Tertia Pars
Zu der Zeit, von der ich gesprochen und da man mir den Namen Maulwurf gegeben, besuchte ich noch die Schule. Jeden Tag, wenn die Sonne unterging und des Tages Arbeit getan war, suchte ich und suchten alle anderen Knaben über sieben Jahren aus sämtlichen Dörfern und Wohnsitzen Xaltócans entweder das Haus der Leibesstärkung oder – Knaben und Mädchen gemeinsam – das Haus des Manierenlernens auf.
In ersterer Schule mußten wir Jungen uns sehr harten Leibesübungen unterziehen, wurden wir in der Kunst des Tlachtli-Ballspiels sowie im Umgang mit Kriegswaffen unterwiesen. In letzterer Schule erhielten wir und die Mädchen unseres Alters einen skizzenhaften Überblick über die Historie unseres Volkes und anderer Völker; etwas eingehender wurden wir in dem Wesen unserer Götter und den zahlreichen ihnen gewidmeten Festen unterwiesen und lernten die Kunst des Tempelgesangs, des Tempeltanzes und der Beherrschung der verschiedenen Musikinstrumente, wie sie zur Feier aller dieser religiösen Feste dazugehörten.
Nur in diesen Telpochcáltin oder Niederen Schulen hatten wir als Gleichgestellte Umgang mit den Kindern des Adels, aber auch mit einigen nachweislich aufgeweckteren Sklavenkindern, welche dieses Vorrecht verdienten. Diese einfache Bildung, bei welcher es vornehmlich um Höflichkeit, Frömmigkeit, Anmut und Geschicklichkeit ging, wurde für uns Kinder der Gemeinfreien als ausreichend angesehen und galt für die Handvoll Sklavenkinder, die man für wert und fähig erachtete, überhaupt einer Ausbildung teilhaftig zu werden, als eine besondere Ehre.
Gleichwohl konnte keiner der Sklavenjungen und nur wenige von uns Gemeinfreien – Mädchen ohnehin niemals, nicht einmal die Töchter der Adligen – jemals eine höhere Bildung erlangen als diejenige, wie sie in den beiden Häusern der Leibesstärkung und des Manierenlernens vermittelt wurde. Die Söhne des Adels verließen für gewöhnlich die Insel, um eine der Calmécactin zu besuchen, da es solche Höheren Schulen auf Xaltocan nicht gab. Den Lehrkörper für diese gehobenen Stätten des Lernens stellte ein besonderer Priesterorden, und wer dort studierte, wurde entweder später selbst Priester oder Regierungsbeamter, Schreiber, Historiker, Künstler oder Heilkundiger oder ergriff irgendeinen anderen Beruf, der einer besonderen Ausbildung bedurfte. Der Besuch einer Cal-mécac war einem Jungen von einfachem Herkommen zwar nicht versagt, doch waren Unterricht und Unterbringung dort so teuer, daß die meisten Familien der Gemeinfreien ihn sich nicht leisten konnten – es sei denn, jemand hätte sich in der Niederen Schule so hervorgetan, daß er ohne Bezahlung aufgenommen wurde.
Und ich muß gestehen, daß ich mich überhaupt nicht auszeichnete, weder im Haus des Manierenlernens noch im Haus der Leibesstärkung. Wie gut ich mich erinnere! Als ich zum erstenmal am Musikunterricht in der Schule des Manierenlernens teilnahm, forderte mich der Lehrmeister der Knaben auf, etwas vorzusingen, damit er meine Stimme beurteilen könne. Ich tat, wie geheißen, er fällte sein Urteil und sagte: »Das zu hören war schon erstaunlich – nur glaube ich nicht, daß es Gesang war. Wir werden sehen, wie du dich an einem Instrument machst.«
Als ich mich gleichermaßen unfähig erwies, auf der Flöte mit den vier Löchern auch nur die einfachste Melodie zu spielen, und nicht einmal den unterschiedlich gestimmten Trommeln etwas Wohltönendes zu entlocken vermochte, steckte der Lehrmeister mich ärgerlich in eine Gruppe, welche einen der Anfängertänze, genannt Donnerschlange, einübte. Dabei macht jeder Tänzer unter Stampflauten einen Sprung vorwärts, vollführt dann eine volle Kehrtwendung, läßt sich auf ein Knie nieder, dreht sich in dieser hockenden Stellung nochmals um sich selbst und vollführt unter Gestampf nochmals einen Sprung vorwärts. Führen Jungen und Mädchen, die sich in einer Reihe aufgestellt haben, diese Bewegungen in rascher Folge nacheinander aus, entsteht ein ständiges Geräusch des Schleifens und wird dem Auge die Vorstellung vermittelt, als winde eine lange Schlange sich vorwärts. Zumindest sollte dieser Eindruck erweckt werden.
»Das ist die erste Donnerschlange mit einem Knoten darin, die ich erlebe!« rief die Lehrmeisterin der Mädchen.
»Raus aus der Reihe, Malinqui!« rief der Lehrmeister der Knaben laut.
Von Stund an war ich für ihn Malinqui, Knoten. Und mein einziger Beitrag zu Musik und Tanz, wenn die Schüler bei feierlichen Anlässen auf dem Pyramidenplatz unserer Insel öffentlich auftraten, bestand darin, die Schildkrötentrommel mit einem Paar kleiner Hirschhörner zu bearbeiten oder mit jeder Hand ein paar Krebsscheren rasseln zu lassen. Glücklicherweise hielt wenigstens meine Schwester bei solchen Ereignissen die Familienehre hoch, war sie doch stets diejenige, welcher beim Tanzen die Soloparts übertragen wurden. Tzitzitlíni konnte auch ohne jede Musikbegleitung tanzen und die Zuschauer glauben machen, sehr wohl Musik zu hören.
Allmählich hatte ich das Gefühl, überhaupt niemand zu sein, oder aber so viele Personen auf einmal, daß ich nicht wußte, welche ich nun als die mir wirklich angemessene anerkennen sollte. Daheim war ich Mixtli gewesen, Wolke. Für alle anderen Xaltócaner war ich Tozàni, Maulwurf. Im Haus des Manierenlernens war ich Malinqui, Knoten. Und im Haus der Leibesstärkung wurde ich bald zu Poyaútla, Umnebelt.
Zu meinem Glück mangelte es mir an Körperkraft nicht gleichermaßen wie an Musikbegabung, denn ich hatte die Statur und Kraft meines Vaters geerbt. Mit vierzehn war ich größer als die Jungen in der Klasse zwei Jahre über mir. Vermutlich kann ja auch ein Stockblinder die Streck-, Sprung- und Gewichtshebungsübungen machen. Infolgedessen hatte unser Lehrmeister im Sport an meinen Leistungen nichts auszusetzen – bis wir zum Mannschaftssport übergingen.
Wäre beim Tlachtli-Spiel die Benutzung der Hände und Füße gestattet gewesen, hätte ich vielleicht besser gespielt, denn Hände und Füße bewegt man ja nahezu instinktiv. Doch darf bei diesem Spiel der harte Óli-Ball nur mit dem Knie, der Hüfte, dem Ellbogen und dem Gesäß getrieben werden, und wenn ich den Ball überhaupt sehen konnte, war er nur ein verschwommener Fleck, der für mich noch um so undeutlicher zu erkennen war, als er mit so großer Geschwindigkeit durch die Luft flog. Infolgedessen trug ich ständig blaue Flecken und Prellungen davon, obgleich wir Spieler Kopf und Hüftschützer sowie Ledermanschetten zum Schutz von Knie und Ellbogen trugen, und der Rest unseres Körpers durch dick mit Baumwolle gefütterte Steppanzüge geschützt wurde.
Aber schlimmer noch: nur selten gelang es mir, meine eigenen Mannschaftskameraden von den Spielern der gegnerischen Mannschaft zu unterscheiden. Wenn ich – was selten genug vorkam – den Ball einmal mit Knie oder Hüfte vorwärtstrieb, konnte es durchaus geschehen, daß ich ihn durch die falschen niedrigen Steinbögen schoß, jene kniehohen Tore, die den verzwickten Spielregeln zufolge am Ende des Ballplatzes ständig hin- und hergeschoben wurden. Den Ball durch einen der hoch an der Mittellinie der beiden Umfassungsmauern des Ballplatzes angebrachten Steinringe zu schießen – was in jedem Fall den sofortigen Sieg bedeutet hätte, egal, wie viele Tore die eine oder die andere Mannschaft bereits hatte erzielen können –, war fast ein Ding der Unmöglichkeit selbst für die erfahrensten Spieler und gelang äußerst selten und nicht einmal durch Zufall; für mich, Umnebelt, wäre es das reinste Wunder gewesen.
So dauerte es auch nicht lange, bis der Lehrmeister des Sports auf mich als Mitspieler verzichtete. Ich wurde Betreuer und hatte dafür zu sorgen, daß stets Wasserkrüge und Schöpfkellen sowie Dornstichel und Saugröhrchen bereitstanden, mit deren Hilfe der Heilkundige der Schule den Spielern die Steifheit nahm, indem er die Blutergüsse anstach und das Schwellungen verursachende schwarze Blut absaugte.
Dann kamen die Kriegsspiele und Waffenübungen unter der Aufsicht eines älteren und narbenbedeckten Cuachic, eines »alten Adlers«, wie voller Hochachtung jene genannt wurden, die ihre Kampftüchtigkeit bereits unter Beweis gestellt hatten. Sein Name lautete Extli-Quani oder Blut Schwelger, und er muß gut über vierzig gewesen sein. Bei diesen Kriegsspielen durften wir Jungen weder den Federschmuck noch die Farben oder andere prächtige und eindrucksvolle Abzeichen der echten Krieger anlegen. Wohl aber hatten wir zu unserer Größe passende Schilde aus Holz oder lederbezogenem Weidengeflecht. Die einheitliche Feldkleidung, die wir trugen, bestand aus dick gefütterten Baumwollanzügen, die noch zusätzlich in Salzlauge eingeweicht wurden, um sie fester zu machen, und sie bedeckte uns vom Hals bis zu den Arm- und Fußgelenken. Sie gewährten uns ein vernünftiges Maß an Bewegungsfreiheit und sollten uns vor Pfeilen schützen – jedenfalls zumindest vor den aus einiger Entfernung abgeschossenen-, aber ayya!, die war heiß, kratzte und brachte uns zum Schwitzen, wenn wir sie über einen längeren Zeitraum tragen mußten.
»Als erstes lernt ihr jetzt die verschiedenen Schlachtrufe«, erklärte Blut Schwelger. »In der Schlacht selbst werden euch selbstverständlich Muschelhornbläser und Trommler mit dumpfen Trommeln begleiten. Dazu muß aber noch euer eigenes Feldgeschrei kommen und müßt ihr mit der Faust oder euren Waffen gegen eure Schilde schlagen. Aus eigener Erfahrung, meine jungen Freunde, weiß ich, daß ein überwältigendes Getöse eine Waffe an sich sein kann. Das kann einen Mann schon das Fürchten lehren, sein Blut verwässern, seine Sehnen schwächen, ja, ihn sogar dazu bringen, Blase und Darm zu entleeren. Ihr müßt diesen Lärm einfach machen; ihr werdet feststellen, daß es euch in doppelter Weise hilft: er stärkt eure eigene Kampfentschlossenheit und jagt dem Gegner Schrecken ein.«
Und so übten wir wochenlang, noch ehe wir irgendwelche Spielzeugwaffen tragen durften, gellend den Schrei des Adlers auszustoßen, das heisere Fauchen des Jaguars, den langgezogenen Schrei der Eule und das Alalala-Gekreisch des Papageien. Wir lernten, durch Sprünge vorgetäuschte Schlachtenlüsternheit zu bekunden, durch Drohgebärden einzuschüchtern, wilde Fratzen zu schneiden, um zu bedrohen und auf unsere Schilde zu trommeln, bis sie sich vom Blut unserer Fäuste röteten.
Andere Völker kämpften mit anderen Waffen als jenen, auf die wir Mexíca uns verließen; etliche von unseren Kampfverbänden waren mit Waffen ausgerüstet, die besonderen Zwecken dienten; außerdem stand es jedem einzelnen frei, die Waffe zu benutzen, in deren Handhabung er es am weitesten gebracht hatte. Zu diesen zählten: die Lederschlinge zum Schleudern von Steinen, die stumpfe Steinaxt zum Umsichschlagen, der aus Knochen bestehende Dreizackspeer, dessen Ende Einkerbungen aufwies, die besonders bösartige Wunden rissen, sowie das einfach aus der gezahnten Schnauze des Sägerochens bestehende Schwert. Doch die Grundausrüstung der Mexíca-Krieger bestand aus vier Waffen.
Zur Eröffnung der Feindseligkeiten auf große Entfernung hin dienten Pfeil und Bogen. Wir Schüler übten lange Zeit mit Pfeilen, an denen statt einer Spitze aus scharfem Obsidian ein weicher Pfropf aus Óli saß. Nun ließ unser Lehrmeister an die zwanzig von uns Jungen in einer Reihe Aufstellung nehmen und sagte:
»Stellt euch vor, der Feind steht bei jenem Nopáli-Kaktus dort drüben.« Mit diesen Worten deutete er auf etwas, was rund hundert Schritt entfernt war und sich meinen umnebelten Augen nur als verschwommener grüner Fleck darbot. »Ich möchte, daß ihr die Bogensehne ganz zurückzieht und die Pfeile in einem Winkel genau in die Mitte zwischen Sonne und Horizont hochhaltet. Fertig? Schießhaltung einnehmen! Auf den Kaktus zielen. Und laßt abschwirren! Los!«
Dem Schwirren der Pfeile folgte ein allgemeines enttäuschtes Aufstöhnen der Jungen. Sämtliche Pfeile waren in schönem Bogen rund hundert Schritt entfernt und erstaunlich dicht beieinander niedergegangen, was jedoch nur daran gelegen hatte, daß Blut Schwelger Winkel und Bogenspannung angegeben hatte. Daß die Jungen aufstöhnten, lag daran, daß sie einer wie der andere das Ziel kläglich verfehlt hatten; die Pfeile waren weit links vom Kaktus niedergegangen. Erwartungsvoll richteten sich aller Blicke auf unseren Lehrmeister, daß er uns erkläre, warum wir so weit vorbeigeschossen hatten.
Er zeigte auf die quadratischen und rechteckigen Schlachtstandarten, die zuvor rings um uns her mit ihren Stangen in den Boden gepflanzt worden waren. »Wozu dienen diese Tuchfahnen?« fragte er.
Wir sahen einander an. Dann erwiderte Pactli, Sohn des Herrn Rot Reiher: »Das sind die Standarten, die uns von unseren Gruppenführern in der Schlacht vorangetragen werden. Sollten wir während der Schlacht auseinandergerissen werden, zeigen diese Standarten uns, wo wir uns wieder sammeln können.«
»Richtig, Pactzin«, sagte Blut Schwelger. »Aber die andere Fahne dort drüben, der lange Federnwimpel – wozu dient der?«
Abermals sahen wir uns fragend an, bis Chimáli sich ein Herz faßte und sagte: »Die tragen wir, um zu zeigen, wie stolz wir darauf sind, Mexíca zu sein.«
»Das ist eine mannhafte, aber falsche Antwort«, erklärte der Lehrmeister. »Deshalb wirst du nicht geprügelt werden. Aber schaut euch den Wimpel an, wie er vom Wind getragen wird, meine jungen Freunde.«
Alle sahen wir hin. An diesem Tag genügte der Wind nicht, den Wimpel waagerecht von seiner Stange abstehen zu lassen. In spitzem Winkel wies er auf den Boden und …
»Der Wind kommt von rechts«, rief ein anderer Junge ganz aufgeregt. »Falsch gezielt haben wir nicht! Nur hat der Wind unsere Pfeile vom Ziel abgelenkt.«
»Wenn ihr euer Ziel verfehlt«, erklärte der Lehrmeister trocken, »habt ihr falsch gezielt. Es auf den Wind zu schieben, ist keine Entschuldigung. Wenn ihr richtig zielen wollt, müßt ihr die Stärke und die Richtung berücksichtigen, in welcher Ehécatl seine Windtrompete bläst. Um das zu erkennen, dazu ist der Federwimpel da. Die Richtung, in die er zeigt, ist gleichzeitig auch die Richtung, in der eure Pfeile abgetrieben werden. Und wie hoch er hängt, zeigt euch, wie stark der Wind die Pfeile abtreiben wird. Jetzt marschiert alle miteinander hin und holt euch eure Pfeile wieder, macht kehrt, bildet ein Glied und zielt auf mich. Der erste Junge, der mich trifft, dem sollen selbstverdiente Prügelstrafen für zehn Tage erlassen bleiben.«
(Wir marschierten nicht, wir rannten zu unseren Pfeilen und schickten sie fröhlich zu unserem Cuachic zurück, doch keiner traf.)
Zum Kampf unter Pfeilschußweite diente der Wurfspieß, eine schmale kurze, zugespitzte Obsidianklinge vorn an einem kurzen Schaft. Der Schaft dieser Waffe war ungefiedert, so daß Zielgenauigkeit und Durchschlagskraft einzig davon abhingen, daß sie mit äußerster Kraft geschleudert wurde.
»Deshalb schleudert ihr den Wurfspieß nicht ohne Hilfsmittel, sondern bedient euch des Atlatl-Wurfholzes«, sagte Blut Schwelger. »Was aber ist so ein Wurfholz? Wenn ihr zuerst damit umgeht, mag es euch furchtbar umständlich erscheinen, doch nach einiger Übung merkt ihr, was dieser Atlatl ist: eine Verlängerung eures Arms und eine Verdoppelung eurer Kraft. Auf eine Entfernung von dreißig langen Schritten könnt ihr mit seiner Hilfe einen Wurfspieß durch einen mannsdicken Stamm treiben. Also stellt euch vor, meine jungen Freunde, was geschieht, wenn ihr ihn auf einen Menschen schleudert.«
Des weiteren gab es den Langspeer mit der breiteren und schwereren Obsidianspitze, der zum Stoßen, Werfen und Durchbohren dient, ehe man mit dem Feind wirklich handgemein wird. Doch dafür, den unvermeidlichen Nahkampf, gab es das Maquáhuitl genannte Schwert. Der Name, der soviel bedeutet wie »Jagdholz« klingt recht harmlos, dennoch war das Schwert die schrecklichste und mörderischste Waffe unseres Arsenals.
