Altera Pars

Seine Exzellenz sind heute nicht anwesend, meine Herren Schreiber? Soll ich dann überhaupt fortfahren? Oh, ich verstehe, Er wird meine Worte von Euren Seiten ablesen, sobald er Muße dazu hat.

Wohlan denn! Lassen wir fürs erste die übertrieben persönliche Chronik meiner Familie und eigenen Person beiseite. Damit nicht der Eindruck entsteht, als hätte ich und die wenigen anderen Personen, die ich erwähnt habe, in einer Art Abgeschiedenheit gelebt, weit entfernt vom Rest der Menschen; gestattet, daß ich einen größeren Überblick gebe. Ich werde in meinen Gedanken und in meiner Erinnerung gleichsam beiseite- und zurücktreten, auf daß ich euch besser begreiflich mache, wie unsere Beziehungen zur Welt insgesamt aussahen. Jener Welt, die wir Cem-Anáhuac nannten, was soviel bedeutet wie Die Eine Welt.

Eure Forschungsreisenden kamen bald dahinter, daß sie zwischen zwei endlose Ozeane im Osten und im Westen eingebettet liegt. Die heißen Feuchtgebiete an den Rändern der Meere erstrecken sich nicht weit ins Landesinnere hinein, dann geht es schon aufwärts und ragen hohe Gebirgsketten, wobei zwischen der Kette im Osten und der im Westen wiederum eine Hochebene eingebettet ist. Diese Hochebene ist dem Himmel so nahe, daß die Luft dort dünn und rein und von strahlender Klarheit ist. Unsere Tage hier sind fast immer von frühlingshafter Milde, selbst während der mittsommerlichen Regenzeit – bis der trockene Winter kommt, da es Tititl, Gott der kürzesten Tage des Jahres gefällt, einige dieser Tage frostig, wenn nicht gar bitterkalt zu machen.

Der am dichtesten bevölkerte Teil der gesamten Einen Welt ist das große Becken oder die Senke in der Hochebene, die ihr jetzt das Tal von Mexiko nennt. Dort drängen sich die Seen, welche dieses Gebiet so verlockend machten als Wohnstatt für die Menschen. Eigentlich handelt es sich nur um einen einzigen gewaltigen See, welcher an zwei Stellen durch weit in den See vorstoßende Hochflächen eingedrückt wird, so daß insgesamt drei ausgedehnte Wasserflächen vorhanden sind, die vergleichsweise enge Wasserstraßen miteinander verbinden. Der kleinste und südlichste dieser Seen enthält Süßwasser und wird von klaren Flüssen gespeist welche Schmelzwasser von den schneebedeckten Bergen herunterführen. Der am weitesten im Norden gelegene See, wo ich meine Kindheit verbrachte, besteht aus rötlichem, recht salzigem Wasser, weil er von mineralhaltigem Land umgeben ist, welches seine Salze an das Wasser abgibt. In dem See in der Mitte, Texcóco-See – größer als die beiden anderen zusammengenommen –, vermengen sich Salzwasser und Süßwasser, was dazu führt, daß das Wasser des Texcóco leicht brackig ist.

Obwohl es nur ein einziger See ist – oder drei, wenn ihr wollt –, haben wir ihn immer mit fünf Namen aufgeteilt. Nur der schwärzlichbraune Texcóco-See trägt einen einzigen Namen. Der südliche und kristallklare See heißt in seinem oberen Teil »Der Blumengarten«, weil das ihn säumende Land die Pflanzschule kostbarer Pflanzen für das gesamte umliegende Gebiet ist. Der Unterteil des Sees heißt Chalco nach dem Volk der Chalca, das an diesen Gestaden sitzt. Der See im Norden, wiewohl nur eine einzige Wasserfläche, ist gleichfalls unterteilt. Die Menschen, die auf der darin liegenden Insel Tzumpánco, der Schädelförmigen Insel wohnen, nennen die obere Hälfte Tzumpànco-See. Und die Menschen meiner Heimat Xaltócan, Insel der Feldmäuse, nennen ihren Teil den Xaltócan-See.

Für einen Geographen gibt es nur einen einzigen See in dem Tal. Für einen Bootsfahrer, der mühselig mit dem Paddel sein Acáli vorantreibt, gibt es drei ausgedehnte und miteinander verbundene Wasserflächen. Für die Menschen, die auf dem See und um ihn herum leben, gibt es deren fünf, die sie mittels verschiedener Namen voneinander unterscheiden. Genauso trug keiner unserer Götter oder Göttinnen nur ein Gesicht, eine Verantwortung, einen Namen. Gleich unserem aus drei Seen bestehenden See, konnte ein einziger Gott eine Dreifaltigkeit von Teilbereichen verkörpern …

Warum runzelt ihr die Stirn, ehrwürdige Patres? Nun gut, ein Gott konnte zwei Gestalten haben, oder fünf. Oder zwanzig.

Je nach der Jahreszeit – Regenzeit oder Trockenzeit, lange oder kurze Tage, Pflanzzeit oder Erntezeit – und je nach den Umständen – Krieg oder Frieden, Überfluß oder Hungersnot, freundliche Herrscher oder grausame – unterschieden sich die Pflichten eines Gottes, desgleichen seine Einstellung zu uns, und unsererseits die Art und Weise, wie wir ihn verehrten, ihn feierten oder beschwichtigten. Oder, anders betrachtet, unser Leben und der Ertrag unserer Felder, unsere Siege oder unsere Niederlagen konnten vom Wesen und von den vorübergehenden Stimmungen des betreffenden Gottes abhängen. Wie die drei Seen konnte er bitter oder süß oder ganz und gar gleichgültig sein, ganz wie es ihm beliebte.

Dabei wurden die vorherrschende Stimmung des Gottes und dasjenige, was sich gerade in unserer Welt abspielte, von verschiedenen Anhängern dieses Gottes durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Ein Sieg für eine Armee bedeutet die Niederlage einer anderen, ist es nicht so? Daher konnte der Gott oder die Göttin gleichzeitig als jemand angesehen werden, der belohnte und der bestrafte, der forderte und gab oder Gutes und Böses bewirkte. Wenn ihr euch die unendlich vielfältigen möglichen Kombinationen von Umständen vergegenwärtigt, solltet ihr eigentlich auch imstande sein, die Vielfalt von Merkmalen zu begreifen, die wir in jedem Gott sahen, die Mannigfaltigkeit von Erscheinungsformen, die jeder annahm, und selbst die womöglich noch größere Vielfalt von Namen, die wir einem jeden von ihnen gaben – Ehrfurcht und Achtung, Dankbarkeit und Furcht verratende Namen.

Aber ich will darauf nicht weiter herumreiten. Laßt mich vom Geheimnisvoll-Unerklärlichen zurückkehren zum Körperlich-Greifbaren und Handfesten. Ich werde jetzt von Dingen sprechen, welche den fünf Sinnen begreiflich sind, die selbst rohe Tiere besitzen.

Die Insel Xaltócan ist im Grunde ein gigantischer, nahezu ganz aus einem einzigen festen Gestein bestehender Felsen, der sich weitab vom Festland im salzigen roten See erhebt. Hätte es dort nicht drei natürliche Süßwasserquellen gegeben, die sprudelnd dem Felsgestein entsprangen, die Insel hätte nie besiedelt werden können; zu meiner Zeit lebten jedoch an die zweitausend Menschen darauf, die sich auf zwanzig Dörfer verteilten. Auch bot der Felsen in mehr als nur einer Hinsicht Lebensmöglichkeiten, denn er bestand aus Tenéxtetl-Kalkstein, einem wertvollen Material. Im natürlichen Zustand ist diese Art Kalkstein ziemlich weich und läßt sich leicht brechen, selbst mit unseren primitiven Werkzeugen aus Holz, Stein, stumpfem Kupfer oder sprödem Obsidian, die euren Werkzeugen aus Eisen und Stahl so unterlegen sind. Mein Vater war ein Meistersteinhauer, einer von mehreren, welche die weniger sachkundigen Arbeiter beaufsichtigten. Ich begleitete ihn häufig, doch erinnere ich mich besonders an eine Gelegenheit, da er mich mitnahm in den Steinbruch, um mich in seinem Handwerk zu unterweisen.

»Sehen kannst du sie nicht«, sagte er zu mir, »aber hier – und hier – verlaufen die haarfeinen natürlichen Spalten und Risse dieser besonderen Schicht des Steins. Wenn sie auch für das ungeübte Auge unsichtbar sind, du wirst lernen, sie aufzuspüren.«

Das sollte zwar nie geschehen, doch er hörte nie auf zu hoffen. Ich sah zu, während er die Stirnwand des Steins mit Klecksen von schwarzem Oxitl kennzeichnete. Andere Arbeiter kamen – vom schweißverklebten Staub sahen sie ganz bleich aus – und trieben an den Stellen, die er angegeben hatte, Holzkeile in die winzigen Spalten. Dann gossen sie Wasser über die Keile. Wir gingen nach Hause, und es vergingen mehrere Tage, in denen die Arbeiter die Keile immer wieder mit Wasser übergossen und naß hielten, damit sie sich vollsaugten, anschwollen und im Inneren des Steins zunehmend Druck ausübten. Dann gingen mein Vater und ich abermals zum Steinbruch. Als wir oben am Rand standen, blickten wir hinab. Mein Vater sagte: »Und jetzt paß gut auf!«

Es war, als ob der Stein auf sein Eintreffen und seine Erlaubnis gewartet hätte, denn plötzlich und ohne jedes Zutun von Menschenhand gab die Felswand einen durch Mark und Bein gehenden Knall von sich und platzte auseinander. Gestein kam in mächtigen Quadern heruntergepoltert, anderes löste sich in flachen, ungefähr viereckigen Scheiben vom Muttergestein, und alles fiel unversehrt in die Netze aus dicken Stricken, die aufgespannt worden waren, sie aufzufangen, auf daß sie nicht unten auf dem Boden des Steinbruchs auseinanderbrachen. Wir gingen hinunter, und zufrieden begutachtete mein Vater sie.

»Wenn man sie jetzt noch ein wenig mit Beilen zurechtschlägt«, sagte mein Vater, »und sie mit einem Brei aus fein zerstoßenem Obsidian und Wasser glättet, ergeben diese hier« – er zeigte auf die Kalksteinblöcke – »vorzügliche Bauquadern, während diese dort« – Platten, so groß wie der Boden unseres Hauses und dick wie mein Arm – »zum Verkleiden und Verblenden dienen.«

Ich rieb auf der Oberfläche eines der Blöcke herum, der mir bis zur Hüfte reichte. Sie fühlte sich wächsern und pulverig zugleich an.

»Ach, frisch vom Muttergestein gelöst, sind sie viel zu weich, als daß man sie zum Bauen gebrauchen könnte«, erklärte mein Vater, und fuhr mit dem Daumennagel darüber hinweg, was eine tiefe Rille hinterließ. »Wenn man sie jedoch eine Zeitlang der frischen Luft aussetzt, verfestigen sie sich, werden hart und unverwüstlich wie Granit. Aber solange er noch weich ist, läßt unser Stein sich leicht bearbeiten, kann man ihn mit jedem härteren Stein behauen oder mit einem Sägeseil, das mit Obsidiangrit besetzt ist, durchsägen.«

Der größte Teil des auf unserer Insel gewonnenen Kalksteins wurde auf das Festland oder in die Hauptstadt hinübergeschafft und diente dort als Baumaterial für Mauern, Fußböden und Decken. Da er sich in frisch gebrochenem Zustand jedoch leicht bearbeiten ließ, gab es im Steinbruch auch Steinmetze. Diese Künstler suchten sich die Blöcke von der besten Beschaffenheit aus und meißelten, während sie noch weich waren, Standbilder unserer Götter, Herrscher und anderer Helden daraus. Aus den brauchbarsten Kalksteinplatten fertigten sie Flachrelieffriese und Türstürze, um Tempel und Paläste damit zu schmücken. Aus den Abfallbrocken schnitzten die Künstler jedoch auch die kleinen Hausgötter, die jede Familie ihr eigen nannte und die hochgeschätzt wurden. Wir in unserem Haus hatten selbstverständlich Figürchen von Tonatíu und Tlaloc, aber auch von der Maisgöttin Chicomecóatl und der Herdgöttin Chántico. Meine Schwester Tzitzi hatte sogar ihr eigenes kleines Standbild von Xochiquétzal, der Göttin der Liebe und der Blumen, zu der alle jungen Mädchen um einen passenden und liebevollen Ehemann beteten.

Die Steinsplitter und anderen Abfälle im Steinbruch wurden in den Kalköfen verbrannt, die ich bereits erwähnt habe; dadurch entstand Kalk, ein weiteres wertvolles Baumaterial. Kalk brauchte man als Zusatz zum Mörtel, um die Quadern beim Bau miteinander zu verbinden. Außerdem läßt sich daraus Stuck herstellen, um Häuser aus geringerem Material damit zu verblenden. Mit Wasser vermischt, wird der Kalk zum Enthülsen der Maiskolben benutzt, und die Maiskörner wiederum werden von unseren Frauen zu Mehl zermahlen, um daraus die Tlaxáltin-Fladen zu backen und andere Gerichte zu kochen. Selbst der Schönheitspflege diente der Kalk; eine bestimmte Klasse von Frauen bleichte damit ihr schwarzes oder braunes Haar, so daß es eine unnatürliche Gelbtönung annahm, so wie sie manche eurer eigenen Frauen aufweisen.

Selbstverständlich geben die Götter nichts umsonst, und von Zeit zu Zeit forderten sie für den Reichtum von Kalkstein, den wir auf Xaltócan brachen, ihren Tribut. Zufällig war ich einmal bei meinem Vater im Steinbruch, als die Götter beschlossen, ein solches Dankopfer von uns zu fordern.

Eine Anzahl von Trägern war dabei, einen gewaltigen, frisch abgesprengten Quaderstein jene lange Rampe hinaufzuschleifen, die sich in sanft ansteigender Windung vom Boden des Steinbruchs bis oben an den Rand hinaufzog. Die Männer schafften das ausschließlich mit ihrer Muskelkraft. Ein jeder hatte sich ein Zugseil über die Stirn gelegt, dessen Ende mit einem Netz aus dicken Stricken verknüpft war, und gemeinsam zogen sie damit den Block in die Höhe. Irgendwo ziemlich weit oben auf der Rampe rutschte der Block zu weit an den Rand oder kippte aufgrund irgendeiner Unregelmäßigkeit im Boden auf die Seite. Wie auch immer, jedenfalls fiel er langsam aber unerbittlich in die Tiefe. Es gab viel Geschrei, und wenn die Träger nicht augenblicklich die Zugseile von der Stirn abgeworfen hätten, wären sie zusammen mit dem Block in die Tiefe gerissen worden. Ein Mann jedoch, der tief unten im Lärm des Steinbruchs arbeitete, hörte die warnenden Rufe nicht. Der Quaderstein fiel direkt auf ihn, und eine der Kanten traf ihn wie die Schneide einer Steinaxt genau in der Leibesmitte.

Der Kalksteinblock hatte eine so tiefe Kerbe in den Boden des Steinbruchs geschlagen, daß er auf der scharfen Kante waagrecht liegen blieb. Daher war es meinem Vater und den anderen Männern, die an die Unglücksstelle eilten, ein Leichtes, den Quader hochzuheben und zu kippen. Zu ihrer Verwunderung stellten sie fest, daß das Opfer der Götter noch am Leben, ja, bei vollem Bewußtsein war.

In der ganzen Aufregung kam ich unbemerkt näher und sah den Mann, der jetzt aus zwei Teilen bestand. Von der Hüfte aufwärts war sein nackter verschwitzter Körper unverletzt, hatte er nicht eine Schramme abbekommen. Seine Hüfte jedoch war breit- und flachgequetscht, so daß sein Oberkörper selbst einer Axt oder einem Meißel glich. Der Stein hatte ihn – samt Haut, Fleisch, Eingeweiden und Rückgrat – genau in der Mitte durchgetrennt und gleichzeitig die Wunde so säuberlich zusammengedrückt, daß kein Tropfen Blut zu sehen war. Er hätte genausogut eine Baumwollpuppe sein können, die man in der Mitte durchgeschnitten und deren Schnitt man wieder zugenäht hatte. Seine untere Hälfte – noch mit seinem Schamtuch bekleidet – lag abgetrennt vor ihm, säuberlich zugedrückt und gleichfalls ohne Spur von Blut; seine Beine allerdings zuckten ein wenig, und außerdem gab diese Hälfte des Körpers große Mengen Urin und Kot von sich.

Der ungeheuerliche Schnitt mußte all seine durchtrennten Nerven lahmgelegt und empfindungslos gemacht haben, so daß der Mann nicht einmal Schmerzen spürte. Er hob den Kopf und betrachtete mit einem leicht verwunderten Gesichtsausdruck seine beiden nicht mehr zusammenhängenden Körperhälften. Um ihm den grausigen Anblick zu ersparen, trugen die anderen Männer ihn – das heißt, seinen Oberkörper – rasch und behutsam beiseite und lehnten ihn gegen die Wand des Steinbruchs. Er streckte die Arme, machte die Hände auf und schloß sie wieder, drehte den Kopf und sagte mit schreckenerfüllter Stimme:

»Ich kann mich bewegen und reden. Ich sehe euch alle, meine Kameraden. Ich kann die Hand ausstrecken, euch berühren und auch fühlen. Ich höre die Axtschläge. Ich rieche den bitteren Kalkgeruch. Ich bin noch immer am Leben. Es ist nicht zu fassen!«

»Das ist es wahrhaftig nicht«, sagte mein Vater mit belegter Stimme. »Aber lange kann das nicht andauern, Xicama. Es hat nicht einmal Sinn, nach einem Arzt zu schicken. Was du brauchst, ist ein Priester. Von welchem Gott, Xicama?«

Der Mann überlegte einen Moment. »Bald kann ich alle Götter begrüßen, wenn ich auch sonst zu nichts mehr nütze bin. Aber solange ich noch sprechen kann, möchte ich noch mit Kot Fresserin reden.«

Der Ruf wurde bis an den Rand des Steinbruchs hinauf weitergegeben, und von dort aus machte sich ein Läufer auf, einen Priester der Erdgöttin Tlazoltéotl oder Kot Fresserin herbeizuholen. Trotz ihres so ganz und gar nicht lieblichen Namens, war sie eine höchst mitleidige Göttin. Ihr pflegten Sterbende all ihre Sünden und Mißtaten zu beichten – und sehr häufig auch Männer, die noch gar nicht an den Tod dachten, aber wegen eines Unrechts, das sie verübt hatten, besonders bedrückt und niedergeschlagen waren –, auf daß Tlazoltéotl ihre Sünden vertilgte, womit diese Sünden dann getilgt wären, als wären sie nie begangen worden. Deshalb belasteten sie einen Mann auch nicht mehr, sprachen nicht mehr gegen ihn und suchten auch seine Erinnerung nicht mehr heim, gleichgültig, in welche Gegenwelt er einging.

