Quarta Pars
Die andere Seite des Hügels war womöglich noch schöner als die dem Texcóco-See zugewandte. Der Hang fiel leicht ab, die Gärten zogen sich sanft gewellt unter mir talabwärts, manche streng formal angelegt, andere ganz und gar natürlich, und überall schimmerten Teiche, Brunnen und Badebecken. Es gab ausgedehnte grüne Rasenflächen, auf denen eine Reihe zahmer Hirsche äste. Es gab ebenso schattige Haine wie gelegentlich einzeln stehende Bäume, welche man in der Gestalt von Tieren oder Vögeln gestutzt und zurechtgeschnitten hatte. Weiter unten, am Fuße des Hügels, erstreckten sich viele Gebäude, kleine und große, alle jedoch in ihren Ausmaßen dem Auge angenehm und weder zu dicht noch zu weit voneinander entfernt errichtet. Ich glaubte sogar, reich gekleidete Menschen auf den Wegen zwischen den einzelnen Häusern ausmachen zu können – jedenfalls bewegten sich dort leuchtende Farbkleckse. War der Palast des Herrn Rot Reiher auf Xaltocan schon ein geräumiges und durchaus eindrucksvolles Gebäude gewesen, stellte der Texcotzincoer Palast des Uey-Tlatoáni Nezahualpíli eine ganze unabhängige ländliche Gemeinde dar.
Die Kuppe des Hügels, auf der ich stand, war mit den »ältesten der alten« Zypressen bestanden, manche davon so dick, daß wohl zwölf Männer mit ausgestreckten Armen sie kaum hätten umspannen können, und so hoch, daß das graugrün gefiederte Laub in das Azurblau des Himmels überzugehen schien. Ich blickte mich um, und wiewohl sie geschickt verborgen waren, entdeckte ich die großen Tonrohre, welche die Gärten und die Häuser unten mit Wasser versorgten. Wenn ich es richtig beurteilte, führten die Rohre in der Ferne zu einem im Südosten gelegenen noch höheren Berg, von wo sie ohne Zweifel das Wasser eines reinen Quells herbeibrachten und es verteilten, indem sie ihm gestatteten, sich bei sanftem Gefalle selbst seinen Weg zu suchen.
Da ich nicht umhin konnte, zu verweilen und die verschiedenen Gartenanlagen und Parks zu bewundern, durch welche ich hinunterschritt, war es nahezu Sonnenuntergang geworden, als ich schließlich unten am Fuße des Hügels herauskam. Ich ging blumengesäumte weiße Kiespfade entlang und begegnete vielen Menschen: Edelleuten und Edelfrauen in reichgeschmückten Umhängen, Rittern mit gefiedertem Kopfputz und vornehm aussehenden älteren Herren. Ein jeder von ihnen entbot mir freundlich seinen Gruß oder nickte mir huldvoll zu, als ob ich hierhergehörte, doch war ich zu schüchtern, diese eleganten Leute zu fragen, wohin ich mich nun eigentlich wenden solle. Dann jedoch traf ich auf einen jungen Mann etwa meines eigenen Alters, der offensichtlich nichts Besonderes zu tun hatte. Er stand neben einem weißen Hirsch, dem gerade das Gehörn zu sprießen begann, und kraulte ihm müßig die Hornansätze zwischen den Ohren. Vielleicht jucken sprießende Hörner; auf jeden Fall schien das Tier das Kraulen zu genießen.
»Mixpantzinco, Bruder«, grüßte der junge Mann mich. Ich nahm an, daß er einer von Nezahualpílis Sprößlingen sei und er mich gleichfalls für einen solchen hielt. Doch dann bemerkte er den Korb, den ich unterm Arm trug, und er sagte: »Du bist der neue Mixtli.«
Ich sagte, ja, der sei ich, und erwiderte seinen Gruß.
»Ich bin Huexotl«, sagte er; der Name bedeutet soviel wie »Weide«. »Wir haben schon mindestens drei andere Mixtlis hier, deshalb müssen wir uns einen anderen Namen für dich ausdenken.«
Da ich kein Bedürfnis verspürte, wieder einen anderen Namen zu bekommen, wechselte ich das Thema. »Ich habe noch nie Hirsche unter Menschen umhergehen sehen, nicht eingesperrt und so ohne jede Angst.«
»Wir bekommen sie, wenn sie noch kleine Kitze sind. Die Jäger finden sie, wenn eine Hirschkuh erlegt worden ist, und dann bringen sie die Kälber hierher. Eine Amme mit vollen Brüsten, die aber im Augenblick kein Baby zu nähren hat, findet sich immer irgendwo, und so säugt sie dann das Kitz. Ich glaube, sie wachsen alle auf und denken, sie sind auch Menschen. Bist du eben erst angekommen, Mixtli? Möchtest du gern essen? Oder dich ausruhen?«
Ich sagte, ja, ja. »Ich weiß wirklich nicht, was ich hier tun soll. Oder wohin ich gehen soll.«
»Die Erste Dame meines Vaters weiß bestimmt Rat. Komm, ich bringe dich zu ihr.«
»Ich danke dir, Huéxotzin«, sagte ich, redete ihn also mit Herr Weide an, denn offensichtlich hatte ich richtig geraten: Er war ein Sohn von Nezahualpíli und damit ein Prinz.
Als wir durch das ausgedehnte Palastgelände gingen und die Hirsche zwischen und neben uns einhersprangen, erklärte der junge Prinz mir die vielen Gebäude, an denen wir vorüberkamen. Ein riesiges, zweistöckiges Gebäude umfaßte drei Seiten eines Innenhofes, welcher reizvoll als Garten angelegt war. Der linke Flügel, erzählte Weide mir, enthalte seine Gemächer sowie die all der anderen Königskinder, wohingegen im rechten die vierzig Konkubinen Nezahualpílis untergebracht waren. Der Mitteltrakt enthalte Wohnungen für die Berater des Verehrten Sprechers und die Weisen Männer, die stets zu seinem Hofstaat gehörten, ob er nun in der Stadt weilte oder im Palast draußen auf dem Lande: auch wohnten hier andere Tlamatintin: Philosophen, Dichter, Männer der Wissenschaft, deren Arbeit der Sprecher fördere. Auf dem Gelände ringsumher standen überall kleine Pavillons mit Marmorsäulen davor, in welche ein Tlamatini sich zurückziehen konnte, wenn er in Ruhe schreiben, etwas ersinnen oder vorhersagen oder nur meditieren wollte.
Der eigentliche Palast war gewaltig groß und so wunderschön verziert wie nur irgendeiner in Tenochtítlan. Zwei Stockwerke hoch und mindestens tausend Männerfüße an der Vorderfront messend, enthielt er den Thronsaal, die Ratskammer, Säle für höfische Feste, Unterkünfte für die Wachen und den Gerichtssaal, in welchem der Uey-Tlatoáni regelmäßig mit jenen zusammentraf, die Schwierigkeiten oder Klagen vorzubringen hatten. Außerdem befanden sich in ihm die Gemächer Nezahualpílis persönlich sowie die seiner sieben angetrauten Ehefrauen.
»Alles in allem dreihundert Räume«, sagte der Prinz, um mir dann verschwörerisch grinsend anzuvertrauen: »Und alle möglichen Geheimgänge und -treppen, damit mein Vater diese oder jene seiner Frauen aufsuchen kann, ohne daß die anderen eifersüchtig werden.«
Wir ließen den Hirsch stehen und betraten den Palast durch das große Mittelportal, wobei Wache stehende Ritter zu beiden Seiten Hab-acht-Stellung einnahmen und den Speer kerzengerade vor sich in die Höhe hielten. Weide führte mich durch eine weiträumige Halle mit federgewirkten Wandbehängen, dann eine ausladende steinerne Treppe hinauf und eine mit Schilfmatten ausgelegte Galerie entlang bis zu den elegant ausgestatteten Wohngemächern seiner Stiefmutter. Also war gleich der zweite Mensch, den ich hier kennenlernte, eben jene Toläna-Teciuapil, welche der alte Mann oben auf dem Hügel erwähnt hatte, die Erste Dame und die vornehmste aller Edelfrauen. Sie war gerade in einer Unterhaltung mit einem finster blickenden jungen Mann mit buschig vorstehenden Brauen begriffen, wandte sich jedoch lächelnd uns zu und forderte uns durch eine Geste auf, einzutreten.
Prinz Weide erklärte ihr, wer ich sei, und ich beugte den Rücken, und schickte mich an, die Geste des Erdeküssens zu vollführen. Die Dame von Tolan hob mich mit eigener Hand sanft aus meiner knienden Stellung empor und stellte mich wiederum dem jungen Mann vor: »Mein ältester Sohn, Ixtlil-Xochitl.« Augenblicklich fiel ich wieder aufs Knie, um die Erde zu küssen, denn dieser dritte Mensch, den ich jetzt kennenlernte, war Kronprinz Schwarze Blume, bestimmt, dermaleinst Nezahualpílis Thronerbe zu werden. Mir wurde nachgerade ein wenig schwindlig, und nicht nur vom ständigen Niederknien und Aufstehen. Da war ich, Sohn eines einfachen Steinhauers, und machte die Bekanntschaft von drei der bedeutendsten Persönlichkeiten in Der Einen Welt, und zwar Schlag auf Schlag. Schwarze Blume mit seinen dunklen Augenbrauen nickte mir zu, dann verließ er zusammen mit seinem Halbbruder den Raum.
Die Erste Dame betrachtete mich von oben bis unten, während ich insgeheim sie musterte. Ihr Alter vermochte ich nicht zu erraten, wiewohl sie schon weit in den mittleren Jahren stehen, also mindestens vierzig sein mußte und bereits einen Sohn im Alter des Kronprinzen Schwarze Blume hatte, doch ihr Gesicht wies keinerlei Runzeln auf, war wunderschön anzusehen und sehr freundlich.
»Mixtli also?« sagte sie. »Aber wir haben schon so viele Mixtlis unter den jungen Leuten, und – ach! – es fällt mir so schwer, Namen zu behalten.«
»Manche nennen mich Tozáni, meine Dame.«
»Nein, du bist viel größer als ein Maulwurf. Du bist ein großer Mann und wirst noch größer werden. Ich werde dich Kopf Neiger nennen.«
»Wie es Euch beliebt meine Dame«, sagte ich und seufzte schicksalsergeben auf. »Das ist der Spitzname meines Vaters.«
»Aber dann werden wir beide ihn gut behalten können, oder? Doch jetzt komm, ich will dir deine Wohnung zeigen.«
Sie muß an einem Klingelzug gezogen haben, denn als ich auf den Gang hinaustrat, wartete dort ein von zwei stämmigen Sklaven getragener Tragstuhl. Sie ließen ihn für sie hernieder, damit sie einsteigen und Platz nehmen konnte, und trugen sie dann die Galerie entlang, die Treppe hinunter (wobei sie achtgaben, den Tragstuhl sorgsam in der Waagerechten zu halten), zum Palast hinaus und hinein in die zunehmende Dämmerung. Ein weiterer Sklave lief mit einer Kienholzfackel voraus, ein vierter hinterher, das Banner, das den Rang der Dame anzeigte, in der Hand. Ich selbst lief neben dem Tragstuhl her. In dem großen Gebäude mit den beiden Seitenflügeln, das Weide mir bereits gezeigt hatte, führte die Dame von Tolan mich die Treppe hinauf, um ein paar Ecken herum und weit in den linken Flügel hinüber.
