Vögel nicht nur um uns herum aufflogen, sondern überall, auf dem gesamten Berg – und nicht nur Seevögel, sondern Landvögel gleichfalls: Kakadus, Tauben, Felsenkönige –, und kreischten und zeterten und ziellos umherflogen. Und nicht nur Vögel waren da: Tiere, welche für gewöhnlich eher scheu sind und nur nächtens lebendig werden, ließen sich sonderbarerweise gleichfalls blicken: Gürteltiere, Leguane, Felsenschlangen – selbst ein Ozelot jagte in langen Fluchten an uns vorüber, ohne uns eines Blickes zu würdigen –, und all diese Tiere hasteten gleich uns den Berg hinauf. Sodann – wiewohl das Dämmer noch eine Weile anhalten würde, ehe es dem Dunkel vollends wich – hörte ich irgendwo oben das kummervolle Geheul eines Kojoten, und nicht weit über uns löste sich ein Schwarm Fledermäuse aus irgendeinem Spalt – und da wußte ich, was uns bevorstand: eines der Erdbeben, welche so häufig an dieser Küste vorkommen.
»Schnell!« feuerte ich das Mädchen atemlos an. »Nach oben hinauf. Woher die Fledermäuse kommen. Muß eine Höhle sein. Halt darauf zu.«
Wir erreichten sie gerade in dem Augenblick, da die letzten Fledermäuse hervorgeflattert kamen, sonst wäre uns der Eingang wohl überhaupt nicht aufgefallen: ein Tunnel im Fels, gerade breit genug, daß wir uns nebeneinander hindurchwinden konnten. Wie tief er hineinführte, habe ich nie herausgefunden, aber irgendwo tief im Inneren muß eine große Höhle gewesen sein, denn der Fledermäuse waren unendlich viele gewesen, und als wir uns im Felstunnel ausstreckten, spürten wir, wie Wellen von Guanogeruch über uns hinwegstrichen. Unversehens verstummte draußen vor unserem Bau alles: die Vögel mußten davongeflogen sein und die anderen Tiere irgendwo Unterschlupf gefunden haben; selbst von den sonst unentwegt zirpenden Baumzikaden war kein Laut zu hören.
Der erste Stoß war stark, jedoch gleichfalls lautlos.
Angstvoll hörte ich Zyanya flüstern: »Zyuüù«, und ich drückte sie beschützend eng an mich. Dann vernahmen wir von irgendwo weit im Landesinneren ein tiefes, langanhaltendes Grollen herüberdringen. Einer der Vulkane der Bergkette rumorte, sofern er nicht geradezu ausgebrochen war; jedenfalls war das ganze heftig genug, die Erde bis zur Küste hin erbeben zu lassen.
Der zweite und dritte Erdstoß – und ich weiß nicht wie viele mehr – kamen in immer rascherer Folge, so daß sie schließlich zu einem schwindelerregenden, gleichzeitigen Geschüttelt- und in die Höhe Gehoben- und Durchgerütteltwerden wurden. Zyanya und ich hätten in einem hohlen Baumstamm liegen und ein Wildwasser hinuntergetrieben werden können. Das Getöse war so ohrenbetäubend laut und hielt dermaßen lange an, daß wir genausogut im Inneren einer der Trommeln, die das Herz herausreißen, hätten liegen können, die wie wahnwitzig von einem Priester bearbeitet wurde. Es hörte sich an, als breche der ganze Berg auseinander und vergrößere noch jenen immensen Umkreis von Felsbrocken, welche ringsum das Meer bedeckten.
Ich überlegte, ob Zyanya und ich mit hinuntergeschleudert werden würden, denn schließlich hatten die Fledermäuse es vorgezogen, das Weite zu suchen – doch hätten wir uns gar nicht aus dem Tunnel herauswinden können, selbst wenn wir gewollt hätten, so heftig waren die Erschütterungen. Einmal gelang es uns, noch ein wenig weiter nach hinten zu kriechen, als die Tunnelöffnung sich plötzlich verdunkelte: ein gewaltiger Brocken von der Bergspitze war darüber hinweggerollt. Zu unserem Glück rollte er weiter und ließ das Zwielicht wieder herein, allerdings mit einer Wolke von Staub und Geröll, daß wir würgten und husten mußten.