Während wir auf den Priester warteten, hielt Ximaca die Augen betont von jener Stelle seines Körpers abgewandt, wo dieser in einen Spalt im Felsboden hineingedrückt zu sein schien, und redete ruhig, ja fast heiter mit meinem Vater. Er trug ihm Botschaften an seine Eltern, seine Witwe und seine verwaisten Kinder auf, machte Vorschläge, wie sein geringes Hab und Gut verteilt werden sollte, und überlegte laut, was seine Familie nun anfangen werde, wenn ihr Ernährer nicht mehr da wäre.

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, erklärte mein Vater. »Es ist dein Tonáli, daß dich die Götter zu sich nehmen im Austausch gegen den Wohlstand von uns, die wir zurückbleiben. Als Anerkennung für dein Opfer werden wir und unser Tecútli, der unserer Ratsversammlung vorsteht, dafür sorgen, daß deine Witwe angemessen entschädigt wird.«

»Dann wird ihr ein erkleckliches Erbe zufallen«, sagte Xicama erleichtert. »Sie ist aber auch noch jung und eine schöne Frau. Bitte, Kopf Neiger, rede ihr gut zu, daß sie wieder heiratet.«

»Das werde ich tun. Sonst noch etwas.«

»Nein«, sagte Xicama, blickte um sich und lächelte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich es einmal bedauern würde, diesen traurigen Steinbruch zum letztenmal zu sehen. Weißt du was, Kopf Neiger? Selbst diese Grube im Felsen hier sieht im Augenblick schön und einladend aus. Die weißen Wolken da oben, dann der blaue Himmel und hier unten die weißen Steine … als ob über und unter dem Blau Wolken zögen. Allerdings wünschte ich, ich könnte die grünen Bäume oben sehen …«

»Das wirst du«, versprach mein Vater ihm, »aber erst, wenn du mit dem Priester gesprochen hast. Bis dahin sollten wir besser nicht versuchen, dich zu bewegen.«

Der Priester kam im ganzen Schwarz der wallenden schwarzen Gewänder, des blutverkrusteten schwarzen Haars und des nie gewaschenen, rußschwarzen Gesichts. Er war das einzige, was mit seiner Düsternis und Dunkelheit das reine Blau und Weiß besudelte, von dem Xicama so schweren Herzens Abschied nahm. Alle anderen Männer gingen fort, um die beiden allein zu lassen und nicht zu stören. (Mein Vater erspähte mich unter ihnen und gab mir mit einer ärgerlichen Handbewegung zu verstehen, ich solle verschwinden; ein solcher Anblick war nichts für einen Jungen meines Alters.) Während Xicama mit dem Priester beschäftigt war, hoben vier Männer seine stinkende und immer noch zuckende untere Hälfte auf, um sie nach oben zu tragen. Einer von ihnen erbrach sich unterwegs.

Xicama hatte offensichtlich kein besonders sündiges Leben geführt; er brauchte nicht lange, Kotfresserin zu beichten, was er getan zu haben bereute oder zu tun unterlassen hatte. Als der Priester ihn im Namen der Göttin freigesprochen und alle rituellen Worte gesprochen sowie alle rituellen Gebärden vollführt hatte, trat er zurück. Vier andere Männer hoben behutsam den noch immer lebenden oberen Teil von Xicama auf und trugen ihn so schnell es ging, ohne ihn durch heftige Bewegungen zu erschüttern, die Rampe hinauf, die zum Rand des Steinbruchs emporführte. Wir hofften, daß er noch lange genug am Leben bleiben würde, um sein Dorf zu erreichen, sich von seinen Angehörigen zu verabschieden und zum Abschied noch allen jenen Göttern seine Verehrung bekunden könne, denen er persönlich den Vorzug gegeben hatte. Aber irgendwo auf der sich in die Höhe schraubenden Rampe platzte sein unten zusammengeklemmter Körper plötzlich auf und heraus tropften sein Blut, sein Morgenessen und etliche andere Substanzen. Xicama hörte auf zu sprechen und zu atmen, schloß die Augen und sollte die grünen Bäume doch nicht mehr zu sehen bekommen.

Etliches von dem Kalkstein Xaltócans war schon vor langer Zeit zum Bau der icpac Tlamanacáli und Teocáltin unserer Insel verwendet worden – oder, wie ihr sagen würdet: unserer Pyramide und mehrerer Tempel. Ein bestimmter Anteil von dem gebrochenen Stein wurde stets bereitgestellt, um unsere Steuern, die wir an das Schatzamt unseres Volkes abführten, sowie den jährlichen Tribut an den Verehrten Sprecher und seinen Obersten Rat zu bezahlen. (Der Uey-Tlatoàni Motecúzoma war gestorben, als ich drei Jahre als war; damals waren Herrschaft und Thron an seinen Sohn Axayácatl – Wassergesicht – übergegangen.) Ein weiterer Anteil der Kalksteinausbeute ging an unseren Tecútli oder Gouverneur sowie einige andere hochstehende Adlige, und noch ein anderer Teil diente dazu Dinge zu bezahlen, die allen auf der Insel zugute kamen: den Bau von Kanus etwa, die dem Warentransport auf dem Wasser dienten, den Ankauf von Sklaven, welche die niederen Arbeiten zu verrichten hatten, die Entlohnung der Steinbrucharbeiter und dergleichen mehr. Gleichwohl blieb noch ein beträchtlicher Teil des Kalksteins übrig für den Verkauf nach außerhalb und für den Tauschhandel.

Auf diese Weise konnte Xaltócan Handelsgüter einführen und gelangte in den Besitz von Zahlungsmitteln, die unser Tecútli je nach Rang und Verdienst unter seine Untertanen aufteilte. Darüber hinaus gestattete er allen Bewohnern der Insel – bis auf die Sklaven und andere Niedrigstehende, versteht sich –, ihre Häuser aus dem in so reichem Maße zur Verfügung stehenden Baumaterial zu errichten. Daher unterschied Xaltócan sich von allen anderen Gemeinwesen hierzulande, wo die Häuser zumeist aus luftgetrockneten Lehmziegeln, Holz oder Rohrgeflecht bestanden, wo viele Familien sich in einem großen Gemeinschaftshaus drängten, oder wo manche sogar in Berghöhlen lebten. Wiewohl das Haus meiner Eltern nur drei Räume hatte, bestand sogar der Fußboden aus großen geglätteten weißen Kalksteinplatten. Es gab nicht viele Paläste in Der Einen Welt, die aus edlerem Material gebaut worden wären. Daß wir den Stein für den Hausbau verwendeten, bedeutete darüber hinaus, daß die Wälder auf unserer Insel keinem Kahlschlag zum Opfer gefallen waren, wie das sonst häufig der Fall war.

Zu meiner Zeit hieß unser Tecútli Tlauquécholtzin, Herr Rot Reiher – ein Mann, dessen Vorfahren zu den ersten Mexíca-Siedlern auf der Insel gehört hatten und der damit zum höchsten Adel bei uns zählte. Wie es in den meisten Bezirken und Gemeinwesen Brauch war, sicherte ihm dieser Umstand auf Lebenszeit die Ämter als unser Tecútli, als Mitglied des Obersten Rates unter dem Vorsitz des Verehrten Sprechers, sowie als Herrscher der Insel, ihrer Steinbrüche, des sie umgebenden Sees und über jeden einzelnen Bewohner der Insel – bis in gewissem Maße auf die Priester, die darauf pochten, nur den Göttern Treue schuldig zu sein.

Nicht jedes Gemeinwesen hatte das Glück, einen Tecútli zu haben wie wir auf Xaltócan. Von den Angehörigen der Adelsschicht erwartete man, daß sie ihrem Rang alle Ehre machten – das heißt, wahrhaft edel waren –, doch das konnte man nicht von allen behaupten. Auch konnte kein Pili, der in den Adelsstand hineingeboren war, jemals abgesetzt oder in eine niedrigere Schicht zurückgestuft werden, mochte sein Verhalten auch noch so unedel sein. (War sein Benehmen jedoch in den Augen seiner Mit-Pipiltin durch nichts zu entschuldigen, verstießen sie ihn aus seiner Stellung und überantworteten ihn unter Umständen sogar dem Tod.) Desgleichen sollte ich an dieser Stelle vielleicht noch erwähnen, daß die Mehrzahl der Adligen durch ihre Geburt diesem Stand angehörten, es jedoch gleichwohl für einen ganz gemeinen Mann möglich war, in die Oberschicht aufzusteigen.

Ich erinnere mich an zwei Xaltócaner, die von Macehuáltin zu Pipiltin aufstiegen und auf Lebenszeit ein beträchtliches Einkommen erhielten. Colótic-Mitztli, ein ehemaliger älterer Kriegsmann, hatte seinem Namen – Wilder Berglöwe – alle Ehre gemacht und in einem längst vergessenen Krieg gegen einen früheren Feind irgendeine große Heldentat vollbracht. Dabei hatte er solche Narben davongetragen, daß er hinterher ganz entstellt und grausig anzusehen war; gleichzeitig hatte ihm das aber auch die begehrte Nachsilbe – tzin an seinen Namen eingetragen, und so hatte er fortan Miztzin, Herr Berglöwe geheißen. Bei dem anderen handelte es sich um Quali-Ameyatl oder Guter Quell, einen freundlichen und umgänglichen jungen Baumeister, der nichts Bemerkenswerteres getan hatte, als die Anlage einiger Gärten des Tecutli-Palasts zu planen. Doch war Améyatl ebenso schön wie Miztzin häßlich war, und so hatte er während seiner Arbeit im Palast das Herz eines Mädchens namens Tautropfen gewonnen, die zufällig die Tochter des Tecútli war. Er heiratete sie und wurde dadurch zu Améyatzin, Herr Quell.

Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß Herr Rot Reiher ein leutseliger und großzügiger, vor allem aber gerechter Mann war. Als seine eigene Tochter, Tautropfen, ihres niedrig geborenen Herrn Quell überdrüssig und beim Ehebruch mit einem schon durch Geburt blaublütigen Pili ertappt wurde, verurteilte Rot Reiher beide – sie und den Ehebrecher – zum Tode. Viele andere Adlige verwendeten sich dafür, daß die Frau nicht getötet, sondern nur von der Insel verbannt werde. Selbst ihr Gatte schwor, er verzeihe seiner Frau den Ehebruch; er und Tautropfen würden die Insel verlassen und in ein fernes Land ziehen, doch der Tecútli ließ sich nicht erweichen, obgleich er – wie wir alle wußten – gerade dieser Tochter ganz besonders zugetan war.

Er sagte: »Man würde mich der Ungerechtigkeit zeihen, wenn ich – wo es um meine eigene Tochter geht – ein Gesetz beuge, das sonst bei meinen Untertanen mit Strenge durchgesetzt wird.« Und er sprach zu Herrn Quell: »Das Volk würde eines Tages behaupten, Ihr hättet meiner Tochter nur aus Achtung vor meinem Amt verziehen, nicht jedoch aus freien Stücken.« Und er befahl, daß jede andere Frau und jedes junge Mädchen in seinen Palast komme und Zeugin der Urteilsvollstreckung werde. »Besonders die ledigen Mädchen im heiratsfähigen Alter«, sagte er, »denn in ihnen lodert das Feuer gleichfalls. Möglich, daß sie Verständnis für die Liebelei meiner Tochter aufbringen oder sie vielleicht sogar darum beneiden. Ihr Sterben sollte heilsam für sie sein; es ist besser, sie denken einmal darüber nach, was für schwerwiegende Folgen so etwas haben kann.«

Folglich ging meine Mutter zur Hinrichtung und nahm Tzitzitlíni mit. Hinterher erzählte meine Mutter, Tautropfen und ihr Geliebter seien vor aller Augen mit Stricken erdrosselt worden, die man in Blumengirlanden versteckt habe; die junge Frau habe ihre Bestrafung alles andere als würdevoll über sich ergehen lassen, sei von Entsetzen gepackt gewesen, habe gefleht und sich gewehrt – und ihr betrogener Ehemann habe um sie geweint; der Herr Rot Reiher jedoch unbewegten Gesichts zugesehen. Tzitzi sagte nichts zu dem Schauspiel. Dafür vertraute sie mir an, im Palast den jüngeren Bruder der Verurteilten getroffen zu haben, Rot Reihers Sohn Pactli.

»Lange hat er mich angeblickt«, sagte sie und erschauerte. »Er lächelte mich an und entblößte dabei die Zähne. Ist so etwas zu begreifen – an einem solchen Tag; und wie er mich angesehen hat – ich habe richtig eine Gänsehaut dabei bekommen.«

Ich hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, daß Rot Reiher an diesem Tag nicht lächelte. Aber ihr begreift, warum alle Menschen auf der Insel unseren unparteiischen und auf Gerechtigkeit bedachten Tecútli so schätzten.

Inzwischen blühte und gedieh unser Gemeinwesen, und wir führten ein bequemes und ungestörtes Leben. Wir, die wir das Glück hatten, auf Xaltócan zu leben, brauchten nicht unser ganzes Denken und Trachten und all unsere Kraft darauf zu richten, unseren Lebensunterhalt zu sichern. Wir konnten sogar über den Bereich unserer Inseln hinausschauen und den Blick zu ferneren Horizonten und zu Höhen erheben, die über jenen lagen, in die wir hineingeboren worden waren. Wir durften uns Wunschträumen hingeben, wie etwa meine Freunde Chimáli und Tlatli. Beider Väter waren Steinmetze und Bildhauer in den Steinbrüchen, und im Gegensatz zu mir, wollten diese beiden Jungen in die Fußstapfen ihrer Väter treten und Künstler werden, nährten dabei jedoch einen größeren Ehrgeiz, als ihre Väter es je getan hatten.

»Ich möchte als Bildhauer besser werden als mein Tete«, erklärte Tlatli und schnitzte an einem weichen Stein herum, der allmählich die Gestalt eines Falken annahm – jenes Vogels, nach dem er benannt worden war.

Er fuhr fort: »Ich werde Bildwerke schaffen – anders als alles, was bisher gemacht worden ist. Und keine zwei davon – nicht einmal meine eigenen – werden sich gleichen. Trotzdem werden sie alle als mein Werk zu erkennen sein, und die Leute werden ausrufen: ›Ayyo, eine Statue des Tlatli !‹ Ich werde sie nicht einmal mit meinem Falkensymbol zu zeichnen brauchen.«

Doch unser gemeinsamer Freund Chimáli richtete den Blick in womöglich noch weitere Fernen als Tlatli. Ihm schwebte vor, die Kunst der Malerei so sehr zu verfeinern, daß das Gemalte auf jede erhabene Arbeit darunter verzichten könnte. Er nährte den Ehrgeiz, ein Maler von Bildern auf Tafeln und Wandgemälden zu werden.

Wenn die Götter nichts dawider hatten, wollte ich mein Glück an dem Ort in Der Einen Welt versuchen, der zwar die größten Anforderungen und schwierigsten Herausforderungen stellte, gleichwohl aber auch die größten Belohnungen bereithielt – in der Hauptstadt des Uey-Tlatoáni selber, wo sich der Wettbewerb unter den ehrgeizigen jungen Männern am gnadenlosesten abspielte und Formen annahm, daß nur die Besten hoffen konnten, wirklich Großes zu erreichen und sich auszuzeichnen – in der strahlenden, der wunderbaren, der ehrfurchtgebietenden Stadt Tenochtítlan.

Wenn ich auch noch nicht wußte, wie mein Beruf aussehen sollte, so wußte ich doch zumindest, wo ich ihn ausüben wollte, hatte das seit meinem ersten und einzigen Besuch dort gewußt, jenem Besuch, den mein Vater mir zu meinem siebten Geburtstag zum Geschenk gemacht hatte, dem Tag, an dem ich meinen Namen erhielt.

Als dieses Ereignis herannahte, hatten meine Eltern mit mir im Schlepptau dem auf unserer Insel lebenden Tonalpóqui oder Kenner des Tonalmati, des traditionellen Namensgebungsbuchs, einen Besuch abgestattet. Nachdem er die gefalteten Seiten des Buches in ganzer Länge auseinandergenommen hatte – womit fast der gesamte Boden seines Zimmers ausgefüllt war –, vertiefte der alte Seher sich lange, und dabei stumm die Lippen bewegend, in jede einzelne Erwähnung der Sternkonstellationen und des göttlichen Wirkens, die mit dem Tag Sieben Blume und dem Mond des Aufsteigenden Gottes im Jahre Dreizehn Kaninchen in Beziehung standen. Dann nickte er, faltete das Buch ehrfurchtsvoll wieder zusammen, nahm seine Bezahlung entgegen – einen Ballen feines Baumwolltuch –, besprenkelte mich mit einem besonderen Weihwasser und erklärte, mein Name solle in Erinnerung an das Gewitter, das bei meiner Geburt getobt habe, fortan Chicóme-Xochitl Tlitéctic-Mixtli lauten. Was hieß, daß ich fürderhin streng genommen Sieben Blume Dunkle Wolke hieß, gemeinhin und weniger förmlich jedoch Mixtli gerufen wurde.

Dieser Name gefiel mir nicht schlecht, denn immerhin klang er sehr männlich; was weniger Eindruck auf mich gemacht hatte, war die Art und Weise gewesen, wie er ausgewählt worden war. Selbst im zarten Alter von sieben Jahren hatte ich, Dunkle Wolke, bereits sehr eigene Vorstellungen. Laut erklärte ich, daß dies hätte jeder tun können, ja, ich selbst hätte es tun können, rascher und billiger dazu, woraufhin ich streng zum Schweigen ermahnt wurde.