»Da wären wir«, sagte sie und ließ eine Tür aufschwenken, die aus Tierhaut bestand, welche man über einen Holzrahmen gespannt hatte und die dann mit Lack steif gemacht worden war. Die Tür lehnte nicht etwa einfach vor der Öffnung, sondern drehte sich oben und unten in Zapfen. Der Sklave trug die Fackel hinein, um mir den Weg zu erleuchten, doch ich steckte nur den Kopf hinein und sagte dann unsicher: »Es scheint aber ganz leer zu sein, meine Dame.«
»Aber selbstverständlich. Es ist schließlich deins.«
»Ich dachte, in einer Calmécac schliefen alle Studenten gemeinsam in einem großen Schlafsaal.«
»Richtig, aber dies hier gehört zum Palast, und hier wirst du wohnen. Mein Gatte hat für diese Schulen und ihre Lehrer-Priester nichts als Verachtung übrig. Du bist nicht hier, um eine Calmécac zu besuchen.«
»Nicht … ? Aber ich dachte, ich sei hergekommen, um zu studieren?«
»Das wirst du auch, sehr hart sogar, allerdings gemeinsam mit den Palastkindern, denen von Nezahualpíli und seiner Edelleute. Unsere Kinder werden nicht von ungewaschenen Zelotenpriestern unterrichtet, sondern von den weisen Männern, die mein Gatte selbst ausgesucht hat, Männern, die ein jeder bereits Beachtliches geleistet haben auf dem Gebiet, auf dem sie unterrichten. Hier lernst du vielleicht nicht viel Zauberei und Beschwörungsgesänge, Kopf Neiger, sondern richtige, echte, nützliche Dinge, die einen Mann aus dir machen werden, welcher der Welt etwas Bedeutendes zu geben hat.«
Wenn ich nicht schon jetzt Mund und Augen aufgesperrt hatte, dann bestimmt gleich darauf, als ich sah, wie der Sklave mit seiner Fackel umherging und Bienenwachskerzen entzündete, die auf Wandleuchtern steckten. »Ein ganzes Zimmer für mich allein?« entfuhr es mir. Dann trat der Mann durch einen Bogen in einen weiteren Raum, und ich brachte fassungslos hervor: »Sogar zwei? Aber Gebieterin, dieses hier ist ja schon fast so groß wie mein ganzes Elternhaus.«
»An die Bequemlichkeit wirst du dich schon gewöhnen«, sagte sie lächelnd. Sie mußte mich förmlich hineinstoßen. »Dieses hier ist dein Studierzimmer. Dahinter liegt die Badestube. Die wirst du vermutlich zuerst benutzen wollen, um dich nach der Reise frisch zu machen. Zieh nur am Klingelzug, und dein Diener wird kommen, dir behilflich zu sein. Dann iß tüchtig und schlaf gut, Kopf Neiger. Wir werden uns bald wiedersehen.«
Der Sklave folgte ihr aus dem Raum hinaus und schloß die Tür. Mir tat es von Herzen leid, daß eine so freundliche Dame mich allein ließ, gleichzeitig war ich jedoch auch froh darüber, denn jetzt konnte ich mich endlich in meiner Wohnung umsehen, wirklich wie ein Maulwurf, der kurzsichtig Einrichtung und Ausstattung genau in Augenschein nahm. Das Studierzimmer war mit einem niedrigen Tisch und einem kissenbesetzten niedrigem Icpáli-Stuhl sowie einer Truhe aus Weidengeflecht für Kleider und Bücher sowie einem Kohlebecken aus Lavagestein ausgestattet, in dem bereits Mizquitl-Scheite übereinandergelegt waren; außerdem war noch ein reichlicher Vorrat an Kerzen vorhanden, damit ich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch bequem arbeiten konnte, sowie ein Spiegel aus poliertem Tezcatl – jenem seltenen klaren Kristall, in dem man sich wirklich wiedersah und nicht wie in der billigeren, dunkleren Art, wo man sein Gesicht nur undeutlich erkennen konnte. Der Raum wies eine Fensteröffnung mit einer Matte aus gespaltenem Rohr davor auf, das man mit Hilfe einer Zugvorrichtung aus Schnur hochrollen und ganz hinunterlassen konnte.
Die Schlafkammer enthielt keine Lagerstatt aus geflochtenem Rohr, sondern eine erhöhte Plattform, auf der zehn oder zwölf, offenbar mit Daunen gefüllte dicke Decken übereinanderlagen; jedenfalls bildeten sie einen Stapel, der sich wolkenweich anfühlte. Wollte ich schlafen, konnte ich zwischen jede Lage kriechen, die ich wollte, je nachdem, wie weich ich es unter mir und wie warm ich es über mir haben wollte.
Die Badestube hingegen gab mir zuerst manches Rätsel auf. Im Boden befand sich eine mit Platten ausgekleidete Vertiefung, in welcher man sitzen und baden konnte, doch sah ich nirgends Wasserkrüge, das Becken damit zu füllen. Außerdem stand noch ein Behältnis da, auf dem man sich niederhocken konnte, um seine Notdurft zu verrichten, doch war dieses fest in den Boden eingelassen und ließ sich offensichtlich nicht nach jedem Gebrauch leeren. Jedes von den beiden – die Badewanne und das Toilettenbecken – wies an der Wand darüber ein eigentümlich gebogenes, aus der Wand kommendes Rohr auf, doch kam aus keinem von beiden Wasser heraus oder diente, soweit ich feststellen konnte, irgendeinem anderen erkennbaren Zweck. Nun, ich hätte nie daran gedacht, daß ich mir von irgendwoher eine Anleitung holen müsse, wie ich mich zu reinigen und meine Notdurft zu verrichten hätte, doch nachdem ich die Einrichtung eine Weile völlig verblüfft studiert hatte, ging ich hinüber, betätigte den Klingelzug und wartete einigermaßen verlegen darauf, daß der mir zugeteilte Tlacótli erscheinen sollte.
Der frischgesichtige kleine Junge, der an meine Tür kam, sagte munter: »Ich bin Cozcatl, Herr. Ich bin neun Jahre alt und diene all den jungen Herren in den sechs Wohnungen an diesem Ende des Korridors.«
Cozcatl bedeutet »Juwelenbesetztes Halsband«, war also ein recht hochtrabender Name für jemand wie ihn, doch lachte ich nicht darüber. Da ein namengebender Tonalpóqui sich niemals herablassen würde, seine Seherbücher für ein Sklavenkind zu befragen, selbst wenn die Eltern es sich leisten könnten, besaß ein solches Kind niemals einen richtig eingetragenen Namen. Er oder seine Eltern wählten einfach nach Lust und Laune selber einen aus, und damit konnten sie manchmal weit danebenliegen, wie etwa im Falle von Göttergeschenk. Cozcatl schien wohlgenährt und wies keinerlei Striemen von Schlägen auf, auch gab er sich mir gegenüber nicht kriecherisch und trug neben dem sonst für einen männlichen Sklaven üblichen Schamtuch noch einen kurzen, makellos weißen Umhang. Infolgedessen nahm ich an, daß die niederen Schichten bei den Acólhua oder zumindest im Palastbereich einigermaßen anständig behandelt wurden.
Der Junge schleppte einen gewaltigen Tonkrug mit dampfend heißem Wasser herbei, und so trat ich rasch beiseite, woraufhin er ihn ins Badezimmer hinübertrug und das Wasser in das eingelassene Becken hineingoß. Auch ersparte er mir die Demütigung, ihn zu bitten, mir zu zeigen, wie die Badestubeneinrichtungen funktionierten. Selbst wenn Cozcatl mich für einen Edelmann gehalten haben würde, hätte er nicht unbedingt annehmen müssen, daß auch ein Adliger aus der Provinz mit derlei Luxus vertraut sei – und damit hätte er recht gehabt. Ohne darauf zu warten, daß er gefragt wurde, erklärte er:
»Das Badewasser könnt Ihr auf diese Weise abkühlen, wie Ihr es gern habt, Herr.« Er zeigte auf das Tonrohr, das aus der Mauer hervorkam. Kurz vor dem Ende war dieses Rohr von einem kürzeren Rohr durchbohrt, welches er jetzt nur ein wenig drehte, woraufhin klares kaltes Wasser daraus hervorsprudelte.
»Das lange Rohr bringt Wasser von unserer Hauptleitung hierher. Das kurze Rohr weist in der Seite ein Loch auf, und wenn Ihr es dreht, so daß diese Öffnung in das lange Rohr hineinzeigt, kann das Wasser fließen, wie man es braucht. Wenn Ihr mit Eurem Bad fertig seid, braucht ihr nur den Óli-Stopfen auf dem Boden herauszuziehen, und das Wasser fließt durch ein weiteres Rohr darunter ab.«
Danach zeigte er auf das seltsamerweise feststehende Toilettenbecken und sagte: »Das Axixcáli funktioniert genauso. Wenn Ihr Eure Notdurft verrichtet habt, dreht einfach am kurzen Rohr darüber, und ein kräftiger Wasserstrahl spült alles durch ein Loch im Boden fort.«
Dieses Loch war mir zuvor nicht einmal aufgefallen, und so fragte ich entsetzt und erschrocken: »Dann fällt der Kot in den darunterliegenden Raum?«
»Nein, nein, Herr. Wie das Badewasser in ein Rohr, durch welches es fortgeschwemmt wird. In einen Teich, aus dem die Dungmänner den Dünger für die Äcker herausschaufeln. Jetzt werde ich dafür sorgen, daß das Abendessen des Herrn bereitet wird, damit es bereitsteht, wenn Ihr Euer Bad genommen habt.«
Am Morgen nach meiner Ankunft kam der Sklave Cozcatl mit meinem Frühstück und einem Armvoll neuer Kleider für mich – mehr Kleider, als ich in meinem bisherigen Leben jemals getragen und aufgetragen hatte. Da waren Schamtücher und Umhänge aus schimmernder, schön bestickter weißer Baumwolle. Da waren Sandalen aus unterschiedlichem geschmeidigem Leder, darunter ein Paar vergoldete, die ausschließlich bei Zeremonien getragen und fast bis zum Knie hinauf geschnürt wurden. Die Dame von Tolan ließ mir sogar eine kleine Schnalle aus Gold und Heliotrop schicken für meinen Umhang, den ich bis dahin immer nur über der Schulter verknotet hatte.
