Octava Pars
Mein persönlicher Verlust überschattete für mich selbstverständlich alles andere in der Welt; gleichwohl konnte ich nicht die Augen verschließen vor der Tatsache, daß dem ganzen Volk der Mexíca Schlimmeres widerfahren war als nur die Zerstörung seiner Hauptstadt. Daß Ahuítzotl sich überstürzt und gar nicht seiner Art entsprechend an Nezahualpíli wandte, ihm zu helfen, die Flut zu bannen, war das letzte, was er als Uey-Tlatoáni tat. Er befand sich im Inneren seines Palastes, als dieser zusammenstürzte, und wenn er dabei auch nicht ums Leben kam, hätte er sich vermutlich gewünscht, daß dies geschehen wäre. Er wurde nämlich von einem herabstürzenden Balken am Kopf getroffen und war aus diesem Grunde fürderhin – zumindest hat man mir das erzählt; lebend gesehen habe ich ihn nie wieder – genauso ein hirnloses Wesen wie der Holzbalken, der ihn traf. Er wanderte ziellos umher, redete unverständliches Zeug mit sich selbst, und ein Diener folgte dem einst großen Staatsmann und Krieger überallhin und wechselte ihm das Schamtuch, welches er sich immer wieder beschmutzte.
Aus Tradition verbot es sich, Ahuítzotl den Titel eines Verehrten Sprechers zu nehmen, solange er lebte, auch dann nicht, als er nur noch kindisch vor sich hinplapperte und nicht verehrungswürdiger war als eine wandelnde Pflanze. Aus diesem Grunde trat, sobald es möglich war, der Staatsrat zusammen, um einen Regenten zu wählen, das Volk zu führen, solange Ahuítzotl dazu außerstande war. Da Ahuítzotl in den schreckenerregenden Augenblicken der Gefahr auf dem Damm zwei aus ihren Reihen getötet hatte, weigerten sich diese alten Männer – zweifellos aus einem Gefühl der Rache heraus –, den naheliegendsten Kandidaten, seinen ältesten Sohn Cuautémoc, auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie erwählten zum Regenten seinen Neffen Motecuzóma den Jüngeren, weil, wie sie verkündeten, »Motecuzóma Xocóyotzin seine Fähigkeiten nacheinander sowohl als Priester, Heerführer und Kolonialverwalter unter Beweis gestellt hat. Und da er so weit im Lande herumgekommen ist, kennt er auch die fernstgelegenen Gebiete der Mexíca aus erster Hand«.
Ich erinnerte mich an die Worte, welche Ahuítzotl einst mit Donnerstimme zu mir gesagt hatte: »Wir werden keine hohle Trommel auf diesen Thron setzen!« und fand, es sei wohl ebensogut, daß er nicht mehr bei Verstand war, als eben dieses doch geschah. Wäre Ahuítzotl gleich umgekommen und bei klarem Verstand gestorben, er wäre aus dem tiefsten Schlund der Mictlan herausgekrochen gekommen und hätte lieber seinem eigenen Leichnam auf den Thron geholfen statt Motecuzóma. Wie es sich herausstellte, wäre ein toter Herrscher für die Mexíca womöglich besser gewesen als dieser. Ein Leichnam bleibt zumindest so sitzen, wie man ihn einmal hingesetzt hat.
Doch damals interessierte ich mich in gar keiner Weise für die Ränke am Hofe; ich bereitete mich vielmehr darauf vor, selber für eine Zeitlang abzutreten, und das aus mehreren Gründen. Zunächst einmal war mein Zuhause für mich zu einem Ort schmerzlicher Erinnerungen geworden, denen ich zu entkommen trachtete. Es versetzte mir sogar einen Stich, auch nur meine liebe Tochter anzublicken, weil ich in ihrem Gesicht soviel von Zyanya sah. Außerdem glaubte ich eine Möglichkeit gefunden zu haben, Cocóton den Verlust ihrer Mutter nicht allzu deutlich fühlen zu lassen. Und darüber hinaus gaben mein Freund Cozcatl und seine Frau Quequel-miqui, als sie kamen, mich mit ihrem Beileid zu trösten, zu erkennen, sie hätten nun kein Dach mehr überm Kopf, da ihr Haus zu denen gehöre, welche durch die Überschwemmung zum Einsturz gebracht worden seien.
»Das bedrückt uns allerdings weniger, als man meinen möchte«, sagte Cozcatl. »Ehrlich gesagt, fühlten wir uns darin recht beengt und unbehaglich, da unsere Wohnung und unsere Dienerschule unter einem Dach vereinigt waren. Wo wir schon einmal gezwungen sind, neu zu bauen, werden wir zwei getrennte Häuser errichten.«
»Und bis dahin«, erklärte ich, »soll dieses hier euer Zuhause sein. Ihr werdet beide hier leben. Ich gehe ohnehin fort, und so stehen Haus und Dienerschaft euch zur Verfügung. Dafür bitte ich euch nur um einen Gefallen. Würdet ihr beide Cocóton Vater und Mutter ersetzen, solange ich fort bin? Könntet ihr Teñe und Tete für ein armes Waisenkind spielen?«
Kitzlig sagte: »Ayyo, was für eine wunderbare Vorstellung!«
Cozcatl sagte: »Das wollen wir nicht nur gern, sondern dankbar tun. Dann werden wir jedenfalls einmal eine Zeitlang eine richtige Familie sein.«
Ich sagte: »Das Kind macht keinerlei Schwierigkeiten. Die Sklavin Türkis kümmert sich um ihre alltäglichen Bedürfnisse. Ihr braucht nichts weiter zu geben als die Geborgenheit, welche euer Dasein gibt … und ihr hin und wieder eure Liebe zu zeigen.«
»Selbstverständlich werden wir das tun!« rief Kitzlig aus, und die Tränen traten ihr in die Augen.
Ich fuhr fort: »Ich habe Cocóton bereits erklärt, warum ihre Mutter in den letzten Tagen nicht hier war – das heißt: ich habe ihr etwas vorgelogen. Ich habe gesagt, ihre Teñe sei unterwegs, auf den Märkten etliches einzukaufen, was wir für eine längere Reise benötigten, welche wir unternehmen müßten. Das Kind hat nur genickt und gesagt: ›Lange Reise‹, doch das sagt ihr in ihrem Alter nicht viel. Wenn ihr Cocóton jedoch immer wieder daran erinnert, daß ihre Teñe und ihr Tete in ferne Länder reisten – nun, ich hoffe, sie wird sich bei meiner Rückkehr daran gewohnt haben, keine Mutter zu haben, so daß sie nicht allzu tief getroffen ist wenn ich ihr sage, daß ihre Teñe nicht mit mir zurückgekommen ist.«
»Aber sie wird sich doch auch daran gewöhnen, ohne dich zu sein«, warnte Cozcatl.
»Ja, das wird sie wohl«, sagte ich verzagt. »Ich kann eben nur hoffen, daß, wenn ich zurückkehre, wir beide wieder neu Bekanntschaft mit einander schließen. Wenn ich jedoch wüßte, daß in der Zwischenzeit gut für Cocóton gesorgt ist, daß man sie liebt …«
»Das wird sie!« sagte Kitzlig und legte mir eine Hand auf den Arm. »Wir werden hier mit ihr leben, solange es nötig ist. Und wir werden dafür sorgen, daß sie dich nicht vergißt, Mixtli.«
Sie gingen, um die wenigen Habseligkeiten, die sie aus den Trümmern ihres eigenen Hauses gerettet hatten, in mein Haus zu bringen, und ich selbst schnürte am selben Abend noch ein leichtes, mit allem Nötigen versehenes Reisebündel, ging in die Kinderkammer, weckte Cocóton und erklärte dem verschlafenen kleinen Mädchen:
»Deine Teñe hat mich gebeten, dir in unser beider Namen Lebewohl zu sagen, Krümelchen, weil … weil sie unsere Trägerkolonne nicht allein lassen kann, sonst zerstreuen die Leute sich und laufen weg wie Mäuse. Ich soll dir aber einen Abschiedskuß von ihr geben. Hat das nicht genauso geschmeckt wie ein Kuß von ihr?« Überraschenderweise hatte er das, zumindest für mich. »So, Cocóton, nimm jetzt mit den Fingern Tenes Kuß von deinen Lippen und halt ihn fest in deiner Hand, ja, so, damit dich jetzt auch dein Tete küssen kann. So ist's fein. Jetzt nimm meinen und ihren Kuß, halt sie beide fest in der Hand und schlaf weiter. Und wenn du aufstehst, heb sie irgendwo sicher auf, damit die Küsse wieder zu uns zurückkommen können, wenn wir wieder da sind.«
»Da sind«, sagte sie verschlafen, lächelte ihr Zyanya-Lächeln und machte ihre Zyanya-Augen zu.
Unten schniefte Türkis, und Stern Sänger schneuzte sich ein paarmal die Nase, als wir uns Lebewohl sagten, ich sie mit der Leitung des Haushalts betraute und sie noch einmal darauf hinwies, daß sie bis zu meiner Rückkehr Cozcatl und Quequelmiqui als ihren Herrn und ihre Herrin zu betrachten hätten. Ehe ich die Stadt ganz verließ, schaute ich noch einmal im Haus der Fernhändler vorbei und gab dort eine Nachricht ab, welche mit der nächsten Pochtéca-Kolonne in Richtung Tecuantépec abgehen sollte. In dem gefalteten Papier teilte ich Béu Ribé – in den wenigst schmerzenden Wortbildern, deren ich fähig war – den Tod ihrer Schwester mit und wie sie gestorben sei.
Ich kam gar nicht auf den Gedanken, daß der übliche Fluß des Mexíca-Handels eine beträchtliche Unterbrechung erfahren haben könnte und meine Nachricht nicht so bald in Béus Hände gelangen würde. Die Chinámpa-Felder, welche die Insel Tenochtítlan umringen, hatten vier Tage unter Wasser gestanden, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in welcher Mais, Bohnen und andere eßbare Pflanzen gerade eben angefangen hatten zu keimen. Und nicht nur, daß das Wasser die Keime zerstört hatte – es war auch in die Lagerhäuser eingedrungen, in welchen Notvorräte lagerten, und hatte sämtliche getrockneten Lebensmittel vernichtet. Infolgedessen waren die Mexíca-Kaufleute und ihre Träger viele Monde hindurch ausschließlich damit beschäftigt, zumindest notdürftig die Versorgung der notleidenden Stadt sicherzustellen. Zu diesem Zwecke waren sie ständig unterwegs, zogen jedoch nicht in weite Ferne, und so kam es, daß Wartender Mond erst über ein Jahr später erfahren sollte, was geschehen war.
Auch ich war während dieser Zeit ständig unterwegs und ließ mich vom Wind treiben wie Löwenzahnsamen, oder wohin mich eine besonders verlockende Landschaft trieb oder ein sich windender Pfad führte, als sagte er zu mir: »Folg mir! Gleich um die nächste Biegung liegt ein Land, welches Ruhe und Vergessen schenkt.« Selbstverständlich gab es einen solchen Ort nicht. Ein Mensch kann bis ans Ende aller Wege gehen, die es gibt, und bis an das Ende aller seiner Tage, und doch kann er nirgends seine Vergangenheit ablegen und davongehen, ohne jemals zurückzublicken.
Die meisten meiner Erlebnisse in dieser Zeit dienten keinem besonderen Zweck; ich war auch nicht darauf aus, Handel zu treiben oder mich mit Dingen zu belasten, die ich erwarb, und wenn es glückliche Entdeckungen zu machen gab – wie etwa jene der großen Stoßzähne damals, als ich auf der Flucht vor einem anderen Herzeleid war –, ging ich an ihnen vorüber, ohne sie wahrzunehmen. Zu dem einen Erlebnis, welches wert ist, nicht vergessen zu werden, kam es rein zufällig und zwar auf folgende Weise:
Ich befand mich in der Nähe der Westküste, im Land der Nauyar Ixu, einer der abgelegenen Nordwestprovinzen oder abhängigen Gebiete von Michihuácan. Ich war dorthin gezogen, nur um einen Vulkan zu sehen, der seit einem Mond nahezu ununterbrochen in Tätigkeit gewesen war und drohte, nie aufzuhören. Dieser Vulkan heißt Tzebóruko, was soviel heißt wie »Wutschnaubend«, nur tat er freilich mehr als nur das: Er brüllte vor Zorn, und es klang, als dringe das Kriegsgetöse aus dem Mictlan nach oben. Grauschwarze Wolken entquollen ihm, dazwischen zirkonfarbene Flammenblitze, stiegen hoch bis zum Himmel auf und hatten das seit vielen, vielen Tagen getan, so daß dieser Himmel ganz schmutzig war und ganz Nauyar Ixú tagelang im Zwielicht dalag. Von dieser Wolke rieselte ständig warme, beizende Asche hernieder. Aus dem Krater drang unablässig das zornige Grollen der Vulkangöttin Chántico heraus, schossen Massen feurig glühender Lava empor und etwas, was sich aus der Ferne zwar ausnahm, als wären es kleine Steine, welche in die Höhe und herausgeschleudert wurden; dabei waren es selbstverständlich gewaltige Felsbrocken, die durch die Luft flogen.
Der Tzebóruko ragt am Ende eines Flußtals in die Höhe, und so war es nur verständlich, daß der Lavastrom sich am ungehindertsten dieses Flußbett entlang wälzte. Das Wasser war jedoch zu seicht, um den geschmolzenen Fels abzukühlen und erstarren zu lassen; das Wasser schrie einfach auf und kochte, wenn die Elemente zusammentrafen, und verdampfte unter diesem Ansturm. Jede der nacheinander folgenden Wogen glühender Lava, welche der Berg ausspie, lief die Berghänge und das Tal hinunter, verlangsamte dann ihre Geschwindigkeit und rückte in dem Maß, wie sie abkühlte und schwarz wurde, nur im Schneckentempo weiter. Die verhärtete Oberfläche bot jedoch der nachfolgenden Masse nur eine um so glattere Rutschbahn, floß wieder ein Stück weiter und erstarrte erst dann endgültig. Als ich dort anlangte, um mir das Schauspiel anzusehen, war der geschmolzene Fels gleich einer langen roten Zunge ein weites Stück den sich zurückziehenden Fluß hinuntergelaufen. Die Hitze des verflüssigten Felsens und des zischenden Dampfes war dermaßen stark, daß ich an keiner Stelle nahe an den Berg herankommen konnte. Kein Mensch konnte das, und keiner (außer mir) wollte das. Die meisten Menschen, welche in dieser Gegend lebten, packten bedrückt ihre Sachen und suchten das Weite. Man erzählte mir, Ausbrüche in der Vergangenheit hätten das gesamte Flußtal bis hinunter ans Meer verwüstet, das vielleicht zwanzigmal Ein Langer Lauf von hier entfernt sei.
Genau das geschah bei diesem Ausbruch auch wieder. Ich habe versucht, die wütende Gewalt deutlich zu machen, mit der er sich vollzog, ehrwürdige Patres, und ich habe das getan, damit ihr mir glaubt, wenn ich euch sage, daß er mich zuletzt vom Rand Der Einen Welt hinausschleuderte und hinein in das Unbekannte.