Plötzlich wurde mein Mund womöglich noch trockener – ich vernahm einen gedämpften Donner hinter uns. Die gewaltige Höhle der Fledermäuse stürzte in sich zusammen, die Kuppel brach in vielen Stücken herunter und brachte vermutlich das gesamte über ihr lastende Gewicht dazu, in die Tiefe zu rutschen. Ich war darauf gefaßt, daß unser Tunnel sich schieflegen und uns beide mit den Füßen zuerst in das alleszertrümmernde Gestein unserer unmittelbaren Umgebung hineinrutschen lassen würde. Ich umschlang Zyanya mit Armen und Beinen und drückte sie in der erbärmlichen Hoffnung, daß mein Körper ihr einigen Schutz gewähren würde, wenn wir in die mahlenden Eingeweide der Erde hineinglitten, womöglich noch fester an mich.
Doch unser Tunnel hielt stand, und das war der letzte alarmierende Schock. Nach und nach legte sich der ganze Aufruhr, bis wir nur mehr wenige Laute draußen vor unserem Unterschlupf vernahmen: das leise Poltern kleinerer Steine und Kiesel, welche verspätet hinter den großen Brocken hinuntersprangen. Ich raffte mich hoch und wollte den Kopf hinausstecken, um zu sehen, was vom Berg noch geblieben war, doch Zyanya hielt mich zurück.
»Noch nicht«, warnte sie mich. »Häufig kommt es noch zu Nachbeben. Oder irgendein Felsen genau über uns könnte noch im letzten Augenblick stürzen. Warte noch ein bißchen.« Selbstverständlich hatte sie recht, mir Vorsicht anzuraten, doch gestand sie mir nur ein wenig später, noch einen anderen Grund gehabt zu haben, mich festzuhalten.
Ich habe die Auswirkung von Erdbeben auf Geist und Körper bereits erwähnt. Ich wußte, daß Zyanya mein schwellend aufgerichtetes Tepúli an ihrem schmalen Leib pochen spürte. Ich jedenfalls fühlte, wie ihre vorstehenden Brustwarzen sich trotz ihrer Bluse und trotz des Umhangstoffs, die zwischen uns waren, gegen meine Brust drängten.
Doch zuerst murmelte sie: »Nein, o nein, Záa, wir dürfen nicht …«
Dann sagte sie: »Bitte, Záa, tu's nicht. Du bist der Geliebte meiner Mutter gewesen …«
Und sie sagte: »Du bist der Vater meines kleinen Bruders gewesen. Du und ich, wir können unmöglich …«
Wiewohl ihr Atem sich beschleunigte, sagte sie immer noch ein ums andere Mal: »Es ist nicht recht …«, bis ihr etwas einfiel und sie mit ihrem letzten Atem sagte: »Aber du hast teuer dafür bezahlt, mich von diesen Wilden freizukaufen …«,
wonach sie nur noch heftig atmete, bis schließlich das Stöhnen und Ächzen der Lust einsetzte. Dann, ein wenig später, fragte sie mich im Flüsterton: »Habe ich es richtig gemacht?«
Falls überhaupt etwas Gutes von dem Erdbeben gesagt werden könnte, möchte ich erklären, daß die besondere Erregung, die dadurch hervorgerufen wird, ein Mädchen instand setzt, ihre Entjungferung zu genießen, was sonst nicht immer der Fall ist. Zyanya jedenfalls war an die ihre so hingegeben, daß sie mich nicht hinauslassen wollte, bis wir es noch zweimal gemacht hatten, und die durch das Beben in mir hervorgerufene Erregung so groß war, daß ich mich zwischendurch auch nicht zurückziehen mußte. Nach jedem Höhepunkt fing mein Tepúli auf ganz natürliche Weise an zu schrumpfen, doch jedesmal, wenn Zyanya das spürte, verstärkte sie den Druck irgendwelcher Muskeln in ihrer Scheide und hielt mich vom Zurückziehen ab, wie sie es auch schaffte, diese winzigen Muskeln so anzuspannen und mein Glied zu reizen, daß es in ihr abermals anzuschwellen begann.