Das Maquáhuitl war ein abgeflachter Knüttel aus Hartholz, armlang und handbreit; die beiden Schneiden waren über die ganze Länge mit Obsidiansplittern besetzt. Der Griff des Schwertes war lang genug, es sowohl ein-als auch beidhändig zu führen und war so geschnitzt, daß es sich der Hand des Schwertkämpfers am besten anpaßte. Die Obsidiansplitter waren nicht nur in das Holz eingeklemmt; von diesem Schwert hing so viel ab, daß selbst Zauberei nicht verschmäht wurde, es zu stärken. Die scharfen und harten Splitter wurden fest mit einem verzauberten Kleister aus flüssigem Oli, dem kostbaren und wohlduftenden Copáli-Harz und frischem Blut verkittet, das die Priester des Kriegsgottes Huitzilopochtli spendeten.
Obsidian ergibt furchterregend aussehende Pfeil- und Speerspitzen oder Schwertklingen, blitzend wie Quarzkristall, doch so schwarz wie Mictlan, die Gegenwelt. Richtig aufgesplittert, ist der Stein so scharf, daß er genauso sauber schneiden kann wie manche harten Gräser, und Wunden von einer Tiefe zu schlagen vermag wie eine Streitaxt. Der einzige Nachteil des Obsidian ist seine Sprödigkeit; prallt er gegen den Schild eines Feindes oder gegen dessen Schwert, kann er zersplittern. Aber in der Hand eines erfahrenen Kämpfers vermag das obsidianbewehrte Maquáhuitl Fleisch und Knochen ebenso sauber zu durchschneiden wie ein Büschel Schilfrohr – und in unseren bedingungslosen und erbitterten Kriegen sind die Feinde nichts anderes als Schilfrohre, die es umzumähen gilt, wie Blut Schwelger nicht müde wurde, uns immer wieder einzubleuen.
Genauso, wie unsere Spielzeugpfeile, – Wurfspieße und -speere mit Pfropfen aus Óli-Gummi unschädlich gemacht wurden, wurde auch unserem Spielzeug-Maquáhuitl die Schärfe genommen. Der abgeflachte Knüttel bestand aus leichtem weichen Holz, damit das Schwert eher zerbrach, als daß es einen allzu gefährlichen Hieb austeilte. Und statt mit Obsidiansplittern waren die Schneiden mit Daunenfedern besetzt. Ehe zwei Schüler mit dem Schwert gegeneinander kämpften, tränkte der Lehrmeister die Federn mit roter Farbe, so daß jeder Streich, den man empfing, lebhaft als blutige Wunde am Körper und im Gesicht zu erkennen war, und mir war es unendlich peinlich, wenn man mich dergestalt gezeichnet in der Öffentlichkeit sah. Eben dieses brachte mich dazu, um eine Unterredung unter vier Augen mit unserem Cuachic zu bitten. Er war ein kampferprobter alter Mann, hart wie Obsidian und vermutlich in allem anderen bis auf das Kriegshandwerk völlig ungebildet – aber dumm war er nicht.
Ich bückte mich, um die Geste des Erdeküssens zu vollführen, und sagte dann, immer noch auf den Knien: »Meister Blut Schwelger, Ihr wißt, daß ich schlecht sehen kann. Ich fürchte, Ihr verschwendet Eure Zeit und Eure Geduld, wenn Ihr versucht, einen Soldaten aus mir zu machen. Wären diese Male an meinem Körper echte Wunden, würde ich schon längst tot sein.«
»So?« meinte er ungerührt. Dann ging er in die Hocke, so daß sein Gesicht etwa in gleicher Höhe mit dem meinen war. »Umnebelt von Mann zu Mann – ich will dir einmal erzählen, daß ich unten in Quautemálan, dem Strauchland, einen Mann getroffen habe. Die Angehörigen dieses Volkes, das weißt du vielleicht, haben alle große Angst vor dem Tod. Dieser Mann, von dem ich spreche, nahm vor allem Reißaus, was auch nur entfernt nach Gefahr aussah. Er ging den selbstverständlichsten Wagnissen des Lebens aus dem Weg und verkroch sich in Sicherheit und Geborgenheit. Er umgab sich mit Heilkundigen, Priestern und Zauberern. Er nahm nur die nahrhaftesten Speisen zu sich und trank gierig jeden lebenserhaltenden Trank in sich hinein, von dem er hörte. Kein Mensch hat jemals besser acht gegeben auf sein Leben. Er lebte nur, um weiterzuleben.«
Ich wartete, ob er noch mehr zu sagen hätte, doch es kam nichts, und so fragte ich: »Und was ist aus ihm geworden, Meister Cuachic?«
»Er starb.«
»Ist das alles?«
»Was sonst soll einem Menschen geschehen? Ich kann mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern. Nichts blieb von ihm in meiner Erinnerung haften, außer, daß er lebte und starb.«
Als er nochmals schwieg, sagte ich: »Meister, ich weiß, wenn ich in der Schlacht falle, diene ich den Göttern damit zur Nahrung und sie werden mich in der Gegenwelt reichlich dafür belohnen; vielleicht wird sogar mein Name nicht vergessen werden. Aber könnte ich nicht eine Zeitlang in dieser Welt von Nutzen sein, bevor ich meinen Tod erlange?«
»Du brauchst in der Schlacht nur einen einzigen wirksamen Schlag auszuteilen, mein Junge. Selbst wenn du dann im nächsten Augenblick erschlagen wirst, hast du etwas in deinem Leben getan. Mehr als all die Menschen, die sich nur plagen, um zu leben, bis die Götter es leid werden, ihrer Vergeblichkeit zuzusehen und sie mit einem Handstreich ins Vergessen befördern.« Blut Schwelger stand auf. »Hier, Umnebelt, dies ist mein eigenes Maquáhuitl. Es hat mir lange wohl gedient. Fühl nur, wie wunderbar es in der Hand liegt.«
Ich gebe gern zu, daß es mich ungeheuer erregte, als ich zum erstenmal ein richtiges Schwert in der Hand hielt und nicht ein Spielzeugschwert aus Korkholz und Federn. Es war ganz furchtbar schwer, doch flüsterte allein sein Gewicht mir zu: »Ich bin Stärke.«
»Ich sehe, daß du es mit einer Hand hochheben und schwingen kannst«, meinte der Waffenmeister. »Das schafft sonst kein Knabe deines Alters. Jetzt komm hierher, Umnebelt. Das hier ist ein kräftiger Nopáli. Versetz ihm den Todesstreich.«
Der Kaktus war alt und nahezu baumhoch. Seine stachligen Glieder waren wie Paddel und sein rissiger Stamm so dick wie mein Leib. Versuchsweise schwang ich das Maquáhuitl zunächst mit der rechten Hand, und seine Obsidianschneide fraß sich mit einem hungrigen Tschnukkk in das Kaktusholz. Ich lockerte die Klinge, packte den Griff mit beiden Händen, holte aus, so weit ich konnte und schlug dann mit aller Kraft zu. Ich hatte erwartet, daß die Klinge noch ein Stück tiefer hineingehen würde und war daher völlig überrascht, als sie sauber den ganzen Kaktusstamm durchtrennte und dieser – farblosem Blut gleich – seinen Saft verspritzte. Krachend fuhr der Nopáli hernieder, und der Waffenmeister und ich mußten behende zurückspringen, um nicht von der Masse der Stacheln böse zerkratzt zu werden.
»Ayyo, Umnebelt!« entfuhr es Blut Schwelger bewundernd. »Welche Fähigkeiten auch immer dir abgehen mögen, auf jeden Fall besitzt du die Stärke des geborenen Kriegers.«
Vor Freude und Stolz errötete ich, mußte aber trotzdem noch einmal erklären: »Jawohl, Meister, ich kann zuschlagen und töten. Aber was ist mit meiner großen Kurzsichtigkeit? Angenommen, ich treffe den falschen Mann, einen der Unsrigen?«
»Kein Cuachic, dem die Neukrieger anvertraut sind, würde dich je dort einsetzen, wo das geschehen könnte. In einem Blumenkrieg könnte er dich den Feßlern zuteilen, welche die Stricke tragen, mit denen die Gefangenen gefesselt werden, um sie zum Opfer hierherzubringen. Oder in einem richtigen Krieg den zur Nachhut gehörigen Garausmachern, die gnädig jene Kameraden und Gegner von ihrer Qual erlösen, die verwundet zurückbleiben, wenn die Schlacht über sie hinweggegangen ist.«
»Feßler und Garausmacher«, knurrte ich halblaut. »Das sind für einen tapferen Mann kaum Aufgaben, sich der Belohnung in der Gegenwelt zu versichern.«
»Du hast von dieser Welt gesprochen«, erinnerte der Waffenmeister mich, »von Dienen und nicht von Heldentum. Selbst der Geringste kann noch dienen. Ich erinnere mich noch daran, wie es war, als wir in die hochmütige Stadt Tlaltelólco einmarschierten, um sie unserem Tenochtitlan einzuverleiben. Die Krieger dieser Stadt kämpften selbstverständlich in den Straßen gegen uns, aber ihre Frauen, Kinder und Greise standen auf den Hausdächern und warfen große Steine und Nester voll wütender Wespen auf uns herab, manchmal sogar Hände voll von ihrem eigenen Kot.«
Meine Herren Schreiber, dies ist wohl die geeignete Stelle, euch klarzumachen, daß unter den verschiedenen Arten von Kriegen, die wir Mexíca führten, die Schlacht um Tlaltelólco eine Ausnahme bildete. Unser Verehrter Sprecher Axayácatl hielt es einfach für notwendig, diese anmaßende Stadt zu unterwerfen, ihr die Unabhängigkeit zu nehmen und ihre Bewohner zu zwingen, unserer großen Inselhauptstadt Tenochtitlan Treue zu geloben. Doch im allgemeinen ging es bei unseren Kriegen gegen andere Völker nicht um Eroberungen – zumindest nicht in dem Sinne, wie eure Heere Neuspanien erobert und zu einer niedrigen Kolonie eures Mutterlandes Spanien gemacht haben.
Nein, wir vermochten ein anderes Volk zwar zu besiegen und zu demütigen, doch niemals vertilgten wir es von dieser Erde. Wir kämpften, um unsere eigene Macht zu beweisen und um die weniger Mächtigen tributpflichtig zu machen. Streckte ein Volk die Waffen und gelobte uns Mexíca Lehnstreue, wurde ihm ein Verzeichnis der Rohstoffe und Landeserzeugnisse übergeben – Gold, Gewürze, Oli, was auch immer –, die es in ganz bestimmten Mengen fürderhin jährlich an unseren Verehrten Sprecher abzuliefern hatte. Außerdem mußte es gewärtig sein, daß wir waffenfähige Männer unter ihnen aushoben, wenn es sich als nötig erwies, daß sie zusammen mit uns Mexíca ins Feld zogen.
Aber sein Name und seine Souveränität wurden diesem Volk nicht genommen, auch nicht sein Herrscher, seine hergebrachte Lebensweise und die Art von Religion, die es bevorzugte. Auch zwangen wir ihm keines unserer Gesetze, Sitten und Gebräuche oder Götter auf. Unser Kriegsgott Huitzilopóchtli zum Beispiel war unser Gott. Unter seiner besonderen Fürsorge hoben wir uns von den anderen ab und erhoben uns über sie; daher ließen wir nicht zu, daß andere ihn mit uns teilten oder wir ihn mit ihnen. Im Gegenteil. Bei vielen besiegten Völkern entdeckten wir neue Götter oder neue Erscheinungsformen von uns bekannten Göttern, und wenn sie uns gefielen, brachten unsere Armeen Abbilder ihrer Statuen für uns mit zurück, die wir in unseren eigenen Tempeln aufstellten.
Des weiteren muß ich euch sagen, daß es durchaus Völker gab, bei denen es uns nie gelang, sie tributpflichtig zu machen oder ihnen die Lehnstreue abzuringen. So lag zum Beispiel im Osten an uns angrenzend Cuautexcàlan, das Land der Adlerklippen, von uns für gewöhnlich einfach Texcála genannt, Die Klippen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde nennt ihr Spanier dieses Land Tlaxcála, was uns zum Lachen reizt, da es einfach »Fladen« bedeutet.
Texcála war vollkommen von Ländern umgeben, die mit uns Mexíca verbündet waren, weshalb es gezwungen wurde, ein Leben zu führen wie eine belagerte Insel. Aber die Texcála blieben hart wie Obsidian, wenn es darum ging, sich auch nur im geringsten zu unterwerfen, was immerhin bedeutete, daß sie von der Einfuhr vieler lebensnotwendiger Dinge abgeschnitten waren. Würden die Texcaltéca sich nicht, wenn auch noch so zähneknirschend, bereit gefunden haben, das Copáli-Harz mit uns zu tauschen, sie hätten nicht einmal Salz gehabt, ihre Speisen damit zu würzen.
Wie die Dinge lagen, erlegte unser Uey-Tlatoáni – immer in der Hoffnung, sie zu unterwerfen – dem Umfang des Handels zwischen uns und den Texcaltéca harte Beschränkungen auf, und so mußten die eigensinnig-stolzen Texcaltéca ständig demütigende Entbehrungen auf sich nehmen. So mußten sie zum Beispiel ihren mageren Ertrag an Baumwolle strecken, was bedeutete, daß sogar ihre Edelleute gezwungen waren, Umhänge zu tragen, in die nur zum geringsten Teil Baumwolle hineinverwoben war und die im übrigen aus dem harten Hanf und den Fasern des Maguey-Strauchs bestanden – Kleidung, wie sie bei uns in Tenochtítlan nur Sklaven und Kindern zugemutet wurde. Jetzt könnt ihr wohl verstehen, warum die Texcaltéca einen tiefen Haß auf uns Mexíca hegten, was, wie ihr wohl wißt, böse Folgen für uns, die Texcaltéca selbst und überhaupt das ganze Land zeitigte, das heute Neuspanien heißt.
»Im Augenblick«, erklärte Waffenmeister Blut Schwelger mir an jenem Tage, da wir unter vier Augen miteinander sprachen, »haben unsere Heere sich in den Kampf mit einem widerspenstigen Volk im Westen verbissen. Wir sind bei dem Versuch des Verehrten Sprechers, in Michihuácan, Das Land der Fischer, einzufallen, auf höchst schmachvolle Weise zurückgeworfen worden. Axayácatl hatte sich einen leichten Sieg erhofft, aber sie haben unsere Heere in die Flucht getrieben. Diese Purémpecha sind immer nur mit Kupferschwertern bewaffnet gewesen, aber sie haben unsere Heere nicht nur abgewehrt, sondern sie so geschlagen, daß sie in heilloser Flucht davonliefen.«
»Aber wie das?« fragte ich. »Ein unkriegerisches und überdies nur mit weichen Kupferwaffen ausgerüstetes Volk? Wie haben sie sich uns unbesiegbaren Mexíca gegenüber behaupten können?«
Der alte Krieger zuckte mit den Achseln. »Unkriegerisch mögen die Purémpecha sein, aber sie kämpfen wie die Jaguare, wenn es darum geht, ihre Heimat Michihuácan mit ihren Seen und Flüssen und gut bewässerten Ackergebieten zu verteidigen. Außerdem, so heißt es, haben sie irgendein Zaubermetall entdeckt, das sie ihrem Kupfer noch im geschmolzenen Zustand beimischen. Wird diese Mischung dann zu Schwertern geschmiedet, werden diese so hart, daß unser Obsidian wie Borkenpapier daran zerbröckelt.«
»Fischer und Ackerbauern«, murmelte ich, »die dem gut ausgebildeten Heer des Axayácatl eine Niederlage beibringen …«
»Ach, wir werden schon einen neuen Versuch unternehmen, da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Blut Schwelger. »Diesmal ging es Axayácatl nur um den Zugang zu ihren fischreichen Gewässern und fruchtbaren Tälern. Jetzt jedoch wird er hinter das Geheimnis dieses magischen Metalls kommen wollen. Er wird die Purémpecha erneut herausfordern, und wenn er das tut, brauchen seine Heere jeden, der mitmarschieren kann.« Der Waffenmeister hielt inne und fügte dann spitz hinzu: »Selbst alte Cuáchictin mit steifen Gliedern wie mich, selbst solche, die nur zu Feßlern und Garausmachern taugen, ja sogar die Verkrüppelten und Umnebelten. Es ziemt sich, daß wir dann ausgebildet und abgehärtet bereitstehen, mein Junge.«
Wie sein Tonáli es wollte, starb Axayácatl , ehe er neuerlich in Michihuácan einfallen konnte, das ein Teil jenes Gebietes ist, welches ihr Nueva Galícia nennt. Unter mehreren Verehrten Sprechern nacheinander gelang es uns Mexíca und den Purémpecha, einen Zustand aufrechtzuerhalten, bei dem beide Seiten in wechselseitiger Achtung voreinander lebten. Ich brauche euch wohl kaum daran zu erinnern, ehrwürdige Patres, daß es eurem Beltrán de Guzmán, welcher als der erbarmungsloseste unter euren Feldhauptleuten gilt, bis heute nicht gelungen ist, die zähen und hartnäckigen Purémpecha um den Chapálan-See herum und in anderen abgelegenen Gebieten der Nueva Galícia zu unterwerfen, wo sie sich bis auf den heutigen Tag weigern, euren König Carlos und euren Herrgott anzuerkennen.
Ich habe von unseren Strafkriegen gesprochen, denn das waren sie schließlich, und erzählt, wie es bei ihnen zuging, was gewiß selbst euer blutrünstiger Guzmän verstehen kann; doch bin ich sicher, daß es ihm – wie übrigens den meisten von euch – unmöglich ist, sich einen Krieg vorzustellen, bei dem das besiegte Volk einfach unabhängig weiterbesteht. Jetzt jedoch laßt mich von unseren Blumenkriegen sprechen, denn die scheinen euch weißen Männern allen unbegreiflich. »Wie ist es nur möglich gewesen«, habe ich euch fragen hören, »daß es zu so vielen durch nichts provozierten und völlig überflüssigen Kriegen zwischen befreundeten Völkern kommen konnte? Kriegen, bei denen keine Seite auch nur den Versuch machte, zu gewinnen?«
Ich will mich bemühen, das zu erklären.