Da ich nichts weiter vorhatte, brachte ich einige Tage damit zu, einfach neben dem Lavafluß einherzugehen – zumindest so nahe daneben, wie mir das bei der sengenden Hitze und den giftigen Dämpfen, die davon aufstiegen, überhaupt möglich war –, während dieser unversöhnlich weiter brodelnd das Flußwasser zum Sieden brachte und das Flußbett von einem Ufer bis zum anderen ausfüllte. Die Lava wälzte sich weiter wie eine Schlammwoge, ungefähr so schnell wie ein gemächlich ausschreitender Mann geht, und wenn ich abends auf höhergelegenem Gelände mein Lager aufschlug, von meinen Vorräten aß und mich in meine Decke rollte oder zwischen zwei Bäumen meine Gishe aufspannte, erwachte ich am nächsten Morgen und mußte feststellen, daß der weiterfließende Felsen mir weit vorausgeeilt war und ich mich beeilen mußte, wenn ich die Spitze wieder einholen wollte. Wiewohl der Tzebóruko-Berg hinter mir immer kleiner wurde, fuhr er doch fort, unentwegt Lava zu speien, und ich ging neben dem Ausfluß einher, bloß um zu sehen, wie weit die Lava noch fließen würde. Nach ein paar Tagen erreichten wir beide das Meer – der Lavastrom und ich.
An der Mündung verengt sich das Flußtal zwischen zwei Hochebenen und ergießt sich in eine lange, tiefe, halbmondförmige Bucht, deren Strande ein großes Becken türkisgrünen Wassers umgreifen. Am Strand stand eine Siedlung aus Schilfhütten, doch Menschen waren nirgends zu sehen; ganz offensichtlich hatten die Fischer, die hier wohnten, genauso das Weite gesucht wie die weiter im Inland wohnenden Menschen; aus irgendeinem Grunde hatten sie jedoch ein kleines, seegängiges Acáli zurückgelassen, welches samt Rudern auf den Strand gezogen dalag. Dieses ließ in mir den Wunsch entstehen, hinauszurudern auf die Bucht und aus sicherer Entfernung zuzusehen, wie der kochende Fels mit dem Meer zusammenstieß. Der seichte Fluß hatte dem weiteren Sichfortwälzen der Lava keinen Einhalt gebieten können, doch wußte ich, daß die unerschöpfliche Wassermenge des Meeres ihn zum Stillstand bringen würde. Wie die beiden aufeinanderstießen, das, meinte ich, müsse ein sehenswertes Schauspiel sein.
Dazu kam es freilich erst am nächsten Tag. Mittlerweile hatte ich mein Reisebündel im Kanu verstaut, war über die Brandungsbrecher hinausgerudert und saß nun mitten auf der Bucht. Durch meinen Topas konnte ich sehen, wie die bösartig schwelende Lava sich ausbreitete, sich über den Strand wälzte und sich auf breiter Front auf den Ufersaum zubewegte. Vom Landesinneren war nicht viel zu sehen, höchstens, daß ich – durch den alles verdunkelnden Rauch und die hernieder rieselnde Asche – den rötlichen Feuerschein und gelegentlich ein helleres gelbes Aufblinken erkennen konnte, wenn Tzebóruko sich erbrach und das Innere der Mictlan ausspie.
Dann schien die glühendrot wabernde Lavamasse auf dem Strand zu zögern und Kraft zu sammeln, ehe sie – statt langsam weiter voran zu kriechen – den Ozean unversehens wütend ansprang. An den vorangegangenen Tagen weiter oben am Fluß hatte es, wenn glühendes Gestein und kaltes Wasser aufeinandergetroffen waren, fast so etwas wie einen menschlichen Schrei gegeben, ein zischendes Keuchen. Hier am Meer jedoch klang es wie das donnernde Aufbrüllen eines unvermutet verwundeten Gottes – wie der Aufschrei eines entsetzten Gottes, der vor Wut wie von Sinnen war. Es war ein Aufruhr, welcher sich aus zwei Lauten zusammensetzte: dem, der entsteht, wenn ein Meer so plötzlich zum Sieden gebracht wird, daß das Wasser aufwallt, und der Dampf aufzischt – und dem, der entsteht, wenn glühende Lava von einem Augenblick zum anderen dermaßen abkühlt und erstarrt, daß sie am Rande ihres Vordringens überall in kleine Teile auseinanderprasselt. Der Dampf stieg auf wie eine Wolkenklippe, heißer Gischt prasselte auf mich hernieder, und mein Acáli riß es so unversehens zurück, daß ich um ein Haar über Bord geflogen wäre. Ich klammerte mich an der hölzernen Bordwand fest, und ließ dabei mein Ruder ins Wasser fallen.
Das Kanu rutschte weiter nach hinten, als das Meer vor dem plötzlich unfreundlichen Land zurückfuhr wie ein gebranntes Kind. Dann erholte das Meer sich von seiner Überraschung, wie es schien, und rauschte wieder mächtig auf das Land zu. Doch der geschmolzene Fels war immer noch auf dem Vormarsch; das Gedonner ging ununterbrochen weiter, und die Dampfwolken stiegen weiter in die Höhe, hinein in den Himmel, wohin die Wolken gehören. Die gesamte Wassermasse der ausgedehnten Bucht rauschte seewärts und dann wieder zurück aufs Land zu, und das so oft, daß ich mit dem Zählen nicht mehr mitkam, denn ich wußte nicht mehr, wo mir der Kopf stand, so sehr wurde mein Einbaum geschüttelt und durchgerüttelt. Immerhin merkte ich, daß ich bei jedem Zurücklaufen des Wassers weiter vom Ufer fortgetragen wurde, als das darauffolgende Anbranden mich auf die Küste zutrug. Im strudelnden Wasser um mein hüpfendes und bockendes Kanu herum trieben, zumeist mit dem Bauch nach oben, Fische und anderes Seegetier.
Den ganzen Rest des Tages über, während das Zwielicht immer dunkler wurde, trieb mein Acáli weiter ab: eine Welle auf den Strand zu, drei Wellen auf das offene Meer zu. Im letzten schwindenden Tageslicht erkannte ich, daß ich genau in der Mitte zwischen den beiden Landzungen trieb, welche die Einfahrt zur Bucht bildeten, freilich zu weit von beiden entfernt, als daß ich mich schwimmend hätte in Sicherheit bringen können; und dahinter, jenseits der Öffnung, dehnte sich das unendliche, leere Meer. Mir waren die Hände gebunden, und es gab nur zwei Dinge, die ich tun konnte. Ich lehnte mich aus dem Kanu hinaus, fischte jeden toten Fisch heraus, den ich zu fassen bekam, und häufte sie am Ende meines Bootes auf dem Boden auf. Dann bettete ich den Kopf auf diesen feuchten kleinen Haufen und schlief ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, wollte es mir so vorkommen, als hätte ich diesen ganzen Aufruhr nur geträumt, doch trieb ich immer noch in meinem Kanu, und die Küste war so weit entfernt, daß nur noch die gezackten Umrisse blaß blauer Berge zu sehen waren. Als die Sonne strahlend an einem klaren Himmel aufstieg, war von einer Rauch- und Aschendecke nichts mehr zu sehen und zwischen den fernen Bergen kein feuerspeiender Tzebóruko mehr zu erkennen. Das Meer lag so ruhig da wie der See von Xaltócan an einem stillen Sommertag. Ich hielt den Topas in die Höhe, faßte den Horizont mit dem Land ins Auge und versuchte, mir die Umrisse ins Gedächtnis zu prägen. Dann schloß ich die Augen eine kurze Weile, ehe ich sie wieder aufmachte, um festzustellen, ob mit dem, was ich in der Erinnerung hatte, eine Veränderung eingetreten war. Nachdem ich das mehrere Male getan, merkte ich, daß die nähergelegenen Berge langsam vor den ferneren Bergen entlang glitten, und zwar von links nach rechts. Nun war mir klar, daß ich von einer Meeresströmung erfaßt worden war, die mich gen Norden trieb, das jedoch erschreckend weit von der Küste entfernt.
Ich versuchte, dem Kanu eine andere Richtung zu geben, indem ich auf der dem Land abgekehrten Seite mit den Händen paddelte, doch gab ich das bald auf. Das Wasser, welches zuvor ganz still gewesen war, strudelte, und irgend etwas stieß so hart gegen mein Boot, daß es einen Satz machte. Als ich über Bord sah, erkannte ich eine tiefe Kerbe im harten Mahagoniholz und erblickte eine aufrechtstehende Flosse, ähnlich wie ein länglicher Kriegsschild, welche ganz in der Nähe das Wasser zerteilte. Diese Flosse umkreiste mein Kanu zwei oder dreimal, ehe sie unter einem neuerlichen anhaltenden Gestrudel in der Tiefe verschwand, und danach hütete ich mich, auch nur einen Finger über die schützende Bordwand hinauszuhalten.
Nun, dachte ich bei mir, ich bin allen Gefahren entgangen, welche mir durch den Vulkan hätten drohen können. Jetzt habe ich nichts mehr zu befürchten, außer von einem Meeresungeheuer verschlungen zu werden, Hungers zu sterben, vor Hitze und Durst zu schrumpfen oder, wenn das Meer rauh wird, zu ertrinken. Ich dachte an Quetzalcóatl, den Herrscher der Toltéca längst vergangener Tage, welcher auf ähnliche Weise allein auf jenem anderen Meer im Osten davongefahren war und auf diese Weise zum beliebtesten Gott aller Götter geworden war, zu einem Gott, welcher von weit auseinander liegenden Völkern verehrt wurde, die sonst nicht das geringste miteinander gemein hatten. Selbstverständlich war ich mir darüber im klaren, daß bei seinem Abschied eine Menge von seinen Untertanen am Ufer gestanden hatten, um zu verfolgen, wie er sich immer weiter entfernte, Untertanen, die ihn verehrten und weinten, als er nicht zurückkehrte, und in der Folge hingingen und andere Menschen davon in Kenntnis setzten, daß der Mensch Quetzalcóatl fürderhin als Gott Quetzalcóatl zu verehren sei. Kein einziger Mensch war gekommen, mir zum Abschied das Geleit zu geben, niemand wußte auch nur davon, und es war auch völlig ausgeschlossen, daß jemand – wenn ich niemals zurückkehrte – eine Bewegung unter den Menschen ins Leben rief, welche forderte, mich zu einem Gott zu erheben. Infolgedessen tat ich besser daran, alles mir Mögliche zu tun, um solange wie möglich ein Mensch zu bleiben.
Ich hatte dreiundzwanzig Fische. Zehn davon suchte ich aus und legte sie beiseite, solche, von denen ich wußte, daß sie eßbar waren. Zwei davon nahm ich mit meinem Dolch aus und reinigte sie und verzehrte sie roh – wenn auch nicht ganz roh, denn zumindest waren sie in dem kochenden Kessel der Bucht hinter mir ein wenig gegart worden. Die dreizehn Fische, bei denen ich mir nicht ganz klar war, ob sie eßbar seien, schlitzte ich auf, reinigte sie und befreite sie von den Gräten. Dann suchte ich meine Eßschale aus meinem Bündel hervor und wrang die Fische aus wie Lumpen, um noch den letzten Tropfen Körperflüssigkeit herauszudrücken. Die Schale mit der dergestalt gewonnenen Flüssigkeit steckte ich samt den acht mir noch verbliebenen eßbaren Fischen unter mein Bündel, um sie vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Auf diese Weise konnte ich am nächsten Tag noch zwei weitere Fische verzehren, welche immer noch vergleichsweise unverdorben waren. Doch am dritten Tag mußte ich mich schon sehr überwinden, noch zwei weitere zu essen; ich versuchte, die Brocken ganz hinunterzuschlucken, ohne sie durchzukauen, so schlüpfrig waren sie bereits geworden und so sehr stanken sie – und warf die übelriechenden letzten vier über Bord. Danach bestand meine einzige Nahrung eine Zeitlang aus einem gelegentlichen winzigen Schluck von dem Fischwasser aus meiner Schale – oder vielmehr war es kaum mehr, als daß ich mir die schmerzhaft aufgesprungenen Lippen damit netzte.
Ich glaube, es war auch am dritten Tag, daß der letzte sichtbare Berggipfel Der Einen Welt hinterm Horizont im Osten verschwand. Die Strömung hatte mich weit vom Land abgetrieben, überall war Wasser, und das war die erste Erfahrung dieser Art in meinem Leben. Ich trieb völlig niedergeschlagen über das endlose Wasser. Das Meer umgab mich von allen Seiten, ich war im höchsten Maße unglücklich und kam mir vor wie eine Ameise auf dem Boden und genau in der Mitte einer blauen Schale, deren Wände schlüpfrig und unbesteigbar waren. Die Nächte setzten mir weniger zu, wenn ich meinen Topas wegsteckte und nichts von der überwältigenden Fülle der Sterne sah. Im Dunkeln konnte ich mir einbilden, irgendwo in Sicherheit zu sein – irgendwo, mit festem Boden unter den Füßen – in einem Festlandwald, ja, selbst in meinem eigenen Haus. Ich konnte mir einreden, das schaukelnde Boot sei eine Gishe aus geknüpftem Seil, und schlief dann tief und fest.
Tagsüber freilich schaffte ich es nicht, mir einzureden, mich irgendwo anders zu befinden als inmitten dieser erschreckend blauen, heißen, schattenlosen Weite. Glücklicherweise – denn sonst hätte ich gewiß den Verstand verloren – gab es tagsüber neben der endlosen, gleichgültigen Wasserwüste noch ein paar andere Dinge zu sehen. Dabei war es bei einigen dieser Dinge nicht gerade tröstlich, über sie nachzudenken, doch zwang ich mich, sie durch meinen Sehkristall zu betrachten, so genau die Umstände es mir erlaubten, und mir Gedanken darüber zu machen, was es wohl sein könne.
Da war der silberblaue Schwertfisch, größer als ich selbst, welcher mit Vorliebe steil aus dem Wasser hervorschießt und einen Augenblick auf seinem Schwanz tanzt. Des weiteren der womöglich noch größere Sägerochen, flach und braun und mit den verlängerten Flossen an den Seiten ähnlich den geschwungenen Hautlappen eines Flughörnchens. Beide erkannte ich an ihren bedrohlichen sägeähnlichen Schnauzen, welche manche Krieger von den Küstenstämmen als Waffen benutzten.
Da gab es unzählige kleine Geschöpfe mit langen Flossen, die sie benutzten wie Flügel, um aus dem Wasser herauszuschießen und beachtliche Strecken in der Luft dahinzugleiten. Ich hätte sie für eine Art Wasserinsekten gehalten, nur landete einer von ihnen in meinem Einbaum. Ich verzehrte ihn auf der Stelle, und da schmeckte er wie ein Fisch. Da waren gewaltige blaugraue Fische, welche mich mit erstarrtem Grinsen und wissenden Augen ansahen, doch schienen diese mehr verständnisvoll als bedrohlich. Viele von ihnen begleiteten mein Acáli über eine lange Zeit hindurch und unterhielten mich damit, indem sie in geübter Zweisamkeit kunstvoll aus dem Wasser heraus und durch die Luft sprangen.