Im frühen Morgengrauen des bedeutungsvollen Geburtstages wurde ich zum Palast gebracht, wo der Herr Rot Reiher in höchsteigener Person uns freundlich und umständlich empfing. Er strich mir übers Haar und sagte väterlich-gütig: »Wieder ein Mann, der zum Ruhme Xaltócans herangewachsen ist, eh?« Eigenhändig trug er dann meine Namenszeichen – sieben Punkte, das dreiblütenblättrige Blumenzeichen und ein tongraues, baumwollbauschartiges Gebilde, das eine dunkle Wolke darstellen sollte – in das Tocayámatl, das offizielle Register aller Inselbewohner, ein. Meine Seite sollte darin bleiben, solange ich auf Xaltocan lebte, und nur vernichtet werden, wenn ich starb, eines ungeheuerlichen Verbrechens wegen verbannt wurde oder für immer irgendwoandershin zog. Ich frage mich: Wie lange mag Sieben Blume Dunkle Wolkes Seite inzwischen aus diesem Buch verschwunden sein?

Für gewöhnlich wäre ein solcher Namensgebungstag durch manches andere gefeiert worden, wie zum Beispiel der meiner Schwester: sämtliche Nachbarn und unsere Verwandten wären mit Geschenken gekommen, meine Mutter hätte eine Fülle besonderer Leckereien gekocht, die Männer hätten Röhren mit Picietl geraucht und die alten Leute dem Octli zugesprochen, bis sie betrunken gewesen wären. Mir machte es jedoch nichts aus, daß ich auf all dies verzichten sollte, denn mein Vater hatte zu mir gesagt: »Heute geht eine Ladung Tempelfriese nach Tenochtítlan ab, und es ist noch Platz an Bord für dich und mich. Auch heißt es, ein großes Fest soll in der Hauptstadt gefeiert werden – zu Ehren einer neuen Eroberung oder Ähnlichem – und das soll dein Namensgebungsfest sein, Mixtli.« Daher folgte ich, kaum, daß meine Mutter und meine Schwester mir mit einem Kuß auf die Wange Glück gewünscht hatten, meinem Vater hinunter zur Schiffslände des Steinbruchs.

Auf all unseren Seen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Kanus, die wie unzählige Wasserläufer über die Wasserfläche dahineilten. In der Mehrzahl handelte es sich um die Ein- oder Zwei-Mann-Acaltin der Vogelsteller und Fischer, die aus einem einzigen ausgehöhlten Baumstamm bestanden und die Form einer Bohnenschote hatten. Es gab aber auch größere, bis hinauf zu den Sechzig-Mann-Kriegskanus, und unser Fracht-Acáli bestand aus acht Bordwand an Bordwand vertäuten Booten von nahezu der gleichen Größe. Unsere aus kunstvoll behauenen Kalksteinplatten bestehende Fracht war sorgsam an Deck aufeinandergeschichtet, und jeder einzelne Stein war zum Schutz vor Beschädigungen in dicke Fasermatten eingehüllt worden.

Mit einer so schweren Ladung an Bord eines so ungefügen Fahrzeugs kamen wir selbstverständlich nur sehr langsam voran, wiewohl mein Vater einer von den zwanzig Männern war, die ruderten (oder stakten, wenn es durch seichtes Wasser ging). Wegen der gewundenen Route – erst in südwestlicher Richtung durch den Xaltócan-See, nach Süden hinein in den Texcóco-See, dann wiederum in südwestlicher Richtung auf die Stadt zu – mußten wir sieben von den Entfernungen zurücklegen, die wir Ein Langer Lauf nannten, und was etwa der Länge eurer spanischen Legua entspricht. Es galt also, sieben Leguas zurückzulegen, wobei unser großes Flachboot oder Floß sich selten schneller vorwärtsbewegte, als ein Mensch gehen kann. Wir legten eine ganze Weile vor Mittag von unserer Insel ab, doch war die Nacht schon weit vorangeschritten, als wir in Tenochtítlan festmachten.

Eine Zeitlang sah ich nichts, was mir nicht vertraut gewesen wäre: den rotgefärbten See, den ich so gut kannte. Dann lief das Land von beiden Seiten aufeinander zu, wir glitten durch die südliche See-Enge, das Wasser verblaßte und nahm nach und nach eine graubraune Färbung an, je weiter wir in den riesig großen Texcóco-See hineinliefen. Dieser erstreckte sich so weit nach Osten und nach Süden, daß das Land dahinter nur ein dunkler, gezackter Strich am Horizont war.

Eine Weile bewegten wir uns langsam wieder in südwestlicher Richtung voran, doch hüllte Tonatíu, die Sonne, sich bereits in das Strahlen seines Schlafgewandes, als unsere Ruderer sich gegen die Riemen stemmten, um unser schwerfälliges Fahrzeug vor dem Großen Deich zum Halten zu bringen. Diese Schutzsperre besteht aus einer Doppelreihe von Baumstämmen, die dicht einer neben dem anderen in den Grund des Sees hineingetrieben worden waren, während man den Raum dazwischen fest mit Felsbrocken und Erde aufgefüllt hatte. Er diente dazu, vom Ostwind hochgepeitschte Wellen daran zu hindern, die tiefgelegene Inselstadt zu überfluten. In regelmäßigen Abständen waren Zufahrtstore in den Deich eingelassen, die von den Deichwärtern die größte Zeit des Jahres über offengehalten wurden. Da der Schiffsverkehr, welcher der Stadt zustrebte, beträchtlich war, mußte unser Frachtkahn in einer Reihe mit anderen Fahrzeugen vor der Öffnung warten, ehe er hindurchkonnte.

Während wir das taten, zog Tonatíu die dunklen Decken der Nacht über sein Bett, und der Himmel färbte sich violett. Die Berge im Westen, direkt vor uns, verloren unversehens alle Tiefe und nahmen scharfe Umrisse an, als wären sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten. Über ihnen kam es erst zu einem zaghaften Glimmen, dann wurde aus dem Glimmen plötzlich ein lebhaftes, zuversichtliches Strahlen: Nach Blume versicherte uns, daß abermals eine von den vielen Nächten angebrochen war, nicht die letzte und nimmer endende Nacht.

»Jetzt sperr die Augen weit auf, Sohn Mixtli!« rief mein Vater von seiner Ruderbank aus.

Als ob Nach Blume ein Feuerzeichen gegeben hätte, tauchte jetzt ein zweites Licht auf, dieses freilich unterhalb der Zackenlinie der schwarzen Berge. Dann noch ein Lichtpunkt und noch einer, dann zwanzig und aberzwanzig flackernde Lichter. Und so erblickte ich Tenochtítlan zum erstenmal in meinem Leben: nicht als eine Stadt aus steinernen Türmen, reichgeschnitztem Holz und leuchtender Farbe, sondern als eine Stadt aus Licht. In dem Maße, wie Lampen und Laternen, Kerzen und Fackeln entzündet wurden – in Fensteröffnungen, auf den Straßen, die Kanäle entlang, auf den Terrassen der Häuser, an Straßenecken und auf den Dächern –, verdichteten die einzelnen Lichtpunkte sich zu Trauben, verschmolzen die Lichttrauben miteinander und bildeten Bänder aus Licht, die wiederum die Umrisse der Stadt zeichneten.

Die Häuser selbst waren aus der Ferne nur als undeutliche dunkle Masse zu erkennen. Aber die Lichter, ayyo, die Lichter! Gelbe, weiße, rote, zirkonbraune und von den vielfältigsten Flammenfarben – hier und da, wo man Salze ins Altarfeuer eines Tempels oder Feilspäne vom Kupfer hineingestreut hatte, grüne oder blaue. Und jede einzelne von diesen schimmernden Perlen, Trauben und Bändern aus Licht blinkte doppelt auf, denn ein jedes spiegelte sich noch einmal auf der glatten Oberfläche des Sees. Selbst die steinernen Dammstraßen, welche sich von der Insel zum Festland hinüberspannten, selbst diese waren über ihre ganze Länge in bestimmten Abständen von Laternen auf hohen Pfählen erleuchtet. Von unserem Acáli aus konnte ich nur zwei dieser künstlichen Dammstraßen sehen – diejenigen, die in südlicher und in nördlicher Richtung von der Stadt hinwegführten. Jede von ihnen nahm sich aus wie eine schlanke, mit funkelnden Edelsteinen besetzte Kette, die sich um den Hals der Nacht schlang, während die Stadt in der Mitte wie ein großer, strahlend blitzender Anhänger auf dem Busen der Nacht ruhte.

»Tenochtítlan, Cem-Anàhuac Tlali Yolóco«, murmelte mein Vater. »Das hier ist wahrhaftig Herz und Mittelpunkt Der Einen Welt.« Ich war so gebannt und verzaubert gewesen von dem herrlichen Anblick, daß ich gar nicht gemerkt hatte, wie er am Bug unseres Frachtkahns neben mich getreten war. »Sieh lange hin, Sohn Mixtli. Kann sein, daß du dieses Wunder und viele andere Wunder mehr als einmal erlebst. Aber ein erstes Mal gibt es immer nur einmal.«

Ohne zu blinzeln und oder meine Augen von der Pracht abzuwenden, der wir uns nur allzu langsam näherten, lag ich bäuchlings auf einer dicken Fasermatte und starrte unentwegt hinüber, bis mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, die Augen zufielen und ich einschlief. Wiewohl der Lärm, die Geschäftigkeit und das Getriebe bei unserer Landung beträchtlich gewesen sein müssen, kann ich mich daran genausowenig erinnern wie daran, daß mein Vater mich in die nahegelegene Herberge für die Bootsleute trug, in der wir die Nacht verbrachten.

Als ich aufwachte, fand ich mich auf einer Strohschütte in einem ganz gewöhnlichen Raum wieder, in dem mein Vater und noch ein paar andere Männer schnarchend auf ihren eigenen Strohschütten lagen. Als mir aufging, daß wir in einer Herberge waren und vor allem, in welcher Stadt sich diese Herberge befand, sprang ich auf und lief an die Fensteröffnung, um mich hinauszulehnen – und einen kurzen Augenblick hindurch wurde mir ganz schwindelig, als ich von meiner Höhe hinunterblickte auf den gepflasterten Weg unten. Es war das erstemal, daß ich mich in einem Haus befand, welches auf einem anderen Haus stand. Oder zumindest glaubte ich das damals, bis mein Vater mir später von draußen zeigte, daß unser Raum im obersten Stockwerk der Herberge gelegen war.

Ich hob die Augen und schaute hinüber zu der Stadt jenseits des Hafengebietes. Sie schimmerte, sie waberte und glomm weiß im Licht der frühen Morgensonne. Ihr Anblick erfüllte mich mit Stolz auf meine Heimatinsel, denn sämtliche Häuser, die nicht geradezu aus weißem Kalkstein errichtet waren, waren mit weißem Stuck verkleidet, und ich wußte, daß der größte Teil des Materials aus Xaltocan stammte. Selbstverständlich trugen die Gebäude Wandbilder und waren mit Bändern und Gefachen aus leuchtenden Farben und Mosaiken geschmückt, doch der beherrschende Eindruck, der von der Stadt ausging, war der von einem blendenden, nahezu silbrigen Weiß, daß es den Augen fast wehtat.

Die Lichter vom gestrigen Abend waren jetzt alle gelöscht. Einzig ein noch schwelendes Tempelfeuer ließ irgendwo träge einen Rauchfaden in die Luft aufsteigen. Aber jetzt erblickte ich ein neues Wunder: Vom Dach eines jeden Hauses, Tempels oder Palastes in der Stadt, auf jedem höchsten Punkt erhob sich ein Fahnenmast, und von jedem Mast herab wehte ein Banner. Keine viereckigen oder dreieckigen Schlachtenbanner, sondern vielmehr schmale Wimpel, um ein Vielfaches länger als breit. Und alle waren sie weiß, bis auf das farbige Wappen in der Mitte. Manche von diesen Zeichen waren mir vertraut – das der Stadt selbst, das des Verehrten Sprechers Axayácatl sowie diejenigen mancher Götter –, andere jedoch kannte ich nicht: die Wappenzeichen der Tenochtítlaner Adelsfamilien und besonderer Stadtgötter, wie ich annahm.

Die Flaggen von euch weißen Männern sind stets aus Tuch und oft sehr eindrucksvoll aufgrund ihrer reichen Stickerei, gleichwohl jedoch einfache Tücher, die entweder schlaff vom Mast herabhängen oder lustlos daran flattern und knattern wie Wäsche, die eine Bäuerin zum Trocknen auf die Kaktusdornen gelegt hat. Im Gegensatz dazu waren die unglaublich langen Banner Tenochtítlans aus Federn gewirkt – aus Federn, die von ihren Kielen befreit waren, wobei nur die allerleichtesten Daunen überhaupt verwendet wurden. Auch waren sie weder bemalt noch gefärbt, vielmehr waren die Wimpel kunstvoll in den natürlichen Farben der Federn verarbeitet: den Untergrund bildeten weiße Reiherfedern, und die Wappenzeichen bestanden aus den unterschiedlich rotgetönten Federn von Papageien, Kardinalsvögeln und Langschwanzsittichen, den mannigfaltig getönten Blaufedern von Hähern und Reihern, den Gelbtönen von Tukanen und Tanagrameisen. Ayyo, ich erzähle euch die reine Wahrheit, ja, ich küsse die Erde – was ich dort erblickte, waren Farben und Leuchtkraft, wie sie nur in der lebendigen Natur vorkommen, nicht aber in den Farbtöpfen der Menschen.

Das Wunderbarste von allem aber war, daß die Banner weder schlaff herabhingen noch flatterten, sondern vielmehr schwebten. Kein Lüftchen regte sich an diesem Morgen. Einzig die Bewegungen der Menschen auf den Straßen und der Acàltin auf den Kanälen ließen leichte Luftströmungen entstehen, welche genügten, die sehr langen, aber nahezu gewichtslosen Wimpel in der Schwebe zu halten. Großen Vögeln gleich, die keine Lust hatten fortzufliegen, sondern es zufrieden waren, träumerisch in der Luft zu schweben, hingen die Banner vollständig ausgebreitet in der Luft. Sanft wogten die Tausende von Federbannern, lautlos und wie von Zauberhand gehalten, über den Türmen und Zinnen dieser magischen Inselstadt.

Wenn ich mich gefährlich weit zur Fensteröffnung hinauslehnte, konnte ich weit im Südosten die beiden Vulkanspitzen von Popocatépetl und Ixtacciuatl sehen, den weihrauchspeienden Berg und Die Weiße Frau. Obwohl die Trockenzeit gerade erst angefangen hatte und die Tage warm waren, waren beide Berge mit einer weißen Haube bedeckt – dem ersten Schnee, den ich sah –, und der schwelende Weihrauch, der tief aus dem Inneren des Popocatépetl aufstieg, strich als duftige blaue Rauchfahne über den Berg dahin, so träge wie die Federbanner über Tenochtítlan. Eilends sprang ich vom Fenster zurück, um meinen Vater zu wecken. Er muß noch müde gewesen sein und hatte eigentlich weiterschlafen wollen, stand jedoch ohne Murren auf und lächelte verständnisvoll über meinen Eifer, so bald als möglich hinauszugehen in die Stadt.

Entladung und Weitertransport der Fracht gehörten zu den Aufgaben des Frachtmeisters, und so hatten mein Vater und ich den Tag für uns. Er mußte eine Besorgung machen – irgend etwas kaufen, was meine Mutter ihm aufgetragen hatte mitzubringen –, und deshalb machten wir uns zuerst in nördlicher Richtung nach Tlaltelólco auf.

Wie ihr wißt, ehrwürdige Patres, ist jener Teil der Insel – den ihr heute Santiago nennt – vom Südteil der Stadt nur durch einen breiten Kanal getrennt, den etliche Brücken überspannen. Aber Tlaltelólco war über viele Jahre hinweg eine selbständige Stadt unter einem eigenen Herrscher und wetteiferte heftig mit Tenochtítlan darum, Hauptstadt der Mexíca zu sein. Tlaltelolcos Überlegenheitswahn war lange Zeit hindurch gutmütig von unseren Verehrten Sprechern geduldet worden. Als jedoch der inzwischen verstorbene Herrscher Moquihuix die Stirn hatte, eine Tempelpyramide zu bauen, die höher war als jede in den vier Ecken von Tenochtítlan, war der UeyTlatoáni Axayácatl zurecht verärgert und befahl seinen Zauberern, den nunmehr unerträglichen Nachbarn keine Ruhe mehr zu geben.

Wenn stimmt, was man sich erzählte, sprach ein gemeißeltes Steingesicht in Moquihuix' Thronsaal plötzlich zu ihm. Was es sagte, war so beleidigend für sein Mannestum, daß er eine Kriegskeule ergriff und das Bildwerk zertrümmerte. Als er dann mit seiner Ersten Gemahlin zu Bett stieg, sprachen auch ihre Tipili-Teile zu ihm und Versehrten sein Mannestum. Abgesehen davon, daß diese Ereignisse Moquihuix selbst bei seinen Nebenfrauen kraftlos machten, jagten sie ihm große Angst ein; dennoch weigerte er sich immer noch, sich dem Verehrten Sprecher zu unterwerfen und ihm Treue zu schwören. Deshalb hatte Axayácatl ein Jahr, bevor ich anläßlich meines Namensgebungstages zu Besuch in die Stadt kam, Tlatelólco mit Waffengewalt genommen. Axayácatl höchstpersönlich stieß Moquihuix von der höchsten Spitze der Emporkömmlingspyramide herab und zerschmetterte ihm den Schädel. Nur wenige Monde später, als mein Vater und ich Tlatelólco betraten, war es zwar immer noch eine schöne Stadt voller Tempel, Paläste und Pyramiden, gab sich jedoch damit zufrieden, der fünfte Stadtteil von Tenochtítlan zu sein, das Marktplatzanhängsel der Stadt.

Der immense Marktplatz unter freiem Himmel wollte mir so riesig vorkommen wie die ganze Insel Xaltocan, und noch reicher und noch wimmelnder von Menschen und bei weitem geräuschvoller. Gänge teilten den riesigen Platz in regelmäßige Gevierte auf, in denen die Händler auf Steinbänken oder Bodentüchern ihre Waren ausbreiteten, und jedes Geviert oder jedes aus vielen Gevierten bestehende Viereck war für verschiedene Warenarten bestimmt. Da war der Bereich der Gold-und Silberschmiede, ein eigener Bereich für die Federarbeiter, für die Verkäufer von Gemüse und Lebensmitteln, Fleisch und lebenden Tieren, für Tuch-und Lederwaren, für Sklaven und Hunde, irdenes Geschirr und Kupfergetriebenes, Medizin und Schönheitsmittel, für Seilerwaren, Bindegarn und gesponnene Fäden, rauhstimmige Vögel und kreischende Affen und andere Schoßtiere. Ich weiß, dieser Markt ist wiederaufgebaut worden und ihr habt ihn zweifellos gesehen. Obgleich mein Vater und ich bereits zu früher Morgenstunde dort erschienen, wimmelte es bereits von Kauflustigen. Die meisten waren Macehuáltin wie wir, aber es waren auch Damen und Herren dort, die herrisch auf bestimmte Waren zeigten, die sie haben wollten, und die das Gefeilsche um den Preis ihren Dienstboten überließen, die sie begleiteten.