Selbstverständlich war unseren Göttern jede Art von Krieg wohlgefällig. Jeder Krieger, der fiel, vergoß sein Lebensblut und brachte damit das kostbarste Opfer, das ein Mensch überhaupt darbringen kann. In einem Strafkrieg ging es stets um den entscheidenden Sieg; infolgedessen kämpften beide Seiten, um zu töten oder aber getötet zu werden. In einem solchen Krieg waren die Feinde, wie mein alter Waffenmeister es auszudrücken beliebte, Unkraut, das hingemäht werden mußte. Dabei wurden vergleichsweise wenige Gefangene gemacht, die man mit in die Heimat zurückbrachte, um sie später den Blumentod sterben zu lassen. Allerdings, ob ein Krieger auf dem Schlachtfeld starb oder auf dem Opferstein – in beiden Fällen galt sein Tod als Blumentod, ehrenvoll für ihn selbst und den Göttern wohlgefällig. Die einzige Schwierigkeit – falls ihr die Güte haben würdet, es einmal vom Standpunkt der Götter aus zu betrachten – bestand jedoch darin, daß solche Strafkriege nicht häufig genug geführt wurden. Wiewohl dabei viel Blut floß, das den Göttern als Speise diente, und viele Krieger in die Gegenwelt eingingen, wo sie den Göttern dienten, kam es nur hin und wieder zu solchen Kriegen. Es konnte geschehen, daß die Götter viele Jahre hindurch warten und Hunger und Durst leiden mußten. Das jedoch mißfiel ihnen, und im Jahre Ein Kaninchen sorgten sie dafür, daß wir es zu spüren bekamen.
Das war etwa zwölf Jahre vor meiner Geburt, aber mein Vater erinnerte sich sehr lebhaft daran und erzählte uns häufig kopfschüttelnd davon. In jenem Jahr schickten die Götter unserer Hochebene die bitterste Winterkälte, die wir je erlebt hatten. Abgesehen von der schneidenden Kälte und den eisigen Winden, denen viel zu früh viele kleine Kinder, sieche ältere Leute und unsere Haustiere, ja, sogar die Tiere auf freier Wildbahn zum Opfer fielen, schneite es auch noch sechs Tage hindurch ununterbrochen, was unsere ganze Wintersaat vernichtete. Geheimnisvolle Lichterscheinungen wurden am Himmel sichtbar; wabernde Streifen aus kaltfarbenem Licht, welche mein Vater folgendermaßen beschrieb: „Das sind die Götter, die unheilverkündend über den Himmel schreiten, wobei nichts von ihnen zu sehen ist außer ihren Umhängen aus weißen, grünen und blauen Reiherfedern.«
Doch das war erst der Anfang. Der Frühling setzte nicht nur der Kälte ein Ende, sondern brachte auch noch sengende Hitze; die Regenzeit kam, aber sie brachte keinen Regen; die Trockenheit vernichtete Ernten und Tiere genauso, wie es zuvor der Schnee getan. Doch damit nicht genug. Die folgenden Jahre waren genauso erbarmungslos, denn Hitze und Kälte und Trockenheit wechselten einander ab. In der bitteren Kälte froren unsere Seen zu; in der Trockenzeit schrumpften sie, das Wasser wurde lauwarm und reicherte sich mit Bittersalz an, so daß die Fische starben, mit blinkendem Bauch oben auf dem Wasser trieben und die Luft mit einem pestilenzialischen Gestank erfüllten.
Das ging fünf oder sechs Jahre hindurch so; die älteren Leute in meiner Jugend sprachen davon als von den Harten Zeiten. Yya, ayya, böse Zeiten müssen das wahrhaftig gewesen sein, denn unserem Volk, unseren stolzen und aufrechten Macehuáltin, blieb oft nichts anderes übrig, als sich in die Sklaverei zu verkaufen. Denn, wie ihr wissen müßt, andere Völker außerhalb unserer Hochebene im südlichen Bergland und in den heißen Zonen an der Küste wurden von dieser Klimakatastrophe nicht betroffen. Sie boten uns einen Teil ihrer immer noch üppigen Ernten zum Tausch an, doch geschah das nicht aus Großherzigkeit; nein, sie wußten sehr wohl, daß wir kaum etwas anderes dagegen eintauschen konnten als uns selbst. Diese anderen Völker, zumal jene, die tief unter uns standen und uns feindselig gesonnen waren, waren nur allzu froh, »diese großspurigen Mexíca« als Sklaven zu kaufen und uns obendrein auch noch dadurch zu demütigen, daß sie grausam niedrige und erbärmliche Preise für sie zahlten.
Der gängige Preis für einen Mann im arbeitsfähigen Alter betrug fünfhundert Maiskolben und für eine Frau, die noch Kinder bekommen konnte, vierhundert. Besaß eine Familie ein verkäufliches Kind, gleichgültig, ob Knabe oder Mädchen, so gab sie es her, auf daß vom Erlös der Rest der Familie essen könne. Besaß eine Familie nur kleine Kinder, verkaufte sich der Vater. Aber wie lange konnte eine Familie sich schon von vier- oder fünfhundert Maiskolben ernähren? Und wenn diese verzehrt waren – was oder wer blieb dann noch, es zu verkaufen? Selbst wenn die Guten Zeiten unversehens wiederkommen sollten – wie sollte eine Familie ohne die Arbeit des Vaters überleben? Aber die Guten Zeiten kamen nicht wieder …
All dies geschah unter der Regierung des Ersten Motecuzóma, der in dem Versuch, die Not seines Volkes zu lindern, sowohl die Schatzkammern des Volkes als auch seine eigenen leerte und hinterher auch noch die Bestände sämtlicher Lagerhäuser und Kornspeicher verteilen ließ. Nachdem alles, was man hatte zurücklegen können, aufgezehrt und überhaupt alles vergangen war bis auf die Harten Zeiten, beriefen Motecuzóma und seine Weibliche Schlange den Staatsrat ein und luden sogar noch sämtliche Seher und Wahrsager hinzu, ob sie einen Rat wüßten. Ich kann es zwar nicht beschwören, aber die Ratssitzung soll folgendermaßen verlaufen sein:
Ein altehrwürdiger Zauberer, der Monate damit zugebracht hatte, die Zukunft aus geworfenen Knöcheln herauszulesen und die Heiligen Bücher zu befragen, berichtete feierlich: »Hoher Gebieter, die Götter haben uns mit Hunger geschlagen, um uns vor Augen zu führen, daß sie hungern. Seit unserem letzten Einfall in Texcála hat es keinen Krieg mehr gegeben, und das war im Jahre Neun Haus. Seit jener Zeit haben wir den Göttern nur kümmerliche Blutopfer dargebracht – ein paar Gefangene, die wir zu diesem Zwecke aufgespart hatten, gelegentlich ein Gesetzesübertreter und hin und wieder ein Jüngling oder eine Jungfrau. Die Götter verlangen ganz offensichtlich mehr Nahrung.«
»Wieder einen Krieg führen?« sann Motecuzóma. »Selbst unsere tapfersten Krieger sind so schwach, daß sie nicht einmal bis an die Grenze des Feindes marschieren könnten, ganz davon zu schweigen, diese etwa zu überwinden.«
»Gewiß, Verehrter Sprecher. Aber es gibt eine Möglichkeit, zu einem Massenopfer zu kommen …«
»Sollen wir unsere Leute hinschlachten, ehe sie verhungern?« fragte Motecuzóma ingrimmig. »Sie sind so ausgemergelt und vertrocknet, daß das ganze Volk noch nicht einmal einen Becher Blut hergeben würde.«
»Gewiß, Verehrter Sprecher … Überdies wäre das eine so armselige Geste, daß die Götter sie vermutlich noch nicht einmal annehmen würden. Nein, Hoher Gebieter, was wir brauchen, ist ein Krieg, freilich eine andere Art von Krieg . . .«
Das – so hat man mir berichtet, und das glaube ich auch – war der Beginn der Blumenkriege, und auf folgende Weise wurde der erste in die Wege geleitet:
Die mächtigsten und zugleich am zentralsten gelegenen Mächte in diesem Tal bildeten einen Dreibund: Wir Mexíca mit unserer Hauptstadt auf der Insel Tenochtítlan, die Acólhua mit ihrer am östlichen Gestade des Texcóco-Sees gelegenen Hauptstadt gleichen Namens und die Tecpanéca mit ihrer Hauptstadt Tlácopan am Westufer. Im Südosten saßen drei weniger mächtige Völker: die Texcaltéca, von denen ich bereits gesprochen habe, mit ihrer Hauptstadt Texcàla, die Huéxotin mit ihrer Hauptstadt Huexotzinco und die einst mächtigen Tya Nuü – oder Mixtéca, wie wir sie nannten –, deren Reich so geschrumpft war, daß es praktisch aus kaum mehr als der Hauptstadt Cholólan bestand. Erstere waren, wie ich schon gesagt habe, unsere Feinde; letztere waren uns seit langer, langer Zeit tributpflichtig und – ob es ihnen nun gefiel oder nicht – gelegentlich auch unsere Verbündeten. Alle drei Völker wurden jedoch genauso wie unsere drei Völker von den Harten Zeiten heimgesucht.
Nachdem Motecuzóma sich mit seinem Staatsrat besprochen hatte, beratschlagte er auch mit den Herrschern von Texcóco und Tlácopan. Alle drei gemeinsam unterbreiteten den drei Herrschern in den Städten Texcàla, Chólan und Huexotzinco einen Vorschlag, den sie gemeinsam entwarfen und gemeinsam abschickten. In den Grundzügen lief dieser Vorschlag auf folgendes hinaus:
»Laßt uns alle Krieg führen, damit wir alle überleben. Wir sind verschiedene Völker, leiden aber gemeinsam unter den Harten Zeiten. Die weisen Männer sagen, daß es für uns nur eine Hoffnung gibt, um weiter fortzubestehen: die Götter durch Blutopfer zu sättigen und zu beschwichtigen. Deshalb schlagen wir vor, daß die Heere unserer drei Völker auf der neutralen Ebene von Acatzinco, welche in sicherer Entfernung von allen unseren Ländern im Südosten liegt, gegen die Heere eurer drei Völker zum Kampf antreten. Beim Kampf soll es weder um Land noch um Herrschaft, noch um Töten gehen, und auch nicht um Plündern, sondern ausschließlich darum, Gefangene in die Hand zu bekommen, denen der Blumentod gewährt werden soll. Wenn alle am Kampf teilnehmenden Streitkräfte eine genügende Anzahl von Gefangenen gemacht haben, um sie ihren verschiedenen Göttern zum Opfer zu bringen, wird das gemeinsam allen Oberkommandierenden bekanntgegeben und der Kampf abgebrochen.«
Mit diesem Vorschlag, von dem ihr Spanier behauptet, ihr fändet ihn unglaublich, waren alle Beteiligten einverstanden – die Krieger nicht ausgenommen, die ihr »hirnverbrannt selbstmörderisch« geheißen habt, weil sie aus keinem anderen ersichtlichen Grund gegeneinander kämpften, als – was außerordentlich wahrscheinlich war – ihr eigenes Leben bald zu beenden. Nun, sagt mir, welcher von euren wohl ausgebildeten Soldaten würde einen Vorwand zum Kämpfen ungenutzt verstreichen lassen und statt dessen lieber langweiligen Friedensdienst in der Garnison machen? Unsere Krieger hatten immerhin den Ansporn zu wissen, daß sie des Dankes aller gewiß sein konnten, wenn sie im Kampf oder auf einem fremden Altar ihr Leben ließen; daß sie etwas den Göttern Wohlgefälliges taten und für sich selbst das Göttergeschenk eines Lebens in einer seligen Gegenwelt errangen. Da in diesen Harten Zeiten so viele einen unrühmlichen Hungertod starben, hatte ein Mann nur um so mehr Grund, lieber durchs Schwert oder durchs Opfermesser zu sterben.
So wurde diese erste Schlacht geplant und auch wie geplant geschlagen – wiewohl die Ebene von Acatzinco von überallher nur durch einen langen und beschwerlichen Marsch zu erreichen war, so daß alle sechs Heere sich einen oder zwei Tage ausruhen mußten, ehe das Signal zum Beginn der Feindseligkeiten gegeben werden konnte. Entgegen jeder Absicht fiel doch eine ansehnliche Zahl von Kriegern; manche unabsichtlich, durch Zufall und durch Unglücksfälle; manche auch, weil sie oder ihre Gegner allzu begeistert bei der Sache waren. Für einen Krieger, dessen Geschäft das Töten ist, ist es schwierig, sich zurückzuhalten und nicht zu töten. Aber die meisten hielten sich an die allgemeine Vereinbarung, nur mit der stumpfen Seite des Maquáhuitl zuzuschlagen und nicht mit der Obsidianschneide. Die auf diese Weise benommen gemachten Krieger wurden nicht von den Garausmachern erledigt, sondern von den Feßlern rasch gefesselt. Schon nach zwei Tagen kamen die Priester, welche ein jedes Heer begleiteten, zu dem Schluß, nun seien genug Gefangene gemacht worden, um sie und ihre Götter zufriedenzustellen. Einer nach dem anderen entrollten die sechs Oberkommandierenden die Banner, auf die man sich vorher geeinigt hatte; die Knäuel der noch miteinander Kämpfenden auf der Ebene entwirrten sich, die sechs Heere sammelten sich und marschierten müde und abgekämpft mit ihren womöglich noch müderen und abgekämpfteren Gefangenen nach Hause.
Der erste noch zaghafte Blumenkrieg fand im Hochsommer – für gewöhnlich auch der Höhepunkt der Regenzeit – statt, doch herrschte in diesen Harten Zeiten wieder eine nicht enden wollende Trockenheit. Und noch etwas war von den sechs Herrschern der sechs Völker vereinbart worden: daß sämtliche Gefangenen in ihren sechs Hauptstädten an ein und demselben Tag geopfert werden sollten. Niemand erinnert sich an die genaue Zahl, aber ich nehme an, daß an diesem Tag etliche tausend Männer in Tenochtítlan, Texcóco, Tlàcopan, Texcála, Cholólan und Huexotzinco den Tod fanden. Ihr mögt es einen Zufall nennen, ehrwürdige Patres, denn der Herrgott hatte selbstverständlich nichts mit alledem zu tun, aber an diesem Tag brachen die Wolkentonnen endlich auseinander, Regen ergoß sich über die gesamte Hochebene, und die Harten Zeiten waren vorüber.
An diesem selben Tag konnten viele Menschen in den sechs Städten sich zum erstenmal seit Jahren den Bauch vollschlagen, indem sie sich über die Überreste der geopferten Xochimique hermachten. Die Götter waren es zufrieden, nur mit den herausgerissenen Herzen gespeist zu werden, die sich auf den Altären häuften; für das, was von den Geopferten übrigblieb, hatten sie keinerlei Verwendung, wohl aber die Menschen, die sich versammelt hatten. Als daher die noch warmen Leichen der Xochimique die steilen Treppen all der Pyramiden heruntergerollt kamen, zerlegten die Fleischzerteiler sie in ihre eßbaren Teile und verteilten diese unter den begierig auf den Tempelplätzen Wartenden.
Die Schädel wurden aufgebrochen und das Hirn herausgeholt, Arme und Beine wurden in handliche Teile zerlegt, Geschlechtsteile und Hinterbacken abgetrennt und Leber und Nieren herausgeschnitten. Diese Fleischportionen wurden nicht einfach einer geifernden Menge vorgeworfen; vielmehr wurden sie mit bewundernswerter Zucht verteilt, und die Bevölkerung wartete mit nicht minder bewundernswerter Zurückhaltung. Es lag auf der Hand, daß die Hirne den Priestern und Weisen vorbehalten blieben, die muskulösen Arme und Beine den Kriegern und die Geschlechtsteile den jungen Ehepaaren; die weniger wichtigen Hinterteile und Innereien wurden an Schwangere, stillende Mütter und Familien mit vielen Kindern verteilt. Was übrigblieb, wie Köpfe, Hände, Füße und Brustkörbe – Teile, die mehr Knochen enthielten als Fleisch –, wurde beiseitegelegt, um später damit das Ackerland zu düngen.
Möglich, daß dieses Festmahl mit frischem Fleisch von denen, welche den Blumenkrieg geplant hatten, als zusätzlicher Vorteil vorhergesehen worden war, vielleicht aber auch nicht, ich weiß es nicht. Die verschiedenen Völker in diesem Land hatten schon vor langer Zeit jedes wilde Tier aufgegessen, das es noch gegeben hatte, jeden gezähmten Vogel und jeden Hund, der hatte gemästet werden sollen. Sie hatten sich an Eidechsen, Insekten und Kakteen gütlich getan. Niemals jedoch hatten sie ihre Verwandten oder Nachbarn angerührt, die den Harten Zeiten zum Opfer gefallen waren. Vielleicht könnte man es als unvernünftige Verschwendung verfügbarer Nahrung betrachten – aber in allen Völkern hatten die Hungernden ihre verhungerten Mitmenschen entweder der Erde oder dem Feuer überantwortet, wie es bei ihnen Sitte war. Jetzt verfügten sie jedoch dank des Blumenkrieges über eine Fülle von Leichen, die nicht mit ihnen verwandt, sondern ihre Feinde waren – selbst wenn man sie nur dann als Feinde bezeichnen konnte, wenn man den Sinn dieses Wortes übertrieb – und deshalb machten sie sich kein Gewissen daraus, sie zu verspeisen.