Am sechsten oder siebenten Tag – gerade rechtzeitig, denn ich hatte den letzten Rest Fischwasser aus meiner Schale ausgeleckt; ich war eingefallen, über und über mit Bläschen bedeckt und völlig schlaff – jagte ein Regen gleich einem grauen Schleier über das Meer hinter mir, holte mich ein und fuhr über mich hinweg. Das erfrischte mich sehr, füllte überdies meine Schale, und ich trank sie zwei oder dreimal leer. Doch dann fing ich nachgerade an, mir Sorgen zu machen, denn der Regen hatte einen Wind mitgebracht, der Wogen auf dem Meer zusammentrieb. Mein Kanu wurde wie ein kleines Stück Holz hin und her geworfen, und bald saß ich da und schöpfte mit meiner Schale das Wasser aus, das hereingeschlagen war. Immerhin zog ich einigen Mut aus der Tatsache, daß Regen und Wind von hinten gekommen waren – aus dem Südwesten, wie ich annahm, da ich mich erinnerte, wo die Sonne zuvor gestanden hatte – und vermutlich wurde ich nicht noch weiter aufs Meer hinausgetrieben.
Wenn es auch keine Rolle spielte, wo ich schließlich unterging, wie ich müde überlegte, denn mittlerweile konnte ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen, als daß ich irgendwann irgendwo untergehen müßte. Da Wind und Regen ohne Unterlaß weitergingen, und das Meer mein Acáli vor sich hintanzen ließen, konnte ich weder schlafen noch ruhen, sondern war unausgesetzt damit beschäftigt, das Wasser auszuschöpfen, welches in mein Kanu hereinschwappte. Ich war bereits so schwach, daß meine Schale mir jedes Mal, wenn ich sie füllte und den Inhalt über Bord goß, schwer in der Hand lag wie ein großer irdener Krug. Wiewohl ich keinen Schlaf finden konnte, glitt ich dennoch irgendwann in eine Art Dämmerzustand hinein, so daß ich nicht mehr sagen kann, wie viele Tage und Nächte auf diese Weise vergingen, doch muß ich wohl die ganze Zeit über weiter Wasser geschöpft haben, gleichsam als wäre es mir zu einer Gewohnheit geworden, mit welcher ich nicht brechen konnte, die ich auch im Schlaf nicht aufgab. Woran ich mich noch erinnere, ist, daß gegen Ende meine Bewegungen immer zähflüssiger und langsamer wurden und das Wasser im Boot rascher stieg, als ich schöpfen konnte. Als ich endlich hörte, wie der Boden des Kanus über den Grund schrammte und ich überzeugt war, daß es nun endlich untergegangen war, konnte ich mich nur noch gelinde darüber wundern, kein Wasser um mich herum zu fühlen, nicht zu spüren, wie es mich umhüllte und daß keine Fische mir durch das Haar schwammen.
Ich muß das Bewußtsein verloren haben, denn als ich wieder zu mir kam, war der Regen vorüber, schien hell die Sonne und ich blickte mich verwundert um. Ich war tatsächlich gesunken, freilich nicht sonderlich tief. Das Wasser ging mir bloß bis zur Hüfte, denn mein Einbaum war nur ein kleines Stück vor einem steinigen Strand auf Grund gelaufen, welcher sich nach beiden Seiten erstreckte und nichts von irgendwelcher menschlichen Besiedelung erkennen ließ. Immer noch schwach und wie erschlagen und mit langsamen Bewegungen stieg ich aus dem halbversunkenen Acáli hinaus und watete mit meinem völlig durchnäßten Bündel an Land. Jenseits des Strandstreifens wuchsen Kokospalmen, doch war ich viel zu schwach, um hinaufzuklettern oder auch nur eine Kokosnuß herunterzuschlagen oder herunterzuschütteln oder nach irgendwelchen anderen eßbaren Dingen Ausschau zu halten. Immerhin überwand ich mich und leerte noch mein Bündel, um alles in der Sonne zu trocknen, doch dann kroch ich in den Schatten einer Palme und verlor abermals das Bewußtsein.
Als ich erwachte, herrschte Dunkelheit, und es dauerte einige Augenblicke, ehe ich mir darüber klar wurde, daß ich nicht mehr auf dem Meere hin und hergeworfen wurde. Wo ich war, wußte ich freilich überhaupt nicht, doch schien es, als wäre ich nicht mehr allein, denn überall um mich herum vernahm ich ein geheimnisvolles und beunruhigendes Geräusch. Es war ein Laut, der von überall und nirgends herkam, kein einzelnes, sehr lautes Klicken, doch alles zusammen ergab ein knisterndes Geräusch wie ein unsichtbares Buschfeuer, welches auf mich zukam. Oder vielleicht waren es viele, viele Menschen, die versuchten, sich an mich heranzuschleichen, allerdings nicht sonderlich heimlich, denn entweder traten sie alle auf besonders locker daliegende Kiesel auf dem Strand oder sie zertraten jeden Zweig, der als Treibgut an den Strand gespült sein mochte.
Ich fuhr hoch, und auf diese Bewegung hin hörte das Klicken augenblicklich auf; doch als ich mich wieder hinlegte, setzte der unheimliche Laut sofort wieder ein. Jedesmal, wenn ich mich im Laufe dieser Nacht bewegte, verstummte es, um gleich darauf wieder einzusetzen. Ich hatte nicht meinen Brennkristall benutzt, um ein Feuer zu entzünden, als ich noch bei Bewußtsein gewesen war und die Sonne hochgestanden hatte. Deshalb konnte ich mir auch keine Fackel machen. Ich konnte überhaupt nichts tun, außer unruhig wach dazuliegen und ständig darauf gefaßt zu sein, daß mich irgend etwas ansprang – bis das erste dämmerige Morgenlicht mich die Ursache des Geräusches erkennen ließ.
Beim ersten Anblick überlief mich eine Gänsehaut. Der gesamte Strand mit Ausnahme einer kleinen Lichtung um die Stelle herum, auf welcher ich lag, war über und über mit grünbraunen, handgroßen Krebsen bedeckt, die unbeholfen über den Sand und über einander hinwegkrochen und -rutschten. Krebse sind niemals besonders anziehende Geschöpfe, doch alle, die ich bisher gesehen hatte, waren zumindest ebenmäßig gewesen. Diese hier waren das nicht; denn ihre Scheren waren überraschend ungleich. Die eine war ein großes und unbeholfen dickes, leuchtend rot und blau gesprenkeltes Glied, die andere war schlicht krebsfarben und ganz schmal wie ein aufgeschlitzter Zweig. Und ein jeder Krebs benutzte seine schmale Schere, um unablässig die große Schere wie eine Trommel und keineswegs wohltönend zu bearbeiten.
Das Morgendämmer schien für sie ein Zeichen zu sein, in ihrem lächerlichen Tun innezuhalten; die Massen lichteten sich, als die Krebse sich in ihren Bau im Sand verkrochen. Der eigentliche Körper war nur klein und enthielt zu wenig Fleisch, als daß es sich gelohnt haben würde, es aus der Schale heraus zu polken, doch ihre großen Trommelschlegelscheren, die ich überm Feuer röstete, ehe ich sie aufschlug, lieferten mir ein recht wohlschmeckendes Frühstück.
Zum erstenmal seit vielen Tagen gesättigt, fühlte ich mich ein wenig kräftiger, erhob mich vom Feuer und machte mich an eine Bestandsaufnahme. Ich war nicht nur zurück in Der Einen Welt, sondern gewißlich auch noch an der Westküste, nur freilich unendlich weiter hoch im Norden, als ich es jemals zuvor gewesen war. Wie immer, dehnte sich das Meer bis an den westlichen Horizont, doch war es merkwürdig weniger aufgewühlt als das Meer, welches ich weiter im Süden kennengelernt hatte; keine Brecher, die sich auf das Ufer ergossen, nicht einmal eine gischtig brodelnde Brandung; die Wellen leckten nur sanft den Strand herauf. In der entgegengesetzten Richtung, im Osten, ragte hinter den Uferpalmen und anderen Bäumen eine Bergkette, welche zwar erschreckend hoch schien, jedoch angenehm grün bewaldet war – etwas ganz anderes, als der vulkanische Gebirgszug aus dunkelbraunem und schwarzem Felsen, von dem ich hergekommen war. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es mich nach Norden erst durch die Meeresströmung und dann durch den Regensturm verschlagen hatte. Eines jedoch wußte ich: Wenn ich mich die Küste entlang einfach nach Süden wandte, mußte ich irgendwann wieder auf die Bucht in der Nähe des Tzebóruko stoßen, und von dort an würde ich wieder in vertrautem Land sein. Wenn ich mich an die Küste hielt, brauchte ich mir auch keine Sorgen um Essen und Trinken zu machen. Wenn sich nichts anderes bot, konnte ich mich ohne weiteres von Krebsfleisch und Kokosmilch ernähren.
Nur war nicht daran zu deuteln, daß ich das verfluchte Meer leid war und es nicht mehr sehen wollte. Gewiß, der Gebirgszug weiter im Landesinneren war mir fremd und möglicherweise von wilden Raubtieren oder überhaupt von Tieren bewohnt, denen ich noch nie zuvor begegnet war. Gleichviel, es waren nur Berge. Ich war schon durch so manches andere Gebirge gezogen und hatte durchaus gut gelebt von all den Dingen, welche sich boten. Am verlockendsten wollte es mir in diesem Augenblick erscheinen, daß die Berge eine Vielfalt von Landschaftseindrücken bieten würden, was das Meer oder der Küstensaum nie konnte. Deshalb blieb ich nur zwei oder drei Tage am Strand, um mich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Dann schnürte ich mein Bündel, wandte mich nach Osten und strebte auf die niedrigen Ausläufer der Bergkette zu.
Es war damals Hochsommer, und das war ein Glück für mich, denn selbst um diese Jahreszeit waren die Nächte in diesen Höhen empfindlich kalt. Die wenigen Kleider und die eine Decke, die ich bei mir hatte, waren inzwischen schon recht fadenscheinig geworden und hatten dazu noch darunter gelitten, daß sie sich für so lange Zeit mit Salzwasser vollgesogen hatten. Wäre ich jedoch im Winter in diese Berge gestiegen, hätte ich wirklich gelitten, denn von den Einheimischen hörte ich, daß die Winter lähmende Kälte und heftige Schneefälle brachten und der Schnee sich bisweilen übermannshoch türmte.
Endlich stieß ich dann doch wieder auf Menschen, freilich erst, nachdem ich bereits viele Tage in den Bergen unterwegs gewesen war, so daß ich mich schon gefragt hatte, ob Die Eine Welt denn durch den Ausbruch des Tzebóruko oder eine andere Katastrophe ganz und gar entvölkert worden sei, während ich draußen auf dem Meer trieb.
Sehr sonderbare Menschen waren es, auf die ich schließlich stieß. Sie nannten sich Rarámuri – und nennen sich vermutlich heute noch so –, ein Wort welches soviel bedeutet wie Schnellfüßig – und das, wie ich noch erklären werde, allerdings mit gutem Grund. Auf den ersten von ihnen stieß ich, als ich oben am Rand einer Felswand stand, mich von einem atemberaubenden Aufstieg erholte und einen atemberaubenden Anblick genoß. Ich blickte hinunter in einen erschreckend tiefen Abgrund, an dessen glatten steilen Seitenwänden hier und da Bäume wuchsen wie grüne Federbüschel. Tief unten floß ein Fluß hindurch, und dieser Fluß wurde gespeist von einem Wasserfall, welcher aus einer Schlucht auf der anderen Seite des Cañons herabstürzte. Die Höhe dieses Wasserfalls muß fast die Hälfte von Ein Langer Lauf gemessen haben; es ging steil in die Tiefe, und unten, wo die Wassersäule aufprallte, brodelte es mächtig und sah aus wie eine weiß aufgischtende Wolke. Ich war ganz in die Betrachtung dieses großartigen Schauspiels vertieft, als ich einen Ruf vernahm: »Kuira-ba!«
Ich schrak zusammen, denn es war seit langer, langer Zeit das erstemal, daß ich wieder eine menschliche Stimme vernahm; freilich klang der Ruf nicht bedrohlich, eher heiter, und so meinte ich, es müsse wohl ein Gruß sein. Der gerufen hatte, war ein junger Mann, welcher lächelnd am Rand des Cañons auf mich zukam. Er hatte ein schönes Gesicht, so wie ein Falke schön ist, und war gut gewachsen, wenn auch kleiner als ich. Er war anständig gekleidet, ging allerdings barfuß – doch das erging mir mittlerweile nicht anders, da meine Sandalen unterwegs längst zerschlissen und mir von den Füßen gefallen waren. Neben seinem sauberen hirschledernen Schamtuch trug er einen Umhang aus demselben Material, allerdings von einem Schnitt, der mir neu war; er wies bis zum Handgelenk hinunter Ärmel auf, um ihm zusätzlich Wärme zu geben.
Als er näherkam, erwiderte ich seinen »Kuira-ba«-Gruß. Er zeigte auf den Wasserfall, den ich bewundert hatte, grinste stolz, als wäre er sein persönliches Eigentum, und sagte: »Basa-séachic«, wobei ich meinte, daß das wohl Fallendes Wasser heißen müsse, denn es erschien mir höchst unwahrscheinlich, daß man einen Wasserfall anders nennen könne. Ich wiederholte das Wort und legte viel Gefühl hinein, um ihm begreiflich zu machen, daß ich das Wasser ganz besonders schön fände und die Art, wie es sich in die Tiefe stürzte, außerordentlich beeindruckend. Der junge Mann zeigte auf sich und sagte: »Tes-disóra« – offensichtlich sein Name, welcher, wie ich später erfuhr, Mais Stengel bedeutete. Ich zeigte auf mich, sagte: »Mixtli«, um dann zu einer Wolke am Himmel hinaufzudeuten. Er nickte, klopfte ein paarmal auf sein Hischlederwams, sagte: »Raramurime«, um dann auf mich zu zeigen und zu sagen: »Chichimecáme.«
Nachdrücklich schüttelte ich den Kopf, schlug mir gegen die bloße Brust und sagte: »Mexícatl!« woraufhin er neuerlich nickte, nachsichtig allerdings, als hätte ich den Namen eines der zahllosen Hunds-Unterstämme der Chichiméca genannt. Nicht sofort, wohl aber später begriff ich, daß die Rarámuri niemals von uns Mexíca auch nur gehört hatten – von unserer hochstehenden Gesellschaft, unserem Wissen, unserer Macht und unseren weiten Herrschaftsgebieten – und ich glaube, es hätte ihnen auch nichts weiter bedeutet, wenn sie es gewußt hätten. Die Raramuri leben in ihren Bergen ein behagliches Leben – das gut bewässerte Land ernährt sie, und sie begnügen sich mit der Gesellschaft von ihresgleichen –, so daß sie selten weite Reisen unternehmen. Infolgedessen kennen sie keine anderen Völker außer ihren unmittelbaren Nachbarn, von denen gelegentlich Leute, die auf Raub aus waren, in ihr Land eindrangen – oder einfache Wanderer wie ich.