Wir hatten Glück, so früh dorthin zu kommen, oder zumindest ich hatte Glück, denn es gab einen Verkaufsstand auf dem Markt, an dem etwas so Leichtvergängliches feilgeboten wurde, daß es schon vor der Mittagsstunde verdorben sein würde – die köstlichste aller Leckereien, die ringsum zum Verkauf standen: Schnee. Dieser Schnee wurde durch sich ablösende Schnellboten, welche die Kühle der Nacht nutzten, die zehnmal Ein Langer Lauf vom Gipfel des Ixtacciuatl nach Tenochtítlan heruntergeschafft wo der Händler den kostbaren Schnee in dickwandigen irdenen Krügen unter dicken Lagen von Fasermatten bis zum Morgen kühl hielt. Eine Portion kostete zwanzig Kakaobohnen. Das war ein ganzer Tageslohn für den Durchschnittsarbeiter der Mexíca. Für vierhundert Bohnen bekam man schon einen annehmbaren, kräftigen Sklaven, der seinem Herrn ein ganzes Leben lang diente. Schnee war also seinem Gewicht nach teurer als alles andere auf dem Tlaltelolco-Markt, das kostbarste edelsteinbesetzte Geschmeide auf den Ständen der Goldschmiede nicht ausgenommen. Nur wenige außer den Adligen konnten es sich leisten, von dieser erlesenen Erfrischung zu kosten. Trotzdem, so sagte der Schneeverkäufer, verkaufe er stets seinen ganzen Morgenvorrat, ehe er geschmolzen sei.

Mein Vater brummte anerkennend vor sich hin. »Ich erinnere mich noch an die Schwere Zeit. Im Jahr Ein Kaninchen fiel sechs Tage hintereinander Schnee vom Himmel herab. Damals konnte nicht nur jeder sich soviel Schnee nehmen, wie er wollte, nein, der Schnee war eine schlimme Plage.« Doch selbstverständlich gab er meinem Drängen nach und sagte zu dem Verkäufer, dem das nicht gleichgültiger hätte sein können: »Nun, da der Junge seinen Namensgebungstag hat …«

Er band seinen Schultersack auf und zählte die zwanzig Kakaobohnen ab. Der Händler untersuchte eine jede einzelne ganz genau, um sich zu vergewissern, daß es sich nicht um eine geschnitzte Fälschung aus Holz handelte, oder um eine ausgehöhlte und mit Erde gefüllte Bohne. Dann machte er einen seiner Krüge auf, kratzte einen Löffel voll der köstlichen Leckerei heraus, drückte sie in eine Tüte aus zusammengerolltem Blatt, ließ reichlich süßen Sirup darüberfließen und reichte es mir.

Gierig biß ich hinein und hätte die Tüte um ein Haar fallen lassen, so überrascht war ich von der Kälte. Meine Zähne im Unterkiefer und meine Stirn schmerzten mich; trotzdem war es das köstlichste, was ich bis dahin in meinem jungen Leben gekostet hatte. Ich hielt die Tüte meinem Vater zum Probieren hin. Er fuhr einmal mit der Zunge darüber hin und genoß es offensichtlich genausosehr wie ich, gab jedoch vor, nicht mehr zu mögen. »Du mußt nicht hineinbeißen, Mixtli, sondern lecken«, sagte er. »Dann hast du länger was davon.«

Nachdem mein Vater erstanden, was meine Mutter sich gewünscht, und einen Träger damit zu unserem Boot geschickt hatte, wandten wir uns wieder nach Süden in Richtung Stadtmitte. Wiewohl viele der gewöhnlichen Häuser Tenochtítlans zwei-und sogar dreistöckig gebaut waren – und die meisten von ihnen noch höher ragten, da sie auf Pfeilern ruhten, um die Feuchtigkeit abzuhalten –, erhebt sich die Insel selbst an keiner Stelle mehr als in doppelter Mannshöhe über den Spiegel des Texcóco-Sees. Daher gab es damals fast genausoviele Kanäle wie Straßen, welche die Stadt nach allen Richtungen hin durchkreuzten. An manchen Stellen liefen Kanäle und Straßen unmittelbar nebeneinander her; Fußgänger unterhielten sich dabei mit Bootsfahrern. An manchen Stellen konnten wir ganze Menschenströme sehen, die geschäftig hin und her eilten; an anderen sahen wir Kanus vorüber gleiten. Manche davon konnte man mieten, um Leute, die es besonders eilig hatten, schneller von einem Punkt der Stadt zum anderen zu bringen, als sie es zu Fuß hätten schaffen können. Wieder andere waren Privat-Acáltin der Adligen, und diese waren schön bemalt und verziert und in der Mitte von Baldachinen überragt um die Herren und Damen vor der Sonne zu schützen. Die Straßen bestanden aus hartgestampftem, eingeebnetem Ton, die Ufer der Kanäle aus Mauerwerk. An vielen Stellen, wo das Wasser der Kanäle fast die Höhe der Straßen erreichte, ließen sich die Fußgängerbrücken beiseitedrehen, um die Boote hindurchzulassen.

Genauso, wie das Netz von Kanälen den Texcóco-See praktisch mit in die Stadt einbezog, sorgten die drei Dammstraßen dafür, die Stadt an das Festland anzubinden. Wo diese Straßen die Insel verließen, wurden sie zu breiten Straßen aus Stein, über welche man fünf verschiedene, auf dem Festland gelegene Städte im Norden, Westen und Süden erreichen konnte. Außerdem gab es noch eine weitere Verbindung, bei der es sich freilich nicht um eine Straße, sondern um ein Aquädukt handelte. Dieser barg eine Rinne aus gewölbten Ziegeln, tiefer und breiter, als ein Mann seine beiden Arme ausstrecken konnte, und diese Rinne führt noch heute Süßwasser von der im Südwesten auf dem Festland gelegenen Chapultépec-Quelle in die Stadt.

Da alle Straßen des Landes und alle Wasserstraßen der Seen hier in Tenochtítlan zusammenliefen, erlebten mein Vater und ich den ständigen Handelsaustausch innerhalb des ganzen Mexíca-Volkes und mit anderen Völkern. Überall ächzten Träger unter der Last, die sie mit Hilfe von Tragriemen, der ihnen über die Stirn ging, auf dem Rücken trugen. Überall sah man hochbeladene Kanus aller Größen mit ihren Waren dem Markt von Tlatelólco zustreben oder von dort kommen, oder die Kanus mit den Tributlieferungen unterworfener Völker, die in die Paläste, das Schatzhaus oder die nationalen Lagerhäuser gebracht wurden.

Allein die bunten Körbe mit den Früchten vermittelten schon eine Vorstellung davon, wie ausgedehnt der Markt war. Da waren Guaven und Zimtäpfel aus dem Gebiet der Otomi im Norden, Ananas aus dem Land der Totonàca am Rand des Meeres im Osten, gelbe Papayas aus dem westlich gelegenen Michihuácan, rote Papayas von den weit im Süden lebenden Chiapàn und von den nicht ganz so weit südlich lebenden Tzapotéca die Tzapotin-Marmeladenpflaumen, die dem Gebiet den Namen gegeben haben.

Ebenfalls aus Tzapotéca-Land kamen die Säcke mit den getrockneten kleinen Insekten, aus denen man verschiedene rote Farbstoffe gewinnt. Aus dem nahen Xochimilco kamen Blumen und Pflanzen die Fülle – man hätte nicht für möglich gehalten, daß es überhaupt so viele verschiedene Arten gibt. Aus den fernen Dschungeln im Süden kamen Kisten mit bunten Vögeln oder ganze Ballen mit Vogelfedern. Aus den Heißen Ländern im Osten wie im Westen kamen Säcke mit Kakao zum Bereiten des Schokoladentranks und die schwarzen Orchideenschoten, die ihr vainilla nennt. Aus den südöstlichen Küstengebieten der Olméca kam jenes Erzeugnis, das dem Volk seinen Namen gegeben hat: oli. Streifen von dehnbarem Gummi, die – ineinander verflochten – jene harten Bälle ergaben, wie wir sie zu unserem Tlachtli-Spiel brauchten. Selbst unsere Rivalen, die Texcàla, Erbfeinde von uns Mexíca, schickten das kostbare Copáli, duftendes Harz, das zur Herstellung von Wohlgerüchen und Weihrauch dient.

Von überall her kamen Kisten und Körbe voller Mais, Bohnen und Baumwolle; und Bündel lebendiger glucksender Huaxolóme (jener großen, schwarzen Vögel mit den roten Kämmen und Ohrlappen, die ihr Gallipavos – Truthähne – nennt) sowie ganze Kisten mit Truthahneiern; und Käfige mit den unbehaarten und eßbaren Techichi-Hunden, die nicht bellen; und mächtige Hirschkeulen, Hasen und Wildschweine; und Krüge mit dem wasserklaren süßen Saft der Maguey-Pflanze oder dem sämigeren weißen Gärungsprodukt eben dieses Saftes, das berauschende Getränk Octli …

Mein Vater zeigte mir all diese Herrlichkeiten und nannte mir ihre Namen, als uns plötzlich eine Stimme unterbrach: »Für nur zwei Kakaobohnen, mein Herr, werde ich Euch die Wege und Tage deuten, die sich jenseits Eures Sohnes Mixtli Namensgebungstag erstrecken.«

Mein Vater drehte sich um. Unmittelbar neben ihm und nicht viel höher hinaufreichend als bis zu seinem Ellbogen stand ein Mann, der selbst einer Kakaobohne gar nicht unähnlich war. Er trug ein zerrissenes und schmutziges Schamtuch, und seine Haut hatte die Farbe des Kakaos: sie war von einem so dunklen Braun, daß es fast schon violett wirkte. Sein Gesicht war über und über mit Runzeln bedeckt genau wie die Kakaobohne. Möglich, daß er früher einmal wesentlich größer gewesen war, jetzt aber stand er gebeugt, in sich zusammengesunken und geschrumpft da von der Last der Jahre, die niemand hätte schätzen können. Recht bedacht, muß er ungefähr so ausgesehen haben wie ich heute. Den Handteller nach oben, streckte er seine Affenhand aus und wiederholte noch einmal: »Zwei Bohnen, Herr.«

Mein Vater schüttelte den Kopf und sagte höflich: »Wenn ich etwas über die Zukunft erfahren will, gehe ich zu einem Weitseher.«

»Habt Ihr jemals einen dieser Seher aufgesucht«, fragte der Gebeugte, »und erlebt, daß er Euch augenblicklich als Meistersteinhauer von Xaltócan erkannt hätte?«

Mein Vater machte ein verblüfftes Gesicht, und es entfuhr ihm: »Dann seid Ihr ein Seher. Ihr habt das Gesicht. Wieso denn …«

»Wieso ich in Lumpen herumlaufe und die Hand ausstrecke? Weil ich die Wahrheit sage und die Menschen wenig auf die Wahrheit geben. Die Seher nehmen den heiligen Pilz zu sich und träumen Träume für Euch, weil sie für Träume mehr verlangen können. Mein Herr, die feinen Runzeln auf Euren Knöcheln sind weiß vom Kalkstaub, aber Eure Hände weisen keine Schwielen auf, wie sie der Steinbrucharbeiter oder der Steinmetz durch sein Handwerkszeug bekommt. Seht Ihr? Die Wahrheit ist so billig, daß ich sie sogar umsonst weggeben kann.«

Ich lachte, und mein Vater stimmte in dies Lachen mit ein. »Ihr seid ein altes Schlitzohr. Aber wir haben noch anderswo viel zu tun …«

»Wartet«, sagte der Mann und ließ nicht locker. Er beugte sich noch tiefer und schaute mir in die Augen, wobei er den Kopf freilich nicht wesentlich weiter zu senken brauchte. Ich hielt seinem forschenden Blick stand und wich ihm nicht aus.

Man hätte annehmen können, daß der bettelnde alte Gauner sich in der Nähe herumgedrückt hatte, als mein Vater mir den gesüßten Schnee kaufte, und dabei mitbekommen hatte, daß ich meinen so bedeutsamen siebenten Geburtstag feierte – und uns für Einfaltspinsel vom Lande hielt, die in der Stadt ihr Geld mit vollen Händen ausgaben und leicht zu prellen waren. Doch viel später, als die Ereignisse in meinem Leben mich dazu brachten, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was genau er gesagt hatte.

Forschend blickte er mir in die Augen und murmelte: »Jeder Seher kann weit die Wege und die Tage entlang sehen. Selbst wenn er etwas erkennt, was sich wirklich bewahrheiten wird, wird das weit, weit entfernt in Zeit und Raum geschehen, und so betrifft es den Seher selbst weder so noch so und bedroht ihn auch nicht. Das Tonáli dieses Jungen ist es jedoch, die Dinge und das Geschehen der Welt ganz, ganz aus der Nähe zu betrachten, sie nahe vor seinen Augen zu haben, sie ganz deutlich zu erkennen und zu begreifen, was sie zu bedeuten haben.«

Er richtete sich auf. »Anfangs wird dir das hinderlich im Weg stehen, Junge, doch könnte diese Art von Nahsehen dich Wahrheiten erkennen lassen, welche die Weitseher übersehen. Solltest du es fertigbringen, diese Gabe zu deinem Vorteil zu nutzen, müßte sie dich eigentlich reich und groß machen.«

Mein Vater seufzte geduldig und griff in seinen Sack.

»Nein, nein«, wehrte der Mann ab. »Ich prophezeie Eurem Sohn weder Reichtümer noch Ruhm. Ich verspreche ihm auch nicht die Hand einer wunderschönen Prinzessin oder daß er ein vornehmes Geschlecht gründet. Euer Sohn Mixtli wird die Wahrheit sehen, ja. Unglücklicherweise wird er aber auch die Wahrheit aussprechen, die er erkennt. Und das trägt häufig mehr Verleumdung und böse Nachrede ein als Belohnungen. Für die Vorhersage einer so zweifelhaften Gabe, mein Herr, verlange ich keinen Dank.«

»Nehmt diese trotzdem«, sagte mein Vater und nötigte ihm eine einzelne Kakaobohne auf. »Sagt uns nur nicht noch mehr voraus, alter Mann.«

Im eigentlichen Zentrum der Stadt herrschte nur wenig gewerbliches Treiben, doch alle Bürger, die nichts Dringendes vorhatten, fingen an, sich für die Zeremonie, von der mein Vater gehört hatte, auf dem großen Platz einzufinden. Er fragte einen Vorübergehenden, worum es sich überhaupt handele, woraufhin der Mann sagte: »Nun, selbstverständlich, um die Weihe des Sonnensteins und um die Eingliederung von Tlaltelólco zu feiern.« Die meisten der Versammelten waren schlichtes Volk wie wir, doch standen auch viele Pipiltin herum, genug, eine nicht gerade kleine Stadt ausschließlich mit Edelleuten zu bevölkern. Doch wie dem auch sei, mein Vater und ich hatten uns absichtlich zeitig eingefunden. Wiewohl bereits mehr Menschen auf dem Platz versammelt waren als ein Kaninchen Haare hat, füllten sie das Riesengeviert bei weitem noch nicht. Wir hatten Raum genug, um gemächlich umherspazieren und alles Sehenswerte betrachten zu können.

Gleichwohl hatte der Platz für einen Jungen vom Lande wie mich etwas Ehrfurchtgebietendes. Mein Vater erzählte mir, er habe ihn einst auf einer geraden Linie abgeschritten, indem er Fuß vor Fuß gesetzt, und dabei habe er genau sechshundert seiner Füße gezählt. Dieser ganze gewaltige Raum – rund sechshundert Männerfüße von Norden nach Süden und von Ost nach West – war mit Marmor gepflastert, der noch weißer war als selbst der Kalkstein aus Xaltocan, war poliert, geglättet und blitzte wie ein Tezcatl-Spiegel. Viele Menschen waren an diesem Tag darauf versammelt, die, wenn sie Sandalen trugen, auf denen man leicht ausrutschte, diese ausziehen und barfuß gehen mußten.

Die drei breitesten Prachtstraßen der Stadt – jede so breit, daß zwanzig Mann nebeneinander darauf entlangmarschieren konnten – nahmen ihren Ausgang von diesem Platz und führten nach Norden, Westen und Süden und gingen dann in voller Breite in die Dammstraßen über, die bis zum Festland hinüberführten. Der Platz selbst war damals noch nicht so voll von Tempeln, Altären und Denkmälern, wie das in späteren Jahren der Fall sein sollte. Gleichwohl standen bereits bescheidene Teocáltin, die Standbilder der Hauptgötter beherbergten. Es stand auch bereits das wunderbar geschmückte Gerüst, auf welchem die Schädel der erlauchteren Xochimique, die dem einen oder anderen unserer Götter geopfert worden waren, zur Schau gestellt wurden. Und da war noch unseres Verehrten Sprechers privater Ballplatz, auf dem besondere rituelle Tlachtli-Spiele ausgetragen wurden.

Des weiteren stand dort das Haus des Liedes, das bequeme Wohn-und Übungsräume für die besten Musiker, Sänger und Tänzer barg, die bei religiösen Festlichkeiten auf dem Platz auftraten. Das Haus des Liedes ist nicht wie alle anderen Bauten auf dem Platz zusammen mit der ganzen Stadt vernichtet worden. Es wurde wiederaufgebaut, und bis die Kathedrale des Heiligen Francisco fertiggestellt sein wird, dient es als eures Herrn Bischof Diözesan-Kanzlei und Residenz. Ja, es ist so, daß wir in einem der Räume des Hauses des Liedes sitzen, meine Herren Schreiber.