Im Gefolge späterer Kriege sollte es nie wieder zu einer solchen Schlächterei und Schlingerei kommen. Es gab aber auch nie wieder einen solchen Heißhunger aller zu stillen, und deshalb stellten die Priester Regeln und Rituale auf, um den Verzehr von Gefangenenfleisch in eine bestimmte rituelle Form zu bringen. Die siegreichen Teilnehmer späterer Kriege nahmen nur zum Schein einen Bissen von den muskulösen Teilen ihrer toten Feinde zu sich und das im Verlauf einer genau festgelegten Zeremonie. Alles andere Menschenfleisch wurde an die wirklich Armen ausgeteilt – was für gewöhnlich die Sklaven bedeutete – oder an die Tiere in jenen Städten verfüttert, die wie Tenochtítlan einen öffentlichen Tierzwinger unterhielten.
Menschenfleisch ergibt wie fast jedes andere Fleisch – sofern es genügend abgehangen, gewürzt und richtig zubereitet – ein schmackhaftes Mahl und kann durchaus als Nahrung dienen, wenn kein anderes Fleisch da ist. Doch, genauso, wie nachgewiesen werden kann, daß die Heirat von engen Verwandten unter unseren adeligen Familien nicht zu überlegener Nachkommenschaft führt, sondern oft vielmehr zum Gegenteil, meine ich, ließe sich gleichfalls genauso nachweisen, daß Menschen, die sich ausschließlich von Menschen ernähren, zu einem ähnlichen Niedergang verurteilt sind. Wenn das Blut einer Familie sich am besten dadurch verbessern läßt, daß außerhalb der engeren Verwandtschaft geheiratet wird, wird das Blut eines Menschen am besten dadurch gekräftigt, daß er andere Tiere verzehrt. So wurde, nachdem die Harten Zeiten vorübergingen, die Gepflogenheit, die erschlagenen Xochimique zu verspeisen, für alle – mit Ausnahme der verzweifelten und heruntergekommenen Armen
– zu nichts weiter als einer weiteren religiösen Übung – und einer von minderer Bedeutung dazu.
Aber dieser erste Blumenkrieg erwies sich – ob das nun Zufall war oder nicht – als ein solcher Erfolg, daß dieselben sechs Völker auch weiterhin in regelmäßigen Abständen einen solchen Krieg gegeneinander führten, um sich vor einem künftigen Unmut der Götter zu schützen und es nicht noch einmal zu so Harten Zeiten kommen zu lassen. Allerdings waren wir Mexíca kaum darauf angewiesen, zu dieser List Zuflucht zu nehmen, denn Motecuzòma und die Verehrten Sprecher, die ihm nachfolgten, ließen nie wieder Jahre zwischen richtigen Kriegen verstreichen. Es gab fürderhin selten Zeiten, da wir kein Heer im Felde stehen hatten, das den Bereich der uns Tributpflichtigen immer weiter ausdehnte. Doch die Acólhua und Tecpanéca, welche in dieser Hinsicht kaum irgendwelchen Ehrgeiz entwickelten, waren weiterhin auf die Blumenkriege angewiesen, um sich mit Opfern zu versorgen, die den Blumentod für die Götter starben. Und da Tenochtítlan nun einmal den Anstoß zu dieser Gepflogenheit gegeben hatte, erklärte es sich bereitwillig einverstanden, weiterhin mitzumachen; der Dreibund gegen die Texcaltéca, Mixtéca und Huéxotin.
Für die Krieger spielte das keine Rolle. Ob Strafkrieg oder Blumenkrieg – jeder Mann hatte gleichermaßen die Chance, darin den Tod zu finden. Außerdem hatte er dadurch Gelegenheit, sich als Held hervorzutun oder in einen der Ritterorden aufgenommen zu werden, gleichgültig, ob er nun auf irgendeinem umkämpften Feld eine große Anzahl von Feinden tot zurückließ oder von der Ebene von Acatzinco eine bemerkenswerte Anzahl Gefangener lebendig mit nach Hause brachte.
»Denn eines mußt du wissen, Umnebelt«, sagte Waffenmeister Blut Schwelger an jenem Tag, von dem ich gesprochen habe, »kein Krieger, ob in einem richtigen Krieg oder einem Blumenkrieg, sollte jemals erwarten, zu den Gefallenen oder Gefangengenommenen zu gehören. Er sollte vielmehr sein ganzes Trachten darauf richten, den Krieg zu überleben und als Held daraus hervorzugehen. Ach, ich will nicht heucheln, mein Junge. Jawohl, er kann durchaus sterben, während er noch gebannt versucht, letzterer Erwartung gerecht zu werden. Aber wenn er in die Schlacht zieht, ohne die selbstverständliche Erwartung, daß seine Seite den Sieg davontragen und er selbst Ruhm erringen wird, fällt er ganz bestimmt.«
Ohne kleinmütig erscheinen zu wollen, versuchte ich ihm klarzumachen, daß ich keineswegs Angst vorm Sterben hätte, allerdings auch nicht besonders erpicht darauf war zu sterben. In welcher Art von Krieg auch immer, offenbar war mir nichts Höheres bestimmt, als Garausmacher oder Feßler zu werden. Und eine solche Aufgabe, so bedeutete ich ihm, könne ebensogut Frauen übertragen werden. Ob ich den Mexíca, ja, der ganzen Menschheit, keinen größeren Dienst erwiese, wenn man mir gestatte, meine anderen Gaben zum Tragen zu bringen?
»Was für andere Gaben?« knurrte Blut Schwelger.
Diese Frage warf mich für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht. Dann meinte ich, wenn ich es zum Beispiel schaffte, die Kunst der Bilderschrift zu meistern, könne ich das Heer als Schlachtenbeschreiber begleiten. Dann würde ich ein wenig abseits, vielleicht auf einem alles überragenden, einen guten Überblick gewährenden Hügel sitzen und zur Erbauung späterer Oberkommandierender eine Beschreibung der in jeder Schlacht befolgten Art der Kriegführung, des taktischen Vorgehens und des Schlachtverlaufs überhaupt anfertigen.
Erzürnt sah der alte Haudegen mich an. »Erst willst du mir weismachen, du kannst nicht weit genug sehen, um einem Gegner im Nahkampf gegenüberzutreten. Und jetzt behauptest du, du willst das ganze verworrene Kampfesgetümmel zweier aufeinanderprallender Heere überblicken! Umnebelt wenn du versuchen willst, von den Waffenübungen dieser Schule freigestellt zu werden, spare dir deine Worte, Ich könnte dich nicht einmal freistellen, wenn ich es wollte. In deinem besonderen Falle ist mir eine Verpflichtung abgenommen worden.«
»Eine Verpflichtung?« wiederholte ich wie vor den Kopf geschlagen. »Eine Verpflichtung – von wem, Waffenmeister?«
Er legte die Stirn in Falten, gleichsam als wäre ihm etwas herausgefahren, was er nicht hatte sagen wollen, und dann knurrte er: »Eine Verpflichtung, die ich mir selbst auferlegt habe. Ich bin der aufrichtigen Überzeugung, daß jeder Mann einmal in seinem Leben einen Krieg oder wenigstens eine Schlacht mitgemacht haben muß. Denn, wenn er mit dem Leben davonkommt, wird er den Rest seines Lebens um so mehr auskosten und dankbar dafür sein. Aber genug jetzt! Ich erwarte, daß du dich morgen um die Dämmerstunde genauso auf dem Übungsfeld einfindest wie sonst.«
So kehrte ich denn nach Hause zurück und nahm in den Tagen und Monaten, die folgten, weiter an der Kampfausbildung und dem Unterricht teil. Zwar wußte ich immer noch nicht, was die Zukunft für mich bereithielt, doch eines wußte ich. Wenn es mir bestimmt war, irgendeine mir nicht genehme Aufgabe zu erfüllen, gab es nur zwei Möglichkeiten, dem zu entgehen: mich dazu entweder als unfähig oder aber als zu gut dafür zu erweisen. Und gute Schreiber wurden jedenfalls nicht zu Schilfrohren gemacht, welche die Schärfe des Obsidian niedermähte. Das ist der Grund, warum ich – wenngleich ich klaglos weiterhin das Haus der Leibesstärkung und das Haus des Manierenlernens besuchte – insgeheim und für mich fieberhaft und mit aller Intensität daran weiterarbeitete, Rätsel und Geheimnisse der Kunst der Wortkunde zu lösen.
Ich würde die Geste des Erdeküssens vollführen, Euer Exzellenz, wenn das heute noch der Brauch wäre. Statt dessen strecke ich meine alten Knochen und erhebe mich wie Eure Mönche, um Euer Eintreten zu ehren.
Ich betrachte es als eine Ehre, daß Euer Exzellenz unseren kleinen Kreis wieder mit Eurer Gegenwart beehren und von Euch zu hören, daß Ihr die gesammelten Seiten meiner Geschichte bis hierher überprüft und Euch zu Gemüte geführt habt. Allerdings stellen Euer Exzellenz bohrende Fragen in Hinblick auf bestimmte darin erwähnte Ereignisse, und ich muß gestehen, daß diese Fragen mich vor Verlegenheit, ja, sogar mit einer gewissen Scham die Lider senken lassen.
Jawohl, Euer Exzellenz, meine Schwester und ich fuhren während dieser Jahre des Heranwachsens, von denen ich vor kurzem gesprochen habe, fort, uns gegenseitig zu beglücken. Und jawohl, ich weiß, daß wir damit gesündigt haben, Euer Exzellenz.
Tzitzitlíni war sich vermutlich von Anfang an im klaren darüber gewesen, ich war jedoch jünger als sie, und so ging mir erst nach und nach auf, daß das, was wir taten, unrecht war. Im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß unsere Frauen immer mehr von den Geheimnissen des Geschlechts und auch früher davon wußten als die Männer.
Vermutlich ist das bei den Frauen aller Rassen so, eure nicht ausgenommen. Denn von klein auf scheint es ihnen ein tiefes Bedürfnis zu sein, untereinander zu tuscheln und die Geheimnisse auszutauschen, die sie über ihren Körper sowie den Körper des Mannes in Erfahrung bringen – und sich darüber hinaus auch mit alten Witwen und überhaupt alten Frauen zusammenzutun, die – vielleicht, weil ihr eigenes Feuer erloschen ist – nichts mehr genießen, als junge Mädchen mit Lust und bisweilen auch nicht ganz ohne Bosheit in weibliche Listen, Tücken und Irreführungen einzuweihen.
Ich bedaure aufrichtig, daß ich selbst heute noch nicht genug über meine neue christliche Religion weiß, um alle zu diesem Bereich gehörigen Regeln und Vorschriften zu kennen, wenngleich ich vermute, daß sie durchgehend jeden Ausdruck des Geschlechtlichen – mit der einen Ausnahme der gelegentlichen Paarung zwischen einem christlichen Ehemann und seiner christlichen Gattin zum Zwecke der Zeugung eines christlichen Kindes – mit Mißtrauen und Stirnrunzeln betrachtet. Aber selbst wir Heiden haben hinsichtlich anerkannten geschlechtlichen Verhaltens einige Gesetze und eine ganze Menge Tradition beachtet.
Ein Mädchen mußte bis zu seiner Heirat Jungfrau bleiben. Außerdem ermunterte man sie, nicht jung zu heiraten, denn unsere Religion berücksichtigte durchaus den Umstand, daß unser Lebensraum und die Dinge, welche die Natur uns bot, um leben zu können, bald zu eng und erschöpft sein würden, wenn jede Generation mehr als eine vernünftige Zahl von Kindern in die Welt setzte. Außerdem brauchte ein Mädchen nicht unbedingt zu heiraten, sondern konnte in die Reihen der Auyaníme eintreten, deren Dienst an unseren Soldaten als durchaus angesehener, wo nicht gar als ein besonders ehrenvoller weiblicher Beruf galt. Kam sie für die Ehe nicht in Frage, weil sie häßlich oder irgendwie sonst zu kurz gekommen war, konnte sie eine Maátitl werden, sich um Bezahlung Männern hingeben und, wie wir es nannten, »rittlings auf die Straße gehen«. Es gab auch einige Mädchen, welche ihre Jungfräulichkeit bewahrten, um die Ehre zu erringen, in einer Zeremonie, zu der eine Jungfrau gehörte, sich als Opfer darbieten zu können; und andere, damit sie ihr Leben lang wie eure Nonnen den Tempelpriestern dienen könnten – wiewohl viel darüber geredet wurde, welcher Art dieser Dienst wohl sei und wie lange diese Jungfräulichkeit anhalte.
Von unseren Männern wurde Keuschheit vor der Ehe nicht im gleichem Maß erwartet. Immerhin standen ihnen jederzeit die Maátime und die Sklavenfrauen zur Verfügung, ob letztere nun wollten oder nicht; außerdem läßt sich die Jungfräulichkeit beim Mann genausowenig beweisen wie das Gegenteil. Bei den Frauen übrigens auch nicht, wie ich euch im Vertrauen sagen möchte – so wie Tzitzi es mir im Vertrauen sagte –, sofern sie Zeit haben, sich auf die Hochzeitsnacht vorzubereiten. Es gibt alte Frauen, die Tauben hielten, welche sie mit den dunkelroten Samenkörnern einiger nur ihnen bekannter Pflanzen fütterten; die Eier dieser Tauben verkauften sie an Möchtegern-Jungfrauen. Ein Taubenei ist so klein, daß es sich mit Leichtigkeit tief im Inneren einer Frau verbergen läßt, und seine Schale ist so zerbrechlich, daß ein erregter junger Ehemann sie zerbricht, ohne etwas davon zu merken; das Eigelb dieser besonderen Tauben hat genau die gleiche Farbe wie das Blut. Des weiteren verkaufen die alten Weiber den jungen Frauen eine Salbe, welche aus einer Beere bereitet wird, die ihr Kreuzdorn nennt und die auch noch die erschlaffteste und geweitetste Öffnung zu jungfräulicher Straffheit zusammenzieht …
Wie Ihr befehlt, Euer Exzellenz, ich werde mich bemühen, von gewissen Einzelheiten Abstand zu nehmen.
Ein Verbrechen wie Notzucht kam bei uns nur selten vor, und zwar aus drei Gründen, Erstens war es fast unmöglich zu begehen, ohne dabei erwischt zu werden, da alle unsere Gemeinwesen so klein waren, daß jeder jeden kannte und Fremde ganz besonders auffielen. Zweitens war es ein höchst überflüssiges Vergehen, da Maátime und Sklavinnen in großer Anzahl zur Verfügung standen, um die dringendsten Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen. Und drittens wurde Notzucht mit dem Tode bestraft. Das galt übrigens auch für Ehebruch und für Cuilónyotl, den Verkehr zwischen Mann und Mann – sowie für Patlachúia – den Verkehr zwischen Frau und Frau. Diese Verbrechen kamen vermutlich gar nicht so selten vor, kamen jedoch kaum je ans Tageslicht, es sei denn, die Betreffenden wurden dabei ertappt. Im übrigen entziehen solche Sünden sich dem Nachweis genauso wie die Jungfräulichkeit.
Ich möchte mit allem Nachdruck sagen, daß ich hier nur von jenen Gepflogenheiten spreche, die bei uns Mexíca als strafwürdig, verboten waren und auf jeden Fall zu meiden galten. Bis auf einige Freiheiten und Bekundungen, die während mancher unserer Fruchtbarkeitsriten erlaubt waren, ging es bei uns Mexíca im Vergleich zu so vielen anderen Völkern recht streng zu. So erinnere ich mich, daß ich mich – als ich zum erstenmal zu den weit im Süden lebenden Maya reiste – beim Anblick einiger Tempel recht vor den Kopf gestoßen fühlte, deren Regenspeier die Gestalt männlicher Tepúlis aufwiesen und während der Regenzeit unablässig ihr Wasser abschlugen.
Die Huaxtéca, die im Nordosten am Ufer des Ost-Meeres leben, beweisen in geschlechtlicher Hinsicht ein besonders derbes Verhalten. Ich habe dort aus Stein gehauene Tempelfriese mit Darstellungen der vielen Stellungen gesehen, die Mann und Frau einnehmen können. Jeder Huaxtécatl-Mann mit einem überdurchschnittlichen Tepúli pflegte damals auch in der Öffentlichkeit und beim Besuch irgendwelcher zivilisierteren Stätten ohne jedes Schamtuch umherzugehen. Durch dieses prahlerische Herumstolzieren gelangten die Huaxtéca-Männer in den Geruch unbändiger Virilitat – ob verdienter- oder unverdientermaßen, vermag ich nicht zu sagen. Allerdings, wenn gelegentlich gefangengenommene Huaxtéca-Krieger auf dem Sklavenmarkt zum Verkauf kamen, habe ich des öfteren beobachtet, wie unsere adligen Mexíca-Frauen – verschleiert und sich am Rand der Menge haltend – ihren Dienern Zeichen gaben, für diesen oder jenen Huaxtécatl auf dem Verkaufsblock ein Gebot abzugeben.
Die in Michihuàcan lebenden Purémcheca westlich von hier sind die in Sachen Geschlechtsleben laxesten und nachsichtigsten von allen. So wird zum Beispiel der Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Mann nicht nur nicht geahndet, sondern wird verziehen und akzeptiert. Er ist sogar in ihre Bilderschrift eingegangen. Vielleicht wißt ihr, daß das Zeichen für die Tipili einer Frau die Schneckenschale ist? Nun, wenn es darum geht, den Verkehr von zwei Männern untereinander auszudrücken, zeichneten die Purémcheca schamlos das Bild eines nackten Mannes, dessen Organ von einer Schneckenhausschale verdeckt wird.
Was nun den Verkehr zwischen meiner Schwester und mir betrifft – Inzest ist das Wort, das ihr dafür gebraucht? – jawohl, Euer Exzellenz, ich glaube, der war bei allen bekannten Völkern verpönt. Und Ihr habt recht, wir riskierten den Tod, wenn man uns erwischte. Für die Paarung zwischen Bruder und Schwester, Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Onkel und Nichte und so weiter sah das Gesetz besonders schauerliche Formen der Hinrichtung vor. Freilich galt dieses Gebot nur für uns Macehuáltin, die Gemeinfreien, also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Wie ich schon zuvor bemerkt habe, gab es Adelsgeschlechter, die dadurch, daß sie ausschließlich nahe Verwandte heirateten, danach trachteten, das zu erhalten, was sie die »Reinheit des Blutes« nannten; es ist jedoch nie bewiesen worden, daß die aus solchen Ehen stammende Nachkommenschaft sich je besonders hervorgetan oder etwas Besonderes geleistet hätte. Und was sich in der Masse der Sklaven abspielte – Notzucht, Inzest, Ehebruch, was ihr wollt-, so nahmen selbstverständlich weder das Gesetz noch die Tradition, noch die Menschen ganz allgemein irgendwelche Notiz davon.