Nördlich von ihnen lebten die gefürchteten Yaki, und kein vernünftiges Volk, das seine fünf Sinne beisammen hat, kann den Wunsch hegen, mit den Yaki nähere Bekanntschaft zu schließen. Mir fiel ein, von einem der Vorsitzenden der Pochtéca-Gilde von den Yaki gehört zu haben. Später, als ich seine Sprache besser verstand, erzählte Tes-disóra mir mehr von ihnen: »Die Yaki sind wilder als die wildesten Tiere. Als Schamtuch tragen sie das Haar anderer Menschen. Sie reißen einem Menschen die Kopfhaut herunter, während dieser noch lebt; erst dann weiden sie ihn aus, zerteilen ihn und verzehren ihn. Verstehst du, töten sie ihn vorher, meinen sie, es lohne sich nicht, ihm den Skalp zu nehmen und ihn zu tragen. Und das Haar einer Frau zählt überhaupt nichts. Frauen, die ihnen in die Hände fallen, sind nur zum Aufessen gut – nachdem sie ihnen solange Gewalt angetan haben, bis sie in der Mitte aufreißen und man sie nicht mehr schänden kann.«
In den Bergen südlich der Rarámuri leben friedfertigere Stämme, welche ihnen durch ähnliche Sprachen, Sitten und Gebräuche verwandt sind. An der Küste im Westen leben Fischerstämme, welche sich fast nie weiter ins Landesinnere hineinwagen. Alle diese Völker kann man vielleicht nicht gerade hochstehend nennen, doch legen sie zumindest Wert auf Körpersauberkeit und anständige Kleidung. Die einzigen wirklich tief stehenden Nachbarn der Rarámuri sind die Chichimeca-Stämme in den Wüsten des Ostens. Ich war so sonnenverbrannt wie nur je ein wüstenbewohnender Chichimécatl und fast genauso nackt. In den Augen der Rarámuri konnte ich nur einer von dieser nichtsnutzigen Brut sein, wenn auch ein außergewöhnlich unternehmungslustiger, daß ich mich bis in ihre Bergeshöhen emporgewagt hatte. Ich meine, Tes-disóra könnte bei unserem ersten Zusammentreffen zumindest bemerkt haben, daß ich nicht stank. Dank der Fülle von Wildwassern in den Bergen hatte ich jeden Tag baden können und tat das auch weiterhin, wie die Rarámuri selber auch. Doch trotz meiner Höflichkeit und Zuvorkommenheit und wiewohl ich immer wieder nachdrücklich darauf hinwies, ich sei ein Mexícatl, ja, wiewohl ich dieses ferne Volk immer wieder rühmte und pries, konnte ich keinen einzigen von den Rarámuri jemals davon überzeugen, etwas anderes zu sein als nur ein Chichimécame-Flüchtling aus der Wüste.
Doch gleichviel. Für was sie mich auch immer hielten oder was sie auch meinten, was zu sein ich vorgab, die Rarámuri nahmen mich mit offenen Armen auf. Und ich verweilte einige Zeit bei ihnen, bloß, weil ihre Lebensweise mich für sie einnahm und es mir Freude machte, mit ihnen zusammenzuleben. Ich blieb lange genug bei ihnen, ihre Sprache einigermaßen zu lernen, um mich – zumindest unter Zuhilfenahme vieler Gesten und Gebärden von ihrer wie von meiner Seite – mit ihnen zu unterhalten. Bei meinem ersten Zusammentreffen mit Tes-disóra verständigten wir uns ausschließlich durch Zeichen.
Nachdem wir uns gegenseitig unsere Namen genannt hatten, benutzte er die Hände, um ein Dach über seinem Kopf anzudeuten – was soviel bedeutete wie Dorf, nahm ich an – und sagte: »Guagüey-bo« und deutete nach Süden. Dann zeigte er zu Tonatíu hoch oben am Himmel hinauf und nannte ihn »Ta-tevarí« oder Großvater Feuer und machte mir begreiflich, wir könnten das Dorf Guagüey-bo innerhalb des Weges von drei Sonnen erreichen. Ich meinerseits gab ihm durch Gesten meine Dankbarkeit für diese Einladung zu verstehen, und so machten wir uns auf den Weg. Zu meiner Verwunderung setzte Tes-disóra sich in Trab, doch als er sah, daß ich unter Kurzatmigkeit und Müdigkeit litt und nicht geneigt war zu laufen, blieb er stehen und schloß sich fortan meinem Schrittempo an. Sein trabender Gang war offensichtlich seine gewohnte Art und Weise, Berge und Cañons gleichermaßen zu überwinden, denn obgleich ich lange Beine habe, dauerte es fünf und nicht drei Tage, bis wir Guagüey-bo erreichten.
Gleich zu Beginn unseres Marsches gab Tes-disóra mir zu verstehen, er gehöre zu den Jägern seines Dorfes. Ich erkundigte mich durch Zeichensprache danach, wie es dann komme, daß er mit leeren Händen unterwegs sei. Wo er denn seine Waffen gelassen habe? Er verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und gebot mir stehenzubleiben und still im Unterholz hocken zu bleiben. Dergestalt warteten wir im Wald nur eine kurze Zeit, als Tes-disóra mir einen sanften Rippenstoß versetzte und mit dem Finger zeigte, woraufhin ich undeutlich etwas zwischen den Bäumen sich bewegen sah. Ehe ich meinen Kristall ans Auge heben konnte, schnellte Tes-disóra unversehens aus seiner Hockstellung in die Höhe und schoß davon, als wäre er ein Pfeil, der von einer Sehne springt.
Die Bäume standen so dicht, daß ich trotz meines Topases nicht jeder Bewegung folgen konnte, welche die Jagd nahm, doch sah ich genug, daß ich vor Fassungslosigkeit Mund und Nase aufsperrte. Die gefleckte Gestalt, welche ich undeutlich wahrgenommen hatte, war ein junges Kitz, welches sofort in langen Fluchten davonsprang, als Tes-disóra hinterhersetzte. Das Kitz war schnell, doch der junge Mann war noch schneller. Das junge Tier sprang und schlug Haken, doch er schien irgendwie schon im Voraus zu wissen, wohin es sich in seiner Verzweiflung jedesmal wenden würde. In kürzerer Zeit als ich brauche, es zu erzählen, hatte er das Kitz eingeholt, warf sich darauf und brach ihm das Genick.
Als wir eine der Kitzlenden brieten, vollführte ich Gesten der Verwunderung über Tes-disóras Flinkheit und Gewandtheit. Er tat das Lob mit bescheidenen Gesten ab und erklärte mir dann, er gehöre noch zu den langsamsten Schnelläufern, andere Jäger überträfen ihn bei weitem, und im übrigen sei ein kleines Kitz schließlich im Gegensatz zu einem ausgewachsenen Rehbock keine Herausforderung. Er seinerseits bekundete Erstaunen über den Brennkristall, mit dessen Hilfe ich unser Feuer entzündet hatte. Er erklärte, nie so ein wunderbar nützliches Gerät im Besitz eines anderen Barbaren gesehen zu haben.
»Mexícatl«, wiederholte ich mehrere Male ärgerlich. Er jedoch nickte nur, und wir hörten auf zu reden – redeten weder mit Händen noch mit dem Mund, sondern nutzten beides, uns an dem zarten gebratenen Fleisch gütlich zu tun.
Guagüey-bo lag in einem anderen der aufsehenerregend weiten Cañons dieses Landes und war ein Dorf in dem Sinne, daß zwar einige zwanzig Familien hier lebten – alles in allem vielleicht dreihundert Personen –, aber eigentlich nur ein sichtbares »Wohnhaus« vorhanden war, ein kleines, sauber gebautes Holzhaus, in welchem der Si-ríame lebte. Dieses Wort bedeutet Häuptling, Zauberer, Arzt und Richter, doch bezeichnete man nicht vier verschiedene Personen damit. Das Haus des Si-ríame und etliche andere Bauten – manche davon kuppelförmige Schwitzbäder, etliche Lagerhütten mit offenen Seitenwänden und eine aus Schieferplatten bestehende Plattform für irgendwelche gemeinsame Feiern – standen unten auf der Sohle des Cañons am Ufer des Weißwasserflusses, welcher hindurchfloß. Der Rest der Bewohner von Guagüey-bo lebte in entweder natürlichen oder künstlich geschaffenen Felshöhlen in den gewaltigen Steilwänden der Schlucht.
Daß sie Höhlen bewohnen, bedeutet noch lange nicht, daß die Rarámuri primitive oder träge Menschen wären, sondern nur, daß sie praktisch veranlagt sind. Würden sie es sich gewünscht haben, sie hätten alle genau so schöne Häuser haben können wie das des Si-ríame. Doch die Höhlen waren nun einmal da oder leicht auszuhöhlen, und die Bewohner richten sie ausgesprochen behaglich ein. Jede Höhlenwohnung ist durch Felswände im Inneren in verschiedene Räume unterteilt, und jeder Raum weist eine Öffnung nach außen auf, um Licht und Luft hereinzulassen. Der Boden ist bedeckt mit einer Schicht würzig duftender Kiefernadeln, welche hinausgekehrt und alle paar Tage erneuert wird. Vor den nach außen führenden Öffnungen hängen Vorhänge und an den Wänden Hirschfelle mit lebhaften Malereien darauf. Die Höhlenwohnungen sind eigentlich behaglicher, bequemer und zweckdienlicher als viele Stadthäuser, die ich betreten habe.
Tes-disóra und ich erreichten das Dorf mit einer schwer beladenen Stange zwischen uns und beeilten uns, möglichst rasch vorwärtszukommen. So unglaublich es klingt, aber mein Gefährte hatte in den frühen Morgenstunden dieses Tages einen Rehbock und eine Hindin sowie einen großen Wildeber eingeholt und getötet. Wir hatten die Tiere ausgeweidet und zerteilt und uns dann beeilt, das Fleisch nach Guagüey-bo zu bringen, solange es noch einigermaßen kühl war. Das Dorf hatte durch die Jäger und Sammler reichliche Vorräte angelegt, weil, wie Tes-disóra mir auseinandersetzte, ein Tes-güinápuri-Fest beginnen sollte. Insgeheim beglückwünschte ich mich dazu, gerade in einem Augenblick auf die Ra-rámuri gestoßen zu sein, wo sie sich besonders gastfreundlich zeigten. Später merkte ich jedoch, daß es schon ein unglücklicher Zufall hätte sein müssen, wenn ich irgendwelche Rarámuri gefunden haben würde, die nicht gerade irgendein Fest entweder feierten, vorbereiteten oder sich davon erholten. Ihre religiösen Feiern haben nichts Düsteres, sondern sind eher fröhlich – das Wort Tes-güinápuri läßt sich dolmetschen mit »Wir wollen uns jetzt betrinken« – und alles in allem umfassen diese Festlichkeiten gut und gern ein Drittel des gesamten Jahres der Rarámuri.
Da ihre Wälder und Flüsse sie so reichlich mit Wild und anderen eßbaren Dingen, mit Fellen, Brennholz und Wasser beliefern, brauchen die Rarámuri nicht, wie die meisten Menschen, nur zu arbeiten, um nur das Lebensnotwendige zu sichern. Die einzige Pflanze, welche sie anbauen, ist der Mais, doch auch davon dient der größte Teil nicht als Nahrung, sondern für die Herstellung von Tesgüino, ein vergorenes Getränk, etwas leichter trunken machend als das Octli von uns Mexíca und etwas weniger stark als der Chápari-Honigschnaps der Purémpecha. Aus den tiefer gelegenen Landen östlich der Berge holen die Rarámuri auch einen kaubaren und stark wirkenden kleinen Kaktus, den sie Jipuri nennen – Das Götterlicht – und zwar aus Gründen, die ich später näher erklären werde. Da sie also nicht viel arbeiten müssen und über viel freie Zeit verfügen, haben diese Menschen guten Grund, sich ein Drittel des Jahres unbeschwert an Tesgüino zu berauschen, beseligend mit Jipuri zu betäuben und den Göttern freudig für die Fülle zu danken, welche sie ihnen zuteil werden lassen.
Unterwegs hatte ich von Tes-disóra ein paar Brocken seiner Sprache gelernt, und so konnten er und ich jetzt müheloser miteinander plaudern. Ich werde daher aufhören, Gesten und Gebärden zu beschreiben, sondern einfach den Inhalt der folgenden Unterhaltungen wiedergeben. Nachdem wir unser Wildbret ein paar alten Frauen übergeben hatten, welche am Fluß große Kochfeuer unterhielten, schlug er vor, daß wir uns in einem der Dampfbäder sauberschwitzen sollten. Außerdem deutete er mir mit schönem Takt an, wenn wir gebadet hätten, könne er mir saubere Kleidung verschaffen, falls ich meine zerschlissenen Kleider in eines der Feuer werfen wolle. Selbstverständlich ging ich nur allzu gern auf diesen Vorschlag ein.
Als wir uns am Eingang des lehmgebauten Schwitzbades auszogen, sollte ich eine kleine Überraschung erleben. Als ich Tes-disóra nackt erblickte, sah ich, daß ihm unter den Achseln und zwischen den Beinen kleine Haarbüschel sprossen, und machte ein paar Bemerkungen zu diesem unerwarteten Anblick. Tes-disóra zuckte nur mit den Schultern, zeigte auf seine Behaarung, sagte »Rarámurime«, wies dann auf meinen unbehaarten Schritt und sagte: »Chichimecáme.« Womit er ausdrücken wollte, das sei nichts Besonderes; den Rarámuri wüchsen reichlich Ymáxtli um ihr Gemächt und unter den Armen, den Chichiméca hingegen nicht.
»Ich bin aber kein Chichiméca«, beteuerte ich abermals, doch war ich nicht sonderlich bei der Sache, denn ich überlegte. Von allen Volksstämmen, welche ich kennengelernt hatte, wuchsen nur den Rarámuri diese überflüssigen Haare. Ich nahm an, das sei auf das außerordentlich kalte Wetter zurückzuführen, welches sie einen Teil des Jahres über zu erdulden hatten, wiewohl ich nicht einsah, wieso Haarwuchs ausgerechnet an diesen Stellen irgendwelchen Schutz vor der Kälte bieten sollte. Dann kam mir ein weiterer Gedanke, und ich fragte Tes-disóra:
»Wachsen euren Frauen ähnliche kleine Haarbüschel?«
Er lachte und erklärte, selbstverständlich sei das bei ihnen so. Er setzte mir auseinander, der erste sprossende Ymáxtli-Flaum gelte als erstes Zeichen dafür, daß ein Kind zum Manne oder zur Frau heranreife. Bei Männern wie Frauen gleichermaßen werde aus dem Flaum nach und nach Haar – kein besonders langes Haar, und es störe und behindere auch in keiner Weise, doch handele es sich unleugbar um Haare. Mir war in der kurzen Zeit, die ich jetzt im Dorf gewesen war, bereits aufgefallen, daß viele von den Rarámuri-Frauen bei aller ausgeprägten Muskulatur sehr gut gewachsen und von außerordentlich schönem Gesicht waren. Was heißt, daß ich sie reizvoll fand, noch ehe ich von dieser Besonderheit erfahren hatte, die mich nachdenklich stimmte: wie würde es wohl sein, einer Frau beizuwohnen, deren Tipíli nicht ins Auge springend sichtbar oder höchstens durch einen feinen Flaum verschleiert war, statt dessen dunkel und aufreizend umrahmt von Haar, ähnlich dem auf ihrem Kopf?
»Das kannst du leicht feststellen«, sagte Tes-disóra, gleichsam als hätte er meine unausgesprochenen Gedanken erraten. »Während der Tes-Güinápuri-Spiele brauchst du bloß hinter einer Frau herzulaufen, sie einzuholen und du kannst es selbst feststellen.«
Als ich nach Guagüey-bo gekommen war, hatten die Dorfbewohner mich verständlicherweise mit mißtrauischen und abschätzigen Blicken bedacht. Doch als ich sauber und gekämmt war und das Schamtuch und den ärmelbesetzten Umhang aus schmiegsamem Hirschleder angezogen hatte, wurde ich nicht mehr verächtlich betrachtet. Von da an waren die Rarámuri – mit Ausnahme eines gelegentlichen Gekichers, wenn ich einen besonders lustigen Schnitzer in ihrer Sprache machte – ausgesprochen höflich und freundlich zu mir. Und wenn durch nichts anderes, so zog ich durch meine außergewöhnliche Größe so manchen fragenden, ja, bewundernden Blick von den Mädchen und unverheirateten Frauen auf mich. Es sah so aus, als ob eine ganze Reihe von ihnen sich mit Freuden von mir im Lauf würde verfolgen lassen.