Wir hätten ohne Unterlaß auch noch weitermachen können, doch zeigte sich vor dem dunklen Ende unseres Tunnels nunmehr ein eigentümlicher rötlichgrauer Schimmer, und ich wollte die Lage erkunden, ehe es vollends Nacht wurde. Folglich wanden wir uns hinaus und richteten uns auf. Der Sonnenuntergang war längst vorüber, doch hatten das Erdbeben oder der Vulkan seine Staubwolke in so große Höhe aufsteigen lassen, daß diese immer noch Strahlen von Tonatíu aus dem Mictlan oder wo immer sonst er sich mittlerweile aufhielt, abbekam. Der Himmel, der eigentlich dunkelblau hätte sein sollen, war von einem durchsichtigen Rot, daß auch die Strähne in Zyanyas Haar ganz von Rot übergossen war. Außerdem verbreitete er genug Helligkeit, daß wir uns umsehen konnten.
Das Meer schien zu kochen und in einem nunmehr noch weiter ausgedehnten Gebiet von Unterwasserfelsen zu brodeln und zu schäumen. Der Weg, den wir heraufgekommen waren, war nicht wiederzuerkennen: an manchen Stellen war er unter Geröll verschüttet, an anderen waren tiefe und breite Spalten aufgerissen worden. Über und hinter uns klaffte im Berg ein riesiges, tiefschattiges Loch – das war die Stelle, wo die Fledermaushöhle eingebrochen war.
»Es könnte sein«, überlegte ich, »daß der Felsrutsch alle unsere Verfolger unter sich begraben hat, möglicherweise sogar das ganze Dorf. Falls jedoch nicht, werden sie die Schuld für die Katastrophe bestimmt auf uns schieben und uns mit noch größerer Rache verfolgen.«
»Uns die Schuld dafür geben?« rief Zyanya aus.
»Ich habe die heilige Stätte ihres obersten Gottes entweiht. Sie werden ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß ich seinen Zorn erregt habe.« Ich dachte darüber nach und sagte dann: »Vielleicht habe ich das wirklich.« Um dann jedoch auf das Nächstliegende zurückzukommen.
»Aber wenn wir hier bleiben und in unserem Versteck schlafen, uns dann in aller Frühe aufmachen und noch vor Tagesanbruch weiter hinunterklettern, meine ich, können wir eine so große Entfernung zwischen sie und uns legen, daß jede weitere Verfolgung sinnlos wäre. Wenn wir über die Bergkette zurückkommen bis nach Tecuantépec …«
»Werden wir denn zurückkehren, Záa? Wir haben keine Verpflegung, kein Wasser und …«
»Ich habe aber immer noch mein Maquáhuitl. Und ich habe schlimmere Gebirge als dieses hier überwunden. Wenn wir zurückkehren … Zyanya, könnten wir dann heiraten?«
Möglich, daß das Unvermittelte meines Antrags sie verstörte, nicht jedoch der Antrag als solcher. Ruhig sagte sie: »Ich meine, diese Frage habe ich beantwortet, noch ehe sie gestellt wurde. Vielleicht ist es unschicklich von mir, es zu sagen, aber ich kann nicht alle Schuld auf das, was … was geschehen ist, auf das Zyuüù allein schieben.«
Aufrichtigen Herzens sagte ich: »Ich danke dem Zyuüú, es möglich gemacht zu haben. Ich habe dich schon seit langer Zeit begehrt, Zyanya.«
»Nun, denn!« sagte sie, setzte ein strahlendes Lächeln auf und breitete die Arme aus, als wollte sie sagen, daß es nun schon einmal geschehen sei. Ich schüttelte den Kopf, weil ich meinte, so leicht sei es nun auch wieder nicht getan, und ihr Lächeln schwand und machte einer gewissen Bänglichkeit Platz.