Aber Ihr fragt, wie meine Schwester und ich während der langen Zeit, da wir der Sünde frönten, der Entdeckung entgingen. Nun, da wir wegen weit geringerer Vergehen schon so hart von unserer Mutter gezüchtigt worden waren, hatten wir beide gelernt, in all diesen Dingen außerordentlich vorsichtig zu sein. Es kam die Zeit, da ich mondelang von Xaltocan fort war; dann sehnte ich mich schmerzlich nach Tzitzitlíni und sie sich nach mir. Kam ich dann jedoch heim, gab ich ihr nur einen kühlen brüderlichen Kuß auf die Wange, setzten wir uns nicht nebeneinander und verbargen den Aufruhr, der in uns tobte, solange ich unseren Eltern und den stets auf Neuigkeiten brennenden Verwandten und Freunden von all den vielen Geschehnissen in der Welt außerhalb Xaltócans berichtete. Es konnten Tage vergehen, ehe Tzitzi und ich Gelegenheit fanden oder suchten, insgeheim und ohne Gefahr allein zusammen zu sein. Ah, aber dann: das hastige Entkleiden, die erregten Zärtlichkeiten, die erste Erlösung – als ob wir beide auf dem Hang unseres eigenen kleinen, geheimen und erwachenden Vulkans lägen – und später die gemächlicheren Liebkosungen und die nüchterneren und um so köstlicheren Entladungen …
Daß ich jedoch von der Insel abwesend war, dazu kam es erst später. Jedenfalls wurden meine Schwester und ich bis dahin nie beim Zusammensein überrascht. Selbstverständlich wären wir in allergrößte Schwierigkeiten geraten, hätten wir bei einer einzigen oder, wie die Christen, bei jeder Paarung ein Kind bekommen. Der Gedanke daran mag mir selber nie gekommen sein: Welcher Junge kann sich schon vorstellen, Vater zu sein? Aber Tzitzi war eine Frau und damit weiser in diesen Dingen. Infolgedessen hatte sie Vorsorge getroffen, nicht schwanger zu werden.
Jene alten Frauen, von denen ich vorhin gesprochen habe, verkauften unverheirateten jungen Mädchen in aller Heimlichkeit – so wie die Heilkundigen und Heilkräuterverkäufer ganz offen an jene verheirateten Paare, die nicht jedesmal ein Kind bekommen wollten, wenn sie miteinander ins Bett gingen – ein Pulver, das aus gemahlenem Tlatlaohuéhuetl gewonnen wird, wie die Süßkartoffel ein Knollengewächs, nur hundertmal größer; ihr nennt sie die Jalapa-Wunderblume. Eine Frau, die täglich ein wenig fein zerstoßener Wunderblumen-Knolle zu sich nimmt, läuft nicht Gefahr, schwanger zu werden.
Verzeiht, Euer Exzellenz, ich hatte keine Ahnung, etwas Gotteslästerliches zu sagen. Bitte, nehmt wieder Platz.
Ich muß freilich gestehen, daß ich persönlich sehr wohl Gefahr lief, entdeckt zu werden, selbst, wenn ich nicht in Tzitzis Nähe war. Während unserer abendlichen Unterweisung im Kriegshandwerk im Haus der Leibesstärkung wurden regelmäßig kleine Gruppen von sechs oder acht Jungen an abgelegene Plätze oder in Baumgruppen geschickt, wo wir vorgeblich »Wache hielten, um einen Überfall auf die Schule zu vereiteln«. Das war immer besonders langweilig, und so vertrieben wir uns die Zeit damit, daß wir mit Springbohnen Patóli spielten.
Doch dann – wer es war, weiß ich heute nicht mehr – entdeckte einer von den Jungen den »einsamen Akt«. Der Junge war dieserhalb weder verlegen, noch behielt er seine Entdeckung für sich, sondern führte uns anderen augenblicklich sein neu erlerntes Kunststück vor. Von da an vergaßen die Jungen die Springbohnen, wenn sie Wache hielten: sie trugen ihr Spielzeug immer bei sich. Denn darauf lief alles hinaus: auf ein Spiel. Wir veranstalteten Wettbewerbe und schlossen Wetten darüber ab, wer am meisten Omicetl herausspritzen und wie oft wir es hintereinander machen konnten. Es war wie in unseren noch jüngeren Tagen, da wir miteinander gewetteifert hatten, wer am weitesten spucken und sein Wasser abschlagen konnte. Doch bei diesem neuen Wettstreit war ich in Gefahr.
Denn seht, oft stieß ich zu diesen Spielen, nachdem ich mich kurz zuvor aus Tzitzis Umarmung gelöst hatte, und ihr könnt euch vorstellen, daß ich meinen Vorrat an Omicetl ziemlich verausgabt hatte, ganz zu schweigen von meiner Fähigkeit, mein Glied in die Höhe zu bekommen. Infolgedessen schaffte ich im Gegensatz zu meinen Kameraden bestenfalls ein paar wenige Tropfen, und manchmal wollte mein Tepúli überhaupt nicht steif werden. Eine Zeitlang buhten meine Freunde und machten sich lustig über mich, doch dann fingen sie an, mich mit besorgten, wenn nicht gar mitleidigen Blicken zu bedenken. Etliche von den mitleidigeren Jungen schlugen mir Heilmittel gegen meine Schwäche vor – sie meinten, ich sollte rohes Fleisch essen, ausgiebig im Schwitzbad sitzen und dergleichen. Meine beiden besten Freunde, Chimáli und Tlatli, waren dahintergekommen, daß sie es unvergleichlich viel aufregender fanden, wenn jeder das Tepúli des anderen bearbeitete, statt es selbst zu tun. Deshalb schlugen sie vor …
Unflat? Unzucht? Es beleidigt Eure Ohren, mich diese Dinge sagen zu hören? Es tut mir leid, wenn ich den Unmut Eurer Exzellenz errege – und euren, meine Herren Schreiber-, doch berichte ich von diesen Dingen nicht aus Geilheit. All das sollte sich später auf weit weniger belanglose Ereignisse auswirken, Dinge, die geradezu eine Folge hiervon waren. Wenn Ihr mir weiter zuhören wolltet?
Schließlich kamen einige der älteren Jungen auf die Idee, ihre Tepúltin dorthin zu stecken, wo sie hingehörten. Ein paar unserer Kameraden, darunter Pactli, der Sohn unseres Tecútli, machten sich auf, sich in dem unserer Schule zunächst gelegenen Dorf umzuschauen. Dort fanden sie eine Sklavin von einigen zwanzig, vielleicht aber auch schon dreißig Jahren, und machten sie uns dienstbar. Passenderweise hieß sie auch noch Teteo-Temacáliz, Göttergeschenk. Auf jeden Fall war sie ein Geschenk für die Wachtposten, welche sie fürderhin fast jeden Tag aufsuchte.
Pactli besaß die Autorität, ihr zu befehlen, sich einzufinden, doch glaube ich, es bedurfte eines solchen Befehls gar nicht. Sie erwies sich als äußerst willige, ja sogar eifrige Teilnehmerin an unseren sexuellen Spielen. Ayya, ich glaube, das arme Luder hatte seine eigenen Gründe dafür. Auf der Nase saß ihr eine komische Knolle, sie war ausgesprochen mollig und besaß ausladende Schenkel, und vermutlich hatte sie kaum Hoffnung, einen richtigen Mann zu finden, nicht einmal in ihrer eigenen Schicht derTlacótli. Folglich ergab sie sich ihrem neuen Gewerbe als Straßenmädchen mit hemmungsloser Lüsternheit.
Wie gesagt, mit großer Wahrscheinlichkeit hielten immer sechs bis acht Jungen im Freien Wache. Sobald Gottesgeschenk einem jeden zu Diensten gewesen war, pflegte der erste im allgemeinen wieder soweit zu sein, es von neuem zu tun, und so begann die Runde noch einmal. Ich bin sicher, Gottesgeschenk war so geil, daß es ihretwegen die ganze Nacht über hätte weitergehen können. Aber nach einiger Zeit war sie so voll von Omicetl, war sie dermaßen verschmiert und verschleimt und gab nachgerade einen Geruch von sich wie ein verwesender Fisch, daß die Jungen von sich aus Schluß machten und sie heimschickten.
Doch am nächsten Nachmittag war sie unweigerlich wieder zur Stelle, lag vollkommen nackt da, die Beine weit gespreizt und wartete keuchend darauf, daß es losging. Ich hatte mich an diesem Treiben nie beteiligt, sondern nur zugesehen, bis Pactli ihr eines Abends, nachdem er Göttergeschenks Dienste in Anspruch genommen, etwas zuflüsterte und sie dorthin kam, wo ich saß.
»Du bist Maulwurf«, sagte sie durchtrieben, »und Pactzin hat mir gesagt, du hast da Schwierigkeiten.« Sie vollführte aufreizende Bewegungen, ließ die schlaffen Tipli-Lippen unmittelbar vor meinem brennenden Gesicht kreisen.
»Vielleicht hätte dein Speer es ganz gern, statt in der eigenen Faust einmal in mir zu stecken.« Ich murmelte, ich hätte im Augenblick kein Bedürfnis danach, konnte jedoch nicht allzu heftig protestieren, da sechs oder sieben von meinen Kameraden herumstanden und über meine Verlegenheit feixten.
»Ayyo!« rief sie aus, als sie mit der Hand meinen Umhang hochhob und mir mein Schamtuch löste. »Du hast da ja etwas ganz Besonderes, junger Maulwurf!« Sie ließ ihn in ihrer Hand auf-und abhüpfen. »Selbst im Ruhezustand ist er ja noch größer als die Tepúli aller älteren Jungen. Größer selbst als der des edlen Pactzin.« Meine Kameraden lachten und stießen sich in die Seite. Ich hütete mich, Rot Reihers hochgeborenen Sohn anzublicken, wußte aber ganz genau, daß Göttergeschenk mir soeben jemand zum Feind gemacht hatte.
»Ein gütiger Macehuáli wird doch einer demütigen Tlacótli bestimmt kein Vergnügen verweigern«, sagte sie. »Laß mich meinem Krieger eine Waffe geben.« Damit nahm sie mein Glied zwischen ihre großen weichen Brüste, drückte sie mit einem Arm zusammen und fing an, mich mit ihnen zu massieren. Nichts geschah. Dann machte sie noch andere Dinge mit mir und ließ mir eine Behandlung angedeihen, welche sie nicht einmal Pactli hatte zuteil werden lassen. Mit rotübergossenem Gesicht und wütender Miene drehte er sich um und stolzierte davon. Immer noch geschah nichts, wiewohl sie sogar …
Jawohl, jawohl, ich beeile mich schon, diese Episode zu Ende zu bringen.
Verärgert gab Göttergeschenk ihre Bemühungen schließlich auf. Sie klatschte mir mein Tepúli gegen den Bauch und meinte frech: »Zweifellos hebt dieser eingebildete Neu-Krieger seine Jungfräulichkeit für eine Frau seiner eigenen Schicht auf.« Sie spie auf den Boden, ließ mich unvermittelt stehen, griff sich einen anderen Jungen, zog ihn mutwillig zu Boden und fing an zu bocken wie eine Hirschkuh, die eine Wespe gestochen hat …
Nun.
Euer Exzellenz haben mich aufgefordert, von Geschlecht und Sünde zu sprechen, oder nicht, meine verehrten Patres? Gleichwohl scheint er nie lange zuhören zu können, ohne genauso violett anzulaufen wie seine Soutane und sich woanders hinzubegeben. Es wäre mir aber zumindest daran gelegen, daß er mitbekommt, worauf ich eigentlich hinauswollte. Aber selbstverständlich – ich hatte das ganz vergessen –, Seine Exzellenz können es ja lesen, wenn sie sich beruhigt haben. Darf ich dann fortfahren, meine Herren?
Chimáli kam und setzte sich neben mich. »Ich habe nicht zu denen gehört, die über dich gelacht haben, Maulwurf. Mich erregt sie nämlich auch nicht.«
»Es liegt nicht so sehr daran, daß sie häßlich und schlampig wäre«, sagte ich und erzählte Chimáli dann, was mein Vater mir vor kurzem erklärt hatte – daß die Nanáua-Krankheit, unter der so viele eurer spanischen Soldaten leiden und welche sie schicksalsergeben »Frucht der Erde« nennen, von unsauberem Geschlechtsverkehr kommen kann.
»Von Frauen, die ihr Geschlecht nicht besudeln, steht nichts zu befürchten«, erklärte ich Chimáli. »Die Auyanime unserer Krieger zum Beispiel halten sich sauber und werden überdies auch noch regelmäßig von den Heilkundigen im Heer untersucht. Die Maátime aber, die für jedermann die Beine spreizen und für so viele, wie nur wollen, die meidet man am besten. Die Krankheit entsteht an unsauberen Körperteilen. Und was diese Frau betrifft – wer weiß, welchen schmutzigen Sklavenmännern sie schon zu Diensten gewesen ist, ehe sie zu uns kommt? Steckst du dich jemals mit Nanáua an, ist dagegen kein Kraut gewachsen. Dein Tepúli kann so sehr davon zerfressen werden, daß er dir schließlich abfällt, und es kann sogar dein Gehirn zerfressen, bis du ein stolpernder, stammelnder Schwachsinniger bist.«
»Ist das wahr, Maulwurf?« fragte Chimàli mit aschgrauem Gesicht. Sein Blick wanderte zu Göttergeschenk und zu dem auf ihr liegenden schwitzenden und stoßenden Jungen. »Dabei hatte ich schon vor, sie auch zu nehmen – bloß um nicht zum Gespött der anderen zu werden. Aber zu verblöden – nein, da ist es mir schon lieber, ich gelte als unmännlich.«
Er ging augenblicklich hin und setzte Tlatli ins Bild. Dann müssen sie das Gehörte weiterverbreitet haben, denn die Zahl derer, die nach Göttergeschenk Schlange standen und darauf warteten, an die Reihe zu kommen, wurde nach diesem Abend immer kleiner, und im Schwitzbad sah ich oft, wie meine Kameraden sich verstohlen nach Anzeichen der Krankheit der Fäulnis untersuchten. Nach und nach setzte sich für die geile Sklavin eine Abwandlung ihres Namens durch: Tetéo-Tlayo, Götterauswurf. Einige von den Schülern fuhren jedoch bedenkenlos weiter fort, sie zu bespringen; einer davon war Pactli. Meine Verachtung für ihn muß genauso offenkundig gewesen sein wie seine Abneigung gegen mich, denn eines Tages kam er zu mir und sagte drohend:
»Dem Maulwurf ist seine Gesundheit also zu kostbar, als daß er sich mit einer Maátitl besudeln möchte? Ich weiß, das ist nur eine Ausrede, um deine bedauernswerte Zeugungsunfähigkeit zu verbergen; es liegt aber auch Kritik an meinem Verhalten darin, und ich warne dich: du solltest deinen künftigen Schwager nicht verleumden.« Fassungslos starrte ich ihn an. »Ja, ehe ich, wie du vorhersagst, verfaule, will ich deine Schwester heiraten. Und selbst wenn ich ein verseuchter und stolpernder Schwachsinniger werde, einen Edelmann kann sie nicht zurückweisen. Laß dir das gesagt sein, künftiger Schwager: Ein einziges Wort zu Tzitzitlíni, daß ich mich mit Götterauswurf vergnüge, und ich bringe dich um.«
Ohne eine Erwiderung von mir abzuwarten, zu der ich im Augenblick aber ohnehin nicht fähig gewesen wäre, stolzierte er davon. Ich war vor Angst wie benommen. Nicht, daß ich persönlich vor Pactli Angst gehabt hätte, denn ich war um ein weniges größer und vermutlich auch stärker als er. Doch selbst wenn er ein schwächlicher Zwerg gewesen wäre – er war immer noch der Sohn unseres Tecútli, und jetzt war er böse auf mich. Seit die Jungen mit ihren einsamen Sexspielen angefangen hatten, und vor allem, seit sie mit Götterauswurf rammelten, war ich von bänglicher Erwartung erfüllt gewesen. Meine jämmerliche Leistung und das Gelächter, das sie mir eingetragen und das ich ertragen hatte, all diese Peinlichkeiten hatten weniger meine Eitelkeit verletzt als vielmehr dafür gesorgt, daß mir die Furcht in mein Glied gefahren war. Ich mußte in den Augen der anderen ja wirklich und wahrhaftig als impotent und unmännlich gelten. Mochte Pactli auch ebenso beschränkt wie hochmütig sein – sollte er jemals hinter den wahren Grund meiner vorgeblich schwach ausgebildeten Geschlechtlichkeit kommen, und daß ich sie in vollen Zügen anderswo verausgabte – so dumm, um sich nicht zu fragen, wo, war er nicht. Auf unserer kleinen Insel würde er nicht lange brauchen, um festzustellen, daß ich mit keinem anderen weiblichen Wesen zusammenkam außer mit …
Zuerst hatte Tzitzitlíni Pactlis Wohlgefallen erregt, als sie noch ein knospendes Mädchen gewesen war, damals, als sie den Palast aufgesucht hatte, um der Hinrichtung seiner ehebrecherischen Schwester, der Prinzessin, beizuwohnen. Vor noch nicht so langer Zeit hatte Tzitzi beim Frühlingsfest des Großen Erwachens die Tänzerinnen auf dem großen Pyramidenplatz angeführt – wobei Pactli sie gesehen hatte und von ihr völlig hingerissen gewesen war. Seither hatte er es wiederholt so eingerichtet, ihr in der Öffentlichkeit zu begegnen, ja, er hatte sie sogar angesprochen, ein unerhörter Verstoß gegen die guten Manieren für jeden Mann, selbst einen Pili. Außerdem hatte er vor kurzem angefangen, Vorwände zu finden, in unser Haus zu kommen und mit Tepetzálan »über Angelegenheiten des Steinbruchs zu sprechen«, wo man ihm unmöglich die Tür hatte weisen können. Die Kühle, mit der Tzitzi ihm begegnet war und ihre unverhohlene Abneigung gegen ihn hätten jeden anderen jungen Mann entmutigt davonschleichen lassen.