Mein Vater ging zurecht davon aus, daß ein Siebenjähriger kaum von religiösen und architektonischen Meisterwerken hingerissen sein würde, und so nahm er mich mit zu einem weitläufigen, an der Südostecke des Platzes gelegenen Gebäude. Darin war des Uey-Tlatoáni Sammlung wilder Tiere und Vögel untergebracht, doch die war damals längst noch nicht so groß, wie sie in späteren Jahren sein sollte. Den Anfang mit der Menagerie hatte der verstorbene Motecuzóma gemacht, dem es darum gegangen war, ein Beispiel jeder Art von Land- und Lufttieren auszustellen, die in den verschiedenen Teilen dieses Landes lebten. Das Gebäude war in zahllose Räume unterteilt – manche nur kleine Zellen, einige fast schon Säle –, und Rinnen, die von einem nahegelegenen Kanal herführten, sorgten mit Hilfe des ständig darin fließenden Wassers dafür, daß aller anfallende Unrat und Kot sogleich hinausgespült wurden. Jeder Raum ging auf einen Besuchergang hinaus, war jedoch von diesem durch ein Netz oder in manchen Fällen auch durch kräftiges Gitterwerk getrennt. Jedes Tier oder aber mehrere Exemplare verschiedener Arten, die verträglich miteinander auskamen, hatte einen Raum für sich.

»Machen die immer einen solchen Lärm?« fragte ich meinen Vater mit lauter Stimme über das Gebrüll und Geheul und Gekreisch hinweg.

»Das weiß ich nicht«, erklärte er. »Aber im Augenblick sind manche von ihnen sehr hungrig, weil sie absichtlich eine Zeitlang nichts zu fressen bekommen haben. Bei dem Fest werden Opfer dargebracht, und die Leichen werden hierhergebracht, als Futter für die Jaguar- und Pumakatzen, für die Coyotin-Wölfe und die Tzopilótin-Geier.«

Ich betrachtete gerade das größte bei uns heimische Tier – den häßlichen und unförmigen trägen Tapir; er wackelte mit seinem Greifrüssel –, da vernahm ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir: »Meister Steinhauer, warum zeigt Ihr dem Jungen nicht die Tequàni-Halle?«

Es war der gebeugte braune Mann, dessen Bekanntschaft wir vor kurzem auf der Straße gemacht hatten. Mein Vater bedachte ihn mit einem entsetzten Blick und wollte wissen: »Folgt Ihr uns, zudringlicher Alter?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich habe meine alten Knochen nur hierher geschleppt, um der Einweihung des Sonnensteins beizuwohnen.« Dann wies er mit einer wedelnden Handbewegung auf eine geschlossene Tür am anderen Ende des Ganges und sagte zu mir: »Dort, mein Junge, gibt es wahrhaftig etwas zu sehen! Menschentiere, weit interessanter als diese dumpfen Geschöpfe hier. Eine Tlacaztáli-Frau, zum Beispiel. Weißt du, was ein Tlacaztáli ist? Ein Mensch, leichenweiß, am ganzen Körper, Haut und Haar und alles, bis auf die Augen, die rosarot sind. Und dann ist da ein Zwerg, der nur einen halben Kopf hat, der …«

»Still!« gebot mein Vater streng. »Dies soll ein Freudentag für den Jungen sein. Ich will nicht, daß sich ihm beim Anblick dieser mißgestalteten Wesen der Magen umkehrt.«

»Ach, ach«, sagte der alte Mann. »Manchen bereitet es Vergnügen, die Mißgestalteten und Verstümmelten zu sehen.« Mit glitzernden Augen blickte er mich an. »Aber sie werden noch da sein, junger Mixtli, wenn du groß und überlegen genug bist, dich über sie lustig zu machen und sie aufzuziehen. Ich möchte sogar meinen, daß bis dahin sogar noch mehr Kuriositäten in der Tequáni-Halle zu sehen sein werden, die für dich zweifellos noch unterhaltsamer und erbaulicher sein werden, als diejenigen, die jetzt dort sind.«

»Werdet Ihr jetzt schweigen?« knurrte mein Vater.

»Verzeiht, mein Herr«, sagte der gebeugte alte Mann und kroch womöglich noch mehr in sich zusammen. »Laßt mich meine Dreistigkeit wieder gutmachen. Es ist fast Mittag, und die Zeremonie wird bald beginnen. Wenn wir jetzt gehen und uns gute Plätze sichern, kann ich Euch und dem Jungen manches erklären, was Ihr sonst vielleicht nicht versteht.«

Mittlerweile hatte sich der Platz mehr als gefüllt, standen die Menschen Schulter an Schulter. Wir wären niemals auch nur in die Nähe des Sonnensteins gelangt, wären nicht in letzter Minute immer mehr Adlige eingetroffen, die sich stolz auf vergoldeten und gepolsterten Tragstühlen herbeitragen ließen. Die dicht gedrängt stehenden Angehörigen der Mittelschicht und der niederen Klassen traten ohne Murren beiseite und machten Platz, um sie hindurchzulassen, und der braune Mann suchte sich schlangengleich, mit uns im Gefolge, hinter ihnen seinen Weg, bis wir fast bis zu den vordersten Reihen der eigentlichen Würdenträger vorgestoßen waren. Ich selbst würde immer noch von allen Seiten eingeschlossen und ohne etwas zu sehen dagestanden haben, hätte mein Vater mich nicht emporgehoben und mich auf seine Schulter gesetzt. Mit einem Blick hinunter auf unseren Führer, sagte er: »Ich kann Euch auch hochheben, alter Mann.«

»Ich danke Euch, daß Ihr daran denkt, mein Herr«, sagte dieser, »aber ich bin schwerer, als ich aussehe.«

Aller Augen waren auf den Sonnenstein gerichtet der eigens weithin sichtbar auf einer Terrasse zwischen zwei breiten Treppen der noch unfertigen Großen Pyramide aufgestellt worden war. Freilich war er unseren Augen vorläufig noch durch eine Hülle aus glänzender weißer Baumwolle entzogen. Daher beschäftigte ich mich damit, die eintreffenden Adligen zu bewundern, deren Tragstühle und Gewänder mich tief beeindruckten. Männer und Frauen gleichermaßen trugen ganz und gar aus Federn gewebte Umhänge, manche bunt, und manche in einem einzigen, schimmernden Farbton. Die Damen hatten sich, wie es an einem besonderen Tag wie diesem Sitte war, das Haar violett getönt und hielten die Hände in die Höhe, damit auch jedermann die gehämmerten und reichverzierten Ringe an ihren Fingern bewundern könne. Die Herren waren jedoch weit reicher geschmückt als die Damen. Alle trugen sie Diademe, Goldquasten oder reichen Federschmuck im Haar. Manche hatten an Ketten schwere goldene Medaillons um den Hals hängen, und ihre Hand- und Fußgelenke sowie ihre Arme waren mit goldenen Reifen geschmückt. Andere trugen goldene oder edelsteingeschmückte Pflöcke im Ohrläppchen, in Nasenflügeln oder in der Unterlippe – einige sogar in allen dreien.

»Da kommt der Oberschatzmeister«, sagte unser Führer. »Ciuacóatl, die Weibliche Schlange, die im Rang gleich nach dem Verehrten Sprecher selbst kommt.«

Begierig richtete ich meinen Blick auf die Weibliche Schlange, von der ich vermutete, daß sie aussähe wie eines dieser »Menschentiere«, die ich nicht hatte sehen dürfen. Aber es war nur ein Pili wie die anderen auch und überdies keine Frau, sondern ein Mann, der sich höchstens dadurch auszeichnete, daß er womöglich noch prächtiger geschmückt war als die meisten anderen Adligen. Der Lippenpflock, den er trug, war so schwer, daß die Unterlippe ganz herabgezogen wurde und es aussah, als schmolle er. Freilich handelte es sich bei diesem Lippenpflock um ein höchst kunstsinniges Schmuckstück: eine kleine goldene Schlange, dergestalt gearbeitet, daß ihr die winzige züngelnde Zunge aus dem Maul heraus- und wieder hereinfuhr, während der Oberschatzmeister auf seinem Tragstuhl wippend durch die Menge getragen wurde.

Unser Führer mußte über mich lachen; er hatte wohl bemerkt, daß ich enttäuscht war. »Weibliche Schlange – das ist nur ein Titel, mein Junge, und hat mit dem Mann selber nichts zu tun«, sagte er. »Jeder Oberschatzmeister ist von jeher Ciuacóatl genannt worden; dabei kann dir höchstwahrscheinlich keiner sagen, aus welchem Grund eigentlich. Ich könnte mir jedoch denken, daß der Grund darin zu suchen ist, daß Schlangen wie Frauen sich gleichermaßen um Kostbarkeiten ringeln und festhalten, was sie einmal an Schätzen besitzen.«

Unversehens legte sich Schweigen über die Menge, die bisher leise murmelnd gewartet hatte; der Uey-Tlatoáni selbst war eingetroffen. Irgendwie war er ungesehen angekommen, vielleicht hatte man ihn vorher aber auch vor den Blicken der anderen verborgen, denn jetzt stand er plötzlich neben dem verhüllten Sonnenstein. Axayàcatls Antlitz war der großen Pflöcke wegen, die er in der Unterlippe, den Nasenflügeln und den Ohrläppchen trug, kaum zu sehen und wurde überdies noch beschattet von der Sonnenkrone aus scharlachroten Arafedern, die seinen Kopf von einer Schulter zur anderen einrahmte. Auch von seinem übrigen Körper war kaum etwas zu sehen.

Sein Umhang aus goldenen und grünen Papageienfedern reichte ihm bis auf die Füße. Auf der Brust trug er ein großes und verwirrend kompliziert gearbeitetes Rundbild, sein Schamtuch war aus prächtigstem roten Leder, und seine Füße staken in Sandalen, die offenbar aus purem Gold gearbeitet und am Bein bis zum Knie mit goldenen Schnüren festgeschnürt waren.

Eigentlich hätten wir alle auf dem Platz ihn der Sitte gemäß mit dem Tlalqualiztli begrüßen müssen, der Geste des Niederkniens, wobei man mit dem Finger die Erde berührte und diesen dann an die Lippen zu führen hatte. Doch dazu war einfach nicht genug Raum; die Menge ließ eine Art lauten Zischens vernehmen, ein allgemeines leichtes Schmatzen von Küssen. Schweigend erwiderte der Verehrte Sprecher Axayácatl den Gruß, nickte leicht, so daß die prachtvolle Federkrone wippte, und hob seinen aus Mahagoniholz und Gold gearbeiteten Amtsstab.

Er war umgeben von einer Schar Priester, die in ihren schmutzstarrenden schwarzen Gewändern, den schmutzverkrusteten schwarzen Gesichtern und dem blutverklebten langen Haar einen finsteren Gegensatz zu den prächtigen Gewändern des Axayácatl bildeten. Der Verehrte Sprecher legte uns die Bedeutung des Sonnensteins dar, und die Priester stimmten jedesmal, wenn er innehielt, um Atem zu holen, Gebete und Beschwörungen an. Ich kann mich heute nicht mehr an die genauen Worte Axayácatls erinnern und habe sie damals vermutlich auch nicht alle begriffen, doch liefen sie auf folgendes hinaus: Wenn auch der Sonnenstein das Bild der Sonne Tonatíu trage, werde alle Ehre, die ihm gezollt werde, gleichzeitig auch Tenochtítlans Hauptgott Huitzilopóchtli, dem Südlichen Kolibri, zuteil.

Ich habe euch bereits dargelegt, daß unsere Götter ganz unterschiedliche Gesichter und Namen tragen konnten. Nun,

Tonatíu war die Sonne, und die Sonne war unverzichtbar, denn ohne sie würde alles Leben auf Erden zugrundegehen. Wir Xaltocaner und die Bewohner vieler anderer Gemeinden waren es zufrieden, ihn als Sonne zu verehren. Nur lag es auf der Hand, daß die Sonne Nahrung brauchte, um stark zu bleiben, und daß man sie ermutigen mußte, ihre tägliche Arbeit nicht zu vernachlässigen – und womit konnten wir ihr mehr Lebenskraft geben und sie mehr für ihr Tun begeistern als mit dem, was sie uns gab? Was heißt: das menschliche Leben selbst. Deshalb trug der mildtätig-freundliche Sonnengott auch noch das Antlitz des wilden Kriegsgottes Huitzilopóchtli, der uns Mexíca auf allen unseren Kriegszügen anführte, die wir unternahmen, um Gefangene für dieses notwendige Opfer zu machen. So wurde er in der strengen Gestalt des Huitzilopóchtli hier in Tenochtítlan am meisten verehrt, denn Tenochtítlan war der Ort, wo alle unsere Kriege geplant und erklärt und die dafür nötigen Krieger ausgehoben wurden. Unter noch einem anderen Namen – Tezcatlipóca – Glühender Spiegel – war die Sonne der Hauptgott unseres Nachbarvolkes, der Acólhua. Und wie ich nachgerade argwöhne, müssen zahllose andere Völker, die ich nie kennengelernt habe – sogar Völker jenseits des großen, großen Meeres, über das ihr Spanier herübergekommen seid – gleicherweise diesen selben Sonnengott verehren, wobei sie ihn nur anders nennen, je nachdem, wie sie ihn sehen: lächelnd oder finster dreinschauend. Während der Uey-Tlatoán weitersprach, die Priester zwischendurch ihre Gesänge sangen und eine Anzahl von Musikanten begann, auf Flöten, Riffelknochen und hautbespannten Trommeln zu spielen, hielt uns unser kakaobrauner alter Führer einen Vortrag über die Geschichte des Sonnensteins.

»Im Südosten von hier liegt das Land der Chalca. Als der verstorbene Motecuzóma sie vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren unterwarf, waren die Chalca selbstverständlich verpflichtet, den siegreichen Mexíca ein ansehnliches Tributopfer zu bringen. Zwei junge Chalca-Brüder erboten sich freiwillig, jeweils ein Monument aus Stein zu meißeln, das hier Im Herzen Der Einen Welt aufgestellt werden sollte. Sie suchten sich ähnliche Steine aus, nahmen sich aber jeder ein anderes Thema vor und arbeiteten ganz unabhängig voneinander. Kein Mensch bekam es jemals zu sehen, und auch keiner der Brüder bekam zu sehen, was der andere meißelte.«

»Nun, ihre Frauen werden ja wohl heimlich mal einen Blick darauf geworfen haben«, sagte mein Vater, der eine solche Frau hatte.

»Kein Mensch bekam es jemals zu sehen«, wiederholte der alte Mann, »in all den zweiundzwanzig Jahren, die sie die Steine bearbeiteten und bemalten – und in dieser Zeit erreichten sie ihr mittleres Mannesalter und Motecuzóma ging in die Gegenwelt ein. Dann verhüllten sie unabhängig voneinander ihr fertiges Werk in Fasermatten, und der Herr der Chalca brachte wohl an die tausend stämmige Träger auf, die Steine hierher in die Hauptstadt zu schaffen.«

Er wies mit der Hand auf den immer noch verhüllten Gegenstand auf der Terrasse über uns. »Wie ihr seht, ist der Sonnenstein gewaltig groß: er mißt mehr als zwei mal zwei ausgewachsene Männer übereinander –und ist ungeheuer schwer: er wiegt soviel wie dreihundertundzwanzig Männer zusammen. Der andere Stein war ungefähr genauso groß und schwer. Herbeigeschafft wurden sie über holprige Wege und durch völlig unwegsames Gelände. Man rollte sie mit Hilfe von Rundhölzern voran, schleifte sie auf hölzernen Kufen, brachte sie mit mächtigen Flößen über die Flüsse. Überlegt nur, welche Kraft das gekostet hat, welchen Schweiß, wie viele gebrochene Knochen und wie viele Tote, die einfach umfielen, wenn sie nicht mehr stehen und ziehen oder die Peitschenhiebe der Aufseher ertragen konnten.«

»Und wo ist der andere Stein?« fragte ich, doch ging er darüber einfach hinweg.

»Zuletzt kamen sie an die Seen Chalco und Xochimilco, welche sie gleichfalls mit Flößen überwanden, und gelangten so an die große Dammstraße, die in nördlicher Richtung auf Tenochtítlan zuführt. Von dort aus war es eine breite Straße, schnurgerade und nicht länger als doppelt so lang wie Ein Langer Lauf bis hierher zu diesem Platz. Erleichtert atmeten die Künstler auf. Sie hatten schließlich schwer geschafft, und soviele andere Männer hatten mittlerweile auch so schwer geschafft, aber jetzt endlich waren die beiden Bildwerke in Reichweite ihres Bestimmungsortes …«

Ein Raunen ging durch die Menge. Die rund zwanzig Männer, mit deren Lebensblut der Sonnenstein an diesem Tag geweiht werden sollte, standen in einer Reihe hintereinander, und der erste stieg die Treppenstufen der Pyramide hinauf. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen gefangengenommenen feindlichen Krieger, sondern einfach um einen stämmigen Mann, etwa im Alter meines Vaters, der nur ein rein weißes Schamtuch trug und ausgemergelt und unglücklich dreinschaute, gleichwohl jedoch bereitwillig, ungefesselt und ohne von irgendwelchen Wachen getrieben zu werden in die Höhe stieg. Oben angekommen, stand er da und blickte stumpf über die Menge hinweg, während die Priester ihre rauchenden Weihrauchgefäße schwenkten und mit Händen und Stäben rituelle Gebärden vollführten. Dann ergriff ein Priester den Xochimique, drehte ihn sanft um und half ihm, sich vor dem verhüllten Stein rücklings auf einen Block zu legen. Bei dem Block handelte es sich um einen kniehohen Stein, der selbst an eine kleine Pyramide erinnerte, so daß, nachdem der Mann sich darauf ausgestreckt hatte, sein Körper die Brust herausdrückte wie in inständiger Erwartung der Klinge.

Er lag der Länge nach vor uns; Arme und Beine wurden ihm von vier Priestern festgehalten, hinter ihm stand der Oberpriester, der Vollstrecker des Opfers, und hielt das breite, fast wie eine Kelle aussehende schwarze Obsidianmesser in der Hand. Noch ehe der Priester das Opfermesser reckte und zum Stoß ausholte, hob der auf dem Opferstein festgehaltene Mann den hinten herunterhängenden Kopf und sagte etwas. Weitere Worte wurden zwischen den auf der Terrasse Versammelten gewechselt, und dann reichte der Priester seine Klinge Axayácatl . Die Menge stieß Laute der Verwunderung und Verwirrung aus. Diesem Opfer sollte aus irgendeinem Grund offenbar die hohe Ehre zuteil werden, von des Uey-Tlatoáni höchsteigener Hand zu sterben.