Nachdem ich eines dieser eleganten Gewänder angelegt hatte, führte Cozcatl mich noch einmal durch das Palastgelände und zeigte mir die Gebäude, in denen die Unterrichtsräume lagen. Es standen mehr Lerngruppen zur Verfügung als in jeder Calmécac. Am brennendsten interessierte ich mich selbstverständlich für jene, in denen Wortkunde, Geschichte, Geographie und dergleichen betrieben wurde. Sofern mich die Lust dazu überkam, konnte ich genausogut solche besuchen, in denen Poesie, Gold- und Silberschmiedearbeiten, Federarbeiten, Steinschneiden und etliche andere Künste gelehrt wurden.
»Unterricht, zu dem man weder Gerät noch Sitzgelegenheit braucht, wird nur bei schlechtem Wetter drinnen erteilt«, sagte mein kleiner Führer. »An schönen Tagen wie diesem arbeiten die Meister und ihre Schüler mit Vorliebe draußen im Freien.«
Ich sah Gruppen auf dem Rasen beisammensitzen, während andere wiederum sich um marmorne Pavillons scharten. Als Lehrmeister einer jeden solchen Gruppe erwies sich ein älterer Mann, der gleich daran zu erkennen war, daß er einen gelben Umhang trug, während seine Schüler einen bunten Haufen bildeten: Knaben und Männer der unterschiedlichsten Größe und aller Altersstufen, auch einmal ein Mädchen oder eine Frau oder ein Sklave, der ein wenig abseits von den anderen saß.
»Die Schüler werden nicht altersmäßig in Lerngruppen eingeteilt?« erkundigte ich mich.
»Nein, Herr, sondern nach ihren Fähigkeiten. Manche sind in einem Fach wesentlich weiter fortgeschritten als in einem anderen. Wenn Ihr das erstemal teilnehmt, wird der Lehrmeister Euch einer eingehenden Befragung unterziehen, um zu entscheiden, in welche Klasse Ihr wohl am besten hineinpaßt – jene der Anfänger zum Beispiel, der Lernenden, der bereits Fortgeschrittenen und so weiter. Er wird Euch je nach dem Wissen einteilen, das Ihr bereits besitzt, und außerdem danach, wie er Eure Lernfähigkeit einschätzt.«
»Und die Frauen? Und Sklaven?«
»Die Töchter der Adligen haben alle das Recht, sämtliche Klassen bis zu den höchsten Graden durchzumachen, sofern sie die Fähigkeit und den Wunsch dazu haben. Sklaven ist es gestattet zu studieren, soweit es sich mit ihren jeweiligen Aufgaben vereinbaren läßt.«
»Du selbst sprichst für einen so jungen Tlacótli ein sehr gewähltes Nahuatl.«
»Vielen Dank, Herr. Ich bin so weit gekommen, gutes Nahuatl, Betragen und die Grundzüge der Haushaltsführung zu lernen. Wenn ich älter bin, bewerbe ich mich vielleicht um weitere Ausbildung, weil ich hoffe, eines Tages Schlüsselmeister in einem vornehmen Haus zu werden.«
Würdevoll, überschwenglich und großmütig zugleich sagte ich: »Falls ich jemals ein vornehmes Haus habe, so verspreche ich dir diese Stellung, Cozcatl.«
Ich meinte nicht »falls«, sondern »sobald«. Ich erging mich nicht mehr in müßigen Träumereien von künftiger Größe, sondern sah sie bereits greifbar nahe vor mir. Da stand ich in diesem herrlichen Park, meinen Diener zur Seite, stand stolz aufgereckt in meinen prachtvollen neuen Kleidern da und lächelte, als ich daran dachte, was für ein großer Mann ich einmal sein würde. Und jetzt sitze ich hier unter euch, ehrwürdige Patres, gebeugt und verhutzelt in meinen Lumpen und lächle, wenn ich darüber nachdenke, was für ein aufgeblasener junger Laffe ich damals war.
Der Lehrmeister für Geschichte, Neltitica, der so alt aussah, als ob er die ganze Menschheitsgeschichte erfahren hätte, verkündete seiner Klasse: »Heute haben wir einen neuen Piltontli-Studenten bei uns, einen Mexícatl namens Kopf Neiger.«
Daß er mich als einen »jungen adligen« Studenten einführte, schmeichelte mir so sehr, daß mir der Spitzname gar nichts ausmachte.
»Vielleicht, Kopf Neiger, hast du die Güte, uns einen kurzen Überblick über die Geschichte deines Volkes, der Mexíca, zu geben …«
»Jawohl, Meister«, sagte ich voller Zuversicht. Ich erhob mich, und aller Augen wandten sich mir zu. Ich räusperte mich und berichtete, was man mir im Xaltócaner Haus des Manierenlernens beigebracht hatte.
»Wisset also, daß mein Volk ursprünglich weit im Norden dieses Landes lebte, in Aztlan, Dem Ort Der Schneeweißen Reiher. Daher nannten sie sich damals Aztlantláca oder Aztéca – Reiher-Volk. Aber Aztlan war ein hartes Land, und ihre oberste Gottheit, Huitzilopóchtli, berichtete ihnen von einem lieblicheren Land im Süden. Er sagte, bis dorthin werde es eine lange und mühselige Reise sein, doch würden sie ihre neue Heimat daran erkennen, daß dort ein Goldener Adler auf einem Nopáli-Kaktus sitzen werde. Deshalb verließen alle Aztéca ihre schönen Häuser, Paläste, Pyramiden, Tempel und Gärten und brachen nach Süden auf.«
Irgendjemand in der Klasse kicherte.
»Die Wanderung dauerte Schock um Schock Jahre, und sie mußten durch die Länder vieler anderer Völker hindurchziehen. Manche von diesen waren ihnen feindlich gesonnen, kämpften gegen sie und versuchten, die Aztéca zurückzudrängen. Andere jedoch waren gastfreundlich und gestatteten, daß die Aztéca sich bei ihnen ausruhten, manchmal für eine kurze Weile, manchmal jedoch auch viele Jahre hindurch. Das vergalten die Aztéca ihnen damit, daß sie ihnen ihre edle Sprache brachten und sie in den Künsten und Wissenschaften unterwiesen, die nur sie, die Aztéca kannten.«
Jemand in der Klasse murmelte, und ein weiterer gluckste unterdrückt.
»Als die Aztéca schließlich in dieses Tal gelangten, wurden sie vom Volk der Tecpanéca am Westufer des Sees freundlich empfangen, und es wurde ihnen Chapultépec als Stätte zum Ausruhen zugewiesen. Auf diesem Grashüpfer-Berg lebten die Aztéca, während ihre Priester auf der Suche nach dem Adler auf dem Nopáli-Kaktus weiterhin das Tal durchstreiften. Nun heißt der Nopáli-Kaktus im Tecpanéca-Dialekt unserer Sprache Tenóchtli, so daß die Tecpanéca die Aztéca Tenóchca nannten und die Aztéca zuletzt selbst den Namen Kaktus-Menschen annahmen. Dann – wie Huitzilopóchtli es versprochen hatte – stießen die Priester tatsächlich auf das Zeichen – auf einen Adler, der auf einem Kaktus hockte – und selbiger Kaktus wuchs auf einer bislang unbewohnten Insel im See. Augenblicklich und voller Freude zogen alle Tenóchca-Aztéca von Chapultépec auf diese Insel.«
Jetzt lachte jemand in der Klasse ganz unverhohlen.
»Auf der Insel bauten sie zwei große Städte. Die eine nannten sie Tenochtitlan, Ort der Kaktus-Menschen, und die andere Tlaltelólco, den Felsigen Ort. Während sie diese Städte bauten, bemerkten die Tenóchca, daß sie jede Nacht von ihrer Insel aus sehen konnten, wie der Mond Metztli sich in den Wassern des Sees spiegelte. Deshalb nannten sie ihre neue Wohnstatt auch Metztli-Xictli, In der Mitte des Mondes, was sie milder Zeit zu Mexitli und noch später zu Mexíco verkürzten, während sie selbst sich schließlich zuletzt Mexíca nannten. Zu ihrem Wappenzeichen erkoren sie das Symbol des auf dem Kaktus hockenden Adlers, und dieser Adler hält in seinem Schnabel ein bandgleiches Symbol, das Krieg bedeutet.«
Inzwischen lachte eine ganze Reihe meiner neuen Klassenkameraden, was mich freilich nicht davon abhielt, unbeirrt fortzufahren.
»Dann begannen die Mexíca, ihren Herrschafts- und Einflußbereich weiter auszudehnen. Viele Völker haben ihr Gutes davon gehabt, entweder dadurch, daß sie sich voll und ganz den Mexíca anschlossen, sich mit ihnen verbündeten oder in Handelsbeziehungen zu ihnen traten. Sie lernten, unsere Götter oder Abwandlungen von ihnen zu verehren, und sie ließen zu, daß wir ihre Götter übernahmen. Sie lernten, nach unserem Rechensystem zu zählen und die Zeit nach unseren Kalendern zu bestimmen. Sie zahlen uns in Form von Waren oder Geld Tribut, weil sie unsere unbezwinglichen Heere fürchten. Sie sprechen aus Hochachtung vor unserer Überlegenheit unsere Sprache. Die Mexíca haben die mächtigste in dieser Welt bekannte Zivilisation aufgebaut, und genau in seiner Mitte steht Mexíco-Tenochtítlan – In Cem-Anáhuac Yoyótli, Das Herz Der Einen Welt.«
Ich küßte die Erde vor dem betagten Meister Neltitica und nahm wieder Platz. Meine Klassenkameraden schwenkten alle die Hände, um die Erlaubnis zum Sprechen zu bekommen, und vollführten dabei einen Lärm, der von Lachen bis zu höhnischem Gebuhe ging. Gebieterisch machte der Meister eine Handbewegung, und die Gruppe saß still und schweigend da.
»Vielen Dank, Kopf Neiger«, sagte er höflich. »Ich hatte mich schon gefragt, welche Version die Lehrer der Mexíca ihren Schülern heutzutage eintrichtern. Von Geschichte weißt du so gut wie nichts, und das wenige, was du weißt, stimmt fast in keiner Einzelheit.«
Ich stand nochmals auf, und mein Gesicht brannte mir, als hätte man mich geohrfeigt. »Meister, Ihr habt mich um einen knappen Überblick gebeten. Ich kann auch mehr in die Einzelheiten gehen.«
»Sei so gut und erspare uns das«, sagte er. »Und um dir das zu vergelten, will ich nur eine einzige Einzelheit zurechtrücken, die du uns bereits dargelegt hast. Die Wörter Mexíca und Mexíco leiten sich nicht von Metztli, dem Mond her.« Er gab mir durch eine Handbewegung zu verstehen, ich solle wieder Platz nehmen, und wandte sich dann der Klasse zu.