Sie liefen ohnehin fast immer – alle Rarámuri, Männer wie Frauen, jung und alt. Sobald sie aus dem Kleinkinderalter hinaus waren und richtig gehen konnten, bewegten sie sich fast nur im trabenden Gang. Den ganzen Tag über, bis auf jene Zeiten, da sie mit irgendeiner Aufgabe beschäftigt waren, welche es erforderlich machte, daß sie sich nicht von der Stelle bewegten, wenn sie vom Tesgüine umnebelt waren oder im Traumland des Jipuri-Götterlichts weilten, liefen sie. Liefen sie nicht zu zweit oder in Gruppen um die Wette, liefen sie allein hin und her, immer den Cañon auf und ab oder die Cañonwände hinauf. Die Männer trieben dabei für gewöhnlich eine Kugel vor sich her, eine geschnitzte und sorgfältig geglättete runde Kugel aus hartem Holz, groß wie ein Männerkopf. Die Frauen hingegen trieben für gewöhnlich einen kleinen Reifen aus geflochtenem Stroh vor sich her, wobei jede Frau einen kleinen Stecken in der Hand hielt, mit welchem sie den Reifen im Laufen weiter vorantrieb, und die anderen Frauen liefen hinterher, ihn erst einzuholen und dann als nächste weiterzutreiben. Diese begeisterte und unablässige Betätigung kam mir völlig sinnlos vor, doch Tes-disóra erklärte:
»Zum Teil ist das gute Laune und Lebenslust und schiere Energie, doch es ist mehr als das. Eine endlose Feier mit welcher wir durch körperliche Übung und vergossenen Schweiß unseren Göttern Ta-tevari, Ka-laumari und Ma-tinieri huldigen.«
Mir fiel es schwer, mir einen Gott vorzustellen, welcher sich von Schweiß statt von Blut ernährte, aber diese Rarámuri haben diese drei, welche Tes-disóra nannte: in eurer Sprache wären das Großvater Feuer, Mutter Wasser und Bruder Wild. Vielleicht gibt es in ihrer Religion noch andere Götter, doch das waren die einzigen, von denen ich je hörte. In Anbetracht der schlichten Bedürfnisse der waldbewohnenden Rarámuri, meine ich, genügen diese drei vermutlich.
Tes-disóra sagte: »Unser ständiges Laufen beweist den Schöpfer-Göttern, daß die Menschen, welche sie geschaffen haben, immer noch lebendig sind – und dankbar dafür, es zu sein. Außerdem hält es unsere Männer instand, die Härten der Jagd zu ertragen, und des weiteren ist es eine gute Übung für die Spiele, deren Zeuge du sein – oder an denen du teilnehmen wirst. Aber auch diese Spiele selbst sind nichts weiter als Übungen.«
»Ja«, sagte ich seufzend, denn ich fühlte mich allein schon durch das viele Reden über soviel Körperbewegung ermattet, »könntest du mir bitte sagen, Übung wofür?«
»Für die richtigen Wettläufe, selbstverständlich. Die Ra-rajipuri.« Er schmunzelte, als er mein Gesicht sah. »Du wirst schon sehen. Das bildet jedesmal den großartigen Abschluß aller Feierlichkeiten.«
Das Tes-güinápuri-Fest begann am nächsten Tag. Das ganze Dorf versammelte sich vor dem Holzhaus am Fluß und wartete darauf, daß der Si-ríame hervorkomme und befehle, mit dem Fest zu beginnen. Alle trugen ihre schönsten und bunt geschmückten Gewänder: die meisten Männer Umhänge und Schamtücher aus Hirschleder, die Frauen Röcke und Blusen aus demselben Material. Manche von den Dorfbewohnern hatten sich das Gesicht mit Punkten und geschlängelten Streifen aus leuchtendem Gelb gefärbt, und viele trugen Federn im Haar, wiewohl die Vögel in diesen nördlichen Regionen keine besonders eindrucksvollen Federn haben. Etliche der älteren Jäger von Guagüey-bo schwitzten bereits, denn sie trugen die Trophäen ihrer Heldentaten: knöchellange Roben aus Berglöwenfell oder schweren Bärenfellen oder dicke Decken des Dickhorn-Bergschafs.
Der Si-ríame trat aus dem Haus, vollständig gekleidet in schimmernde Jaguar-Felle, und hielt einen Stab mit einem Knauf aus reinem, unbearbeitetem Silber in der Hand; ich war dermaßen überwältigt, daß ich meinen Topas ans Auge hielt, um mich zu vergewissern, daß ich mich wirklich nicht irrte. Da ich gehört hatte, der Häuptling sei Weiser, Zauberer, Richter und Arzt zugleich, hatte ich selbstverständlich angenommen, diese Leuchte in der Gestalt eines altehrwürdigen und ernstgesichtigen Mannes zu sehen. Es war jedoch kein Mann, und dazu weder alt noch besonders ernstgesichtig. Sie war nicht älter als ich, höchst ansprechend und noch schöner durch ihr warmherziges Lächeln.
»Euer Si-ríame eine Frau?« rief ich, als sie begann, die Festgebete zu intonieren.
»Warum nicht?« sagte Tes-disóra.
»Ich habe noch nie von einem Volk gehört, daß sich lieber von einer Frau als von einem Mann regieren läßt.«
»Unser letzter Si-ríame war ein Mann. Doch wenn ein Si-ríame stirbt, kann jeder andere ausgewachsene Mann oder jede Frau des Dorfes zum Nachfolger gewählt werden. Wir haben uns alle versammelt, viele Jipuri gekaut und sind in Trance verfallen. Wir hatten Visionen, und einige von uns sind völlig durchgedreht, andere in Zuckungen geraten. Doch diese Frau war die einzige, welche vom Götterlicht gesegnet wurde. Zumindest war sie die erste, die wieder zu sich kam und berichtete, sie habe Großvater Feuer, Mutter Wasser und Bruder Wild gesehen und mit ihnen gesprochen. Ganz ohne Zweifel war das Götterlicht auf sie gefallen, und das ist das oberste und einzige Erfordernis, um das Amt eines Si-ríame anzutreten.«
Die stattliche Frau beendete ihren Gesang, lächelte abermals und hob in einer allgemeinen Segensgeste die wohlgeformten Arme, drehte sich dann um und kehrte zurück ins Haus, während die Menge ihr durch ihren Jubel ihre Liebe und Hochachtung bekundete.
»Bleibt sie allein?« fragte ich Tes-disóra.
»Während der Festlichkeiten, ja«, sagte er und gluckste. »Manchmal benehmen sich unsere Leute beim Tes-güinápuri daneben. Sie raufen miteinander, oder es kommt zum Ehebruch, oder sie stellen andere Dummheiten an. Die Si-ríame ist eine weise Frau. Was sie nicht sieht oder nicht hört, braucht sie nicht zu bestrafen.«
Ich weiß nicht, ob es als Dummheit betrachtet worden wäre, was ich vorgehabt hatte: das köstlichste Beispiel des Rarámuri-Frauentums zu jagen, einzuholen und ihr beizuwohnen. Doch, wie die Dinge sich ergaben, brauchte ich das gar nicht zu tun – und weit entfernt davon, etwa bestraft zu werden, wurde ich in gewisser Weise sogar belohnt.
Ich machte es wie alle Dorfbewohner, schlug mir den Bauch voll mit gebratenem Wild und Atóli-Maisbrei und trank eine Menge Tesgüino. Wiewohl ich kaum noch stehen konnte und viel zu betrunken war, um zu gehen, versuchte ich, beim Kugellauf der Männer mitzumachen, aber sie hätten mich allesamt weit hinter sich gelassen, selbst wenn ich im Vollbesitz meiner Kräfte gewesen wäre, um bei ihren Wettkämpfen mitzumachen. Ich hatte nichts dagegen, zog mich zurück und sah statt dessen einer Gruppe von Frauen zu, die im Lauf ihre Reifen mit dem Stecken vor sich hertrieben, wobei mir ein gewisses mannbares Mädchen unter ihnen ausnehmend gut gefiel. Dabei mußte ich ein Auge zukneifen, denn sonst sah ich dasselbe Mädchen doppelt. Schwankend ging ich auf sie zu, gab ihr durch unbeholfene Gesten und schwerzüngige Rede zu verstehen, sie möge doch die Gruppe verlassen und sich auf ein anderes Spiel mit mir einlassen. Lächelnd bekundete sie mir ihr Einverständnis, vermied es jedoch, meine Hand zu ergreifen. »Erst mußt du mich fangen«, sagte sie, drehte sich um und lief den Cañon hinunter.
Wenn ich auch nicht erwartet hatte, mich unter den Rarámuri-Männern hervorzutun, war ich doch überzeugt, jede Frau der Welt im Laufen einzuholen. Doch bei dieser gelang mir das nicht, und ich glaube, sie verlangsamte ihren Lauf sogar, um es mir leichter zu machen. Vielleicht wäre es mir besser ergangen, hätte ich nicht dem Essen und Trinken – insbesondere dem Trinken – so reichlich zugesprochen. Außerdem fällt es schwer, mit einem Auge Entfernungen richtig abzuschätzen. Selbst wenn das Mädchen still vor mir gestanden hätte, würde ich sie vermutlich verfehlt haben, wenn ich versucht hätte, sie zu packen. Da ich jedoch beide Augen aufmachte, sah ich alles vor mir auf dem Pfad doppelt – Wurzeln und Steine und dergleichen – und jedesmal, wenn ich versuchte, zwischen den beiden Dingen hindurchzulaufen, stolperte ich unweigerlich darüber. Nachdem ich etwa neun- oder zehnmal gefallen war, versuchte ich das nächste Hindernis, einen ziemlich großen Felsbrocken, im Sprung zu nehmen, landete aber auf dem Bauch und zwar so heftig, daß mir aller Atem aus der Brust gepreßt wurde.
Das Mädchen hatte mir über die Schulter hinweg zugesehen, und tat so, als fliehe sie vor mir. Als ich stürzte, blieb sie stehen, kam zurück und stand über mir, der ich verkrampft am Boden lag, und sagte mit einiger Erbitterung: »Wenn du mich nicht richtig fängst, können wir keine anderen Spiele spielen. Falls du verstehst, was ich meine.«
Ich vermochte nicht einmal, sie anzuschauen. Mit krampfhaft angezogenen Beinen lag ich da, versuchte unter Mühen erst einmal wieder zu Atem zu kommen und fühlte mich außerstande, irgendwelche anderen Spiele mit ihr zu spielen. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Offensichtlich teilte sie meine geringe Meinung über mich selbst. Doch dann hellte sich plötzlich ihr Gesicht auf, und sie sagte:
»Ich habe nicht daran gedacht, dich zu fragen. Hast du Jipuri gekaut?«
Matt schüttelte ich den Kopf.
»Das erklärt alles. Du bist den anderen Männern nicht so unterlegen. Sie haben den Vorteil, sich durch ständige Übung Kraftreserven zugelegt zu haben. Komm! Du solltest etwas Jipuri kauen!«
Ich lag zwar immer noch verkrümmt da, doch fing ich allmählich wieder an zu atmen, und ihr gebieterischer Ton gestattete keine Widerrede. Sie reichte mir die Hand, und ich ließ mich hochziehen und zur Dorfmitte zurückführen. Ich wußte bereits, was Jipuri ist und was es bewirkt, denn in kleinen Mengen gelangte dieser Kaktus auch nach Tenochtítlan, wo man ihn Peyotl nannte und wo er allerdings ausschließlich den weissagenden Seher-Priestern vorbehalten blieb. Der Jipuri oder Peyotl ist ein täuschend unscheinbar aussehender kleiner Kaktus, welcher rund und flach am Boden wächst und selten größer wird als ein Handteller; außerdem ist er in Blütenblätter oder Wülste aufgeteilt, so daß er einem sehr kleinen, graugrünen Kürbis ähnelt. Um seine ganze Wirkung zu erfahren, kaut man ihn am besten frisch gepflückt. Er läßt sich jedoch auch trocknen und unendlich lange aufbewahren; die verschrumpelten braunen Gewächse werden auf Schnüre gezogen, und im Dorf Guagüey-bo hingen viele solcher Schnüre von den Sparren der Vorratshäuser herunter. Ich streckte die Hand aus, um einen abzubrechen, doch meine Gefährtin sagte: »Warte! Hast du jemals Jipuri gekaut?«
Abermals schüttelte ich den Kopf. »Dann wirst du ein Ma-tuane sein, einer, der das Götterlicht zum erstenmal sucht. Dazu bedarf es einer Reinigungszeremonie. Nein, stöhne nicht so! Deshalb brauchen wir unser … unser Spiel nicht lange aufzuschieben.« Sie sah sich unter den immer noch essenden und trinkenden oder laufenden Dörflern um. »Alle anderen sind offenbar zu beschäftigt als daß sie teilnehmen könnten; aber die Si-ríame hat nichts zu tun. Sie ist bestimmt bereit, die Reinigung vorzunehmen.«
Wir gingen zu dem bescheidenen Holzhaus hinüber, und das Mädchen zog an einem Strick mit Schneckenschalen daran neben der Tür. Die Häuptlingin, immer noch in ihrem Jaguargewand, hob den hirschledernen Vorhang und sagte: »Kuira-ba«, und forderte uns mit einer anmutigen Geste auf einzutreten.