Weder zögerte Axayácatl noch stellte er sich in irgendeiner Weise ungeschickt an. Genauso gekonnt wie nur irgendein Priester stieß er dem Mann die Messerspitze auf der linken Seite in die Brust eben unterhalb der Brustwarze und zwischen zwei Rippen, machte dann einen blitzschnellen Längsschnitt und vollführte mit der breiten Klinge eine Kreisbewegung, um die Rippen zu durchtrennen und die Wunde weiter zu öffnen. Mit der anderen Hand griff er dann in die feuchte rote Öffnung, packte das unbeschädigte und immer noch schlagende Herz und riß es vom Geflecht der Blutgefäße los, an dem es hing. Erst jetzt ließ der Xochimique seinen ersten Schmerzenslaut ertönen – ein blubberndes Wimmern –, und das war der letzte Lebenslaut, den er von sich gab.

Während der Verehrte Sprecher das schimmernde, tropfende und dunkelrote Herz in die Höhe reckte, zog ein Priester irgendwo an einer verborgenen Schnur, die Hülle des Sonnensteins fiel zu Boden, und die Menge stieß ein bewunderndes allgemeines »Ay-y-yo-o!« aus. Axayácatl vollführte eine Kehrtwendung, reckte den Arm noch höher und drückte das Herz des Opfers genau in die Mitte des kreisrunden Steins hinein, in den Mund von Tonatíu, der dort herausgemeißelt worden war. Er drehte und drückte das Herz, bis es nur noch ein Brei auf dem Stein und in seiner Hand nichts mehr übrig war. Priester haben mir berichtet, daß der Spender des Opferherzens für gewöhnlich noch lange genug lebte, um zu sehen, was mit seinem Herzen geschah. Dieser hier jedoch kann nicht viel gesehen haben. Als Axayácatl fertig war, war vom Blut und dem zerriebenen Fleisch kaum etwas zu erkennen, weil das gemeißelte Antlitz der Sonne bereits in einer Farbe prangte, welche der des Herzblutes sehr ähnlich war.

»Sauber gemacht«, sagte der gebeugte Mann neben meinem Vater. »Ich habe schon oft erlebt, wie ein Herz noch so kräftig fortfuhr zu schlagen, daß es dem Vollzieher des Opfers aus den Fingern sprang. Aber ich glaube, das Herz dieses Mannes war bereits vorher gebrochen.«

Jetzt lag der Xochimíqui regungslos da, nur seine Haut zuckte hier und dort wie das Fell eines Hundes, der von Flöhen geplagt wird. Die Priester rollten den Leichnam vom Stein herab und ließen ihn höchst unfeierlich einfach von der Terrasse herunterfallen, während schon ein zweites Opfer die Stufen heraufkam. Axayácatl erwies an diesem Tag keinem weiteren Opfer die Ehre, durch seine Hand zu sterben, sondern überließ den Rest den Priestern. Während die Prozession der Opfer weiter vorrückte – und jedes herausgerissene Herz dazu diente, den Sonnenstein zu salben –, sah ich mir den riesigen Rundstein genau an, um ihn später meinem Freund Tlatli beschreiben zu können, der bereits damals angefangen hatte, sich in der Kunst des Bildhauens zu üben, indem er Puppenfiguren aus Holz schnitzte.

Yyo, ayyo, ehrwürdige Patres, hättet ihr den Sonnenstein doch nur einmal sehen können! Euren Gesichtern entnehme ich, daß ihr die Weihezeremonie mißbilligt – aber hättet ihr den Stein jemals gesehen, wüßtet ihr, daß er all die Mühe, die jahrelange Arbeit und die Menschenleben wert gewesen ist, die er gekostet hat.

Die Arbeit des Herausmeißelns allein übersteigt alle Vorstellung, denn er bestand aus Porphyr, einem Stein, hart wie Granit. Genau in der Mitte prangte das Gesicht Tonatíus mit starrenden Augen und weit geöffnetem Mund, und zu beiden Seiten des Kopfes wuchsen Klauen heraus, welche die Menschenherzen packten, die seine Speise waren. Den Kopf umringten die vier Symbole jener Weltzeitalter, welche dem Zeitalter vorausgingen, in dem wir leben, sowie ein Kreis mit den Symbolen unserer zwanzig Tagesnamen, und darum wiederum ein Kreis, der abwechselnd die Zeichen für Jade und Türkis enthielt, jene Edelsteine, die von allen bei uns gefundenen Kostbarkeiten im höchsten Ansehen standen. Dieses Kreisband wiederum wurde umringt von den Sonnenstrahlen des Tages, die abwechselten mit den Sternen der Nacht. Und all dies umfassend schließlich die Gestalten zweier Feuerschlangen der Zeit; ihre Schwänze lagen oben auf der Steinscheibe, die Körper bildeten die Rundung und unten trafen beider Köpfe aufeinander. In einem einzigen Stein hatte ein einziger Künstler unser ganzes Universum, unsere gesamte Zeit eingefangen.

Angemalt war der Stein mit kühnen Farben, säuberlich genau auf jene Stellen aufgetragen, wohin eine jede Farbe gehörte. Und doch machte sich das eigentliche Können des Malers gerade dort besonders bemerkbar, wo überhaupt keine Farbe aufgetragen worden war. Der Porphyr ist ein Stein, der Einsprengsel von Glimmer, Feldspat und Quarz enthält. Wo immer diese kristallinen Einsprengsel sichtbar wurden, hatte der Künstler die Farbe ausgespart. Da nun der Sonnenstein voll den Mittagsstrahlen Tonatíus ausgesetzt war, blitzten und funkelten diese winzigen kleinen Edelsteine wie reinstes Sonnenlicht inmitten der schimmernden Farben. Die ganze riesige Scheibe schien weniger gefärbt als vielmehr von innen erleuchtet. Doch um mir das zu glauben, so meine ich, müßtet ihr den Stein in seiner ganzen ursprünglichen Herrlichkeit einmal gesehen haben. Oder durch die klareren Augen und in dem klareren Licht, dessen ich mich damals erfreute. Oder vielleicht mit der ganzen Eindrucksfähigkeit eines damals noch unaufgeklärten kleinen Heidenjungen …

Doch wie dem auch sei: Ich wandte meine Aufmerksamkeit von dem Stein ab und unserem Führer zu, der fortfuhr zu berichten, unter welchen Schwierigkeiten und unendlichen Mühen die Riesenscheibe hierhergekommen war:

»Ein derartiges Gewicht hatte die Dammstraße bis dahin noch nie auszuhalten gehabt. Die mächtigen Steine der beiden Brüder rollten auf den kräftigen Rundhölzern langsam voran, einer hinter dem anderen, als die Straße unter der gewaltigen Last des ersten nachgab und dieser Stein samt seiner Umhüllung hinunterglitt bis auf den Grund des Texcóco-Sees. Den Trägern, die den zweiten heranrollten – diesen Sonnenstein hier –, gelang es, ihn kurz vor der Bruchstelle der Dammstraße zum Halten zu bringen. Er wurde ein letztes Mal auf ein Floß verladen und um die Insel herum hierher gerudert, und so wurde nur er gerettet, allein für uns, auf daß wir ihn heute bewundern können.«

»Und der andere?« fragte mein Vater. »Nach all der vielen Arbeit, die darauf verwendet worden ist – hätte man da nicht noch ein wenig mehr tun können?«

»Oh, das hat man selbstverständlich getan, mein Herr. Die geschicktesten Taucher stießen immer und immer wieder in die Tiefe hinab. Aber der Boden des Texcóco-Sees besteht aus einem weichen, möglicherweise bodenlosen Schlamm. Die Taucher stocherten mit langen Stangen in der Tiefe herum, haben ihn jedoch nie gefunden. Der Stein – wie immer er ausgesehen haben mag – muß mit der Kante nach unten hinuntergesackt sein.«

»Wie immer er ausgesehen haben mag?« wiederholte mein Vater echogleich seine Worte.

»Niemand außer dem Künstler selbst hat ihn jemals zu sehen bekommen. Vielleicht ist er sogar noch prächtiger gewesen als dieser hier« – der alte Mann zeigte auf den Sonnenstein –, »aber das werden wir nie erfahren.«

»Wird der Künstler es uns denn nicht sagen?«

»Er hat es nie getan.«

Ich ließ nicht locker. »Nun, könnte er ihn nicht ein zweitesmal meißeln?« Eine Aufgabe, zu der man zwanzig Jahre benötigt, wollte mir damals längst nicht so schwierig erscheinen, wie es das heute tut.

»Vielleicht könnte er das, aber er wird es nie tun. Er faßte das Unglück als einen Wink seines Tonáli auf, als ein Zeichen dafür, daß die Götter seine Opfergabe verschmäht hätten. Er war es, dem der Verehrte Sprecher vorhin höchstselbst die Ehre des Blumentodes erwiesen hat. Der zurückgewiesene Künstler hat sich als erstes Opfer für den Sonnenstein hingegeben.«

»Dem Werk seines Bruders«, murmelte mein Vater. »Aber, was ist mit dem Bruder?«

»Er wird mit Ehren und reichen Geschenken überhäuft werden und wird fortan seinem Namen das -tzin anfügen dürfen«, sagte unser Führer. »Aber alle Welt wird sich für alle Ewigkeit genauso wie er fragen, ob nicht ungesehen in der Tiefe des Texcóco-Sees ein womöglich noch erhabeneres Kunstwerk liegt als der Sonnenstein selbst.«

Mein Vater und ich fuhren noch in dieser Nacht wieder nach Hause zurück, denn unsere zu einem mächtigen Floß zusammengetäuten Acális waren randvoll mit Gütern beladen worden, die der Frachtmeister uns hatte verschaffen können. Ihr habt von den bedeutenderen und erinnerungswürdigsten Ereignissen dieses Tages gehört – dieser Feier meines siebten Geburtstages, der zugleich auch mein Namensgebungstag war. Ich glaube, es war der schönste Geburtstag, den ich erlebt habe, und ich habe deren mehr erlebt, als mir eigentlich zustehen.

Ich bin froh, daß ich Tenochtítlan damals erlebt habe, denn so sollte ich es nie wiedersehen. Ich meine das nicht nur, weil die Stadt wuchs und sich veränderte, oder weil ich von anderen Erlebnissen erfüllt und nicht mehr ganz so zu beeindrucken war, als ich dorthin zurückkehrte. Ich meine das ganz buchstäblich: ich habe nie wieder irgend etwas mit meinen eigenen beiden Augen so klar gesehen wie damals.

Zu Anfang habe ich davon gesprochen, daß ich imstande war, das gemeißelte Kaninchen im Mond zu erkennen und Nach Blume im Zwielicht des abendlichen Himmels und die Einzelheiten der Wappenzeichen auf den Federbannern Tenochtítlans und die verschlungenen und verwirrenden Einzelheiten auf dem Sonnenstein. Fünf Jahre nach diesem meinem siebenten Geburtstag hätte ich Nach Blume auch dann nicht mehr erkennen können, wenn irgendein Himmelsgott eine Richtschnur vom Stern bis zu meinem Auge gezogen haben würde. Metztli, der bis zum Bersten gesättigte und in voller Leuchtkraft scheinende Mond wurde für mich zu einem form- und gesichtslosen, verschwommenen hellen Fleck, und seine einst scharf gezogenen Umrisse gingen unterschiedslos in den Himmel über.

Kurz gesagt, von meinem achten Lebensjahr an verlor ich die Schärfe meines Augenlichts. Ich wurde damit zu etwas Besonderem, aber nicht in einem beneidenswerten Sinne. Bis auf die wenigen Blindgeborenen oder diejenigen, die durch eine Verwundung oder Krankheit erblinden, erfreuen sich fast alle unsere Leute eines Augenlichts, welches dem des Adlers und Geiers in nichts nachsteht. Mein sich ständig verschlechterndes Sehvermögen war etwas bei uns praktisch Unbekanntes, und ich schämte mich deswegen, sprach nicht davon und bemühte mich, es als schmerzliches Geheimnis für mich zu behalten. Wenn jemand den Finger ausstreckte und sagte: »Sieh mal da!« pflegte ich auszurufen: »Ah, ja!«, wiewohl ich nicht wußte, ob ich nun die Augen aufreißen oder den Blick abwenden sollte.

Die Undeutlichkeit des Gesichts kam nicht plötzlich und auf einmal über mich, sondern nach und nach, allerdings unerbittlich. Als ich neun oder zehn war, konnte ich genausogut sehen wie alle anderen auch, freilich nur auf eine Entfernung von vielleicht zwei Armeslängen. Hinter diesen zwei Armeslängen fing alles an zu verschwimmen, als ob ich es durch eine zwar durchsichtige, aber verzerrende Schicht Wasser hindurch erblickte. Bei größerer Entfernung – so etwa, wenn man von einem Hügel aus über die Landschaft hinwegblickt – verschwammen die Umrisse der Dinge in solchem Maße, daß sie sich vermischten und miteinander verschmolzen, und so war eine Landschaft für mich nichts weiter als eine eigenwillig gemusterte Decke aus form- und gestaltlosen Farbflecken. Damals, in jenen Jahren, konnte ich mich jedoch immerhin mit klarer Sicht auf zwei Armeslängen bewegen und umhergehen, ohne über Dinge zu fallen. Wenn man mir auftrug, irgend etwas aus einem der Räume unseres Hauses zu holen, konnte ich das tun, ohne wie blind danach zu tappen.

Freilich, mein Sehfeld begann sich immer mehr einzuengen, und als ich dreizehn Jahre alt wurde, konnte ich nur noch auf eine Armeslänge klar etwas erkennen. Damals konnte ich auch nicht mehr so tun als ob, ohne daß man mir etwas angemerkt hätte. Eine Zeitlang haben meine Eltern und Freunde mich wohl nur für tolpatschig, unachtsam und vielleicht ein wenig beschränkt gehalten. Mit dem verbohrten Stolz der Jugend wäre es mir lieber gewesen, als Tolpatsch zu gelten denn als Krüppel. Nur wurde nach und nach unweigerlich jedermann klar, daß es mir an einem der wichtigsten unserer fünf Sinne gebrach. Meine Eltern, meine Schwester und Freunde reagierten höchst unterschiedlich auf die Tatsache, daß plötzlich einer unter ihnen lebte, der anders war als sie.

Meine Mutter gab der Familie meines Vaters die Schuld. Offenbar hatte es da einmal einen Onkel gegeben, der im Octli-Rausch nach irgendeinem Krug mit einer ähnlich weißen Flüssigkeit darin gegriffen und den Inhalt hinuntergestürzt hatte, ehe er merkte, daß es sich um Xocoyatl, sehr starken Ätzkalk handelte, der zur Reinigung und zum Bleichen von arg verschmutztem Kalkstein diente. Dieser Onkel überlebte das zwar, rührte jedoch fortan nie wieder einen Krug Octli an, war für den Rest seines Lebens mit Blindheit geschlagen und hatte – so der Gedanke meiner Mutter – dieses beklagenswerte Erbe an mich weitergegeben.

Mein Vater gab niemandem die Schuld und suchte auch nicht nach irgendwelchen weit hergeholten Erklärungen, sondern versuchte vielmehr, mich zu trösten: »Ach, ein Meistersteinhauer muß die Dinge ganz von nahem betrachten, Mixtli. Du wirst keinerlei Schwierigkeiten haben, die Spalten und die haarfeinen Risse im Gestein zu finden.«

Meine Altersgenossen – und Kinder stechen instinktiv und mitleidslos zu wie die Skorpione – pflegten immer wieder laut auszurufen: »Sieh dort!« Dann strengte ich mich an, kniff die Augen zusammen und sagte: »Oh, ja.«

»Dort ist doch wirklich etwas zu sehen, oder?«

Verzweifelt kniff ich die Augen noch mehr zusammen: »Ja, das ist es wahrhaftig.«

Woraufhin sie dann in Lachen ausbrachen und prustend und höhnisch riefen: »Überhaupt nichts ist dort zu sehen, Tozáni.«

Anderen wie etwa meinen beiden besten Freunden Chimàli und Tlatli rutschte zwar auch gelegentlich ein »Sieh mal, dort!« heraus, sie fügten dann jedoch eilends etwa hinzu: »Ein Schnellbote kommt auf den Palast des Herrn Rot Reiher zugelaufen. Er trägt den grünen Umhang der guten Nachrichten. Irgendwo muß eine siegreiche Schlacht geschlagen worden sein.«

Meine Schwester Tzitzitlíni sagte zwar kaum etwas, verstand es jedoch immer so einzurichten, daß sie mich begleitete, wenn ich weiter fort oder irgendwohin mußte, wo ich mich nicht auskannte. Sie nahm mich dann wohl bei der Hand, als wäre das nichts weiter als die liebevolle Geste einer älteren Schwester, und führte mich, ohne daß man es merkte, um Dinge herum, die im Wege standen und die ich nicht ohne weiteres erkennen konnte.

Doch der anderen Kinder waren so viele, und sie nannten mich so hartnäckig Tozáni, daß ihre Eltern mich bald gleichfalls so nannten – gedankenlos, aber keineswegs aus Unfreundlichkeit heraus –, und so nannte mich schließlich bis auf meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester dann jeder. Selbst als ich mich an meine Behinderung gewöhnt hatte und es schaffte, nicht mehr so ungeschickt zu sein, also anderen Menschen kaum noch Grund gab, meine Kurzsichtigkeit zu bemerken, blieb mir der Spitzname immer noch. Ich selber fand, daß der Name Mixtli, den ich erhalten hatte und der soviel wie Wolke bedeutete, ironischerweise jetzt besser zu mir passe als zuvor; aber für alle Welt sonst hieß ich nun einmal Tozáni, Maulwurf.

Dann jedoch schien das mich immer mehr bedrängende Dämmer sein Vordringen plötzlich zu verlangsamen und auf Armeslänge von mir entfernt innezuhalten. In Wirklichkeit tat es das zwar nicht, doch war nach diesen Anfangsjahren sein weiteres Fortschreiten weniger merkbar. Heute kann ich ohne Hilfsmittel das Gesicht meiner Frau nur dann erkennen, wenn es eine Handspanne von mir entfernt ist. Aber heute, wo ich alt bin, ficht mich das nicht mehr an, doch damals, in meiner Jugend, war es schon sehr wichtig.