»Meine jungen Damen und Herren Studenten, ihr habt nunmehr vor Augen geführt bekommen, was ich euch schon oft zuvor gesagt habe. Bewahrt euch Mißtrauen den vielen verschiedenen Versionen von der Geschichte der Welt gegenüber, die ihr wahrscheinlich noch zu hören bekommen werdet, denn manche davon strotzen ebenso von Hirngespinsten wie von Eitelkeit. Ja, mehr noch: ich habe überhaupt noch nie irgendeinen echten Gelehrten kennengelernt, der es verstanden hätte, sein Werk auch nur mit einem Hauch von Humor, Spaß oder Frohsinn zu würzen. Ich habe nie einen erlebt, der nicht sein besonderes Fach als das gewichtigste und bedeutungsvollste aller Studienfächer angesehen hätte. Nun will ich gern zugeben, daß die Arbeit von Gelehrten wirklich wichtig ist – aber muß Wichtigkeit denn immer das lange Gesicht der Strenge und des tierischen Ernstes tragen? Historiker mögen ernsthafte Menschen sein und die Geschichte selbst bisweilen von einer Düsterkeit die traurig stimmt. Aber es sind die Menschen, welche die Geschichte machen, und diese Menschen spielen dabei so manchen Streich und Schabernack. Das wird durch die echte Geschichte der Mexíca nur bestätigt.«
Jetzt wandte er sich wieder direkt mir zu. »Kopf Neiger, deine Vorfahren, die Aztéca, haben nichts in dieses Tal gebracht: keine uralte Weisheit, keine Künste, keine Wissenschaft und keine Kultur. Sie haben nichts weiter gebracht als sich selber: ein feiges, unwissendes Nomadenvolk, eingehüllt in abgerissene Tierhäute, auf denen es von Würmern wimmelte, und ein Volk, das einen abscheulich-schaurigen Gott des Schlachtens und Blutvergießens verehrte. Dieser Abschaum wurde von jedem anderen, bereits entwickelten Volk in dieser Weltgegend verachtet und abgewiesen. Welches zivilisierte Volk würde auch das Eindringen von ungehobelten Habenichtsen freudig begrüßen? Die Aztéca ließen sich nicht auf dieser Insel inmitten der Ufersümpfe des Sees nieder, weil ihr Gott ihnen ein Zeichen geschickt hätte, und sie taten es auch keineswegs besonders freudig. Sie besiedelten sie, weil sie sonst nirgendwo hinkonnten und niemand sonst sich etwas aus diesem Buckel von Land machte, das von lauter Morästen umgeben war.«
Aus den Augenwinkeln heraus beobachteten meine Klassenkameraden mich. Ich bemühte mich, nicht unter Neltiticas Worten zusammenzuzucken.
»Sie errichteten auch nicht gleich große Städte oder sonst irgend etwas; sie mußten all ihre Zeit und Kraft darauf verwenden, erst einmal etwas zu essen zu finden. Es wurde ihnen nicht gestattet zu fischen, denn die Fischereirechte gehörten den Völkern, die um den See herum lebten. Daher fristeten deine Vorfahren eine lange Zeit hindurch nur ihr Leben – und zwar wirklich nicht mehr als das –, indem sie ekelerregende Dinge wie Würmer und Wasserinsekten sowie die schleimigen Eier dieser Geschöpfe aßen – und die einzige Pflanze, die in diesen Sümpfen gedieh: das Mexixin, die gemeine Kresse oder Pfeffergras, ein zottiges, bitter schmeckendes Kraut. Wenn deine Vorfahren sonst vielleicht auch nichts hatten – eines besaßen sie: einen beißenden Sinn für Humor. Denn mit trockener Ironie fingen sie an, sich Mexíca zu nennen.«
Allein der Name rief ein wissendes Gekicher unter meinen Klassenkameraden hervor. Neltitica fort:
»Zuletzt ersannen die Mexíca das Chinámitl-System, um richtig eßbares Gemüse und Mais anpflanzen zu können. Doch selbst dann bauten sie für ihren eigenen Gebrauch nur das Notwendigste an gewöhnlichen Hauptnahrungsmitteln wie Mais und Bohnen an. Ihre Chinámpas dienten hauptsächlich dazu, seltenere Gemüse und Krauter anzubauen – Tomaten, Salbei, Koriander, Süßkartoffeln –, Dinge, die ihre überheblichen Nachbarn nicht für sich anbauen wollten. Gegen diese Leckereien handelten die Mexíca sich andere lebensnotwendige Dinge ein wie Bauwerkzeuge und – materialien, Stoffe und Waffen, welche die Völker auf dem Festland ihnen sonst wohl kaum freiwillig gegeben hätten. Von da an machten sie rasche Fortschritte in Richtung auf Zivilisation, Kultur und militärische Macht. Aber nie haben sie das schlichte Kraut vergessen, mit dem sie sich zu Anfang am Leben erhalten hatten, das Mexixin, und sie haben auch späterhin nie den Namen aufgegeben, welchen sie von die-· sem Kraut übernommen haben. Heute ist der Name Mexíca in unserer ganzen Welt bekannt, geachtet und gefürchtet, aber er bedeutet nichts anderes als …«
Mit Bedacht hielt er inne und lächelte, während mein Gesicht sich wieder mit flammender Röte übergoß und die ganze Klasse einstimmig rief: »Die Kraut-Menschen.«
»Man hat mir berichtet, junger Herr, daß du den Versuch unternommen hast, dir selbst einiges Lesen und Schreiben beizubringen«, sagte der Meister der Wortkunde ein wenig verdrießlich, als hielte er solchen Selbstunterricht für etwas Unmögliches. »Und ich habe gehört, du hast einige Proben deiner Arbeit mitgebracht.«
Respektvoll reichte ich ihm den zusammengefalteten Borkenpapierstreifen, auf den ich sehr stolz war, hatte ich ihn doch sehr sorgfältig vollgezeichnet und die Zeichnungen mit den leuchtenden Farben ausgemalt, die Chimáli mir geschenkt hatte. Der Meister nahm das gefaltete und gebündelte Buch und begann langsam, die Seiten auseinanderzufalten.
Es handelte sich um den Bericht über ein berühmtes Ereignis in der Geschichte der Mexíca, als sie zuerst in dieses Tal gekommen und die Culhua das mächtigste Volk hier gewesen waren. Der Anführer der Culhua, Coxcox, hatte dem Volk der Xochimilco den Krieg erklärt und die neu angekommenen Mexíca aufgefordert, als seine Verbündeten mitzukämpfen. Als der Krieg vorüber war und die Culhua-Krieger ihre Xochimúca-Gefangenen heimbrachten, brachten die Mexíca überhaupt keine mit, woraufhin Coxcox sie schmähte und als Feiglinge bezeichnete. Daraufhin machten die Mexíca-Krieger die Säcke auf, die sie trugen, und schütteten einen ganzen Berg Ohren auf – alles linke Ohren –, welche sie der riesigen Menge von Xochimilca abgenommen, die sie überwältigt hatten. Coxcox war baß erstaunt und froh zugleich, und von Stund an galten die Mexíca als Kämpfer, mit denen man rechnen mußte.
Ich bildete mir ein, dieses Ereignis sehr gut dargestellt zu haben, insbesondere dadurch, daß ich fein säuberlich all die vielen linken Ohren gezeichnet und die Überraschung auf dem Gesicht des Coxcox wiedergegeben hatte. Infolgedessen glühte ich jetzt innerlich vor Selbstzufriedenheit und wartete darauf, daß der Meister mein Werk hoch loben würde.
Der jedoch runzelte die Stirn, als er die Seiten auseinandernahm und den Blick von einem Ende des auseinandergefalteten langen Streifens bis zum anderen wandern ließ, und sagte schließlich: »Von wo nach wo soll ich das lesen?«
Völlig verwirrt, sagte ich: »In Xaltócan, Meister, falten wir die Seiten von links nach rechts auseinander – damit jeder Abschnitt von links nach rechts gelesen werden kann.«
»Ja, ja«, fuhr er mich an. »Wir sind es schließlich alle gewöhnt, von links nach rechts zu lesen. Doch in deinem Buch findet sich kein Hinweis, daß wir das tun sollten.«
»Hinweis?« fragte ich.
»Einmal angenommen, du wirst aufgefordert, eine Inschrift zu verfassen, die in einer anderen Richtung gelesen werden soll – auf einem Tempelfries oder einer Säule zum Beispiel, wo die Architektur es erfordert, daß von rechts nach links gelesen wird, oder gar von oben nach unten.«
Diese Möglichkeit war mir noch nie in den Sinn gekommen, und das sagte ich ihm.
Woraufhin er ungeduldig meinte: »Wenn ein Schreiber zwei Menschen oder zwei Götter wiedergibt, die miteinander sprechen, müssen sie sich selbstverständlich die Gesichter zuwenden. Doch eine Grundregel gilt es stets zu beachten. Die Mehrheit der Zeichen muß in die Richtung weisen, in welcher das Geschriebene gelesen werden soll.«
Ich glaube, ich habe vernehmlich geschluckt.
»Diese einfachste Regel des Bilderschreibens hast du nie begriffen?« sagte er schneidend. »Und hast die Stirn, mir das hier zu zeigen?« Ohne es auch nur wieder zusammenzufalten, schob er es mir wieder hin. »Wenn du morgen zum erstenmal am Wortkunde-Unterricht teilnehmen wirst, geh zu der Gruppe dort drüben.«
Er wies über den Rasen hinweg auf eine Gruppe, die sich um einen der Pavillons herum versammelte. Ich machte ein langes Gesicht, und aller Stolz verflog. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, daß alle Schüler dort höchstens halb so groß waren wie ich.