»Si-ríame«, sagte meine Gefährtin, »dies hier ist der Chichimécame Mixtli, der gekommen ist, unser Dorf zu besuchen. Wie du siehst, ist er nicht mehr ganz jung, aber selbst wenn man seine fortgeschrittenen Jahre bedenkt, ist er ein erbärmlich schlechter Läufer. Er konnte nicht einmal mich einholen und fangen, als er es versuchte. Ich dachte, Jipuri könnte ihm helfen, seine alten Glieder wieder lebendig zu machen, doch er sagt, er habe noch nie zuvor das Götterlicht gesucht, und daher …«
Die Augen der Häuptlingin zwinkerten lustig, als ich mich unter den wenig schmeichelhaften Worten innerlich wand. Ich murmelte: »Ich bin kein Chichimécame«, doch sie hörte nicht aut mich und sagte zu dem Mädchen:
»Selbstverständlich. Dir geht es darum, daß er die Ma-tuane-Einweihung so schnell wie möglich hinter sich bringt. Ich werde das mit Vergnügen machen.« Sie musterte mich anerkennend von Kopf bis Fuß, und die Belustigung in ihren Augen wich etwas anderem. »Ungeachtet seines Alters scheint dieser Mixtli ein Prachtexemplar seiner Art zu sein, selbst, wenn man seine niedrige Herkunft berücksichtigt. Ich möchte dir daher einen guten Rat geben, meine Liebe, welchen du von unseren Männern nie zu hören bekommen wirst. Mag man auch zurecht von dir erwarten, daß du das Können eines Mannes beim Laufen bewunderst – es ist gleichsam sein mittleres Bein, welches besser Auskunft darüber gibt, wie männlich er ist. Dieses Glied kann aufgrund von Entwöhnung sogar schrumpfen, wenn ein Mann all sein Trachten darauf richtet, die Muskeln seiner anderen Glieder zu entwickeln. Hüte dich daher, einen mittelmäßigen Läufer vorschnell gering zu schätzen, solange du nicht seine anderen Attribute untersucht hast.«
»Ja, Si-ríame«, sagte das Mädchen ungeduldig. »Das hatte ich eigentlich auch vor.«
»Das kannst du nach der Zeremonie tun. Du kannst jetzt gehen, meine Liebe.«
»Gehen?« begehrte das Mädchen auf. »Es ist doch aber nichts Geheimnisvolles an einer Ma-tuane-Einweihung! Das ganze Dorf sieht zu.«
»Wir wollen das Tes-Güinápuri-Fest nicht unterbrechen. Und dieser Mixtli kennt unsere Sitten nicht. Es könnte ihn in Verlegenheit bringen, wenn eine Horde Zuschauer ihn anstarrt.«
»Ich bin keine Horde. Und ich bin es, die ihn zur Reinigung hergebracht hat.«
»Du bekommst ihn ja zurück, sobald es getan ist. Dann kannst du selbst urteilen, ob deine Mühe sich gelohnt hat. Ich habe gesagt, du kannst jetzt gehen, meine Liebe.« Das Mädchen warf uns beiden einen wütenden Blick zu und ging. Die Si-ríame sagte: »Setz dich, Gast Mixtli. Ich werde dir jetzt einen Kräutertrank bereiten, welcher dein Gehirn reinfegt. Du solltest nicht betrunken sein, wenn du den Jipuri kaust.«
Ich setzte mich auf den mit Fichtennadeln bestreuten, gestampften Boden, sie brachte den Kräutertrunk auf dem Herd zum Sieden und kam mit einem kleinen Krug zu mir. »Der Saft der heiligen Urá-Pflanze«, beschrieb sie das Gebräu und nahm eine kleine Feder als Pinsel, um mir Tupfer und Spiralen aus leuchtendem Gelb auf Wangen und Stirn zu malen.
»So«, sagte sie, nachdem sie mir den heißen Trank gegeben hatte, welcher mich wunderbarerweise fast auf der Stelle aus meiner Umnebelung herausholte. »Ich weiß zwar nicht, was der Name Mixtli bedeutet, doch da du ein Ma-tuane bist, welcher das Götterlicht zum erstenmal sucht, rnußt du dir einen neuen Namen zulegen.«
Fast hätte ich laut herausgelacht. Längst hatte ich es aufgegeben, zu zählen, wie viele Namen ich im Laufe meines Lebens gehabt hatte. Doch sagte ich nur: »Mixtli bedeutet jenes am Himmel hängende Gebilde, welches ihr Rarámuri Kurú nennt.«
»Das ergibt einen guten Namen, bedürfte allerdings noch eines erklärenden Zusatzes. Wir werden dich Su-kuru nennen.«
Ich lachte nicht. Su-kuru bedeutet Dunkle Wolke, und woher hätte sie wissen wollen, daß das bereits mein Name war. Freilich fiel mir ein, daß eine Si-ríame unter anderem auch eine bekannte Zauberin sein sollte, und ich nahm an, daß ihr Götterlicht ihr Wahrheiten enthüllte, welche anderen Menschen verborgen blieben.
»Und jetzt, Su-kuru«, sagte sie, »mußt du alle Sünden bekennen, welche du im Leben begangen hast.«
»Meine verehrte Si-ríame«, sagte ich, und das war durchaus nicht sarkastisch gemeint, »wenn ich das tun wollte, bliebe mir vermutlich überhaupt keine Zeit mehr zum Leben.«
»Ach? So viele?« Nachdenklich sah sie mich an, um dann zu sagen: »Nun, da das wahre Götterlicht ausschließlich in uns Rarámuri lebt und es uns freisteht, anderen davon abzugeben, wollen wir nur jene Sünden aufzählen, die du begangen hast, seit du unter uns weilst. Erzähle mir von diesen.«
»Ich habe keine begangen. Zumindestens keine, von der ich wüßte.«
»Oh, du brauchst sie nicht begangen zu haben. Sie tun zu wollen, läuft aufs selbe hinaus. Zorn oder Haß empfinden und sich dafür rächen zu wollen. Irgendwelche unwürdigen Gedanken und Gefühle zu hegen. So hast du zum Beispiel deine Lust an diesem Mädchen nicht gestillt, doch
»Nicht so sehr aus Lüsternheit, verehrte Dame, als vielmehr aus Neugier.«
Sie machte ein verblüfftes Gesicht, und so erklärte ich ihr die Sache mit dem Ymáxtli, dem Körperhaar, welches ich noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte, und dem Drang, den es in mir erzeugt hatte. Sie brach in schallendes Gelächter aus.
»Wie ähnlich so etwas einem Barbaren sieht, der sich von etwas einnehmen läßt, was ein zivilisierter Mensch für selbstverständlich nimmt! Ich möchte wetten, daß ihr Wilden erst vor ein paar Jahren aufgehört habt, euch vom Feuer foppen zu lassen.«
Nachdem sie fertig war, zu lachen und sich über mich lustig zu machen, wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und meinte ein wenig mitfühlender:
»Wisse denn, Su-kuru, daß wir Rarámuri tiefstehenden Völkern körperlich und geistig überlegen sind. Unser Körper spiegelt unser größeres Feingefühl wie etwa unsere Hochachtung vor dem Anstand. Aus diesem Grunde sproß unserem Körper jenes Haar, welches du so ungewöhnlich findest. Auf diese Weise sorgt unser Körper dafür, daß – selbst wenn wir unbekleidet sind – unser Geschlecht diskret bedeckt ist.«
Ich sagte: »Ich würde meinen, daß solch ein Haarwuchs ausgerechnet an jenen Teilen eher Aufmerksamkeit erregt als davon abzulenken. Daß er nicht sittsam ist, sondern geradezu unsittlich aufreizend.«
Da ich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden saß, konnte ich den Beweis, welcher sich unter meinem Schamtuch regte, nicht gut verbergen, und die Si-ríame konnte auch nicht so tun, als bemerke sie ihn nicht. Verwundert schüttelte sie den Kopf und murmelte, nicht für mich, sondern für sich bestimmt:
»Einfach das Haar zwischen den Beinen … genauso üblich und unscheinbar wie das Kraut zwischen den Felsen … und doch regt es einen Fremden auf. Und daß wir uns jetzt darüber unterhalten, macht mir meine eigenen … sonderbar bewußt …« Dann sagte sie eifrig: »Wir erkennen deine Neugier als gebeichtete Sünde an. Und jetzt, rasch, kau den Jipuri.«
Sie holte einen Korb voll der kleinen Kakteen, und zwar frische und grüne, keine getrockneten. Ich wählte einen, welcher zahlreiche kleine Wülste am Rand aufwies.
»Nein, nimm diesen fünfgeteilten«, sagte sie. »Der mit den vielen Auswüchsen ist für den täglichen Bedarf und soll von Läufern gekaut werden, die einen langen Lauf vor sich haben, oder von Leuten, welche nur müßig dasitzen und sich in Visionen ergehen möchten. Doch der fünfgeteilte Jipuri – der selten und schwer zu finden ist – bringt einen dem Götterlicht am nächsten.«
Folglich biß ich von dem Kaktus ab, den sie mir reichte – er hatte einen leicht bitteren Geschmack, so daß sich der Mund zusammenzog. Dann wählte sie einen anderen für sich selbst, wobei sie sagte: »Kau deinen nicht so schnell wie ich meinen, Ma-tuane Su-kuru. Du wirst die Wirkung rascher spüren, weil es für dich das erstemal ist, und wir sollten Schritt miteinander halten.«
Sie hatte recht. Ich hatte erst ein wenig von dem Saft heruntergeschluckt, da bemerkte ich voller Verwunderung, wie die Wände des Hauses um mich herum sich auflösten. Erst wurden sie durchsichtig, dann waren sie unversehens ganz verschwunden, und ich sah all die Dörfler draußen mit ihren verschiedenen Spielen und dem Tes-Güinápuri-Trinken beschäftigt. Ich konnte es einfach nicht fassen, daß ich tatsächlich durch die Wände hindurchsah, denn die Gestalten der anderen Menschen waren deutlich umrissen, obwohl ich noch nicht einmal meinen Topas benutzte; diese allzu klare Schau mußte ein Trugbild sein, welches durch den Jipuri erzeugt wurde. Doch im nächsten Augenblick war ich mir nicht mehr ganz so sicher. Ich fühlte mich emporgehoben und schien zu schweben, durchs Dach hindurch – oder vielmehr durch die Stelle, wo das Dach gewesen war –, und die Menschen blieben unter mir zurück und wurden immer kleiner, als ich zu den Baumkronen hinauf entschwebte. Unwillkürlich rief ich: »Ayya!« Die Si-ríame irgendwo hinter oder unter mir rief: »Nicht so schnell! Warte auf mich!«
Ich sagte, sie rief, doch habe ich sie eigentlich gar nicht gehört. Womit ich sagen will, daß ihre Worte nicht durch die Ohren in mich drangen, sondern irgendwie durch meinen Mund, und daß ich sie schmeckte – köstlich, wie Schokolade – und doch dergestalt, daß ich aufgrund ihres Geschmacks wußte, was sie bedeuteten. In der Tat, alle meine Sinne schienen plötzlich ihre üblichen Funktionen zu tauschen. Ich hörte den Duft der Bäume und des Rauches, welcher sich von den Feuerstellen zwischen den Bäumen in die Höhe kräuselte, als ich dahinschwebte. Statt den Laubgeruch zu verströmen, gaben die Blätter ein metallisches Geräusch von sich: Der Rauch verursachte einen gedämpften Laut wie ein Trommelfell, welches nur ganz sachte bearbeitet wird. Ich sah die Farben nicht, sondern ich roch sie. Das Grün der Bäume bot sich meinen Augen nicht als Farbe dar, sondern meiner Nase als kühler, feuchter Duft; eine rote Blüte an einem Zweig war nicht rot, sondern ein würziger Geruch; der Himmel war nicht blau, sondern ein sauberer, fleischlicher Geruch wie der, welcher von den Brüsten einer Frau ausgeht.
Dann ging mir auf, daß ich mit dem Kopf wirklich zwischen den Brüsten einer Frau lag, und zwar auf herrlich strotzenden. Tastsinn und Gefühl waren von der Droge nicht in Mitleidenschaft gezogen. Die Si-ríame hatte mich eingeholt, hatte ihr Jaguargewand aufgerissen und mich an ihren Busen gezogen, und so stiegen wir jetzt gemeinsam zu den Wolken hinauf. Ein Teil von mir, möchte ich sagen, stieg rascher als die anderen. War mein Tepúli schon vorher aufgestanden, wurde er jetzt womöglich noch länger, dicker und härter und pochte vor Ungeduld, als ob es, ohne daß ich davon gemerkt hätte, zu einem Erdbeben gekommen wäre. Die Si-ríame stieß ein glückliches Lachen aus – ich kostete ihr Lachen, welches so erfrischend war wie Regentropfen, und ihre Worte schmeckten wie Küsse:
»Das ist die herrlichste Gnade, welche das Götterlicht spendet, Su-kurú – die Hitze und die Glut, die es dem Akt des Ma-rakame verleiht. Laß uns unsere göttergegebenen Feuer zusammentun.«
Sie löste ihren Rock aus Jaguarfell und legte sich nackt darauf, oder zumindest so nackt, wie eine Rarámuri-Frau überhaupt sein kann, denn ihr sproß in der Tat zwischen den Schenkeln und unterhalb ihres Nabels ein buschiges Dreieck. Ich konnte sehen, wie dieses erregende kleine Kissen gestaltet war, sah, wie kräuselig die einzelnen Haare waren, doch die Schwärze des Ganzen war, wie alle anderen Farben, in diesem Augenblick keine Farbe, sondern ein Duft. Ich schob mich dicht darüber, um ihn einzuatmen, und was es verströmte, war ein warmer, feuchter, moschusartiger Duft …
Als wir uns das erstemal richtig paarten, fühlte sich ihr Ymáxtli an meinem unbehaarten Bauch spröde und kitzlig an, gleichsam als bearbeitete ich mit meinem Unterkörper die Wedel eines üppigen Farns. Doch unsere Säfte flossen so rasch, daß das Haar feucht und nachgiebig wurde, und wenn ich nicht gewußt hätte, daß es da war, ich hätte überhaupt nichts von seinem Vorhandensein gemerkt. Da ich es jedoch wußte – daß nämlich mein Tepúli mehr als nur Fleisch durchdrang und zum erstenmal von einem Tipíli aufgenommen wurde, welches von einem dichten Haarkranz umwuchert war –, übte das Ganze einen nie gekannten Reiz auf mich aus. Zweifellos hört es sich für euch an, als hätte mich eine Raserei gepackt – und in der Tat, es war eine Raserei. Mir war ganz schwindelig von dem Gefühl, in großer Höhe zu schweben, ob ich mir dies nur einbildete oder nicht; von dem sonderbaren Gefühl, die Worte, das Stöhnen und die Schreie einer Frau mit dem Mund und nicht mit den Ohren aufzunehmen; und davon, daß ich jede Stelle ihrer Haut, jede Schwellung ihres Fleisches und jeden Unterschied in der Tönung dieser Haut als deutlich unterschiedlichen Duft in mich aufnahm. Denn mittlerweile wurden alle Empfindungen genauso wie jede unserer Bewegungen und Berührungen durch den Jipuri noch gesteigert.
Außerdem muß wohl eine Ahnung von Gefahr mich gestreift haben, und Gefahren steigern alle Sinneswahrnehmungen des Menschen, machen jedes Gefühl unendlich viel stärker. Menschen fliegen für gewöhnlich nicht in große Höhen auf, vielmehr erleben sie es weit häufiger, von dort abzustürzen, was sich oft als tödlich erweist. Doch die Si-ríame und ich schwebten in der Unendlichkeit, fühlten keinen erkennbaren Boden unter uns, wurden von nichts getragen. Und da wir frei schwebten, bewegten wir uns mühelos und schwerelos, als wären wir unter Wasser, nur, daß wir noch atmen konnten. Diese unendliche Freiheit setzte uns instand, die lustbringendsten Stellungen einzunehmen, uns zu umschlingen und umeinander zu ringeln, wie wir es sonst nicht für möglich gehalten hätten. Irgendwann einmal stieß die Si-ríame keuchend ein paar Worte aus, und diese Worte schmeckten wie ihr farnumringtes Tipíli: »Jetzt glaube ich dir. Daß du mehr Sünden begangen hast, als du aufzählen könntest.« Ich habe keine Ahnung, wie oft sie den Höhepunkt erreichte und wie oft ich während der Zeit, da die Droge uns im Zustand der schwerelosen Verzückung hielt, meinen Samen ausstieß, doch für meine Begriffe geschah das unendlich viel häufiger, als ich es zuvor in so kurzer Zeit erlebt hatte.