Gleichwohl – nach und nach schickte ich mich drein und paßte mich an meine Begrenzungen an. Jener sonderbare Mann in Tenochtítlan hatte recht gehabt, als er mir vorhergesagt hatte, mein Tonáli sei es, einfache, in der Nähe liegende Dinge zu sehen. Aus reiner Notwendigkeit heraus bewegte ich mich nicht mehr so ungebärdig, sondern wurde bedächtig in meinen Bewegungen, saß oft still da und untersuchte alles sehr genau, statt flüchtig mit dem Auge darüber hinzugehen wie früher. Wo andere eilten, faßte ich mich in Geduld. Wenn andere davon stürzten, schritt ich mit Bedacht aus. Ich lernte zu unterscheiden zwischen ziel- und zweckgerichteter Bewegung und bloßem Sichbewegen, zwischen zielbewußtem Vorgehen und bloßem Tun. Wo andere in ihrer Ungeduld ein Dorf sahen, sah ich dessen Bewohner. Wo andere Menschen sahen, sah ich einzelne Persönlichkeiten. Wo andere einen Fremden wahrnahmen, nickend grüßten und weitereilten, bemühte ich mich, den Betreffenden genau zu erkennen, und pflegte dann später jede Linie seiner Gestalt zu zeichnen, so daß selbst ein Könner und Künstler wie Chimàli ausrief: »Aber Maulwurf, du hast den Mann ja genau getroffen, er sieht ganz lebensecht aus.«

Ich fing an, Dinge zu bemerken, die, wie ich meine, die meisten Menschen nicht sehen, so gut ihre Augen auch immer sein mögen. Habt ihr, meine Herren Schreiber, jemals bemerkt, daß der Mais nachts schneller wächst als bei Tage? Ist euch jemals aufgefallen, daß jeder Maiskolben eine gerade Anzahl von Körnerreihen aufweist? Oder zumindest fast jeder? Einen mit einer ungeraden Anzahl von Körnerreihen zu entdecken, ist schwieriger, als ein vierblättriges Kleeblatt zu finden. Habt ihr jemals festgestellt, daß keine zwei Finger – auch nicht eure eigenen – sich jemals ganz genau gleichen, in der gesamten Menschheit nicht, falls meine eigenen Beobachtungen euch dafür Beweis genug sind? – niemals genau dasselbe Linienmuster aus Wirbeln und Bögen aufweisen, wie sie an Finger- und Daumenspitze eingegraben sind? Falls ihr mir nicht glaubt, vergleicht eure eigenen. Oder vergleicht sie untereinander. Ich warte.

Oh, ich weiß, daß es keinerlei Bedeutung hatte und mir keinerlei Vorteile brachte, wenn mir derlei Dinge auffielen. Es handelte sich nur um belanglose Einzelheiten, an denen ich meine neue Neigung ausprobierte, Dinge genau und eingehend zu betrachten. Aber diese Tugend, die ich aus meiner Not machte, im Verein mit meiner Fähigkeit, genau zu zeichnen, was ich sah, führte mich schließlich dazu, mich für die Bilderschrift unseres Volkes zu interessieren. Es gab zwar keine Schule in Xaltócan, in der in einem so abstrusen Fache unterrichtet wurde, aber ich nahm mir jedes bißchen Geschriebene vor, dessen ich habhaft werden konnte, vertiefte mich hinein und kämpfte damit herauszulesen, was es bedeutete.

Die Bedeutung der Zahlenzeichen, glaube ich, hätte wohl ein jeder leicht herausgefunden. So etwa, daß das Muschelzeichen für Null stand, oder ein Punkt oder ein Finger für Einser, die Flaggen für Zwanziger oder die kleinen Bäume für Hunderter. Aber ich erinnere mich, welch wohliger Schauder mich überlief, als ich zum erstenmal die Bedeutung eines Bilderwortes ergründete.

Eines Tages nahm mein Vater mich mit, als er aus beruflichen Gründen unseren Tecútli aufsuchen mußte. Damit ich etwas zu tun hatte, während sie sich in einem anderen Zimmer unter vier Augen unterhielten, gestattete der Tecútli mir, mich in seine Kanzlei zu setzen und die Liste aller seiner Untertanen durchzusehen. Zuerst wandte ich mich jener Seite zu, die für mich selber reserviert war. Sieben Punkte, Blumenzeichen, graue Wolke. Dann arbeitete ich mich mit der allergrößten Behutsamkeit durch die anderen Seiten hindurch. Manche Namen waren genauso leicht zu entziffern wie mein eigener, einfach deshalb, weil ich sie kannte. Nicht weit von meiner Seite entfernt stieß ich auf die von Chimáli, dessen Namen ich selbstverständlich sofort erkannte: drei Finger, entenschnäbeliger Kopf – das Zeichen für Wind –, zwei umeinander gewundene Ranken – Rauch –, die sich über einer federngesäumten Scheibe empor ringelten – Yei-Ehécatl Pocuía-Chimàli: Drei Wind Rauchender Schild.

Es kamen Symbole vor, die sich häufiger wiederholten, und hinter deren Sinn zu kommen, war nicht weiter schwierig. Schließlich kannten wir nur zwanzig Tagesnamen. Was mich jedoch überraschte, war die nicht sogleich ins Auge fallende Wiederholung von Elementen in Chimális und meinem eigenen Namen. Eine Seite ziemlich hinten, die also erst vor kurzer Zeit gemacht worden sein konnte, wies sechs Punkte auf, dann eine Form, die aussah wie eine auf dem Kopf stehende Kaulquappe, dann das entenschnäbelige Symbol und noch etwas mit drei Blütenblättern. Ich konnte es lesen! Ich wußte, wessen Seite es war: die von Sechs Regen Wind Blume, Tlatlis kleiner Schwester, die erst die Woche zuvor ihren Namensgebungstag gefeiert hatte.

Nunmehr irgendwie weniger zögerlich, blätterte ich in den steifen gefalteten Blättern hin und her, betrachtete die Bilderreihen auf beiden Seiten der Falten und suchte nach weiteren Wiederholungen und erkennbaren Symbolen, die sich miteinander in Verbindung bringen ließen. Der Tecútli und mein Vater kehrten kurz nachdem ich wieder einen Namen entziffert hatte oder glaubte, es getan zu haben, in die Kanzlei zurück. Mit einer Mischung aus Schüchternheit und Stolz sagte ich:

»Verzeiht, Herr Rot Reiher. Würdet Ihr die Güte haben, mir zu sagen, ob ich recht habe – daß auf dieser Seite der Name von jemand steht, der Zwei Rohr Gelber Eckzahn heißt?«

Er sah mich an und sagte, nein, so heiße es nicht. Er muß mir meine Enttäuschung angesehen haben, denn geduldig erklärte er mir:

»Es steht Zwei Rohr Gelbes Licht da, der Name einer Wäscherin hier im Palast. Zwei Rohr erklärt sich von selbst. Und Gelb – Coztic – läßt sich leicht dadurch andeuten, daß man einfach diese Farbe verwendet, wie du ganz richtig erraten hast. Aber Tlanixtélotl – ›Licht‹ oder besser: ›Element des Auges‹ –, wie soll man etwas so Ungreifbares wiedergeben? Deshalb habe ich statt dessen das Bild für Zahn – Tlanti – hingesetzt, welches zwar nicht die Bedeutung, dafür aber den Klang von tlan am Anfang des Wortes wiedergibt und dann das Bild eines Auges – Ixtelólotl –, welches dann Klarheit in das Ganze bringt. Verstehst du es jetzt? Tlanixtélotl. Licht.«

Ich nickte und kam mir ziemlich dumm vor. Es ging bei der Bilderschrift offenbar doch um mehr als nur darum, das Zeichen für Zahn zu erkennen. Wenn mir das bis jetzt noch nicht klargeworden war – der Tecútli machte es mir ganz deutlich:

»Schreiben und Lesen ist für solche, die in diesen Künsten ausgebildet und geübt sind, Sohn des Tepetzálan.« Damit klopfte er mir wie von Mann zu Mann auf die Schulter. »Da muß man viel lernen und es gehört viel Übung dazu; nur der Adel hat die Muße, sich mit solchen Dingen zu befassen. Aber ich bewundere deinen Scharfsinn. Welchen Beruf du auch einmal ergreifen wirst, junger Mann, ich meine, du wirst es weit darin bringen.«

Der Tecútli hatte mir einen wichtigen Fingerzeig gegeben, und zwar einen, den ich nicht einfach in den Wind schlagen konnte. Er hatte mir klargemacht, daß die Zeichen unserer Bilderschrift nicht immer nur das bedeuteten, was sie darstellten, sondern auch das, was in ihnen anklang, wenn man es aussprach. Nicht mehr und nicht weniger. Freilich war das aufschlußreich und quälend genug, so daß ich weiterhin nach allem Ausschau hielt, was irgendwo geschrieben stand – an Tempelmauern, in der Liste der Tributverpflichtungen, die im Palast auslag, auf jedem Fetzen Papier, den ein durchreisender Händler mit sich führte – und tat mein bestes und bemühte mich ernsthaft, sie zu entziffern, wiewohl ich jeder Anleitung dazu entbehren mußte.

Ich suchte sogar den alten Tonalpoqui auf, der mir vor vier Jahren meinen Namen ausgesucht hatte, und fragte ihn, ob ich mir nicht sein ehrwürdiges Namensbuch ansehen dürfe, wenn er es gerade nicht brauche. Er hätte nicht heftiger zurückzucken können, wenn ich ihn gebeten haben würde, ob ich nicht eine seiner Enkelinnen als Kebsweib benutzen dürfe, wenn sie sonst gerade nichts zu tun hätte. Er wies mich mit dem Hinweis zurück, die Kunst des Tonàlmatl-Kennens sei den Abkommen der Tonalpóque vorbehalten, nicht aber hergelaufenen und eingebildeten Gassenjungen. Möglich, daß dem so war. Ich allerdings möchte wetten, daß er sich entweder daran erinnerte, wie ich erklärt hatte, ich hätte mir selber genausogut einen Namen geben können wie er, oder – was wahrscheinlicher ist – daß er ein alter Betrüger war, der die Tonàlmatl genausowenig lesen konnte wie ich damals und jetzt Angst hatte, daß man ihm auf die Schliche kam.

Dann, eines Abends, begegnete ich einem Fremden. Chimáli, Tlatli und ich sowie ein paar andere Jungen hatten den Nachmittag über gespielt, was hieß, daß Tzitzitlíni nicht dabei war. Weit von unserem Dorf entfernt hatten wir am Ufer ein leck geschlagenes und schon halb vermodertes Acáli gefunden und so selbstvergessen Bootsmänner gespielt, daß wir völlig überrascht wurden, als Tonatíu seine Rot-Himmel-Warnung von sich gab, was bedeutete, daß er im Begriff stand, sich zur Ruhe zu begeben. Unser Heimweg war weit, und Tonatíu begab sich schneller zur Ruhe als wir gehen konnten, weshalb die anderen Jungen sich in Trab setzten. Bei Tageslicht hätte ich mithalten können, doch die Dämmerung sowie mein schlechtes Sehvermögen zwangen mich, langsamer voranzugehen und mir sorgsam meinen Weg zu suchen. Wahrscheinlich haben die anderen mich nie vermißt; jedenfalls hatten sie mich bald hinter sich gelassen.

Ich gelangte an eine Kreuzung, an der eine steinerne Bank stand. Zwar war ich hier schon längere Zeit nicht vorübergekommen, doch fiel mir jetzt ein, daß in die Bank etliche Symbole eingemeißelt waren, und sogleich war alles andere für mich vergessen. Ich vergaß, daß es fast schon zu dunkel für mich war, sie zu entziffern. Ich vergaß, zu welchem Zwecke die Bank dort aufgestellt worden war und vergaß alles Lauernde, das mich packen konnte, wenn die Nacht sich herabgesenkt hatte. Ich hörte in der Nähe sogar eine Eule schreien, achtete jedoch nicht auf diese Zeichen böser Vorbedeutung. Da war etwas, was ich lesen oder zu lesen versuchen konnte, und eine solche Gelegenheit konnte ich nicht vorübergehen lassen.

Die Bank war lang genug, daß ein Mann sich darauf ausstrecken konnte, wenn es ihm nichts ausmachte, unbequem auf den Riffeln einer behauenen Steinbank zu liegen. Ich beugte mich über die Zeichen, starrte sie an und fuhr mit den Fingern ebenso über sie hin wie mit den Augen, ging von einem zum anderen und zum nächsten – und wäre um ein Haar einem Mann in den Schoß gefallen, der dort saß. Ich fuhr zurück, als hätte er mich versengt, und brachte stotternd eine Entschuldigung vor:

»M-mixpantzinco. In Eurer erhabenen Gegenwart …«

Verdrossen, aber immerhin höflich, gab er die übliche Antwort: »Xi-mopanólti. Wie es dir beliebt …«

Dann starrten wir uns eine Weile an. Ich vermute, er sah nur einen ziemlich abgerissenen Jungen von einigen zwölf Jahren, der angestrengt die Augen zusammenkniff. Ich konnte ihn nicht in allen Einzelheiten erkennen, teils, weil es mittlerweile wirklich dunkel geworden war, teils aber auch deshalb, weil ich in meinem Schrecken zu weit vor ihm zurückgefahren war. Immerhin erkannte ich, daß er ein Fremder auf der Insel war, oder zumindest mir nicht bekannt, daß sein Umhang – wenn auch verschmutzt von der langen Reise – aus gutem Material bestand, daß seine Sandalen vom vielen Gehen zerschlissen waren und seine kupferfarbene Haut staubig vom langen Weg.

»Wie heißt du, Junge?« fragte er mich schließlich.

»Hm, ich werde Maulwurf genannt …«, begann ich.

»Das kann ich mir vorstellen, aber das ist doch nicht dein richtiger Name.« Und noch ehe ich antworten konnte, stellte er mir eine weitere Frage. »Was hast du da eben eigentlich gemacht?«

»Ich habe gelesen, Yanquicatzin.« Ich weiß wirklich nicht, was er an sich hatte, aber es brachte mich dazu, ihn als Herr Fremder anzureden. »Ich habe gelesen, was auf der Bank geschrieben steht.«

»Wirklich?« sagte er in einem Ton, der gelinde Ungläubigkeit verriet. »Ich hätte nie gedacht, daß du ein gebildeter junger Adliger bist. Was steht hier denn geschrieben?«

»Es heißt: Von den Bewohnern von Xaltócan – ein Ruheplatz für den Herrn Nacht Wind.«

»Das hat dir irgend jemand gesagt.«

»Nein, Yanquicatzin. Verzeiht, aber …« Ich trat näher heran, um mit dem Finger auf die Zeichen zeigen zu können. »Dieses entenschnäbelige Zeichen steht für Wind.«

»Das ist kein Entenschnabel«, fuhr er mich an. »Das ist die Trompete, durch welche der Gott die Winde hindurchbläst.«

»Ach so? Danke, daß Ihr mir das sagt, mein Herr. Aber auf jeden Fall steht es für Ehécatl. Und dieses Symbol hier – all die geschlossenen Augenlider – bedeutet Yoáli. Yoáli Ehécatl, Nacht Wind.«

»Du kannst wirklich lesen?«

»Ein wenig, Yanquicatzin. Nicht viel.«

»Wer hat es dich gelehrt?«

»Niemand, Herr. Es gibt auf Xaltócan niemanden, der diese Kunst lehrte. Das ist sehr schade, denn ich würde so gern mehr lernen.«

»Dann mußt du anderswohin gehen.«

»Ja, das werde ich wohl, Herr Fremder. Mixpantzinco.«

»Ximopanolti.«

Einmal drehte ich mich noch um, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen, doch er befand sich bereits außerhalb meines begrenzten Gesichtskreises, oder die Dunkelheit hatte ihn verschluckt, oder er war einfach aufgestanden und fortgegangen.

Daheim wurde ich vom Chor meines Vaters, meiner Mutter und meiner Schwester begrüßt, der eine Mischung war aus Sorge, Erleichterung, Verblüffung und Zorn darüber, daß ich solange allein draußen im gefährlichen Dunkel geblieben war. Doch selbst meine Mutter verstummte, nachdem ich berichtet hatte, daß ich von dem neugierigen Fremden aufgehalten worden war. Sie sagte kein Wort mehr, und sie und meine Schwester blickten meinen Vater mit geweiteten Augen an. Mein Vater wiederum sah mich mit geweiteten Augen an.

»Du bist ihm begegnet«, sagte er mit belegter Stimme. »Du bist dem Gott begegnet, und er hat dich ziehen lassen. Der Gott Nacht Wind.«

Eine ganze schlaflose Nacht hindurch versuchte ich – ohne großen Erfolg –, in dem staubbedeckten, müden und mürrischen Wanderer einen Gott zu sehen. War es jedoch wirklich Nacht Wind gewesen, dann würde mir, so wollte es die Überlieferung, die Erfüllung meines größten Herzenswunsches zuteil werden. Das jedoch war eine vertrackte Sache. Wenn der Wunsch, Lesen und Schreiben zu lernen, nichts galt, wußte ich nicht, welch größten Herzenswunsch ich hatte. Oder wußte es nicht, bis es mir zuteil wurde, falls es das ist, was mir zuteil wurde.

Es geschah an einem Tag, da ich im Steinbruch meines Vaters meine erste Aufgabe als Lehrjunge zu erfüllen hatte; ich war zum Wächter der großen Grube ernannt worden für die Zeit, da alle Arbeiter Werkzeug und Gerät fallen ließen und nach Hause gingen, um dort zu Mittag zu essen. Nicht, daß große Gefahr vor Dieben bestanden hätte; nur, wenn man die Werkzeuge unbewacht herumliegen ließ, kamen kleine wilde Tiere und nagten des Salzes wegen, das durch den Schweiß der Arbeiter vom Holz aufgesaugt worden war, an Griffen und Heften der Arbeitsgeräte.

Wie jeden Tag kam Tzitzitlíni um die Mittagsstunde von daheim hergelaufen und brachte mir mein Essen. Sie schüttelte die Sandalen ab und setzte sich zu mir auf den grasbewachsenen und sonnenbeschienenen Rand des Steinbruchs, plapperte fröhlich, während ich meine Portion Weißfischfladen verzehrte – Weißfische aus unserem See, die nur kleine Gräten aufwiesen und von denen ein jeder zusammengerollt und in einer Tortilla gebacken worden war. Sie waren in ein Tuch eingeschlagen und noch ganz heiß vom Herd. Meine Schwester machte, wie mir auffiel, gleichfalls einen leicht erhitzten Eindruck; dabei war es an diesem Tag recht kühl. Ihr Gesicht war gerötet, und sie hob die Bluse von den Brüsten und fächelte sich immer wieder Luft in den quadratisch geschnittenen Ausschnitt, um sich Kühlung zu verschaffen.