Die Dame von Tolan hatte nicht übertrieben, als sie mir sagte, an dieser Schule würde ich hart arbeiten müssen, aber ich will euch, ehrwürdige Patres, weder mit Berichten über meine tägliche Arbeit und die weltlicheren Ereignisse meines jungen Lebens, noch mit der Aufzählung von den vielen Schock Arbeiten langweilen, die ich am Ende eines jeden Tages heimtrug in meine Wohnräume. Ich werde euch nur sagen, daß ich Rechnen und Kontenführung lernte, die Umrechnung der verschiedenen in Umlauf befindlichen Zahlungsmittel – alles Fertigkeiten, die mir in späteren Jahren sehr zupaß kommen sollten. Ich lernte ungefähr die Geographie dieses Landes kennen, wenngleich damals nicht viel bekannt war über jene Länder, die hinter denen unserer unmittelbaren Nachbarn lagen, wie ich später selbst herausfinden sollte, als ich diesen Fragen nachging. Am meisten Spaß machte mir der Unterricht in der Wortkunde, und davon hatte ich auch am meisten, das heißt, ich lernte zunehmend müheloser und fließender Lesen und Schreiben. Genausoviel, glaube ich allerdings, habe ich auch vom Geschichtsunterricht gehabt, selbst wenn dort die prahlerischen Lieblingsvorstellungen der Mexíca nicht gelten gelassen wurden. Meister Neltitica schenkte uns großzügig seine Zeit und gab einigen von uns sogar Privatstunden, damit wir besser mitkämen. Besonders erinnere ich mich noch an eine, da er sich zusammen mit mir und einem sehr jungen Knaben, namens Poyec hinsetzte, dem Sohn eines der vielen Texcócoer Edelleute.
»Es gibt eine beklagenswerte Lücke in der Geschichte der Mexíca«, sagte Neltitica, »breit wie der Spalt, den ein Erdbeben in die feste Erde reißen kann.«
Während er uns unterwies, stopfte er sich eine Poquietl, um zu rauchen. Bei der Poquietl handelt es sich um ein schlankes Rohr aus Schilf oder Jade, reich geschnitzt, mit einem Mundstück am einen Ende. Ins andere Ende wird ein trockenes Schilfblatt oder ein Stück Papier gesteckt, welches fest gestopft ist mit den fein zerkleinerten, getrockneten Blättern der Picietl-Pflanze, die bisweilen mit Kräutern und Gewürzen vermischt sind, um ein besonderes Aroma oder Duft zu erzielen. Der Raucher hält die Röhre zwischen den Fingern und setzt das äußerste Ende des Blattes oder Papiers in Brand, welchselbiges dann samt dem Inhalt zu Asche verschwelt während der Raucher das Mundstück ab und zu an die Lippen hebt um einen Mundvoll Rauch herauszusaugen, ihn in die Lungen zu ziehen und ihn wieder auszuatmen.
Nachdem er es sich mit einem Stück Glut aus einem Kohlebecken in Brand gesetzt hatte, sagte Neltitica: »Es war kaum ein Schock Jahre vergangen, seit der damalige Verehrte Sprecher der Mexíca, Itzcóatl – Obsidian Schlange –, den Dreibund zwischen Mexíca, Acólhua und Tecpanéca schmiedete – in dem die Mexíca selbstverständlich die beherrschende Rolle spielten. Nachdem er seinem Volk diese herausragende Stellung verschafft, gebot Obsidian Schlange, daß alle Bücher der vergangenen Tage verbrannt und neue Berichte verfaßt würden, um die Vergangenheit der Mexíca zu verherrlichen und den Mexíca den Anschein von altehrwürdiger Tradition zu verleihen.«
Ich blickte zu dem blauen Rauch auf, der sich von seiner Poquietl emporringelte und murmelte: »Bücher … verbrannt …« Es versetzte mir einen Stich, mir vorzustellen, daß es jemand über sich brachte, so etwas Kostbares, Unersetzliches und Ehrwürdiges zu verbrennen wie Bücher – selbst, wenn es sich dabei um einen Uey-Tlatoáni handelte.
»Obsidian Schlange tat es«, fuhr unser Meister fort, »und zwar in dem Bemühen, sein Volk glauben zu machen, es sei von jeher der wahre Hüter der Kunst und der Wissenschaft gewesen und es sei infolgedessen seine Pflicht, jedem tiefer stehenden Volk die Zivilisation aufzuzwingen. Doch nicht einmal die Mexíca können die Zeugnisse anderer und verfeinerterer Zivilisationen leugnen, die hier geblüht hatten, lange bevor sie hierhergekommen waren. Daher haben sie phantasievolle Legenden ersonnen, um diese Zeugnisse zu erklären.«
Poyec und ich dachten darüber nach, und dann fragte der Knabe: »Ihr meint Dinge wie Teotihuàcan? Den Ort, Wo Sich Die Götter Versammelten?«
»Das ist ein gutes Beispiel, Póyectzin. Diese Stadt ist heute eine verlassene und von Kraut überwachsene Ruine, war jedoch offensichtlich einstmals eine größere und menschenreichere Stadt, als Tenochtítlan es jemals werden kann.«
Ich sagte: »Uns wurde gelehrt, Meister, sie sei von den Göttern errichtet worden, als sie alle sich versammelten, um sich darüber klarzuwerden, ob die Erde samt Menschen, Tieren und allem Lebendigen darauf geschaffen werden solle …«
»Selbstverständlich hat man euch das beigebracht. Große Dinge, die nicht von den Mexíca geschaffen wurden, dürfen nicht auf irgendwelche anderen Sterblichen zurückgeführt werden.« Schnaubend ließ er seinen Nasenlöchern eine Rauchwolke entsteigen. »Doch wenn Obsidian Schlange auch die Vergangenheit der Mexíca auszulöschen vermochte – die Bibliotheken unseres Texcóco und anderer Städte konnte er nicht verbrennen. Wir besitzen immer noch Zeugnisse, aus denen hervorgeht, wie es hier in diesem Tal ausgesehen hat, ehe die Azteca-Mexíca hierherkamen. Obsidian Schlange konnte nicht die gesamte Geschichte Der Einen Welt verändern.«
»Und diese unveränderten Geschichtsbücher«, fragte ich, »wie weit reichen die zurück?«
»Bei weitem nicht weit genug zurück. Wir geben nicht vor, Zeugnisse zu haben, welche zurückgehen auf das Erste Götterpaar. Ihr kennt die Legenden. Diese beiden waren die ersten Bewohner der Erde, dann all die anderen Götter, und danach ein Volk von Riesen.« Nachdenklich zog Neltitica an seiner Poquiétl. »Die Legende über die Riesen könnte sogar auf Wahrheit beruhen, wißt ihr. Von einem Bauern ist ein alter verwitterter Knochen ausgegraben worden; er wird noch heute in Texcóco aufbewahrt. Ich habe ihn selbst gesehen, und die Wundärzte behaupten steif und fest, es handele sich um einen Oberschenkelknochen. Dabei ist er so lang, wie ich groß bin.«
Der kleine Poyec lachte voller Unbehagen und sagte: »Da hätte ich aber keine Lust, dem Mann zu begegnen, dessen Oberschenkelknochen das war.«
»Nun«, sagte unser Meister, »Götter und Riesen – darüber sollen die Priester sich den Kopf zerbrechen. Wofür ich mich interessiere, das ist die Geschichte der Menschen, insbesondere der ersten Menschen in diesem Tal, der Menschen, die Städte wie Teotihuácan und Tolan erbauten. Denn alles, was wir haben, ist von ihnen auf uns überkommen. Alles, was wir wissen, haben wir von ihnen gelernt.« Er saugte ein letztes Mal an seiner Poquietl und entfernte das heruntergebrannte Ende aus seinem Picietl-Rohr. »Vielleicht werden wir nie erfahren, warum oder wann sie verschwanden, wenngleich die angekohlten Balken ihrer zerfallenen Gebäude darauf hindeuten, daß sie von Räubern vertrieben wurden. Wahrscheinlich waren es die wilden Chichiméca, das Hunds-Volk. Wir vermögen nur noch wenig von den erhalten gebliebenen Wandgemälden, Schnitzereien und Bilderschriften zu entziffern, und aus keinem dieser Dinge geht hervor, wie auch nur der Name dieses verschwundenen Volkes gelautet hat. All diese Dinge sind jedoch so kunstvoll gearbeitet, daß wir ihre Schöpfer voller Hochachtung Toltéca nennen – Meisterhandwerker – und seit vielen Schock Jahren haben wir uns bemüht, dem, was sie geleistet haben, nachzueifern.«
»Aber«, meinte Poyec, »wenn die Toltéca seit so langer Zeit verschwunden sind, begreife ich nicht, wie wir von ihnen gelernt haben sollen.«
»Weil ein paar von ihnen überlebt haben werden, selbst wenn sie als Volk insgesamt verschwunden sind. Gewiß hat es einige Überlebende gegeben, die sich in den hochgelegenen Bergtälern und in der Tiefe der Wälder verborgen haben. Und diese Toltéca, die nicht untergehen wollten, haben in ihren Verstecken überlebt – ja, möglicherweise sogar einige ihrer Bücher des Wissens aufbewahrt –, in der Hoffnung, ihre Kultur durch ihre Kinder und Kindeskinder weiterzugeben, während diese sich mit Angehörigen anderer Stämme vermischten. Unglücklicherweise waren die einzigen anderen Völker in diesem Gebiet um jene Zeit völlig primitive Stämme: die beschränkten und schwerfälligen Otomi, die leichtfertigen Purempecha und selbstverständlich das ewig und überall vorhandene Hunds-Volk«
»Die Otomi haben es noch nicht einmal bis zur Kunst des Schreibens gebracht. Und die Chichiméca fressen bis auf den heutigen Tag ihren eigenen Kot.«
»Aber selbst unter Barbaren findet sich unter Umständen eine Handvoll besonderer Menschen«, sagte Neltitica. »Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß die Toltéca ihre Ehegesponse sehr sorgfältig aussuchten, und ihre Kinder und Kindeskinder desgleichen, so daß sich auf diese Weise wenigstens ein paar hervorragende Familien erhalten haben. Es muß so etwas wie eine heilige Familienverpflichtung gegeben haben, vom Vater auf den Sohn weiterzugeben, was er vom alten Wissen der Toltéca noch bewahrte. Bis zuletzt aus dem Norden neue Völker in dieses Tal eindrangen – gleichfalls primitive Stämme, gleichwohl jedoch imstande, diesen Schatz an Wissen richtig einzuschätzen und sich zunutze zu machen. Neue Völker, begabt mit dem Willen, die langgehütete Glut wieder zu entfachen.«
Der Meister schwieg eine Weile, um ein neues Röhrchen in seinen Halter zu stecken. Viele Männer behaupteten, sie rauchten die Poquiétl, weil ihre Dämpfe ihr Gehirn klar und gesund hielten. Ich selbst habe mir später, als ich älter war, diese Gewohnheit zu eigen gemacht, und gefunden, daß sie mir beim Nachdenken durchaus eine Hilfe war. Aber Neltitica rauchte mehr als jeder andere Mann, den ich je erlebt habe, und vielleicht sind seine ungewöhnliche Weisheit und sein langes Leben auf diese Angewohnheit zurückzuführen.