Und jetzt besaß dieser widerwärtige Pactli die Stirn, mir zu sagen, er werde Tzitzi heiraten. Nachdem ich an diesem Abend heimgegangen war, wir um das Abendbrottuch herumsaßen und nachdem unser Vater den Göttern für das gute Essen gedankt hatte, das vor uns stand, konnte ich nicht mehr an mich halten, und es brach aus mir heraus:
»Pactli hat mir heute erklärt, er habe vor, Tzitzitlíni zur Frau zu nehmen. Nicht vielleicht, oder falls sie seinen Antrag annimmt oder die Familie einverstanden ist. Sondern daß er das vorhat und es tun wird.«
Meine Schwester wurde stocksteif und starrte mich an. Flüchtig fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht wie unsere Frauen es immer zu tun pflegen, wenn etwas sie überrascht. Unser Vater machte ein unbehagliches Gesicht. Nur meine Mutter aß seelenruhig weiter und sagte dann genauso seelenruhig: »Er hat davon gesprochen, Mixtli, gewiß. Pactzin wird die Niedere Schule bald hinter sich haben, muß dann aber noch etliche Jahre die Calmécac-Schule besuchen, ehe er heiraten kann.«
»Er kann Tzitzi nicht zur Frau nehmen«, sagte ich. »Pactli ist ein beschränkter, habgieriger, verdorbener Mensch …«
Meine Mutter lehnte sich über das Tuch herüber und versetzte mir mit aller Macht eine Maulschelle. »Dafür, daß du so respektlos von unserem zukünftigen Tecútli sprichst! Wer bist du, wie überhebst du dich, daß du es wagst, einen Edelmann zu verunglimpfen?«
Ich schluckte häßlichere Worte hinunter, die mir auf die Lippen kommen wollten, sagte jedoch immerhin: »Ich bin nicht der einzige auf dieser Insel, der weiß, daß Pactli ein abgrundtief verdorbener und verachtenswerter …«
Sie versetzte mir noch eine Maulschelle. »Tepetzálan«, wandte sie sich an unseren Vater. »Noch ein Wort von diesem aufsässigen jungen Mann, und du mußt ihn bestrafen.« Und zu mir gewandt, sagte sie: »Wenn der hochgeborene Pili-Sohn des Herrn Rot Reiher Tzitzitlíni heiratet, werden wir anderen auch zu Pipiltin. Welche großen Aussichten hast du denn, ohne Beruf, nur mit dem eitlen Ehrgeiz, Wort-Bilder zu lernen, unserer Familie eine so erlauchte Stellung zu verschaffen?«
Unser Vater räusperte sich und sagte: »Ich bin nicht besonders darauf erpicht, das -tzin an unseren Namen zu hängen, aber noch weniger bin ich auf Unhöflichkeit und Schande erpicht. Einem Edelmann eine Bitte abzuschlagen – insbesondere, die Ehre abzulehnen, die es für uns bedeuten würde, wenn Pactli um die Hand unserer Tochter bitten sollte – würde heißen, ihn vor den Kopf zu stoßen, und würde uns in eine Schande stürzen, die wir nie überleben würden. Falls man uns überhaupt gestatten würde weiterzuleben, auf jeden Fall müßten wir Xaltócan verlassen.«
»Nein, ihr anderen nicht.« Tzitzitlíni sprach zum erstenmal und mit fester Stimme. »Ich werde gehen. Wenn dieser heruntergekommene Unhold Pactli … Erhebe nicht die Hand noch einmal gegen mich, Mutter. Ich bin eine erwachsene Frau, und ich schlage zurück.«
»Du bist meine Tochter, und dies ist mein Haus!« zeterte meine Mutter.
»Kinder, was ist in euch gefahren?« sagte mein Vater.
»Ich sage nur soviel«, fuhr Tzitzi fort. »Wenn Pactli um mich anhält und ihr euch einverstanden erklärt, werdet weder ihr noch er mich je wiedersehen. Dann verlasse ich diese Insel für immer. Und wenn ich mir kein Acáli leihen oder entwenden kann, werde ich schwimmen. Erreiche ich das Festland nicht, werde ich ertrinken. Weder Pactli noch irgendein anderer Mann wird mich je berühren, nur ein Mann, dem ich mich aus freien Stücken hingeben kann.«
»Auf ganz Xaltócan«, stotterte meine Mutter, »gibt es keine Tochter, die so undankbar, so ungehorsam und so trotzig ist wie du, daß ….«
Diesmal wurde sie von meinem Vater zum Schweigen gebracht, der erklärte – es feierlich erklärte: »Tzitzitlíni, wenn jemand deine ungehörigen Worte außerhalb dieser Wände gehört hat, könnte nicht einmal ich dir verzeihen oder verhindern, daß du geziemend bestraft wirst. Man würde dir die Kleider vom Leib reißen und dir den Kopf scheren. Unsere Nachbarn würden es tun, wenn ich es nicht täte, um ein Exempel für ihre eigenen Kinder zu statuieren.«
»Es tut mir leid, Vater«, sagte sie mit gleichbleibender Stimme. »Du mußt wählen. Eine pflichtvergessene Tochter oder gar keine.«
»Ich danke den Göttern, daß ich mich nicht heute entscheiden muß. Wie deine Mutter gesagt hat, werden noch ein paar Jahre vergehen, ehe der junge Herr Freude heiraten kann. Wollen wir bis dahin nicht mehr davon sprechen, weder im Zorn noch sonst. Wer weiß, was bis dahin alles geschieht.«
Unser Vater hatte recht: Vieles sollte noch geschehen. Ich wußte nicht, ob es Tzitzi mit allem ernst war, was sie gesagt hatte, und fand auch keine Gelegenheit, sie zu fragen, weder an diesem Abend noch am nächsten Tag. Wir wagten nicht mehr, als von Zeit zu Zeit einen besorgten und sehnsüchtigen Blick zu tauschen. Aber ob sie sich an ihren Vorsatz halten würde oder nicht, die Aussicht war trostlos. Wenn sie vor Pactli floh, würde ich sie verlieren. Wenn sie nachgab und ihn heiratete, würde ich sie verlieren. Sollte sie das Bett mit ihm teilen, so verstand sie sich bestimmt auf die Kunstgriffe, ihn davon zu überzeugen, daß sie noch unberührt sei. Sollte Pactli jedoch noch vorher argwöhnen, daß sie einem anderen Mann beigewohnt hatte – und daß auch noch ich dieser Mann war –, seine Wut würde grenzenlos sein, seine Rache unvorstellbar. Zu welch grauenhafter Art auch immer er sich dann entschied, uns zu vernichten – Tzitzi und ich würden einander für immer verloren haben.
Ayya, es geschahen in der Tat viele Dinge, und eines davon war folgendes. Als ich im Abenddämmer des nächsten Tages ins Haus der Leibesstärkung ging, stellte ich fest, daß mein Name sowie der von Pactli auf Blut Schwelgers Wachplan stand, gleichsam, als hätte sich ein Gott ein diebisches Vergnügen daraus gemacht. Götterauswurf war bereits zur Stelle, nackt, hielt die Beine gespreizt und war bereit. Zu Pactlis und unserer anderen Kameraden Verwunderung riß ich mir sofort das Schamtuch herunter und stürzte mich auf sie.
Ich machte es so linkisch, wie es mir irgend möglich war, tat alles, um die anderen Jungen glauben zu machen, es sei für mich das erstemal; und vermutlich hat es der armen Schlampe genausowenig Vergnügen bereitet wie mir. Als ich meinte, die Vorbereitung habe jetzt lange genug gedauert, bereitete ich mich darauf vor, mich zu entladen; doch dann überwältigte mich unversehens doch der Ekel, und ich erbrach mich – über ihr Gesicht und ihren ganzen nackten Leib. Die Jungen brüllten vor Lachen und kugelten sich auf dem Boden. Selbst die bedauernswerte Götterauswurf begriff, welch eine Beleidigung das war. Sie hob ihre Kleider auf und bedeckte damit ihre Blöße; dann lief sie davon, um nie wieder zurückzukehren.
Nicht lange nach diesem Zwischenfall geschahen Schlag auf Schlag noch vier Dinge von einiger Bedeutung – zumindest sehe ich es so, daß sie schnell eines auf das andere folgten.
Es geschah, daß der Uey-Tlatoáni starb – sehr jung und infolge von Verwundungen, die er sich im Kampf gegen die Purémpecha zugezogen hatte – und sein Bruder, Tixoc, Anderes Gesicht, bestieg den Thron von Tenochtítlan.
Es geschah, daß ich zusammen mit Chimáli und Tlatli die einzige Art von Schulen abschloß, die es auf Xaltocan gab. Von nun an galt ich als »ausgebildet«.
Es geschah, daß derTecútli unserer Insel eines Abends einen Boten zu unserem Haus schickte und mich auf der Stelle zu seinem Palast befahl.
Und es geschah, daß ich nun endlich doch von Tzitzitlíni, meiner Schwester und meiner Geliebten, getrennt wurde.
Doch am besten berichte ich über die vier Vorkommnisse mehr ins einzelne gehend und in der Reihenfolge, wie sie sich ereigneten.
Der Herrscherwechsel berührte uns in der Provinz kaum. Doch selbst in Tenochtítlan erinnerte man sich an die Regierungszeit Tixocs höchstens als einer Zeit, da er, wie seine beiden Vorgänger, an der Großen Pyramide im Herzen Der Einen Welt weiterbaute. Allerdings fügte Tixoc dem Platz noch etwas Eigenes hinzu. Er ließ von Steinmetzen den Schlachtstein meißeln, ein massives flaches Rund aus Vulkangestein, das wie ein Stapel riesiger Tortillas zwischen der immer noch unvollendeten Großen Pyramide und dem Sockel für den Sonnenstein aufragte. Der Schlachtstein war fast mannshoch und maß vier Schritt im Durchmesser. Den flachen Rand schmückten ringsum die Flachreliefs von Mexíca-Kriegern, deutlich erkennbar unter ihnen Tixoc, wie er kämpfte und Gefangene machte. Die runde und ebene Oberfläche stellte eine Plattform für eine Art öffentlichen Zweikampfs dar, an dem ich – viel später und auf höchst ungewöhnliche Weise – Gelegenheit hatte, arn Rande teilzuhaben.
Von weitaus unmittelbarerer Bedeutung war damals für mich die Beendigung der Schulzeit. Da ich nicht von Adel war, war ich selbstverständlich auch nicht berechtigt, eine Calmécac oder Höhere Ausbildungsstätte zu beziehen. Und mein Ruf als Malinqui – Knoten – in der einen Schule und als Poyaútla – Umnebelt – in der anderen war nicht gerade geeignet gewesen, eine der höheren Ausbildungsstätten auf dem Festland zu bewegen, mich aufzufordern, kostenlos dort zu studieren.
Was mich besonders erboste, war folgendes: Während ich vergeblich danach fieberte, mehr zu lernen als das bißchen, was unsere Telpochcáltin an Wissen zu vermitteln vermochten, erhielten meine beiden Freunde, Chimáli und Tlatli, denen es kein Deut um irgendwelche weitere schulische Ausbildung ging, in der Tat von verschiedenen Calmécatin – noch dazu beide in Tenochtítlan, nach dem ich mich im Traum verzehrte
– eine solche Aufforderung. Während ihrer Jahre im Xaltocaner Haus der Leibesstärkung hatten sie sich als Tlachtli-Spieler und als Neu-Krieger ausgezeichnet. Wiewohl ein eleganter Edelmann wohl gelächelt hätte über die »Manieren«, welche den beiden Jungen im Haus des Manierenlernens beigebracht worden waren, hatten sie dort dennoch geglänzt dadurch, daß sie für die an hohen Festtagen abgehaltenen Zeremonien höchst einfallsreiche Kostüme und Kulissen entworfen hatten.
»Ein Jammer, daß du nicht mit uns kommen kannst, Maulwurf«, sagte Tlatli wohl ganz aufrichtig, wenn auch nicht weniger erfreut über das Glück, das ihm selbst widerfahren war. »Du könntest an dem ganzen langweiligen Unterricht teilnehmen, und wir könnten ungehindert unserer Arbeit in den Werkstätten nachgehen.«
Entsprechend den Aufnahmebedingungen sollten beide Jungen neben dem Unterricht, den die Calmécac-Priester erteilten, auch noch als Lehrlinge zu Tenochtítlaner Künstlern in die Lehre gegeben werden: Tlatli bei einem Meisterbildhauer und Chimáli bei einem Meistermaler. Ich war sicher, daß keiner sich ein Bein ausreißen würde, am Unterricht in Geschichte, Schreiben, Lesen, Rechnen und ähnlichem teilzunehmen, den Dingen, nach denen ich mich am meisten sehnte. Doch wie dem auch sei: ehe sie Xaltócan verließen, sagte Chimáli: »Hier ein Abschiedsgeschenk von mir, Maulwurf. Alle meine Farben und Rohre und Pinsel. In der Stadt bekomme ich ohnehin bessere. Vielleicht kannst du sie bei deinen Schreibübungen gut gebrauchen.«
Ja, ich ging immer noch ohne Anleitung und ohne Lehrer der Erlernung der Künste des Lesens und Schreibens nach, wiewohl jetzt wirklich kaum noch irgendwelche Hoffnung für mich bestand, jemals ein Wortkundiger zu werden, und mein Traum, nach Tenochtítlan zu ziehen, würde sich wohl nie verwirklichen. Da mein Vater nun seinerseits die Hoffnung aufgegeben hatte, daß ich jemals ein guter Steinhauer werden würde, war ich jetzt auch zu alt, um noch länger am verlassenen Steinbruch zu sitzen und die schädlichen Nager fernzuhalten. Deshalb hatte ich mich schon seit geraumer Zeit als gemeiner Landarbeiter verdingt, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und zu dem unserer Familie beizutragen.
Selbstverständlich wird auf Xaltócan kein richtiger Ackerbau betrieben, dazu mangelt es zu sehr an fruchtbarer Ackerkrume, um Feldfrüchte wie den Mais darauf zu pflanzen, die für ihre Wurzeln auf einen tiefreichenden Boden angewiesen sind. Deshalb baut Xaltócan – wie alle auf kleinen Inseln gelegenen Gemeinwesen – den größten Teil seines Gemüses auf den ausgedehnten und immer weiter sich ausdehnenden Chinämpa an, die ihr »Schwimmende Gärten« nennt. Jedes Chinämitl ist ein aus vielen eng verflochtenen Zweigen und Ästen bestehendes, schwimmendes Floß, das am Rand des Sees verankert und dann mit vielen, vielen Ladungen fruchtbarsten Bodens beladen wird, den man eigens vom Festland herbeischafft. Während das Wurzelgeflecht der angebauten Pflanzen von Jahr zu Jahr dichter wird und neue Wurzeln an den alten in die Tiefe wachsen, klammern sie sich zuletzt am Boden des Sees fest, so daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, das Floß jetzt noch bewegen zu wollen. Neue Gärten werden gebaut und neben den bereits angewachsenen verankert, und so ist jede bewohnte Insel in all unseren Seen, Tenochtitlan eingeschlossen, von einem breiten Ring dieser Chinámpa umgeben. Auf etlichen der fruchtbareren Inseln ist es schwierig zu unterscheiden, wo das gottgemachte Land aufhört und die menschengemachten Felder beginnen.
Man braucht weder bessere Augen noch mehr Intelligenz als ein Maulwurf zu besitzen, um solche Gärten zu bestellen, und so kümmerte ich mich um die meiner Familie und einiger Nachbarn in unserem Viertel. Besonders anstrengend war die Arbeit nicht, und so blieb mir viel Zeit, daß ich mich – mit Hilfe der Farben, die Chimáli mir geschenkt hatte – weiterhin dem Malen von Wort-Bildern hingab. Ich bemühte mich, die kompliziertesten Symbole zu vereinfachen, sie zu stilisieren und kleiner zu gestalten. So unwahrscheinlich es damals auch aussah, insgeheim nährte ich immer noch die Hoffnung, daß meine Selbsterziehung mir dazu verhelfen werde, das Los, welches mir im Leben bestimmt war, zu verbessern. Heute muß ich mitleidig lächeln, wenn ich mich daran erinnere, wie ich als junger Mann – eingehüllt vom strengen Geruch des aus tierischen Eingeweiden und Fischköpfen bestehenden Düngers – auf einem Gartenfloß zwischen Mais-, Bohnen- und Chilischößlingen dahockte, meine Schreibübungen machte und meinen ehrgeizigen Träumen nachhing.
So spielte ich zum Beispiel mit dem Gedanken, einer der reisenden Pochtéca-Kaufleute zu werden und auf diese Weise hinunterzugelangen ins Land der Maya, wo ein Wundertäter unter den Heilkundigen mir mein Augenlicht wiedergab, und ich durch geschickten Handel unterwegs auch noch reich wurde. Ach, wie viele Listen ich mir ausdachte, um ein paar erbärmliche Handelsgüter in ein riesiges Vermögen zu verwandeln, himmelstürmende Pläne, von denen ich überzeugt war, daß kein Händler vor mir jemals darauf gekommen war. Das einzige, was einem sicheren Erfolg im Wege stand – wie Tzitzi mir sehr deutlich machte, als ich ihr einige meiner Gedanken anvertraute –, war, daß mir selbst das geringfügige bißchen Kapital fehlte, welches ich, wie ich annahm, brauchte, um überhaupt einen Anfang machen zu können.
Und dann kam eines Nachmittags, nachdem ich meine Arbeit getan hatte, einer von Herrn Rot Reihers Boten an unsere Haustür. Er trug einen Mantel von nichtssagender Farbe, welcher weder gute noch schlechte Nachrichten verhieß, und begrüßte meinen Vater mit einem höflichen »Mixpantzinco«.
»Ximopanólti«, erwiderte mein Vater und forderte ihn durch eine Handbewegung auf einzutreten.