Ich sagte: »Für mich bist du ein Schatz, der alles übersteigt, was ich mir jemals zu erträumen gewagt hätte. Ich hingegen bin das nicht für dich.« Sie schickte sich an, etwas zu sagen, doch ich schüttelte abermals den Kopf. »Wenn du meine Frau wirst, bist du unter deinen Wolkenmenschen für immer und ewig eine Fremde. Und von einer so engen, stolzen und bewunderungswürdigen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, ist kein kleines Opfer.«
Sie überlegte einen Augenblick. Dann fragte sie: »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, das wärst du mir wert?«
»Nein«, sagte ich. »Denn über meinen Wert – oder auch Unwert – weiß ich besser und genauer Bescheid, als selbst du es tun könntest.«
Sie nickte, als hätte sie eine ähnliche Antwort erwartet. »Dann kann ich nur sagen, daß ich den Mann Záa Nayàzú mehr liebe als die Wolkenmenschen.«
»Aber warum, Zyanya?«
»Ich glaube, ich habe dich immer geliebt, seit … aber ich will nicht von dem sprechen, was gestern war. Ich sage nur, daß ich dich heute liebe und morgen lieben werde. Denn das Gestern ist vergangen. Das einzige, was ist und sein kann, ist das Heute und das Morgen. Und an jedem einzelnen dieser Tage will ich sagen, ich liebe dich. Könntest du das glauben, Záa? Und könntest du dasselbe sagen?«
Ich lächelte sie an. »Ich kann, kann es wirklich und werde es tun. Ich liebe dich, Zyanya.«
Sie erwiderte mein Lächeln und sagte ein wenig spitzbübisch-boshaft: »Ich weiß nicht, warum wir uns darüber so eingehend haben aussprechen müssen. Denn offenbar hat dein Tonáli und meines oder das von uns beiden uns ohnehin füreinander bestimmt.« Und damit zeigte sie von ihrer Brust auf die meine. Der Farbstoff, den der Priester auf meinen Umhang geschmiert hatte, war noch feucht gewesen, als wir zusammengelegen hatten. Beide trugen wir jetzt das gleiche purpurrote Zeichen, sie auf ihrer Bluse, ich auf meinem Umhang.
Ich lachte. Dann sagte ich betreten: »Ich bin schon lange in dich verliebt, Zyanya. Jetzt sind wir einander als Mann und Frau versprochen, und ich habe noch nie daran gedacht, dich nach der Bedeutung deines Namens zu fragen.«
Als sie mir diese schließlich sagte, dachte ich erst, sie treibe ihren Scherz mit mir; erst als sie ernst und geradezu feierlich darauf bestand, glaubte ich ihr schließlich.
Wie ihr mittlerweile gewiß erkannt habt, ehrwürdige Patres, trugen alle unsere Menschen aller Völker und Stämme Namen, die wir irgend etwas in der Natur entliehen hatten, oder irgendeiner natürlichen Eigenschaft, oder einer Verbindung von beiden. Das ist gewiß in meinem eigenen Namen deutlich geworden: Dunkle Wolke, und in denen anderer, von denen ich berichtet habe: Etwas Köstliches, Blut Schwelger, Abend Stern, Flammen Blume. Infolgedessen war es schwer für mich zu begreifen, daß ein Mädchen einen Namen tragen sollte, der kein Ding bedeutete. Zyanya ist ein ganz schlichtes und geläufiges Wort und bedeutet nichts in der Welt als einzig und allein immer.
Immer.