Er fuhr fort: »Die ersten, die aus dem Norden kamen, waren die Culhua. Danach kamen die Acólhua, deine und meine Vorfahren, Poyetzin. Hinterher all die anderen, die sich um den See herum niederließen: die Tecpanéca, die Xochimilca und so fort. Damals wie heute gaben sie sich unterschiedliche Namen, und nur die Götter wissen, woher sie ursprünglich stammen; dennoch sprachen all die umherschweifenden Volksstämme, die hierherzogen, irgendeinen Dialekt der Náhuatl-Sprache. Und hier, im Becken des Sees, lernten sie von den Abkommen der Toltéca kennen, was von den uralten Künsten und Fertigkeiten der Toltéca noch am Leben geblieben war.«
»All das kann sich aber nicht an einem Tag vollzogen haben«, sagte ich. »Ja, nicht einmal in einem Schock Jahre.«
»Nein, vielleicht nicht einmal in vielen Schock Jahre«, bestätigte Neltitica. »Doch wo das Lernen nur auf flüchtigen Hinweisen beruht und sich aufgrund von Versuchen und Irrtümern vollzieht und dadurch, daß man Dinge, die erhalten geblieben sind, nachahmt – nun, je mehr Menschen an diesem Lernprozeß beteiligt sind, desto schneller verbreitet sich das Wissen dann bei allen. Glücklicherweise vermochten all die Culhua, Acólhua und Tecpanéca sich in einer gemeinsamen Sprache zu verständigen und arbeiteten sie alle Hand in Hand. Die weniger hochstehenden Völker wurden von ihnen aus diesem Gebiet vertrieben. Die Purémpecha zogen nach Westen, die Otomi und die Chichiméca nach Norden. Nur die Nahuatl sprechenden Völker blieben hier und nahmen ungefähr in gleicher Weise an Wissen und Können zu. Erst nachdem diese Volksstämme sich ein gewisses Maß an Kultur angeeignet hatten, hörten sie auf, sich gegenseitig zu unterstützen und versuchten, die Oberhand über die anderen zu gewinnen. Und das war der Augenblick, da die noch von keiner Kultur veredelten Aztéca hier eintrafen.«
Unser Meister richtete seine Augen auf mich.
»Die Aztéca oder Mexíca ließen sich inmitten einer bereits recht entwickelten Gesellschaft nieder – einer Gesellschaft freilich, die nach und nach in miteinander rivalisierende Gruppen auseinanderbrach. Und den Mexíca gelang es, sich solange am Leben zu erhalten, bis Coxcox von den Culhua sich herabließ, einen seiner Edelleute, Acamapichtli, zu ihrem ersten Verehrten Sprecher zu ernennen. Acamapichtli führte sie in die Kunst der Wortkunde ein und machte sie dann mit all dem anderen Wissen bekannt, welches von den bereits länger hier ansässigen Völkern gemeinsam gerettet worden war. Die Mexíca erwiesen sich als sehr lernbegierig, und was sie mit ihrem neu erworbenen Wissen anfingen, wissen wir ja. Sie spielten die miteinander rivalisierenden Gruppen in diesem Lande gegeneinander aus, ließen ihre Unterstützung mal diesen, mal jenen zuteil werden, bis sie selbst zuletzt die militärische Überlegenheit über alle anderen erlangt hatten.«
Der kleine Poyec bedachte mich mit einem Blick, als wäre ich verantwortlich für die Aggressivität meiner Vorfahren, doch Neltitica fuhr mit der Leidenschaftslosigkeit des objektiven Gelehrten fort zu sprechen:
»Wir wissen, in welchem Maße die Mexíca seither aufgeblüht und reich geworden sind. Was Reichtum und Einfluß betrifft, haben sie jene anderen Völker, die einst die Nase über sie rümpften, weil sie sie für bedeutungslos hielten, weit hinter sich gelassen. Ihr Tenochtítlan ist zur reichsten und üppigsten Stadt geworden, die seit den Toltéca gebaut worden ist. Obwohl man in Der Einen Welt unzählige Sprachen spricht, haben die im ganzen Land umherziehenden Heere der Mexíca unser Nahuatl zur zweiten Sprache aller Völker zwischen den Wüsten im Norden und den Dschungeln im Süden gemacht.«
Er muß die Spur eines selbstgefälligen Lächelns auf meinem Gesicht gesehen haben, denn unser Meister schloß mit den Worten:
»Alles, was sie in dieser Beziehung erreicht haben, sollte, wie ich meine, genug sein, damit großzutun, doch hat ihnen das zur Selbstverherrlichung nicht genügt. Sie haben die Geschichtsbücher neu und umgeschrieben in dem Versuch, sich und andere davon zu überzeugen, daß sie von jeher das führende Volk in dieser Weltgegend gewesen sind. Mögen die Mexíca sich selbst und vielleicht auch Historikern vieler kommender Generationen etwas vormachen – ich glaube, ich habe hinreichend dargelegt, daß die Mexíca, die sich so vieles angemaßt haben, nicht die wiederauferstandenen großen Toltéca sind.«
Die Dame von Tolan lud mich auf eine Schale Schokolade in ihre Gemächer, und ich – eine brennende Frage im Herzen – beeilte mich, dieser Einladung nachzukommen. Als ich eintrat, weilte ihr Sohn, der Kronprinz, bei ihr, und solange sie über mindere Angelegenheiten der Palastverwaltung redeten, schwieg ich. Als sich in ihrem Gespräch jedoch eine Pause einschlich, faßte ich mir ein Herz und fragte:
»Ihr stammt aus Tolan und seid dort geboren, Gebieterin, und Tolan war einst eine Stadt der Toltéca. Seid Ihr eine Toltécatl?«
Mutter und Sohn zeigten Verwunderung, doch dann lächelte sie. »Jeder aus Tolan – jeder Mensch überall in Der Einen Welt – wäre stolz darauf, auch nur einen Tropfen Toltéca-Blut in den Adern zu haben. Doch ayya – ehrlich gesagt kann ich das nicht behaupten. Solange Menschen zurückdenken können, hat Tolan zum Gebiet der Tecpanéca gehört, folglich habe ich Tecpanéca-Blut in den Adern – obwohl ich insgeheim den Verdacht habe, daß auch der eine oder andere Otomitl zu meinen Vorfahren gehört – aus der Zeit, ehe dieses Volk vertrieben wurde.«
Voller Enttäuschung sagte ich: »Dann läßt sich in Tolan keine einzige Spur von den Toltéca nachweisen?«
»Wie soll man das bei Menschen mit Sicherheit sagen? Was die Stadt selbst betrifft ja: Da sind die Pyramiden, die Terrassen und die weiten, mauerumschlossenen Höfe. Die Pyramiden sind verwittert die Terrassen brüchig geworden und voller Risse, die Mauern an manchen Stellen eingefallen. Aber die wunderschönen Muster, nach denen die Steine ineinandergefügt wurden, sind immer noch zu erkennen, und hier und da auch noch Flachreliefs, ja gelegentlich sogar noch Reste von Malereien. Die eindrucksvollsten und am wenigsten vom Zahn der Zeit angenagten Dinge sind jedoch die vielen Standbilder.«
»Götterbilder?« fragte ich.
»Das glaube ich nicht denn alle weisen sie ein und dasselbe Gesicht auf. Sie sind alle von der gleichen Form und Größe, schlichte, wirklichkeitsgetreue Nachbildungen – nicht so verschnörkelt wie heute. Es handelt sich um zylindrische Säulen, als ob sie einst ein schweres Dach zu tragen gehabt hätten. Nur sind es eben Säulen in Menschengestalt, falls du dir Menschen vorstellen kannst, die dreimal so groß sind wie diejenigen, die wir heute kennen.«
»Vielleicht sind es Abbilder der Riesen, die nach den Göttern die Erde bevölkert haben«, meinte ich und mußte dabei an den ungeheuerlichen Oberschenkelknochen denken, von dem Neltitica erzählt hatte.