Die Fischfladen hatten einen ungewöhnlichen, leicht bitteren Geschmack. Ich sann darüber nach, ob wohl Tzitzi sie gebacken habe und nicht meine Mutter und ob sie wohl deshalb so munter daherschwatzte, weil sie mich davon abhalten wollte, sie ihrer mangelnden Kochkünste wegen aufzuziehen. Unangenehm war der Geschmack jedoch nicht; außerdem war ich hungrig, und so fühlte ich mich hinterher wohlig gesättigt. Tzitzi meinte, ich solle mich hinlegen und die Mahlzeit bequem verdauen; sie werde statt meiner aufpassen, daß sich keine kleinen Stachelschweine näherten.

Ich legte mich auf den Rücken und schaute hinauf zu den Wolken, die ich früher so klar und deutlich vor dem Himmelsblau hatte erkennen können; jetzt waren es nichts weiter als formlose weiße Flecken unter formlosen blauen Flecken. Daran hatte ich mich längst gewöhnt. Unversehens geschah jedoch etwas weit Beunruhigenderes mit meinem Augenlicht. Das Weiß und das Blau begannen zu wirbeln, langsam erst, dann immer schneller, als ob ein Gott dort oben den Himmel mit einem Schokoladenbesen umrührte. Verwundert wollte ich mich schon aufsetzen, fühlte mich aber plötzlich so schwindlig, daß ich mich wieder zurückfallen ließ ins Gras.

Mir war ganz sonderbar zumute, und ich muß ein paar merkwürdige Laute ausgestoßen haben, denn Tzitzi lehnte sich über mich und sah mir forschend ins Gesicht. So bleiern müde und verwirrt ich auch war, gewann ich doch den Eindruck, als warte sie darauf, daß etwas mit mir geschehe. Ihre Zungenspitze lugte zwischen den blendend weißen Zähnen hervor, und ihre zusammengekniffenen Augen betrachteten mich, als suche sie nach irgendeinem Zeichen. Dann verzogen sich ihre Lippen zu einem mutwilligen Lächeln, sie netzte sie mit der Zunge, und in ihren Augen leuchtete fast so etwas wie Triumph auf. Sie machte eine Bemerkung über meine eigenen Augen, und ihre Stimme schien merkwürdig zu klingen, wie ein von weit herkommendes Echo.

»Deine Pupillen sind ganz groß geworden, mein Bruder.« Da sie immer noch lächelte, sah ich keinen Grund zur Beunruhigung. »Deine Iris ist kaum noch braun, sondern fast schwarz. Was siehst du mit diesen Augen?«

»Ich sehe dich, meine Schwester«, sagte ich mit belegter Stimme. »Aber irgendwie siehst du anders aus. Du siehst …«

»Ja?« forderte sie mich zum Weitersprechen auf.

»Du siehst so schön aus.« Ich konnte nicht anders. Ich mußte es einfach sagen.

Wie jeder Junge meines Alters wurde von mir erwartet, Mädchen gering zu schätzen und zu verachten – falls ich mich überhaupt herabließ, sie zu beachten –, und die eigene Schwester war selbstverständlich noch mehr zu verachten als jedes andere Mädchen. Allerdings hätte ich immer gewußt, daß Tzitzitlíni schön war, selbst wenn die Erwachsenen – Männer wie Frauen in gleicher Weise – es nicht jedesmal ausdrücklich erklärt hätten, wenn ihnen beim ersten Anblick der Atem stockte. Kein Bildhauer hätte je die biegsame Anmut ihres jungen Körpers einfangen können, denn Stein oder Ton sind starr, und bei ihr hatte man den Eindruck, als wäre sie immer und unentwegt in fließender Bewegung begriffen, selbst wenn sie ganz ruhig dasaß. Keinem Maler auch wäre es gelungen, den Goldton ihrer Haut zu treffen oder die Farbe ihrer Augen; rehbraun und goldgesprenkelt …

Doch an diesem Tag war noch etwas Magisches hinzugekommen, und das war der Grund, warum ich nicht hatte umhinkönnen, ihr zu sagen, wie schön sie sei, selbst wenn ich das nicht gewollt hätte. Der Zauber ging deutlich von ihrer ganzen Gestalt aus, umgab sie gleichsam wie der Dunst aus Wassergeschmeide am Himmel, wenn die Sonne unmittelbar im Anschluß an einen Regenschauer wieder durchbricht.

»Da sind Farben«, sagte ich mit merkwürdig belegter Stimme. »Farbstreifen wie der Dunst von Wassergeschmeide. Sie umstrahlen dein ganzes Gesicht, meine Schwester. Ein Schimmer von Rot … und am Rand violett … und … und …«

»Dann bereitet es dir also Vergnügen, mich anzuschauen?« fragte sie.

»Das tut es wahrhaftig. Ja. Vergnügen.«

»Dann schweig stille, mein Bruder, und laß mich dir Vergnügen bereiten.«

Ich schluckte. Ihre Hand fuhr unter meinen Umhang. Und vergeßt nicht, ehrwürdige Patres – ich war um ein knappes Jahr soweit, daß ich ein Schamtuch hätte tragen müssen. Ich hätte den kühnen Zugriff meiner Schwester als unerhörte Verletzung meiner Scham betrachten müssen, nur, daß es mir jetzt durchaus nicht als solche erschien und ich mich im übrigen viel zu benommen fühlte, um auch nur die Arme zu heben und sie abzuwehren. Ich spürte fast nichts, außer daß es in einem Teil meines Körpers zu wachsen schien, wo ich zuvor nicht besonders merklich gewachsen war. Doch auch mit Tzitzis Körper ging eine Veränderung vor. Ihre jungen Brüste zeichneten sich für gewöhnlich nur als bescheidene Hügel unter ihrer Bluse ab, doch jetzt, während sie über mir kniete, waren ihre Brustwarzen geschwollen und stießen kleinen Fingerspitzen gleich gegen das dünne Tuch, das sie bedeckte.

Es gelang mir, den schweren Kopf zu heben und trüben Auges auf mein Tepúli in ihrer hurtigen Hand zu starren. Nie zuvor wäre es mir in den Sinn gekommen, daß man die Haut meines Gliedes bis ganz hinunter hätte schieben und es ganz hätte enthüllen können. Es war das erstemal, daß ich mehr sah als die Spitze und den gekräuselten kleinen Mund, der jetzt, wo die äußere Haut zurückgeschoben war, eher wie ein strotzender Pilz aussah, der Tzitzis fest zupackenden Fingern entwuchs.

»Oéya, yoyolcatíca«, murmelte sie, und ihr Gesicht war fast so feuerübergossen wie mein Glied. »Er wächst, er regt sich. Siehst du?«

»Tóton … tlapeztía«, brachte ich keuchend heraus. »Er wird glühend heiß …«

Mit ihrer freien Hand hob Tzitzi ihren Rock und befreite sich ungeduldig und etwas ungeschickt von ihrem windelähnlichen Untergewand.

Um es vollends loszuwerden, mußte sie die Beine spreizen, und so sah ich ihr Tipíli so nahe vor mir, daß ich es klar erkennen konnte. Vordem war da nichts zwischen ihren Beinen gewesen als eine Art dicht geschlossener Spalt oder ein längliches Grübchen, und selbst das war kaum zu erkennen gewesen, weil es unter einem kleinen Büschel feiner Haare halb verborgen gewesen war. Doch jetzt öffnete sich ihr Spalt ganz von selbst, wie …

Ayya, Pater Domingo hat sein Tintenfaß umgestoßen und zerbrochen. Und jetzt verläßt er uns. Weil es ihm um diese Ungeschicklichkeit leid tut, zweifellos.

Wo ich schon unterbrochen worden bin, sollte ich vielleicht erwähnen, daß zwar einige unserer Männer und Frauen einen dünnen Flaum von Ymáxtli an dieser heimlichen Stelle zwischen den Beinen aufweisen. Die meisten von uns weisen weder dort noch sonst am Körper irgendwelche Behaarung auf, nur das üppige Haupthaar. Selbst unsere Männer haben kaum Bartwuchs, und daß jemand einen starken Bart hat, gilt als unschöne Entstellung. Die Mütter pflegen ihren Söhnen im Babyalter mit siedendheißem Kalkwasser das Gesicht zu waschen, und in den meisten Fällen – wie beispielsweise bei mir – verhindert diese Behandlung das ganze Leben eines Mannes hindurch, daß ihm ein Bart sprießt.

Pater Domingo kommt nicht wieder. Soll ich warten, meine Herren, oder fortfahren?

Sehr wohl. Dann kehre ich also zurück zum Rand des Steinbruchs, wo ich vor so langer Zeit und sehr weit von hier entfernt auf dem Rücken lag, vor mich hinstarrte und nicht wußte, wie mir geschah, während meine Schwester behende daran arbeitete, sich meinen Zustand zunutze zu machen.

Wie ich schon sagte, öffneten ihre Tipili-Teile sich selbst, wurden zu einem Blütenkelch und zeigten auf dem Hintergrund ihrer makellos rehfarbenen Haut rosige Blütenblätter. Diese Blütenblätter glänzten feucht, wie von Tau benetzt. Mir war, als ob Tzitzitlínis frisch erblühter Blütenkelch einen feinen Moschusgeruch verströmte wie Ringelblumen. Und die ganze Zeit über wehten immer noch die unerklärlichen Bänder und Wellen verschiedener Farben über meine Schwester, ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt und die nun entblößten Körperteile dahin.

Sie schob meinen Umhang, der sie offenbar störte, beiseite und hob dann eines ihrer schlanken Beine an, um sich rittlings über meinen Unterkörper zu hocken. Ihre Bewegungen hatten etwas Drängendes, verrieten aber gleichwohl ihre Nervosität und ihre Unerfahrenheit. Mit einer zitternden Hand hielt sie zielbewußt mein Tepúli, und mit der anderen schien sie zu versuchen, den Kelch ihrer Tipili-Blüte noch weiter zu öffnen. Wie ich zuvor schon berichtet habe, besaß meine Schwester Tzitzi einige Erfahrung in der Verwendung einer hölzernen Spindel; doch als sie jetzt versuchte, sich meiner genauso zu bedienen, war sie ihres Chitóli-Häutchens wegen immer noch verschlossen und innen ganz eng. Und was mich selbst betrifft, so war mein Tepúli bei weitem noch nicht so groß wie der eines erwachsenen Mannes. (Wiewohl ich mir darüber im klaren bin, daß die Behandlung, die Tzitzi ihm da angedeihen ließ, sehr dazu beitrug, ihn anzuspornen, seine vollausgereifte Größe zu erreichen – oder noch darüber hinauszuwachsen, wenn ich einigen Frauen glauben darf.) Doch wie dem auch sei, Tzitzi war immer noch jungfräulich verschlossen, doch mein Glied war zumindest größer als jeder dünne Spindelersatz.

Es kam zu einem Augenblick banger Erwartung. Meine Schwester hatte die Augen fest geschlossen, atmete jedoch schnell wie ein Läufer und wartete verzweifelt darauf, daß etwas geschah. Ich würde geholfen haben, hätte ich gewußt, was es eigentlich sein sollte, und wäre ich nicht in jedem Körperteil bis auf diesen einen so unendlich benommen gewesen. Dann, unversehens, wurde die Schwelle überschritten. Tzitzi und ich stießen gleichzeitig einen Schrei aus, ich vor Überraschung, sie entweder vor Schmerz oder vor Lust, es könnte beides gewesen sein. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung – und wieso, konnte ich immer noch nicht ganz begreifen – war ich in meiner Schwester drin, war von ihr umfangen, wurde von ihr erwärmt und genetzt – und dann sanft von ihr gerieben, als sie begann, sich in langsamem Rhythmus auf mir zu heben und zu senken.

Ich war überwältigt von der Empfindung, die von meinem warm umhüllten und langsam bearbeiteten Tepúli bis in alle anderen Körperteile ausstrahlte. Der Dunst des Wassergeschmeides um meine Schwester herum schien heller zu glänzen und immer strahlender zu werden und auch mich zu umfassen. Meine Schwester hielt mehr als nur eine kleine Verlängerung meiner selbst; ich fühlte mich vollkommen von ihr aufgesogen, hineingezogen in Tzitzitlíni, in den Klang feinen Glöckchengeläuts. Mein Entzücken steigerte sich, bis ich meinte, es nicht mehr ertragen zu können. Und dann entlud es sich in einem womöglich noch köstlicheren Ausbruch, wie die Schote der Seidenpflanze, die bei Berührung aufspringt und ihre behaarten weißen Samenkörner dem Wind preisgibt. Im selben Augenblick gab Tzitzi ein tiefes, sanftes Stöhnen von sich, in dem ich in meiner Unwissenheit und selbst halb unbewußt in meinem eigenen süßen Delirium die Erlösung erkannte, die ihr zuteil wurde.

Dann fiel sie der Länge lang schlaff über mir zusammen, und ihr langes weiches Haar fächelte über mein Gesicht. So lagen wir eine Zeitlang da, rangen heftig nach Atem, und langsam wurde ich mir bewußt, daß die sonderbaren Farben verblaßten und sich auflösten und der Himmel über mir aufgehört hatte, sich in Wirbeln zu drehen. Ohne den Kopf zu heben und mich anzublicken, sagte meine Schwester, das Gesicht an meiner Brust geborgen, ganz leise und scheu: »Bedauerst du es, Bruder?«

»Es bedauern ?« rief ich so laut aus, daß ich eine Wachtel aufschreckte, die aus dem Gras in der Nähe aufschwirrte.

»Dann können wir es also wieder tun?« murmelte sie, immer noch, ohne mich dabei anzusehen.

Ich überlegte. »Kann man es denn nochmals tun?« fragte ich. Die Frage war gar nicht so lächerlich und dumm, wie sie klang; ich fragte ja aus verständlicher Unwissenheit heraus. Mein Glied war aus ihr herausgeglitten und nun wieder genauso feuchtkalt und klein, wie ich es bisher gekannt hatte. Man kann sich kaum lustig über mich machen, dafür, daß ich meinte, einem Mann werde ein solches Erlebnis vielleicht nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben zuteil.

»Nicht jetzt meine ich«, sagte Tzitzi. »Die Arbeiter werden gleich wiederkommen. Aber an einem anderen Tag?«

»Ayyo, jeden Tag, wenn wir können!«

Sie stemmte sich mit den Armen in die Höhe und sah auf mein Gesicht hernieder, wobei ihre Augen wieder mutwillig lächelten. »Dann brauche ich dich das nächstemal nicht zu übertölpeln?«

»Zu übertölpeln?«

»Die Farben, die du gesehen hast, dieses Schwindelgefühl und die Benommenheit. Ich habe etwas höchst Verworfenes getan, mein Bruder. Ich habe aus dem Gefäß im Pyramidentempel einen ihrer Pilze entwendet und sie mit in deine Fischfladen verbacken.«

Abgesehen davon, daß es eine große Sünde war, hatte sie etwas außerordentlich Gewagtes und Gefährliches getan. Wir nannten die kleinen schwarzen Pilze Teonanácatl – Götterfleisch –, was schon darauf hindeutet, wie selten und kostbar sie sind. Die Priester bezogen die Pilze unter großem Kostenaufwand von irgendeinem heiligen Berg tief im Mixtéca-Land. Sie durften nur von bestimmten Priestern und Sehern genossen werden, und das auch nur bei jenen besonderen Gelegenheiten, da es sich als nötig erwies, in die Zukunft zu schauen. Tzitzi wäre ohne Zweifel auf der Stelle umgebracht worden, hätte man sie dabei erwischt, wie sie die heiligen Pilze stahl.

»Nein, tu das nicht wieder«, sagte ich. »Aber warum hast du es nur getan?«

»Weil ich tun wollte, was wir gerade eben getan haben, und ich Angst hatte, du würdest dich sträuben, wenn du klar wüßtest, worum es ging.«

Ob ich das wohl wirklich getan hätte? Ich bin mir da nicht ganz sicher. Jedenfalls widersetzte ich mich weder bei diesem ersten Mal noch bei den vielen Malen hinterher und empfand jedesmal aufs neue die gleiche Beseligung, auch ohne künstlich nachzuhelfen, ohne Schwindelgefühl und Farbenrausch.

Im Laufe der nächsten Jahre, als ich noch zu Hause lebte, paarten meine Schwester und ich uns unzählige Male – wann immer sich uns Gelegenheit dazu bot, während der Essenspause im Steinbruch, am verlassenen Strand des Sees, zwei- oder dreimal sogar in unserem eigenen Hause, wenn unsere Eltern fort waren und unseres Wissens lange genug wegblieben. Wechselseitig lernten wir, nicht mehr ganz so täppisch zu sein wie beim erstenmal, aber selbstverständlich waren wir beide unerfahren – keiner von uns hätte daran gedacht, es mit jemand anders zu tun –, und so konnten wir uns gegenseitig nicht sonderlich viel beibringen. Es dauerte sogar eine ganze Weile, bis wir dahinterkamen, daß wir es auch machen konnten, wenn ich oben lag; hinterher allerdings dachten wir uns selbst etliche verschiedene Stellungen aus.

Jetzt löste meine Schwester sich von mir und streckte sich wohlig. Unser beider Bauch war feucht: gerötet von dem bißchen Blut, welches beim Zerreißen ihrer Chitóli geflossen war, und einer anderen Flüssigkeit, meinem eigenen Omicetl, genauso weißlich wie Octli, aber klebriger. Tzitzi tauchte eine Handvoll trockenes Gras in einen kleinen Krug Wasser, den sie mir fürs Essen mitgebracht hatte, und säuberte uns beide, auf daß unsere Kleidung keine verräterischen Zeichen aufweise. Dann umwickelte sie sich wieder mit ihrem Untergewand, glättete ihre zerdrückten Oberkleider, drückte mir einen Kuß auf die Lippen, sagte »Vielen Dank« – was eigentlich ich als erster hätte sagen sollen –, schlang den kleinen Wasserkrug ins Tuch und lief fröhlich hüpfend den grasbewachsenen Abhang hinunter.

Da und dort, meine Herren Schreiber, und auf diese Weise endeten die Wege und Tage meiner Kindheit.