Der junge Mann, welcher ungefähr in meinem Alter stand, trat nur einen einzigen Schritt herein und sagte: »Der Tecútli Tlauquécholtzin, unser gemeinsamer Gebieter, befiehlt, daß Euer Sohn Chicóme-Xochitl Tliléctic-Mixtli sich augenblicklich im Palast einfinde.«
Mein Vater und meine Schwester machten ein ebenso erstauntes wie erschrockenes Gesicht – und ich, wie ich annehme, nicht minder. Meine Mutter hingegen nicht. Sie brach augenblicklich in laute Klagen aus: »Yya ayya, ich hab's gewußt, daß der Junge eines Tages die Edelleute oder die Götter beleidigen würde oder …« Sie hielt inne und fragte den Boten: »Was hat Mixtli angestellt? Der Herr Rot Reiher braucht sich nicht die Mühe zu machen, ihn auszupeitschen oder die Strafe, die sonst verhängt worden ist, auszuführen. Wir werden das gern übernehmen.«
»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand irgend etwas getan hätte«, erklärte der Bote. »Ich führe nur meinen Auftrag aus. Ihn unverzüglich hinzubringen.«
Und ich begleitete ihn unverzüglich. Was immer mich im Palast auch erwarten mochte, es war mir lieber als alles, was meine Mutter sich an Gemeinheiten ausdenken konnte. Neugierig war ich, gewiß, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein, weshalb ich hätte zittern sollen. Wäre eine solche Aufforderung früher gekommen, ich hätte befürchtet, daß der niederträchtige Pactli sich irgend etwas ausgedacht haben würde, mich anzuschwärzen. Doch der junge Herr Freude hatte schon vor zwei oder drei Jahren eine Tenochtítlaner Calmécac bezogen, die nur hochadlige Sprößlinge aufnahm, welche später selbst einmal Herrscher werden sollten. In dieser ganzen Zeit war Pactli nur während der Ferien nach Xaltocan zurückgekommen, und während dieser Aufenthalte hatte er unserem Hause immer nur dann Besuche abgestattet, wenn ich nicht dagewesen war; infolgedessen hatte ich ihn nicht mehr gesehen, seit wir Götterauswurf kurz miteinander geteilt hatten.
Der Bote hielt sich respektvoll ein paar Schritte hinter mir, als wir den Thronsaal des Palastes betraten und ich mich auf die Knie niederließ, um die Geste des Erdeküssens zu vollführen. Neben Herrn Rot Reiher saß ein Mann, den ich nie zuvor auf der Insel gesehen hatte. Und wenngleich der Fremde – wie es sich geziemte – auf einem niedrigeren Stuhl saß, tat er doch dem Hauch von Gewichtigkeit, welchen unser Tecútli für gewöhnlich ausstrahlte, beträchtlichen Abbruch. Selbst mit meiner Maulwurfskurzsichtigkeit konnte ich erkennen, daß er einen glänzenden Federumhang und einen so reichen Schmuck trug, wie ihn kein Edelmann auf Xaltocan besaß.
Rot Reiher sagte zu seinem Besucher: »Der Auftrag lautete: einen Mann aus ihm zu machen. Nun, unsere Häuser der Leibesstärkung und des Manierenlernens haben getan, was sie konnten. Dies hier ist er.«
»Man hat mich ersucht, ihn auf die Probe zu stellen«, sagte der Fremde. Er zog eine kleine Rolle Borkenpapier hervor und reichte sie mir.
»Mixpantzinco«, begrüßte ich die beiden Adligen, ehe ich die Rolle entrollte. Es stand nichts darauf, worin ich eine Prüfung hätte erkennen können – nichts weiter als eine einzelne Reihe von Wort-Bildern, und die kannte ich alle.
»Du verstehst sie zu lesen?« erkundigte sich der Fremde.
»Ach ja, das vergaß ich zu erwähnen«, erklärte Rot Reiher, als hätte er selbst es mich gelehrt. »Mixtli kann mit einigem Verständnis ein paar einfache Dinge lesen.«
Ich sagte: »Ich kann dies lesen, meine Herren. Es heißt …«
»Lassen wir das«, fiel mir der Fremde in die Rede. »Sag mir nur eines: Was bedeutet das entenschnäbelige Gesicht?«
»Es bedeutet Ehécatl, den Wind, mein Herr.«
»Und noch etwas?«
»Nun, mein Herr, in Verbindung mit dem anderen Symbol,
dem der geschlossenen Augen, bedeutet es Nachtwind. Aber …« »Ja. Sprich nur, junger Mann.«
»Wenn der Herr mir meine Dreistigkeit nachsehen will: dieses eine Zeichen weist keinen Entenschnabel auf, sondern vielmehr die Windtrompete, durch welche der Windgott …«
»Genug. Das reicht!« Damit wandte der Fremde sich Rot Reiher zu. »Kein Zweifel, er ist es, Tecutli. Dann habe ich also Eure Erlaubnis?«
»Aber selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte Rot Reiher geradezu unterwürfig. Und zu mir gewandt: »Das hier ist Herr Stark Knochen, Weibliche Schlange von Nezahualpíli, Uey-Tlatoáni von Texcóco. Herr Stark Knochen überbringt des Verehrten Sprechers persönliche Einladung an dich, an den Hof von Texcóco zu kommen und dort zu studieren und zu dienen.«
»Texcóco!« entfuhr es mir. Ich war noch nie dort gewesen, ja, überhaupt nirgendwo im Land der Acólhua. Ich kannte dort niemand, und kein Acóhuatl konnte dort jemals von mir gehört haben – ganz gewiß jedenfalls nicht der Verehrte Sprecher Nezahualpíli, welcher in allen diesen Ländern, was Macht und Ansehen betrifft, gleich nach Tixoc, dem Uey-Tlatoáni von Tenochtítlan kam. Ich war dermaßen überwältigt, daß ich ohne nachzudenken und gegen jedes Gebot der guten Manieren mit einem »Warum?« herausplatzte.
»Es handelt sich nicht um einen Befehl«, erklärte die Weibliche Schlange von Texcóco barsch. »Du wirst eingeladen, und du kannst annehmen oder ablehnen. Aber du bist nicht berechtigt, das Angebot in Frage zu stellen.«
Ich murmelte eine Entschuldigung, und Herr Rot Reiher kam mir zu Hilfe, indem er sagte: »Verzeiht dem Jüngling, mein Herr. Ich bin sicher, er ist wie vor den Kopf geschlagen, wie ich es im übrigen die ganzen Jahre über gewesen bin – daß eine so erhabene Persönlichkeit wie Nezahualpíli sein Augenmerk ausgerechnet diesem unter meinen vielen Macehuáltin zugewendet hat.«
Die Weibliche Schlange stieß nur ein leichtes Knurren aus, und so fuhr Rot Reiher fort: »Man hat mir nie eine Erklärung dafür abgegeben, warum Euer Gebieter sich ausgerechnet für diesen Macehuátl so besonders interessiert. Selbstverständlich erinnere ich mich an Euren letzten Gebieter, jenem Baum großen Schattens, den weisen und gütigen Herrn Hungernder Kojote, und weiß, daß er allein und in Verkleidung auf der Suche nach tüchtigen Männern, die seiner Gunst würdig sein könnten, Die Eine Welt zu durchstreifen pflegte. Setzt sein erlauchter Sohn Nezahualpíli diese wohltätige Gepflogenheit fort? Und wenn das zutrifft – was um alles auf der Welt sieht er in unserem jungen Untertan Tliléctic-Mixtli?«
»Das vermag ich nicht zu sagen, Tecútli.« Rot Reiher wurde von dem stolzen Edelmann eine ähnlich barsche Abfuhr zuteil wie mir zuvor. »Niemand stellt Gedanken und Absichten des Verehrten Sprechers in Frage. Und ich habe noch anderes zu erledigen, als darauf zu warten, bis ein unentschlossener junger Grünschnabel sich entscheidet, ob er eine so ungewöhnliche Ehre annimmt oder nicht. Morgen früh, sobald Tezcatlipóca aufsteht, kehre ich nach Texcóco zurück. Kommst du mit mir oder nicht?«
»Selbstverständlich komme ich mit, mein Gebieter«, sagte ich. »Ich brauche nur ein paar Kleider, Papier und Farben zusammenzupacken.
Oder soll ich irgend etwas Bestimmtes mitbringen?« fügte ich mutig hinzu in der Hoffnung, auf diese Weise irgendeinen Hinweis darauf zu ergattern, warum und für wie lange ich mit sollte.
Doch er sagte nur: »Alles Notwendige wird bereitgestellt.«
Rot Reiher sagte: »Sei bei Tonatíu-Aufgang am Landesteg des Palasts zur Stelle, Mixtli.«
Herr Stark Knochen bedachte erst unseren Tecútli und dann mich mit einem kühlen Blick und sagte dann: »Du tust gut daran, den Sonnengott von nun an Tezcatlipóca zu nennen, junger Mann.«
Von jetzt an für immer! überlegte ich, als ich allein nach Hause eilte. Sollte ich für den Rest meines Lebens von den Acólhua als einer der ihren aufgenommen werden und zu den Acólhua-Göttern beten?
Als ich meinen wartenden Eltern und meiner Schwester berichtete, was geschehen war, sagte mein Vater aufgeregt: »Nacht Wind! Genauso, wie ich es dir gesagt habe, Sohn Mixtli! Es war der Gott Nacht Wind, dem du vor Jahren an der Wegkreuzung begegnet bist. Und Nacht Wind ist es auch, der dir die Erfüllung deines Herzenswunsches gewährt.«
Tzitzi machte ein besorgtes Gesicht und meinte: »Aber angenommen, es ist nur eine List? Angenommen, Texcóco braucht zufällig nur einen Xochimique von einer bestimmten Größe und einem bestimmten Alter für irgendein besonderes Opfer …«
»Nein«, erklärte unsere Mutter. »Mixtli ist weder schön noch anmutig oder tugendhaft genug, als daß man ihn besonders für irgendeine Zeremonie ausgesucht haben könnte, von der ich weiß.« Das klang so, als sei sie verstimmt, daß ihr diese Angelegenheit aus den Händen genommen worden war. »Gleichwohl hat die ganze Sache etwas höchst Verdächtiges. Während er sich mit diesen Bilderschriften abmühte und träge auf den Chinámpa schaukelte, hat Mixtli nichts tun können, auch nur die Aufmerksamkeit eines Sklavenhändlers zu erregen, geschweige denn, die eines Königshofes.«
Ich sagte: »Nach dem, was im Palast gesprochen wurde, und nach dem bißchen Geschriebenen, das Herr Stark Knochen bei sich hatte, glaube ich, kann ich mir schon einiges denken. Nicht einem Gott bin ich in jener Nacht an der Wegkreuzung begegnet, sondern einem Acólhuatl-Wanderer, vielleicht einem Höfling oder gar Nezahualpíli persönlich; wir haben nur einfach gedacht, es sei Nacht Wind. In den Jahren, die seither vergangen sind, hat Texcóco mich immer im Auge behalten, wenn ich auch nicht weiß, warum. Doch wie dem auch sei, es sieht so aus, als sollte ich eine Calmécac in Texcóco besuchen, wo ich die Kunst der Wortkunde erlernen soll. Ich werde Schreiber werden, wie ich es mir immer gewünscht habe. Zumindest«, schloß ich mit einem Achselzucken, »nehme ich das an.«
»Und das alles nennst du Zufall«, sagte mein Vater unnachgiebig streng. »Nein, Sohn Mixtli – genausogut ist es möglich, daß du Nacht Wind begegnet bist, einem Gott, den du für einen Sterblichen gehalten hast. Genauso wie Menschen, können auch Götter verkleidet und unerkannt umherwandern. Jedenfalls hat sich diese Begegnung für dich zum Guten ausgewirkt, und so könnte es nicht schaden, Nacht Wind deinen Dank abzustatten.«
»Du hast recht, Vater Tepetzálan. Das werde ich tun. Ob Nacht Wind nun mittelbar oder unmittelbar mit der Sache zu tun hat, er vermag Herzenswünsche zu erfüllen, wenn er will, und es ist nun mal mein Herzenswunsch, der anfängt in Erfüllung zu gehen.«
»Freilich nur einer meiner Herzenswünsche«, sagte ich zu Tzitzi, als wir endlich einen Augenblick unter vier Augen zusammen waren. »Wie soll ich den Klang leisen Glöckchengeläuts verlassen?«
»Wenn du auch nur einen Funken Verstand besitzt, gehst du tanzend und frohlockend von hier fort«, sagte sie praktisch, wie Frauen nun einmal sind; nur vermochte ich kein bißchen Frohlocken aus ihrer Stimme herauszuhören. »Du kannst nicht dein Leben damit zubringen, Unkraut zu jäten, Mixtli, und nutzlosen Träumereien nachhängen wie etwa der, ein Händler zu werden. Wie immer es dazu gekommen sein mag, jedenfalls steht dir jetzt eine Zukunft offen, und zwar eine strahlendere, als sie jemals einem Xaltocaner Macehuáli geboten worden ist.«
»Aber wenn Nacht Wind oder Nezahualpíli oder wer weiß ich sonst mir diese Gelegenheit bietet – es könnten auch noch andere, noch bessere kommen. Ich habe immer davon geträumt, nach Tenochtítlan zu gehen, nicht nach Texcóco. Ich kann das Angebot immer noch ausschlagen – das hat Herr Stark Knochen ausdrücklich gesagt – und abwarten. Warum sollte ich das eigentlich nicht tun?«
»Weil du gesunden Menschenverstand besitzt, Mixtli! Als ich noch das Haus des Manierenlernens besuchte, hat uns die Aufseherin der Mädchen einmal gesagt, Tenochtítlan möge vielleicht der starke Arm des Dreibunds sein, der Kopf jedoch, das Gehirn, sei Texcóco. Am Hofe von Nezahualpíli herrscht mehr als nur Pracht und Macht. Man blickt dort auf ein langes Erbe von Dichtung, Kultur und Weisheit zurück. Außerdem hat die Aufseherin gesagt, von allen Ländern, in denen man Nahuatl spreche, sprächen die Bewohner von Texcóco die reinste Form unserer Sprache. Welch bessere Bestimmung könnte es für einen angehenden Gelehrten geben? Du mußt hingehen, und du wirst hingehen. Du wirst studieren, du wirst lernen, und du wirst dich hervortun. Und wenn du erst einmal wirklich die Gönnerschaft des Verehrten Sprechers errungen hast – wer weiß, was er noch alles Großes mit dir vorhat? Du weißt, es ist unsinnig, wenn du davon sprichst, das Angebot auszuschlagen.« Und jetzt wurde ihre Stimme ganz leise. »Und du tust es ja auch nur meinetwegen.«
»Unseretwegen.«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Irgendwann mußten wir ja mal erwachsen werden.«
»Aber ich hatte immer gehofft, wir würden es zusammen tun.«
»Hoffen können wir immer. In Festzeiten wirst du nach Hause kommen. Dann werden wir zusammen sein. Und wenn du die Schule hinter dir hast – nun, vielleicht wirst du reich und mächtig? Du könntest ein Mixtzin werden, und ein Adliger kann heiraten, wen er will.«
»Worauf ich hoffe, ist ein tüchtiger Wortkundiger zu werden, Tzitzi. Das ist Ehrgeiz genug für mich. Und nur wenige Schreiber schaffen es, das -tzin an ihren Namen anzuhängen.«
»Nun … vielleicht schickt man dich zur Arbeit in eine abgelegene Acólhua-Provinz, wo man nicht weiß, daß du eine Schwester hast. Laß es mich nur wissen, und ich komme. Deine erkorene Braut von deiner Heimatinsel.«
»Aber das würde doch noch Jahre dauern«, wandte ich ein. »Und du näherst dich bereits jetzt dem heiratsfähigen Alter. In der Zwischenzeit kommt der verfluchte Pactli gleichfalls für die Ferien heim nach Xaltócan. Längst ehe ich mit meiner Ausbildung fertig bin, wird er zurückkehren und hier bleiben. Du weißt, was er will, und was er will, fordert er, und was er fordert, kann man ihm nicht abschlagen …«
»Abschlagen nicht, aber es vielleicht hinauszögern«, sagte sie. »Ich werde mein möglichstes tun, den Herrn Freude zu entmutigen. Und vielleicht besteht er gar nicht so hartnäckig auf seinen Forderungen« – mutig lächelte sie mich an –, »jetzt, wo ich einen Verwandten und Beschützer am mächtigeren Hof von Texcóco habe. Verstehst du? Du mußt gehen.« Ihr Lächeln geriet zu einem Zittern. »Die Götter wollen, daß wir eine Zeitlang getrennt sind, auf daß wir nicht für immer voneinander getrennt werden.« Das Lächeln wurde zag und immer zager, bis es ganz verschwunden war. Und sie weinte.
Das Acáli des Herrn Stark Knochen war aus Mahagoni, reich geschnitzt, mit einem fransenbesetzten Baldachin ausgestattet und geschmückt mit Jadezeichen und Federnwimpel, die seinen Rang verkündeten. Es fuhr an der unten am See gelegenen Stadt Texcóco vorüber – die ihr Spanier heute San Antonio de Padua nennt –, fuhr noch etwa Ein-Langer-Lauf in südlicher Richtung weiter und hielt auf einen mittelgroßen Berg zu, der unmittelbar vom Seeufer aufstieg. »Texcotzinco«, sagte die Weibliche Schlange, das erste Wort überhaupt, dessen er mich während der gesamten vormittäglichen Fahrt von Xaltócan hierher würdigte. Ich kniff die Augen zusammen, um zum Berg hinüberzuspähen, denn auf der anderen Seite lag der Landpalast von Nezahualpíli.