»Nein, ich glaube, es sind Darstellungen der Toltéca selbst, nur eben überlebensgroß wiedergegeben. Ihre Gesichter blicken weder streng noch grausam, noch hochmütig, wie man es von Göttern oder Riesen erwarten würde. Ihr Ausdruck zeugt von heiterer Wachsamkeit. Viele von diesen Säulen sind in den Staub gefallen und liegen zerbrochen auf dem Boden herum, andere hingegen stehen immer noch auf den Höhen und schauen über das Land hin, als ob sie ruhig und geduldig auf etwas warteten.«
»Auf was warten, meint Ihr, Gebieterin?«
»Vielleicht darauf, daß die Toltéca wiederkommen.« Es war Schwarze Blume, der antwortete und seiner Antwort dann ein schrilles Lachen folgen ließ. »Darauf, daß sie von dort wieder auftauchen, wo sie all die vielen Schock Jahre ihre Zeit abgewartet haben. Um machtvoll und wie ein Wirbelwind wiederzukommen, uns Eindringlinge zu unterwerfen und wieder Anspruch zu erheben auf dieses Land, das einst ihnen gehört hat.«
»Nein, mein Sohn«, sagte die Erste Dame. »Sie waren nie ein kriegerisches Volk und wollten es auch nicht sein; gerade das war ihr Verderben. Könnten sie wirklich einmal wiederkommen, sie kämen in Frieden.«
Sie nippte an ihrer Schokolade und verzog das Gesicht; das Getränk war schal geworden. Von einem Tisch zu ihrer Seite nahm sie einen aus einem einzigen Stück aromatischer Zeder gearbeiteten Schaumschläger, der aus kleineren und größeren hölzernen Ringen bestand, die locker und leicht klappernd um einen Mittelstab herum aufgezogen waren. Diesen Schaumschläger tunkte sie in ihre Schale, hielt den Mittelstab zwischen den Handflächen und zwirbelte ihn rasch, so daß die Ringe unregelmäßig kreisten und das rote Getränk wieder schaumig und fest wurde. Nachdem sie nochmals einen kleinen Schluck genommen hatte, leckte sie sich den Schaum von der Oberlippe und sagte zu mir:
»Besuch doch irgendwann einmal die Stadt Teotihuácan, Kopf Neiger,
und sieh dir an, was dort von den Wandmalereien erhalten geblieben ist. Nur auf einem einzigen ist ein Toltéca-Krieger zu sehen, und auch der spielt nur Krieg. Sein Speer weist keine scharre Spitze auf, sondern einen Federbausch, und seine Pfeile sind an der Spitze mit Óli-Kugeln bewehrt, ähnlich denen, die wir heute benutzen, um Knaben das Bogenschießen beizubringen.«
»Jawohl, Gebieterin. Ich habe bei den Kriegsspielen selbst solche Pfeile benutzt.«
»Den anderen Wandbildern kannst du entnehmen, daß die Toltéca ihren Göttern nie Menschen zum Opfer gebracht haben, sondern Schmetterlinge, Blumen, Wachteln und ähnliche Gaben. Die Meisterhandwerker waren ein friedliches Volk, weil ihre Götter friedfertigen und sanften Wesens waren. Einer von ihnen war Quetzalcoatl, jener, der auch heute noch nah und fern von allen Völkern verehrt wird. Die Vorstellung, welche die Toltéca von der Gefiederten Schlange hatten, verrät uns viel über diese Menschen. Nur ein weises und freundliches Volk hat uns einen Gott vererben können, der Erhabenheit und liebevolle Fürsorge in sich vereinigte, findest du nicht? Das furchterregendste und gleichzeitig anmutigste aller Geschöpfe, die Schlange, nicht in ihre harten Panzerringe gehüllt, sondern in das wunderschöne weiche Federkleid des Quetzal Tototl-Vogels.«
Ich sagte: »Wir haben als Knaben gelernt, die Gefiederte Schlange habe einst wirklich hier in diesem Land gelebt und werde eines Tages wiederkommen.«
»Jawohl, Kopf Neiger, nach dem, was wir dem entnehmen können, was von den Schriften der Toltéca erhaltengeblieben ist, hat Quetzalcoatl in der Tat hier einst gelebt. Er war einer der ganz frühen Uey-Tlatoáni oder wie immer die Toltéca ihre Herrscher genannt haben, und zwar muß er ein sehr guter gewesen sein. Es heißt, er selber soll die Schrift, die Kalender, die Sternenkarten und die Zahlen erfunden haben, die wir heute benutzen. Es heißt sogar, er habe uns das Rezept für Ahuacamóli und all die anderen Moli-Saucen hinterlassen, obwohl ich mir diesen Quetzalcoatl einfach nicht vorstellen kann, wie er in einer Küche den Koch spielt.«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf, dann wurde sie wieder ernst. »Wie es heißt, sollen die Bauern während seiner Regierungszeit nicht nur weiße Baumwolle auf ihren Feldern geerntet haben, sondern solche in allen möglichen Farben, als ob die Baumwolle bereits eingefärbt wäre. Ein einziger Maiskolben soll so schwer gewesen sein, daß ein Mann ihn gerade eben tragen konnte. Auch soll es in dieser Zeit keine Wüstengebiete gegeben haben, sondern überall Blumen und Früchte in Hülle und Fülle gewachsen sein und die Luft schwer von all den Düften, die sie verströmten …«
Ich fragte: »Ist es denn möglich, daß er einmal wiederkommt, Gebieterin?«
»Nun, den Legenden zufolge soll Quetzalcoatl unwillentlich eine so furchtbare Sünde begangen – oder etwas getan haben, was seinen eigenen Verhaltensregeln zuwiderlief-, daß er freiwillig auf seinen Thron verzichtet habe. Er begab sich ans Gestade des östlichen Meeres und baute sich dort ein Floß – aus Federgewirk, behaupten einige, und andere aus ineinander verschlungenen Schlangen. In seinen letzten Worten an die gramgebeugten Toltéca versprach er, eines Tages wiederzukommen. Danach ruderte er davon und verschwand hinter dem östlichen Horizont des Meeres. Seither ist die Gefiederte Schlange zu einem Gott geworden, der von allen uns bekannten Völkern verehrt wird. Und alle Tolteca sind seither gleichfalls verschwunden, und wir warten immer noch auf die Wiederkunft Quetzalcoatls.«
»Vielleicht ist er schon längst wieder da, warum nicht?« sagte ich. »Die Priester sagen, die Götter weilten oft unerkannt unter uns.«
»Genauso wie mein Herr Vater«, sagte Schwarze Blume lachend. »Nur glaube ich, daß man die Gefiederte Schlange nicht so leicht für jemand anders halten könnte. Die Wiederkunft einer so ausgeprägten Gottheit würde gewiß ungeheures Aufsehen erregen. Sei gewiß, Kopf Neiger – falls Quetzakoatl jemals wiederkommt, mit oder ohne sein Tolteca-Gefolge, wir werden ihn erkennen.«
Ich hatte Xaltócan gegen Ende der Regenzeit des Jahres Fünf Messer verlassen, doch abgesehen davon, daß ich mich häufig nach Tzitzitlínis Gegenwart sehnte, war ich so sehr in meine Studien vertieft und genoß ich das Leben im Palast dermaßen, daß ich kaum merkte, wie rasch die Zeit verging. Deshalb war ich baß erstaunt, als Prinz Weide mir sagte, übermorgen sei der erste der kommenden Nemontémtin, der fünf leblosen Tage. Ich mußte an den Fingern nachzählen, ehe ich glauben konnte, daß ich seit fast einem Jahr von daheim fort war und dieses Jahr sich jetzt seinem Ende näherte.
»Während der fünf hohlen Tage kommt alle Tätigkeit zum Erliegen«, sagte der junge Prinz. »Deshalb werden wir in diesem Jahr die Gelegenheit wahrnehmen zu packen und mit dem gesamten Hof in unseren Palast in Texcóco umzuziehen, um den Mond des Cuähuitl Ehua dort feiern zu können.«
Das war der erste Mond unseres Sonnenjahres. Sein Name bedeutet: Der Baum Ist Aufgerichtet, was sich auf die vielen Feierlichkeiten bezieht, in deren Verlauf die Menschen aller Stämme den Regengott Tlaloc anzuflehen pflegten, die Regenzeit im kommenden Sommer möge reichliche Regengüsse bringen.
»Und du wirst bei der Gelegenheit deine Familie wiedersehen wollen«, fuhr Weide fort. »Deshalb bitte ich dich, mach mir die Freude und sei einverstanden, wenn ich dir mein persönliches Acáli zur Verfügung stelle, dich dorthin zu bringen. Am Ende des Cuáhuitl Ehua werde ich es wieder hinschicken, dann kannst du dich dem Hof von Texcóco wieder anschließen.«
Das kam alles sehr plötzlich, doch ich nahm an und dankte ihm, so fürsorglich an mich gedacht zu haben.
»Nur eines«, sagte er. »Kannst du dich morgen früh schon zeitig bereithalten? Denn, verstehst du, Kopf Neiger, meine Ruderer wollen selbstverständlich vor Beginn der leblosen Tage sicher wieder am heimatlichen Gestade gelandet sein.«
Ah, der Herr Bischof! Wieder freue ich mich und fühle ich mich geehrt daß Euer Exzellenz sich unserem kleinen Kreis wieder beigesellen. Und abermals nimmt Euer unwürdiger Diener allen Mut zusammen, Euer Exzellenz ehrerbietig zu begrüßen und willkommen zu heißen.
… Jawohl, ich verstehe, Euer Exzellenz. Ihr sagt, ich hätte bisher noch nicht ausführlich genug davon berichtet, wie mein Volk seine Religion ausgeübt hat; und daß Ihr insbesondere mit eigenen Ohren zu hören wünscht, wieso und warum wir von einer so abergläubischen Furcht vor den hohlen Tagen erfüllt waren; daß Ihr aus erster Hand einen Bericht über die einen ganzen Mond hindurch andauernden heidnischen Bittrituale an den Regengott zu hören begehrt. Ich verstehe, Euer Exzellenz, und ich werde Euren verehrten Ohren nichts vorenthalten. Sollten meine alten Gedanken in der Erinnerung abschweifen oder meine Zunge allzu leichtfertig über Einzelheiten von Bedeutung hinweggehen, bitte, zögert nicht, mich zu unterbrechen und mich um eingehendere Erklärungen zu bitten.
Wißt also, daß Prinz Weides schöngeschnitztes, mit Banner und Sonnensegel ausgestattetes Acáli mich am sechstletzten Tag des Jahres Sechs Haus wieder am Landesteg von Xaltocan an Land steigen ließ. Mein prachtvolles geliehenes Boot mit den sechs Ruderern ließ das sonnensegellose, zweiruderige Kanu des Herrn Rot Reiher, welches zufällig an eben diesem selben Tag seinen Sohn für den Zeremonial-Mond Cuáhuitl Ehua von der Schule abgeholt hatte, recht schäbig daneben erscheinen. Ich war sogar auffallend besser gekleidet als dieser junge Provinzprinz, und Pactli bedachte mich unwillkürlich mit einem gewinnenden Kopfnicken, ehe er mich erkannte und sein Gesicht zu einer eisigen Maske erstarrte.
In meinem Elternhaus wurde ich willkommen geheißen wie ein Held, der aus einem Krieg heimkehrt. Mein Vater legte mir die Hände auf die Schultern, welche nunmehr nahezu genauso hoch und breit waren wie die seinen. Tzitzitlíni schlang beide Arme um mich und drückte mich in einer herzlichen Geste an sich, die jedem Zuschauer als nichts weiter denn schwesterlich erscheinen mußte, der nicht sah, daß sie mir sanft und doch vielsagend ihre Fingernägel in den Rücken grub. Mit Absicht hatte ich meinen allerschönsten reichbestickten Umhang mit der Blutsteinspange umgelegt und die vergoldeten Sandalen angezogen, deren Verschnürung fast bis zum Knie hinaufreichte.
Freunde, Verwandte und Nachbarn drängten herein, um den heimgekehrten weitgereisten Sohn zu bestaunen. Unter ihnen befanden sich, wie ich voller Freude feststellte, auch Chimali und Tlatli, die beide gebeten hatten, auf einem Fracht-Acáltin, der Kalkstein nach Tenochtítlan gebracht hatte, mitgenommen zu werden, und der jetzt die leblosen Tage dümpelnd an seiner Vertäuung verbrachte. In den drei Zimmern meines Elternhauses, die mir merkwürdig klein geworden vorkamen, und im Garten drängten sich die Besucher. Ich schob das nicht darauf, daß ich persönlich so beliebt gewesen wäre, sondern auf die Tatsache, daß um Mitternacht die hohlen Tage begannen, während derer keinerlei geselliges Beisammensein möglich war.
Nur wenige der hier Versammelten mit Ausnahme meines Vaters und einiger anderer Steinhauer waren jemals von unserer Insel fortgewesen, und so war es nur allzu natürlich, daß sie begierig waren zu hören, wie es in der Welt draußen aussah. Aber sie stellten nur wenige Fragen; sie schienen es zufrieden, mir und Chimàli und Tlatli zuzuhören, die wir Erfahrungen über unsere verschiedenen Schulen austauschten.