Die Zeit schien allzu kurz. Plötzlich merkte ich, daß ich die Laute hörte und nicht mehr schmeckte, als sie seufzte: »Keine Sorge, Su-kuru, wenn du dich als Läufer nie besonders auszeichnest.«
Ich sah wieder Farben, roch sie nicht mehr; hatte Gerüche in der Nase und nicht mehr im Ohr; und stieg herunter von den Höhen des Himmels und der Verzückung. Nicht in jähem Sturz, sondern gemächlich und sanft, wie eine Feder, welche herniederschwebt. Die Si-ríame und ich befanden uns wieder in ihrem Haus, lagen nebeneinander auf den Gewändern aus Jaguar- und Hirschfell, die wir abgestreift und zerknüllt hatten. Sie lag lächelnden Gesichts auf dem Rücken und war in einen tiefen Schlaf versunken. Das Haar auf ihrem Kopf war zerzaust, doch das Ymáxitl unten auf ihrem Bauch war nicht mehr spröde und gekraust und schwarz; es war verklebt und aufgehellt von meinem Omicetl. Ein weiterer getrockneter Spritzer saß in der Kluft zwischen ihren schweren Brüsten, und woanders noch andere.
Ich fühlte mich ähnlich verkrustet von ihren Ausscheidungen und meinem eigenen getrockneten Schweiß. Außerdem war ich schrecklich durstig; meine Mundhöhle fühlte sich pelzig an, als wäre dort gleichsam Ymáxitl gewachsen; später lernte ich dieses als Folge des Jipuri-Genusses stets erwarten. Mich behutsam und leise bewegend, um die schlafende Si-ríame nicht zu stören, erhob ich mich, kleidete mich an und ging nach draußen, um dort nach Wasser zum Trinken zu suchen. Ehe ich ging, betrachtete ich die schöne, auf dem Jaguarfell liegende Frau bewundernd noch ein letztes Mal durch meinen Topas. Es war das erstemal, überlegte ich, daß ich jemals sexuelle Beziehungen zu einer fremden Herrscherin gehabt hatte, und war nicht wenig von selbstgefälligem Stolz auf mich erfüllt.
Doch das sollte mir bald ausgetrieben werden. Als ich ins Freie trat, stand die Sonne noch hoch, und die Feierei nahm immer noch ihren Fortgang. Nachdem ich herzhaft getrunken hatte, hob ich die Augen von der Schöpfkalebasse und blickte in die vorwurfsvollen Augen des Mädchens, dem ich zuvor nachgestellt hatte. Ich lächelte so unschuldig, wie ich nur konnte, und sagte:
»Wollen wir wieder laufen? Jetzt kann ich Jipuri nehmen, soviel ich möchte. Ich bin eingeweiht worden, wie es sich gehört.«
»Du brauchst nicht damit zu prahlen«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Einen halben Tag und eine ganze Nacht und fast noch einen ganzen weiteren Tag der Einweihung.«
Ich schluckte blöde, denn es fiel mir schwer zu begreifen, daß soviel Zeit in etwas hineingepreßt worden sein sollte, was mir nur als so kurze Spanne erschienen war. Und so errötete ich, als das Mädchen fortfuhr, mich zu beschuldigen:
»Sie bekommt immer den ersten und besten Ma-rakame der Göttererleuchteten, und das ist nicht gerecht. Es macht mir nichts aus, aufsässig und unehrerbietig gescholten zu werden.
Ich habe es schon zuvor gesagt und werde es wieder sagen, daß sie nur so getan hat, als hätte sie das Götterlicht vom Großvater und der Mutter und dem Bruder empfangen. Sie hat gelogen, um zur Si-ríame gewählt zu werden, nur um das Erstrecht auf jeden Ma-tuane beanspruchen zu können, der ihr gefällt.«
Das versetzte meiner Selbstgefälligkeit, mich mit einer gesalbten Herrscherin gepaart zu haben, einen Stich: zu erfahren, daß die Herrscherin in keiner Weise einer gewöhnlichen Frau überlegen ist, welche rittlings auf die Straße geht. Noch weiter litt meine Selbstachtung, als die Si-ríame mich im Verlaufe meines weiteren Aufenthaltes in Guagüey-bo nicht wieder zu sich befahl. Offensichtlich war es ihr nur darum zu tun, das »erste und beste« zu genießen, welches ein Mann, der eingeweiht wurde, zu bieten hatte.
Doch zumindest war ich jetzt in der Lage, den Zorn des aufgebrachten Mädchens zu besänftigen, nachdem ich geschlafen hatte und wieder zu Kräften gekommen war. Wie ich erfuhr, hieß sie Vi-rikóta, was soviel bedeutet wie Heilig Land und außerdem der Name jenes Landes östlich der Berge ist, wo der Jipuri-Kaktus gesammelt wird. Das Fest ging noch tagelang weiter, und da ich Sorge getragen hatte, nicht zuviel zu essen oder Tesgüino zu trinken, glaube ich, habe ich sie wohl doch beim Laufen richtig eingeholt.
Wir brachen etwas von dem getrockneten Jipuri von einer der Schnüre an den Vorratshäusern und gingen zusammen in eine abgeschlossene und wunderschöne Lichtung in dem waldbestandenen Cañon. Von diesem wesentlich weniger berauschenden Kaktus mußten wir eine ganze Menge kauen, um ähnliche Wirkungen zu erfahren, wie ich sie im Haus der Si-ríame erlebt hatte, doch nach einer Weile merkte ich abermals, daß meine Sinne ihre Funktion untereinander tauschten. Diesmal begannen die Schmetterlings- und Blütenfarben um uns zu singen.
Vi-rikóta trug selbstverständlich gleichfalls ein Medaillon von Ymáxtli zwischen den Beinen – in ihrem Fall war es ein weniger sprödes, wesentlich flaumigeres Kissen –, und da selbiges immer noch etwas Neues für mich war, wurde ich abermals außerordentlich unternehmungslustig. Freilich erreichten sie und ich nie ganz die Ekstase, welche ich während meiner Initiation erlebt hatte. Wir erlebten nie den schönen Trug, himmelwärts zu schweben und waren uns auch die ganze Zeit über des weichen Grases bewußt, auf dem wir lagen. Außerdem war Vi-rikóta noch sehr jung und selbst für ihr Alter noch klein, und eine Kind-Frau kann die Beine nie so weit spreizen, daß ein Mann mit seinem Tepúli ganz in sie eindringen kann. Von allem anderen abgesehen, mußte unsere Paarung weniger denkwürdig sein als die mit der Si-ríame, da Vi-rikóta und ich keinen Zugang zum fünfblättrigen, echten Götterlicht-Jipuri hatten.
Gleichwohl paßten diese junge Frau und ich immerhin so gut zueinander, daß wir während der restlichen Festtage nicht mit anderen zusammenkamen, gleichviel jedoch viele Male das Ma-rakame genossen, und es tat mir aufrichtig leid, als ich nach dem Tes-güinápuri Abschied von ihr nahm. Das tat ich auch nur, weil mein ursprünglicher Gastgeber, Tes-disóra darauf bestand. »Es ist jetzt an der Zeit, einmal ein ernsthaftes Rennen zu erleben, Su-kuru. Du mußt es unbedingt sehen. Das Ra-rajípuri, das Rennen zwischen den besten Läufern unseres Dorfes und denen von Guacho-chi.«
Ich fragte: »Wo sind sie? Ich habe keine Fremden kommen sehen.«
»Noch nicht. Sie werden eintreffen, wenn wir losgelaufen sind. Und sie werden gleichfalls laufen, Guacho-chi liegt weit im Südosten von hier.«
Er erklärte mir in den Rarámuri-Worten die Entfernung, doch ich habe sie vergessen. Gleichwohl erinnere ich mich, daß die Strecke ungefähr mehr als fünfzehn Mal Ein Langer Lauf lang sein oder fünfzehn von euren spanischen Leguas entsprechen mußte. Dabei meinte er nur die Luftlinie; in Wirklichkeit mußte dieses Rennen in dem zerklüfteten Land zwischen Schluchten und Bergen einen sehr gewundenen Verlauf nehmen. Nach meiner Rechnung muß die Entfernung, die tatsächlich zurückgelegt werden mußte, näher bei fünfzigmal Ein Langer Lauf gelegen haben. Trotzdem sagte Tes-disóra ganz beiläufig:
»Um von einem Dorf zum anderen und zurück zu laufen und dabei die hölzerne Kugel vor sich herzutreiben, braucht ein guter Läufer einen Tag und eine Nacht.«
»Unmöglich!« rief ich aus. »Hundertmal Ein Langer Lauf? Das würde ja bedeuten, daß ein Mann die Strecke von der Stadt Tenochtítlan bis zu dem ferngelegenen Purémpe-Dorf Kerétaro in derselben Zeit schaffen müßte.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Und die Hälfte davon auch noch bei Nacht? Und dabei die Kugel vor sich hertreiben? Unmöglich!«
Selbstverständlich hatte Tes-disóra keine Ahnung von Tenochtítlan oder Kerétaro oder wie weit sie auseinander lagen. Infolgedessen zuckte er nur mit den Achseln und sagte: »Wenn du es für unmöglich hältst, Su-kuru, mußt du mitkommen und es dir ansehen.«
»Ich? Ich weiß, daß ich es nie schaffen könnte.«
»Dann kommst du eben nur eine Teilstrecke mit und wartest, um uns beim Rücklauf nach Hause zu begleiten. Ich habe ein paar kräftige Eberhautsandalen, die du anziehen kannst. Da du keiner von unseren Dorfläufern bist, mogelst du auch nicht wenn du das Ra-rajipuri-Rennen nicht barfuß läufst wie wir.«
»Mogeln?« sagte ich belustigt. »Soll das heißen, daß es bei diesem Wettlauf Regeln gibt?«
»Nicht viele«, erklärte er ernsthaft. »Unsere Läufer laufen hier am Nachmittag genau im selben Augenblick los, da Großvater Feuer« – er zeigte zur Sonne – »den oberen Rand jenes Berges dort drüben berührt. Die Leute von Guacho-chi haben eine ähnliche Möglichkeit, diesen selben Augenblick abzuschätzen, und dann laufen auch ihre Läufer los. Wir laufen in Richtung Guacho-chi, und sie laufen in Richtung Guagüeybo. Irgendwo in der Mitte des Weges treffen wir uns, rufen uns Grüße zu, werfen uns gutmütig Spott und Beleidigungen an den Kopf. Sobald die Männer von Guacho-chi hier eintreffen, bieten unsere Frauen ihnen Erfrischungen an und versuchen, sie mit allen möglichen Listen zurückzuhalten – was ihre Frauen daheim genauso mit uns versuchen –, aber du kannst sicher sein, daß wir nicht darauf eingehen. Wir machen augenblicklich kehrt und laufen weiter, bis wir wieder in unseren eigenen Dörfern sind. Inzwischen wird Großvater Feuer abermals diesen Berg berühren oder hinter ihm versinken oder auch noch ein kleines Stück darüber stehen, und danach können wir bestimmen, wie lange wir gebraucht haben. Die Männer von Guacho-chi tun das gleiche, dann schicken wir uns gegenseitig Boten, um die Ergebnisse auszutauschen, und so wissen wir dann, wer das Rennen gewonnen hat.«
Ich sagte: »Wo soviel Zeit und Mühe darauf gewendet wird, hoffe ich, ist jedenfalls der Preis etwas, was sich lohnt.«
»Preis? Es gibt keinen Preis.«
»Was? Das alles tut ihr und erhaltet nicht einmal eine Trophäe dafür? Nicht einmal einen Zielpfosten habt ihr, an den man die Hand legt und den man behält? Ohne Ziel und Zweck, nur um abgekämpft in eure Häuser und zu euren Frauen zurückzukehren? In drei Götter Namen, wozu?«
Abermals zuckte er mit den Achseln. »Wir tun das, weil es das ist, was wir am besten können.«
Ich sagte nichts mehr, denn ich wußte, daß es sinnlos ist, mit unvernünftigen Menschen vernünftig reden zu wollen. Später dachte ich jedoch eingehender über das nach, was Tes-disóra mir bei dieser Gelegenheit geantwortet hatte, und vielleicht war seine Antwort doch nicht so unsinnig, wie sie klang. Vermutlich hätte ich auch keine bessere Erklärung für mein lebenslanges Bemühen um die Beherrschung der Wortkunde geben können, falls jemand mich jemals gefragt hätte, wozu ich das tat.
Nur sechs kräftige Männer nahmen am eigentlichen Ra-rajipuri-Rennen teil – diejenigen, welche von den Bewohnern von Guagüey-bo als die besten angesehen wurden. Diese sechs, zu denen diesmal auch Tes-disóra gehörte, genossen reichlich von dem ermüdungshemmenden Jipuri-Kaktus, ehe das Ereignis begann, und alle trugen einen kleinen Wassersack und einen Beutel Pinóli-Mehl bei sich, wovon sie genossen, ohne ihren Lauf auch nur im geringsten zu verlangsamen. An der Hüfte ihres Schamtuchgurts trugen sie außerdem ein paar kleine getrocknete Kalebassen, von denen eine jede einen Stein enthielt, dessen Gerassel sie davon abhalten sollte, im Laufen einzuschlafen.
Der Rest der Ra-rajipuri-Läufer bestand aus jedem gesunden Mann von Guagüey-bo, von Jünglingen bis zu Männern, die weit älter waren als ich, und diese liefen mit, um die eigentlichen Wettläufer aufzumuntern. Viele von ihnen waren schon am frühen Morgen vorausgelaufen. Das waren diejenigen, welche über kurze Strecken erstaunlich schnell laufen konnten, auf längere Entfernungen jedoch dazu neigten zu ermüden. Sie nahmen in Abständen an dem Pfad Aufstellung, welcher die beiden Dörfer miteinander verband. Kamen die ausgewählten Läufer vorüber, liefen diese Schnelläufer neben ihnen her, um auf diesen Zwischenstrecken die besten Leistungen aus ihnen herauszuholen.
Andere von den Nicht-Wettläufern trugen kleine Gefäße mit glühenden Kohlen sowie Kienholzfackeln mit, wobei letztere dazu dienen sollten, den Läufern in der Nacht den Weg zu erhellen. Noch andere trugen Schnüre mit Jipuri daran, Ersatzbeutel mit Pinóli und Wasser. Die jüngsten und die ältesten trugen gar nichts: ihre Aufgabe bestand darin, ständig anfeuernde und ermunternde Laute auszustoßen. Alle Männer hatten sich mit dem lebhaft gelben Urá-Farbstoff das Gesicht, die nackte Brust und den Rücken mit Tupfern bemalt. Mir bemalte man nur das Gesicht, denn im Gegensatz zu den anderen wurde mir gestattet, meinen Umhang mit den Ärmeln daran zu tragen.
Als Großvater Feuer sich am Spätnachmittag dem angegebenen Berg näherte, trat lächelnd die Si-ríame aus ihrem hölzernen Haus und trug als Zeichen ihrer Würde die Jaguarfelle, hielt den Stab mit dem Silberknauf in der Hand und in der anderen die gelbgestrichene Holzkugel, so groß wie ein Männerkopf. Sie stand da, blickte zur Sonne hinüber, während die Wettläufer und all ihre Gefährten in der Nähe standen und sich sichtbarlich vorlehnten in dem Begehren, jetzt endlich loslaufen zu können. In dem Augenblick, da Großvater Feuer den Berg berührte, setzte die Si-ríame ihr breitestes Lächeln auf und warf den Ball von der Schwelle ihres Hauses aus den wartenden sechs Läufern vor die Füße. Jeder Bewohner von Guagüey-bo stieß einen jubelnden Laut aus, die sechs Wettläufer waren auf und davon und traten im Laufen die Holzkugel von einem zum anderen. In respektvoller Entfernung folgten ihnen die anderen Teilnehmer, darunter ich. Die Si-ríame lächelte immer noch, als ich sie das letztemal sah, und die kleine Vi-rikóta hüpfte so munter auf und ab wie eine sterbende Kerzenflamme.