Der Große Einbaum glitt an den solide gebauten Landesteg heran, die Ruderer nahmen ihre Ruder hoch, und der Steuermann sprang an Land, um das Boot festzumachen. Ich wartete, bis die Bootsleute Herrn Stark Knochen aus dem Boot herausgeholfen hatten, kletterte dann selbst auf den Landesteg hinauf und klemmte mir den Weidenkorb unter den Arm, in dem ich meine Habseligkeiten verstaut hatte. Die wortkarge Weibliche Schlange zeigte auf eine Steintreppe, die sich vom Landesteg in die Höhe wand, und sagte: »Dort hinauf, junger Mann« – die einzigen weiteren Worte, die er an diesem Tag an mich richtete. Ich zögerte und überlegte, ob die Höflichkeit es wohl erheischte, daß ich auf ihn wartete, doch überwachte er persönlich noch, daß all die vielen Geschenke aus dem Acáli ausgeladen wurden, welche Herr Rot Reiher bei dieser Gelegenheit an Nezahualpíli geschickt hatte. Deshalb schulterte ich meinen Korb und stieg mühselig die Treppe hinauf.
Einige der Stufen waren Steinplatten, von Menschenhand hier eingelassen, andere waren aus dem lebenden Fels herausgemeißelt worden. Nach der dreizehnten Stufe gelangte ich auf einen Absatz, auf welchem eine kleine Bank zum Verschnaufen sowie die Statue eines kleinen, mir unbekannten Gottes aufgestellt waren. Die nächste Treppe führte schräg von diesem Treppenabsatz aus weiter in die Höhe. Wieder dreizehn Stufen, und abermals ein Treppenabsatz. Auf diese Weise stieg ich im Zickzack hügelan, um dann – bei der zweiundfünfzigsten Stufe – auf eine ebene Terrasse hinauszutreten, ein großes Geviert, welches aus dem Hang des Berges herausgehauen worden war und in der ganzen Pracht eines üppigen Blumengartens prangte. Nach dieser zweiundfünfzigsten Stufe trat ich auf einen plattenbelegten Weg hinaus, dem ich folgte, wie er sich unter herrlichen Bäumen sanft durch Blumenbeete wand, vorüber an sich schlängelnden Bächen und leise plätschernden kleinen Wasserfällen, bis der Weg wieder in eine Treppe überging. Abermals dreizehn Stufen und ein Absatz mit Bank und Statue …
Der Himmel hatte sich seit einiger Zeit bezogen, und jetzt rauschte der Regen hernieder, wie er es stets während unserer Regenzeit tut – ein Wolkenbruch, als ob das Ende der Welt gekommen sei. Als der Regen jetzt einsetzte, hatte ich bereits auf einem der Treppenabsätze Zuflucht gesucht, dessen Bank von einem reetgedeckten Dach geschützt war. Während ich wartete, bis das Unwetter vorüberging, sann ich über die Bedeutung nach, die sich in den Zahlen der im Zickzack hinaufführenden Treppe verbarg und lächelte über den genialen Einfall dessen, der einst den Plan für diese Treppe gefaßt hatte.
Genauso wie ihr weißen Männer auch, richteten wir uns in unserem Leben nach einem Jahreskalender, welcher auf der Bahn beruht, den die Sonne am Himmel zurücklegt. So bestand unser Sonnenjahr – genauso wie das eure – aus dreihundertundfünfundsechzig Tagen; dieses Kalenders bedienten wir uns für alle gewöhnlichen Zwecke: um zu bestimmen, wann welche Saat ausgebracht werden mußte, wann wir mit dem Einsetzen der Regenzeit rechnen konnten und so fort. Dieses Sonnenjahr teilten wir in achtzehn Monde von je zwanzig Tagen ein, zu denen noch die Nemontémtin kamen – die »leblosen« oder »hohlen« Tage –, jene fünf Tage also, die nötig waren, um auf ein Jahr von dreihundertundfünfundsechzig Tagen zu kommen.
Gleichwohl hielten wir uns aber auch noch an einen anderen Kalender, welcher nicht auf dem täglichen Gang der Sonne beruhte, sondern auf dem nächtlichen Erscheinen jenes funkelnden Sterns, den wir nach unserem uralten Gott Quetzalcóatl, der Gefiederten Schlange, benannten. Bisweilen diente Quetzalcóatl als Nacht Blume, welche unmittelbar nach Sonnenuntergang aufblinkte; manchmal wanderte er jedoch auch auf die andere Seite des Himmels hinüber, wo er dann als letzter Stern sichtbar wurde, ehe die Sonne aufging und alles andere überstrahlte. Jeder von unseren Astronomen könnte euch all dies anhand von genauen graphischen Darstellungen erklären, doch habe ich mich in der Sternkunde nie besonders gut ausgekannt. Allerdings weiß ich, daß die Bewegungen der Sterne sich durchaus nicht so regellos und zufällig vollziehen, wie es den Anschein hat, und daß unser Zeremonialkalender sich nach den Bewegungen jenes Sterns richtete, den wir nach Quetzalcóatl benannten. Dieser Kalender war auch für das gewöhnliche Volk nützlich, wenn es darum ging, die neugeborenen Kinder zu benennen. Unsere Historiker und Schreiber benutzten ihn, um besondere Ereignisse zeitlich genau zu bestimmen und festzuhalten, wie lange unsere Herrscher jeweils regierten. Weit wichtiger jedoch war, daß unsere Seher sich seiner bedienten, um die Zukunft vorauszusagen, um uns vor bevorstehenden Verhängnissen zu warnen und günstige Tage auszuwählen, an denen bedeutsame Unternehmen begonnen wurden.
Im Seherkalender umfaßte jedes Jahr zweihundertundsechzig Tage, die dergestalt benannt wurden, daß man an die Zahlen eins bis dreizehn je eines von zwanzig altüberkommenen Zeichen wie Kaninchen, Rohr, Messer und so weiter anhängte; die Sonnenjahre wiederum wurden nach der Zeremonialzahl und dem Zeichen des ersten Jahrestages unterschieden. Wie ihr euch denken könnt überschnitten Sonnen- und Ritualkalender einander ständig; einmal hinkte der eine hinterher, oder aber er eilte dem anderen voraus. Aber wenn man sich bemüht, es genau nachzurechnen, wird man feststellen, daß sie über insgesamt zweiundfünfzig gewöhnliche Sonnenjahre eine ganz genau gleiche Anzahl von Tagen abdeckten. Das Jahr, in dem ich geboren wurde, hieß zum Beispiel Dreizehn Kaninchen, und kein einziges späteres Jahr trug diese selbe Bezeichnung wieder, bis mein zweiundfünfzigster Geburtstag kam.
Daher war die Zahl zweiundfünfzig sehr bedeutsam für uns – ein Schock Jahre nannten wir einen solchen Zeitraum –, denn ebenso viele Jahre wurden von beiden Kalendern gleichzeitig abgedeckt; außerdem waren zweiundfünfzig mehr oder weniger das höchste an Jahren, was ein durchschnittlicher Mensch – wenn man von Unfall, Krankheit oder Krieg einmal absieht – hoffen konnte zu leben. Die Steintreppe, die sich den Texcotzinco-Hügel hinaufzog, spiegelte mit den Treppenabsätzen zwischen je dreizehn Stufen die dreizehn Ritualzahlen und mit den zweiundfünfzig Stufen zwischen jeweils zwei Terrassen ein Schock Jahre. Als ich endlich auf die Kuppe des Berges hinaufgelangte, hatte ich insgesamt fünfhundertundzwanzig Stufen gezählt. Alles in allem waren damit zwei der Zeremonialjahre von jeweils zweihundertundsechzig Tagen abgedeckt, gleichzeitig aber auch zehn Schock aus jeweils zweiundfünfzig Jahren. Jawohl, höchst sinnreich!
Als der Regen aufhörte, setzte ich meinen Aufstieg fort. Allerdings legte ich die restlichen Stufen nicht in einem einzigen stürmischen Aufstieg auf einmal zurück, wiewohl ich sicher bin, daß ich das damals mit der ganzen Kraft meiner jungen Jahre hätte tun können, sondern verweilte auf jedem neuen Treppenabsatz lange genug, um zu sehen, ob ich nicht herausfinden könnte, welche Göttin oder welchen Gott die dort aufgestellte kleine Statue darstelle. Etwa die Hälfte von ihnen war mir bekannt: Tezcatlipóca, der Sonnengott, oberste Gottheit der Acólhua; Quetzalcoatl, von dem ich schon gesprochen habe; OmeTecútli und Omeciuatl, unser Erstes Götterpaar …
In den Gärten verweilte ich länger. Hier, auf dem Festland, herrschte weder Mangel an Ackerkrume, noch war zuwenig Platz vorhanden, und Nezahualpíli war offenbar jemand, der Blumen liebte, denn Blumen wuchsen überall. Die Gärten am Hang waren säuberlich in Beete aufgeteilt, die Terrassen jedoch nicht durch Mauern beengt. Infolgedessen ergossen sich die Blumen in großer Fülle über den Rand hinweg, und die Rankengewächse ließen ihre leuchtenden Blüten fast bis zur darunterliegenden Terrasse hinunterwachsen. Ich weiß, daß ich jede Blumenart sah, die ich zuvor in meinem Leben gesehen hatte, doch darüber hinaus zahllose andere, die ich noch nicht kannte; viele davon müssen unter großen Kosten von anderen Ländern hierhergebracht worden sein. Nach und nach ging mir dabei auf, daß die zahlreichen Wasserrosenteiche und blitzenden Wasserbecken, die Fischteiche, murmelnden Bäche und Wasserfälle zu einem Bewässerungssystem gehörten, welches mit Hilfe der Schwerkraft durch irgendeine, hoch oben auf der Spitze des Hügels gelegene Quelle gespeist werden mußte.
Falls der Herr Stark Knochen hinter mir hergestiegen war – zu sehen sollte ich ihn nicht bekommen. Allerdings stieß ich auf einem der höheren Terrassengärten auf einen anderen Mann, der sich dort auf einer Steinbank räkelte. Als ich nahe genug herangekommen war, um ihn einigermaßen deutlich zu erkennen – seine runzlige, kakaobraune Haut, sein zerschlissenes Schamtuch, das einzige, womit er bekleidet war –, erinnerte ich mich, daß ich ihm schon einmal begegnet war. Er erhob sich, zumindest bis zu der Höhe, wie seine gebeugte und verhutzelte Gestalt es zuließ. Ich war ihm mittlerweile über den Kopf gewachsen.
Ich bedachte ihn mit dem traditionellen höflichen Gruß, sagte dann jedoch vermutlich barscher, als ich wollte: »Ich hatte Euch für einen Tlaltelólcoer Bettler gehalten, alter Mann. Was tut Ihr hier?«
»Ein Heimatloser ist überall zu Hause«, erklärte er, als wäre das etwas, worauf man stolz sein könne. »Ich bin hier, dich im Land der Acólhua willkommen zu heißen.«
»Ihr!« entfuhr es mir, denn der kleine Mann paßte in diesen üppigen Garten womöglich noch weniger als unter die buntscheckige Menge auf dem Markt.
»Ja, hast du denn erwartet, vom Verehrten Sprecher höchstpersönlich begrüßt zu werden?« sagte er spöttisch grinsend und ließ dabei seine Zahnlücken sehen. »Willkommen im Palast von Texcotzinco, junger Mixtli. Oder junger Tozáni, junger Malinqui oder junger Poyautla – wie immer du willst.«
»Vor langer Zeit wußtet Ihr schon, wie ich heiße. Und jetzt kennt Ihr alle meine Spitznamen.«
»Jemand, der sich aufs Zuhören versteht, hört auch Dinge, die noch nicht einmal ausgesprochen worden sind. Du wirst später noch andere Namen erhalten.«
»Seid Ihr denn wirklich ein Seher, alter Mann?« fragte ich und wiederholte damit unbewußt die Worte meines Vaters vor vielen Jahren. »Woher habt Ihr gewußt, daß ich hierherkommen würde?«
»Ach, daß du hierherkommst!« sagte er. »Ich schmeichle mir, einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben, daß das geschehen würde.«
»Dann wißt Ihr wesentlich mehr als ich, und ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich ein wenig aufklärtet.«
»Dann wisse, daß ich dich vor jenem Tag in Tlaltelólco niemals gesehen habe – damals, als ich zufällig hörte, daß dein Namensgebungstag sei. Aus reiner Neugier habe ich die Gelegenheit benützt, dich ein wenig genauer anzusehen. Als ich deine Augen betrachtete, erkannte ich, daß du bald in zunehmendem Maße der Gabe des Weitsehens verlustig gehen würdest. Dieses Leiden kommt selten genug vor, so daß die Form des befallenen Augapfels einen unmißverständlichen Hinweis darstellt. Infolgedessen konnte ich mit Gewißheit voraussagen, daß es dir bestimmt sein würde, die Dinge aus großer Nähe und in ihrem wahren Wesen zu erkennen.«
»Ihr habt aber auch gesagt, daß ich die Wahrheit über diese Dinge aussprechen würde.«
Er zuckte mit den Achseln. »Für einen Jungen deines Alters schienst du mir aufgeweckt genug, um mit Sicherheit vorhersagen zu können, daß du einigermaßen intelligent werden würdest. Und jemand, der seines schwachen Sehvermögens wegen gezwungen ist, alles in dieser Welt aus größter Nähe zu betrachten und überdies noch mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet ist, neigt für gewöhnlich dazu, die Welt so zu beschreiben, wie sie wirklich ist.«
»Ihr seid ein Schlitzohr«, sagte ich lächelnd. »Doch was hat all das damit zu tun, daß man mich hierher nach Texcóco geholt hat?«
»Jeder Herrscher, Fürst und Tecútli ist von einem Schwarm dienstbarer Geister und Speichellecker umgeben, die ihm sagen, was er hören will oder was sie wollen, daß er hört. Jemand, der nur die Wahrheit spricht, stellt einen weißen Raben unter dem Schwarm der Höflinge dar. Ich war der Meinung, daß du zu einem solchen weißen Raben werden könntest und deine Fähigkeiten an einem edleren Fürstenhof als dem von Xaltócan mehr geschätzt werden würden als woanders. Infolgedessen ließ ich hier ein Wort fallen und dort …«
»Ihr«, fragte ich, »besitzt das Ohr eines Mannes wie Nezahualpíli?«
Er bedachte mich mit einem Blick, der bewirkte, daß ich mir plötzlich wieder wie ein kleiner Junge vorkam. »Ich habe dir vor langer Zeit gesagt – und habe ich dir das denn immer noch nicht bewiesen? –, daß auch ich die Wahrheit spreche, und das durchaus zu meinem eigenen Nachteil, könnte ich doch ohne weiteres als allwissender Götterbote auftreten. Nezahualpíli ist nicht so zynisch wie du, junger Maulwurf. Er ist geneigt, auch noch dem Geringsten sein Ohr zu leihen, wenn dieser Mann nur die Wahrheit spricht.«
»Ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte ich nach einigem Nachdenken. »Ich sollte Euch danken, statt an Euch zu zweifeln. Und ich bin Euch aufrichtig dankbar dafür, daß …«
Mit einer Handbewegung wehrte er ab. »Ich habe das nicht ausschließlich für dich getan, und es war nicht ganz uneigennützig von mir. Für gewöhnlich bekomme ich durchaus den Preis für das, was ich entdecke. Sieh du nur zu, daß du dem Uey-Tlatoàni treu dienst, und wir werden beide unseren Lohn empfangen. Jetzt geh!«
»Aber wohin? Niemand hat mir gesagt, wohin ich gehen oder an wen ich mich wenden soll. Brauche ich denn bloß über diesen Hügel hinwegzugehen und zu hoffen, daß man mich erkennt?«
»Ja. Der Palast liegt auf der anderen Seite, und du wirst erwartet. Ob der Sprecher selbst dich erkennen wird, wenn ihr das nächstemal zusammentrefft, vermag ich nicht zu sagen.«
»Wir sind uns nie begegnet«, klagte ich. »Wir können einander nicht kennen.«
»So? Nun, dann kann ich dir nur raten, die Gunst von Tolána-Teciuapil, der Dame von Tolan, zu erringen, denn sie ist die Favoritin unter den sieben angetrauten Ehefrauen Nezahualpílis. Bei der letzten Zählung hatte er außerdem vierzig Kebsweiber. Deshalb gibt es drüben im Palast einige sechzig Söhne und fünfzig Töchter des Verehrten Sprechers. Ich bezweifle, daß er selbst die letzte Aufstellung genau kennt. Vielleicht, daß er dich für einen vergessenen, außerehelichen Sproß hält, den er auf einer seiner Wanderungen in der Fremde gezeugt hat – für einen Sohn einfach, der jetzt heimgekommen ist. Aber keine Angst, Maulwurf, man wird dich gastlich willkommen heißen.«
Ich wandte mich zum Gehen, drehte mich dann jedoch nochmals um. »Könnte ich zuvor Euch irgendwie zu Diensten sein, Verehrungswürdiger? Vielleicht könnte ich Euch helfen, den Hügel hinaufzukommen?«
Er sagte: »Ich danke dir für dieses freundliche Anerbieten, aber ich werde noch eine Weile weiter hier rasten. Das beste ist, du steigst allein hinauf, denn auf der anderen Seite erwartet dich das ganze Leben, das noch vor dir liegt.«
Das klang vielversprechend, ich sah jedoch einen kleinen Trugschluß darin und lächelte über meinen eigenen Scharfsinn. »Gewiß wartet mein Leben auf mich, gleichgültig, in welche Richtung ich mich wende und ob ich allein gehe oder nicht.«
Der Kakaomann lächelte gleichfalls, allerdings ironisch. »Richtig, in deinem Alter warten viele Lebenswege. Gehe, wohin es dir beliebt. Geh allein oder in Begleitung. Deine Gefährten können eine lange oder eine kurze Strecke Wegs gemeinsam mit dir zurücklegen. Aber am Ende deines Lebens wirst du gelernt haben, was alle lernen müssen – gleichgültig, wie bevölkert die Wege und Tage deines Daseins gewesen sein mögen. Und dann wird es zu spät sein, noch einmal von vorn anzufangen, zu spät für alles, außer für Bedauern. Deshalb erfahre es jetzt. Kein Mensch hat bis jetzt jemals mehr als ein Leben gelebt, jenes, das er sich selbst ausgesucht hat, und das den größten Teil dieses Lebens über allein.« Er sprach nicht weiter, sein Blick hielt den meinen gebannt. »Also, Mixtli – welchen Weg schlägst du nun von dieser Stelle aus ein? Und in Gesellschaft von wem?«
Ich drehte mich um und stieg den Hügel weiter hinan – allein.