Ich hatte durchaus erwartet, daß die Masse der Läufer mir in wenigen Augenblicken weit voraus sein würde, hätte mir jedoch denken können, daß sie nicht gleich zu Beginn des Wettlaufs ihre gesamte Kraft verausgaben würden. Sie liefen in einem mäßigen Trab los, den sogar ich über längere Zeit durchhalten konnte. Wir liefen den Fluß auf dem Boden des Cañons entlang, die Hochrufe und Freudenschreie der Frauen, Kinder und alten Leute blieben hinter uns zurück, und unsere eigenen Rufer fingen an, die Läufer mit ihren Zurufen und ihrem Geschrei anzufeuern. Da die Läufer es nach Möglichkeit vermieden, die Kugel bergan zu treiben, folgten wir der Sohle des Cañons, bis die Seitenwände sanfter anstiegen und nicht mehr so hoch waren, was es uns gestattete, ohne allzu große Mühe hinaufzukommen und in den nach Süden führenden Wald einzudringen.
Ich bin stolz, berichten zu können, daß ich ein volles Drittel des Weges von Guagüey-bo bis nach Guacho-chi nicht hinter den Wettläufern zurückfiel. Vielleicht lag es an dem Jipuri, welchen ich vor Beginn des Wettlaufs genossen hatte, denn mehrere Male ertappte ich mich dabei, daß ich schneller lief, als ich jemals zuvor in meinem Leben gelaufen war und seit diesem Rennen nie wieder gelaufen bin. Das geschah jedesmal dann, wenn wir die aufgestellten Schnelläufer erreichten und unser Bestes taten, es ihnen in ihren Schnelligkeitsausbrüchen gleichzutun. Mehrere Male kamen wir auch an den aufgestellten Schnelläufern der Bewohner von Guacho-chi vorüber, die auf ihre eigenen Läufer aus der entgegengesetzten Richtung warteten. Diese Wettkämpfer überschütteten uns gutmütig mit Schimpfnamen, als wir vorüberkamen, wie etwa: »Trödler!« und »Humpler!« und dergleichen – insbesondere mich, da ich inzwischen ein ganzes Stück hinter dem Rest der Läufer aus Guagüey-bo zurückgeblieben war.
Vorgeneigt durch dicht stehende Bäume, über den unebenen Boden von Schluchten mit knöcheltiefem Geröll darin dahinzulaufen, war etwas, was ich nicht gewohnt war, doch schaffte ich es einigermaßen, solange es noch hell war. Als am Spätnachmittag die Dämmerung einsetzte, mußte ich meinen Topas vors Auge halten, um weiterlaufen zu können, und das zwang mich, mit meiner Geschwindigkeit wesentlich herunterzugehen. Als es dann dunkler wurde, sah ich die Leitlichter vor mir aufleuchten, wo die Fackelträger ihre Kienfackeln in Brand setzten. Aber selbstverständlich blieb keiner von diesen Männern zurück, um einem derer, die nicht richtig am Rennen teilnahmen, zu leuchten, und so fiel ich immer weiter hinter der Masse der Laufenden zurück, und ihre Rufe drangen immer schwächer an mein Ohr.
Dann, als die Dunkelheit mich vollends umringte, erblickte ich auf dem Boden unmittelbar vor mir einen roten Schimmer. Die freundlichen Rarámuri hatten ihren fremden Gefährten Sukuru also doch nicht ganz vergessen. Einer von den Fackelträgern hatte, nachdem er seine Fackel in Brand gesetzt, sein Glutgefäß an einer Stelle niedergesetzt, wo er mit Sicherheit annahm, daß ich es finden würde. Folglich hielt ich in meinem Lauf inne, schichtete ein Lagerfeuer auf, entzündete es und richtete mich darauf ein, die Nacht dort zu verbringen. Ich gebe gern zu, daß ich trotz des reichlichen Jipuri-Genusses so ausgepumpt und müde war, daß ich einfach hinfallen und schlafen hätte wollen, doch schäme ich mich, wenn ich nur daran denke, denn jeder andere Mann im ganzen Umkreis verlangte sich das Äußerste an Durchhaltevermögen ab. Auch wäre ich – und damit auch meine Gastgeber – unerträglich gedemütigt worden, wenn die gegnerischen Läufer aus Guacho-chi vorüber kamen und einen »Guagüey-bo-Mann« dort schlafend vorgefunden hätten. Deshalb nahm ich etwas von meinem Pinóli zu mir, spülte den Brei mit einem Schluck aus meinem Wasserbeutel herunter und kaute noch etwas Jipuri, was mich wieder recht munter machte. Die ganze Nacht über saß ich auf, legte gelegentlich ein Stück Holz nach, damit das Feuer mich wärmte, jedoch nicht allzu sehr, weil ich nicht schläfrig werden wollte.
Den Wettläufern aus Guacho-chi sollte ich zweimal begegnen, ehe ich Tes-disóra und meine ehemaligen Gefährten wiedersah. Nachdem die beiden Gruppen ungefähr mittwegs zwischen den beiden Dörfern aneinander vorbeigelaufen waren, kamen die gegnerischen Läufer ziemlich genau in der Mitte der Nacht an meinem Feuer vorüber. Danach sollten sie in Guagüey-bo eintreffen, kehrtmachen, aus dem Nordwesten zurückkehren und am Morgen wieder an mir vorüberkommen. Der bereits auf dem Rücklauf befindliche Tes-disóra und seine Gefährten würden nicht auftauchen, bis die Mittagssonne hoch über mir stand – so daß ich mich ihnen anschließen und wieder nach Hause zurückkehren konnte.
Nun, meine Berechnung des ersten Zusammentreffens erwies sich als richtig. Mit Hilfe meines Topases beobachtete ich die Sterne, und nach ihnen zu urteilen, war es in der Tat Mitternacht, als ich auf- und niederhüpfende Lichter aus dem Südosten näherkommen sah. Ich beschloß, so zu tun, als wäre ich einer von den Schnelläufern aus Guagüey-bo, die hier postiert waren, stand also auf und versuchte einen möglichst wachsamen Eindruck zu erwecken, und noch ehe der vorderste Läufer auftauchte, begann ich zu rufen: »Trödler! Humpler!« Die Läufer und ihre Fackelträger riefen nichts zurück; dazu waren sie viel zu sehr damit beschäftigt, die Holzkugel nicht aus den Augen zu lassen, von der jede Farbe längst abgegangen war und die recht angestoßen und zerfasert aussah. Doch die Schar der Begleiter aus Guacho-chi erwiderte meine gutmütighöhnischen Rufe und schrie: »Altes Weib!« und »Wärmt sich die alten Knochen!« und dergleichen, wobei mir aufging, daß ich dadurch, daß ich mir ein Feuer entzündet hatte, nach Rarámuri-Einschätzung etwas ziemlich Unmännliches getan hatte. Doch nun war es zu spät, es zu löschen, sie rauschten an mir vorüber und wurden abermals zu hüpfenden und schwankenden Lichtern, die in nordwestlicher Richtung entschwanden.
Nach langem weiterem Wachen wurde der Himmel im Osten hell, zuletzt tauchte Großvater Feuer auf, und es verging noch eine lange Spanne Zeit, in welcher er – langsam wie nur je ein betagter menschlicher Großvater – ein Drittel seines Weges am Himmel zurücklegte. Es war Frühstückszeit, und meinen Berechnungen nach mußten jetzt die Männer aus Guacho-chi auf ihrem Rückweg wieder an mir vorüberkommen. Ich wandte den Blick nach Nordwesten, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Da bei Tageslicht die Fackeln ihr Näherkommen nicht verkünden würden, spitzte ich die Ohren, um sie zu hören, ehe sie in Sicht kamen. Aber ich hörte nichts und ich sah nichts.
Noch mehr Zeit verging. In Gedanken ging ich meine Berechnung noch einmal durch, um herauszufinden, wo ich mich verrechnet hatte, vermochte jedoch keinen Fehler zu entdecken. Noch mehr Zeit verging. Ich zerbrach mir den Kopf, um mich zu erinnern, ob Tes-disóra nicht doch etwas davon gesagt hatte, daß die Läufer auf dem Rückweg einer anderen Route folgten. Noch mehr Zeit verging, und die Sonne stand fast senkrecht über mir, als ich einen Gruß vernahm!
»Kuira-ba!«
Es war ein Rarámuri, welcher nur das Schamtuch der Läufer und Hüfttaschen und gelbe Zeichnung auf der nackten Haut trug, doch konnte ich mich nicht entsinnen, ihn jemals gesehen zu haben; so hielt ich ihn für einen der Schnelläufer von den Leuten aus Guacho-chi. Er hingegen hielt mich offensichtlich für ein Gegenstück aus Guagüey-bo, denn freundlich, doch nicht ängstlich lächelnd sagte er:
»Ich habe dein Feuer gestern abend gesehen, deshalb habe ich meinen Posten verlassen und bin hierhergekommen. Im Vertrauen, Freund, sag mir, was eure Leute angestellt haben, um unsere Läufer in eurem Dorf zurückzuhalten? Haben eure Frauen sie splitterfasernackt und mit willfährig gespreizten Beinen erwartet?«
»Eine höchst angenehme Vorstellung«, sagte ich. »Doch das haben sie, soweit ich weiß, nicht. Ich habe mich schon selbst gefragt, ob eure Männer nicht vielleicht doch auf einer anderen Route zurückgelaufen sind?«
Er wollte schon sagen: »Das wäre das allererste Mal …«, doch da wurde er unterbrochen. Beide vernahmen wir ein weiteres »Kuira-ba!«, drehten uns um und sahen Tes-disóra und seine fünf Mitläufer näherkommen. Sie waren nahe am Zusammenbrechen und wankten vor Müdigkeit, und die Kugel, welche sie einander mechanisch zuspielten, war nur mehr so groß wie meine Faust.
»Wir …«, sagte Tes-disóra zu dem Mann aus Guacho-chi und mußte innehalten, um nach Luft zu schnappen. Dann keuchte er unter Schmerzen: »Wir sind bis jetzt … euren Läufern noch nicht begegnet. Mit was für einem Trick …«
Der Mann sagte: »Euer Schnelläufer hier und ich haben uns gerade gefragt, was aus ihnen geworden sein mag.«
Tes-disóras Brust hob und senkte sich, als er uns anstarrte. Mit ungläubiger Stimme sagte ein anderer keuchend: »Sie sind … noch nicht … hier vorübergekommen?«
Als alle anderen Läufer aus Guagüey-bo herangezockelt kamen, sagte ich: »Ich habe den Fremden gerade gefragt ob sie vielleicht eine andere Route eingeschlagen haben könnten. Und er fragte mich, ob es euren Frauen durch irgend etwas gelungen sein könnte, sie in eurem Dorf festzuhalten.«
Es hob ein allgemeines Kopfschütteln an. Dann verlangsamte sich die Bewegung der Köpfe, und die Männer blickten einander bestürzt an.
Leise, mit sorgenvoller Stimme sagte einer: »Unser Dorf.«
Ein anderer, etwas lauter und wesentlich angstvoller, sagte: »Unsere Frauen.«
Und der Fremde sagte mit zitternder Stimme: »Unsere besten Männer.«
Dann malte sich plötzlich die ganze Erkenntnis auf ihren Gesichtern, Schock und Qual, und dasselbe sprach auch aus dem Gesicht des Mannes aus Guacho-chi. Aller Augen wandten sich traurig gen Nordwesten, und in dem kurzen, atemlosen Augenblick, ehe die Männer mich plötzlich verließen und angestrengter liefen als je zuvor, sagte jemand von ihnen nur das eine Wort:
»Yaki.«
Nein, ich folgte ihnen nicht nach Guagüey-bo. Ich kehrte nie wieder dorthin zurück. Ich war ein Fremder, und es wäre dreist von mir gewesen, mich dem Chor der klagenden Rarámuri-Männer anzuschließen. Mir wurde klar, was sie vorfinden würden: daß die Yaki-Räuber und die Guacho-chi-Läufer ungefähr zur selben Zeit in Guagüey-bo angelangt sein mußten, und die Läufer waren zu ausgepumpt gewesen, viel Widerstand gegen die Wilden zu leisten. Die Männer aus Guacho-chi mußten alle erdulden, daß ihnen die Kopfhaut abgezogen wurde, ehe sie starben. Was die Si-ríame und die junge Vi-rikóta und die anderen Frauen aus Guagüey-bo erleiden mußten, ehe sie starben, das wagte ich nicht einmal mir auszumalen. Ich nehme an, daß die überlebenden Rarámuri von Guagüey-bo ihr Dorf schließlich wieder bevölkerten, indem sie die Frauen aus Guacho-chi auf die beiden Dörfer aufteilten, aber ich werde es nie erfahren.
Und ich bekam nie einen Yaki zu Gesicht, weder damals, noch bis heute. Dabei hätte ich das gern getan – wenn ich es hätte schaffen können, ohne daß die Yaki mich dabei zu Gesicht bekommen hätten –, denn sie müssen die furchteinflößendsten Menschentiere sein, die es gibt, und wunderschön anzusehen. In all den Jahren bin ich nur einem einzigen Mann begegnet, der die Yaki erlebt hatte und mir davon erzählte, und das war einer der Vorsteher aus dem Haus der Pochtéca in Tenochtítlan, welcher keine Kopfhaut mehr hatte. Auch ihr Spanier seid bisher noch keinen Yaki begegnet. Eure Forschungsreisenden in diesen Landen haben sich bis jetzt noch nicht soweit bis nach Norden und Westen vorgewagt. Ich meine, selbst ein Spanier könnte mir leid tun, wenn er unter die Yaki fiele.
Als die geschlagenen Männer losliefen, stand ich still und sah ihnen nach, wie sie im Wald verschwanden. Ich blickte lange, nachdem sie verschwunden waren, nach Nordwesten und sprach ein stummes Lebewohl. Dann hockte ich mich nieder, bereitete mir aus dem mir noch verbliebenen Pinóli und Wasser eine Mahlzeit und kaute einen Jipuri, um mich für den Rest des Tages wachzuhalten. Ich scharrte Erde über die letzte Glut meines Lagerfeuers, stand dann aufrecht da, hielt nach der Sonne Ausschau, um mich zu vergewissern, in welche Richtung ich mich zu wenden hätte, und lenkte dann meine Schritte gen Süden. Ich habe meinen Aufenthalt bei den Rarámuri genossen, und es beschwerte mein Herz, daß er so enden mußte. Aber ich trug gute Hirschlederkleidung und Sandalen aus Eberhaut und besaß Lederbeutel, Nahrung und Wasser darin zu transportieren, und eine Feuersteinklinge am Schamtuch, und ich hatte immer noch meinen Sehkristall und meinen Brennkristall. Ich habe nichts zurückgelassen in Guagüey-bo, es sei denn, ihr zähltet die Tage dazu, welche ich dort verbracht habe. Von ihnen habe ich jedoch die Erinnerung mitgenommen und behalten.