»Schulen!« schnaubte Tlatli verächtlich. »Für die Arbeit in der Schule bleibt uns nur sehr wenig Zeit. Jeden Morgen bei Tagesanbruch wecken uns die dreckigen Priester, und dann müssen wir unsere Wohnräume und alle anderen Räumlichkeiten des ganzen Gebäudes ausfegen. Dann geht es hinaus an den See, um die Chinámpa der Schule zu bearbeiten und Mais und Bohnen für die Schulküche zu brechen und zu pflücken. Oder wir müssen aufs Festland hinüber, um Holz für die heiligen Feuer zu schlagen und Beutel mit Dornen des Maguey-Strauchs zu holen.«
Ich sagte: »Das mit dem Gemüse und dem Feuerholz kann ich verstehen, aber wozu die Dornen?«
»Zur Kasteiung und Bestrafung, Freund Maulwurf«, knurrte Chimàli. »Verstößt du auch nur im geringsten gegen die Vorschriften, wirst du von einem Priester gezwungen, dich selbst wiederholt mit einem Dorn zu stechen. In die Ohrläppchen, die Daumen und Arme, ja selbst in dein Tepuli. Ich bin am ganzen Körper von Stichen übersät.«
»Aber selbst diejenigen, die sich tadellos benehmen, haben zu leiden«, fügte Tlatli hinzu. »Einen um den anderen Tag ist bestimmt der Festtag des einen oder anderen Gottes, darunter viele, von denen ich noch nie gehört habe, und dann muß jeder Junge Blut als Opfergabe spenden.«
Einer der Zuhörer fragte: »Und wann habt ihr Zeit zum Studieren?«
Chimàli schnitt ein Gesicht. »Das bißchen Zeit, das uns bleibt, hilft uns nicht sonderlich. Die Priester sind keine gelehrten Männer. Sie wissen nichts weiter als das, was in den Schulbüchern steht, und diese Bücher sind alt und schmutzig, und die Borkenfasern, aus denen sie bestehen, zerbröseln.«
Tlatli sagte: »Chimàli und ich haben allerdings Glück. Wir sind ja nicht hingegangen, um aus Büchern zu lernen, und deshalb ficht es uns nicht sonderlich an, daß wir dazu kaum Zeit haben. Dafür verbringen wir den größten Teil unserer Tage in den Werkstätten der großen Kunstmeister, die ihre Zeit nicht mit Geschwätz über Religiöses vertrödeln. Sie nehmen uns ganz schön ran, und deshalb lernen wir wirklich, wozu wir eigentlich hingegangen sind.«
»Ein paar andere Jungen tun das auch«, sagte Chimàli. »Man hat sie gleichfalls in die Lehre gegeben – bei Wundärzten, Federarbeitern, Musikern und so weiter. Leid tun mir diejenigen, die hingekommen sind, um Dinge zu lernen, die auf reinem Schulwissen beruhen wie die Kunst der Bilderschrift. Wenn sie nicht gerade an Ritualen und Bußübungen teilnehmen und niedere Arbeiten verrichten, werden sie von Priestern unterrichtet, die genauso unwissend sind wie die Schüler selber. Du kannst von Glück sagen, Maulwurf, daß du nicht eine Calmécac besuchst. Dort gibt es wenig zu lernen, es sei denn, du hättest den Wunsch, selber Priester zu werden.«
»Und kein Mensch«, erklärte Tlatli und erschauderte, »würde Priester irgendeines Gottes werden wollen, es sei denn, er hätte den Wunsch, niemals mit einer Frau zu verkehren, niemals Octli zu trinken oder auch nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Bad zu nehmen. Und es sei denn, er genösse es, sich selbst Schmerzen zuzufügen und zuzusehen, wie andere Menschen Schmerzen erleiden.«
Einst war ich neidisch auf Tlatli und Chimáli gewesen, als sie ihre besten Umhänge umnahmen und auf ihre verschiedenen Schulen zogen. Jetzt saßen sie da, trugen immer noch dieselben Umhänge, und jetzt war ich es, den sie beneideten. Ich brauchte kein einziges Wort über das luxuriöse Leben zu verlieren, das ich am Hofe Nezahualpílis führte. Sie waren schon beeindruckt genug, als ich erzählte, daß unsere Lehrbücher auf geräucherter Kitzhaut gemalt waren, damit sie länger hielten; und als ich vom Fehlen religiöser Unterbrechungen berichtete, von den wenigen Regeln und der geringen Strenge, der Bereitwilligkeit unserer Lehrmeister, uns zusätzlich einzeln zu unterrichten.
»Man stelle sich das einmal vor!« murmelte Tlatli. »Lehrer, die wirklich etwas von dem verstehen, was sie unterrichten.«
»Und Lehrbücher aus Kitzhaut!« murmelte Chimáli.
Bewegung entstand unter denen, die der Tür zunächst standen, und plötzlich trat Pactli ein, als ob er bewußt den Zeitpunkt gewählt hätte, uns das überlegene Produkt der vornehmsten und angesehensten Calmécac vorzuführen. Viele fielen auf die Knie, um vor dem Sohn ihres Tecútli die Erde zu küssen, doch war nicht Raum genug, daß alle das hätten tun können.
»Mixpantzinco«, grüßte mein Vater ihn unsicher.
Pactli behandelte ihn, als wäre er Luft; ohne auch nur den herkömmlichen Gruß zu erwidern, sprach Pactli unmittelbar mich an: »Ich bin gekommen, weil ich deine Hilfe brauche, Maulwurf.« Damit reichte er mir einen Streifen gefalteten Borkenpapiers und sagte so verschwörerhaft-einträchtig, wie es ihm nur irgend möglich war: »Soviel ich weiß, konzentrierst du dich ja auf die Kunst der Wortkunde; daher bitte ich dich, mir zu sagen, was du von einer meiner Bemühungen hältst, ehe ich sie meinem Meister zur Begutachtung vorlege.« Doch noch während er mit mir sprach, wanderten seine Augen zu meiner Schwester hinüber. Es muß den Herrn Freude unendlich viel an Überwindung gekostet haben, mich als Vorwand zu benutzen, uns zu besuchen, ehe die Mitternachtsstunde einen solchen Besuch unmöglich machte.
Wiewohl es ihn nicht im geringsten kratzte zu erfahren, was ich von seinen Schreibkünsten hielt – denn jetzt schaute er meine Schwester mit unverhohlener Lüsternheit an –, blätterte ich die zusammengefalteten Blätter durch und sagte gelangweilt: »Von wo nach wo soll ich das lesen?«
Etliche Anwesenden machten ein erschrockenes Gesicht, als sie meinen Ton hörten, und Pactli grunzte, als ob ich ihm eine Maulschelle versetzt hätte. Zornfunkelnd sah er mich an und stieß mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Von links nach rechts, Maulwurf, wie du ganz genau weißt.«
»Für gewöhnlich von links nach rechts, jawohl, aber nicht immer«, sagte ich. »Die erste und grundlegendste Regel beim Schreiben, die du offensichtlich noch nicht begriffen hast, besteht darin, daß die Mehrheit der von dir wiedergegebenen Wortbilder alle in die Richtung weisen müssen, in der gelesen werden soll.«
Ich muß mir durch meine verfeinerte Kleidung ganz ungewöhnlich erhaben vorgekommen sein. Hinzu kam die Tatsache, daß ich gerade von einem Hofe heimgekehrt war, der unendlich viel kultivierter war als der Pactlis, und daß ich in einem Haus voller Freunde und Verwandten den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildete – sonst hätte ich es vermutlich niemals gewagt sämtliche Gebote der Untertänigkeit in den Wind zu schlagen. Ohne mir die Mühe zu machen, das Geschriebene weiter durchzusehen, faltete ich es zusammen und reichte es ihm zurück.
Ist Euch je aufgefallen, daß die gleiche zornige Regung verschiedene Menschen unterschiedlich anlaufen lassen kann, Euer Exzellenz? Pactlis Gesicht war nahezu violett übergossen, das meiner Mutter ganz weiß wie Maismehl. Tzitzi fuhr sich in der Geste der Überraschung leicht mit der Hand über den Mund, doch dann lachte sie; und Tlatli und Chimàli stimmten kurz in dieses Lachen ein. Pactli ließ seinen unheilvollen Blick von mir zu ihnen und sodann über alle Anwesenden wandern, von denen die meisten wünschten, sie könnten in womöglich noch einer anderen Farbe anlaufen – in der unsichtbaren Farbe der Luft. Wütend zerknüllte der Herr Freude das Papier in seiner Faust und stapfte hinaus, wobei er jene anrempelte, die nicht schnell genug beiseitetreten konnten.
Nahezu alle anderen gingen augenblicklich auseinander, gleichsam als könnten sie sich dadurch von meiner Aufsässigkeit distanzieren. Sie taten das unter dem Vorwand, ihre Häuser seien mehr oder weniger weit vom unsrigen entfernt, und sie wollten heim, ehe der Abend sich herniedersenkte, um sicherzugehen, daß auch nicht ein einziges Stück Glut in ihrer Feuerstelle weiterglimmte. Während dieser Massenauszug sich vollzog, grinsten Chimàli und Tlatli mich verschwörerisch an, drückte Tzitzi mir die Hand, setzte mein Vater ein höchst bekümmertes Gesicht auf und sah meine Mutter aus, als wäre sie zu einer Bildsäule erstarrt. Einige von den Gästen besaßen immerhin den Mumm, keinerlei Befürchtungen angesichts meiner Aufsässigkeit zu bekunden, die ich – noch dazu am Vorabend der leblosen Tage – gezeigt hatte.
Denn versteht, in diesen kommenden fünf Tagen galt alles, was man unternahm, als unbesonnen – als von vornherein zum Scheitern verurteilt und möglicherweise sogar als gefahrbringend. Die Tage waren nicht eigentlich richtige Tage, sondern nur die unumgängliche Lücke zwischen dem letzten Mond des Jahres, Xiutecútli, und dem ersten Mond des nächsten Jahres, Cuàhuitl Ehua; als Tage waren sie nicht vorhanden. Aus diesem Grunde sorgten wir dafür, daß unser eigenes Dasein sich so wenig wie möglich bemerkbar machte. Es war die Zeit des Jahres, welche die Götter mit Nichtstun und im Dämmerzustand verbrachten. Selbst die Sonne war blaß, gab keine rechte Wärme ab und stand niedrig am Himmel. Kein vernünftiger Mensch würde etwas tun, was geeignet wäre, die Götter in ihrer Müdigkeit zu stören und sich ihren Zorn zuzuziehen.
So ruhte während dieser fünf hohlen Tage alles Tun. Alle Tätigkeit hörte auf, ausgenommen die allerlebensnotwendigste und unvermeidbare. Alle Herdfeuer und Lichter wurden gelöscht. Es wurde nicht gekocht, es gab nur karges kaltes Essen. Niemand war unterwegs, besuchte andere oder traf sich mit ihnen. Männer und Frauen enthielten sich des Beischlafs. (Desgleichen taten sie während der entsprechenden Zeit vor dem Nemontemtin oder trafen sonst Vorsorge; denn ein Kind, das während der leblosen Tage zur Welt kam, würde diese nur selten überleben.) Überall in unserem Land blieben die Menschen damals zuhause und beschäftigten sich mit belanglosen Dingen, um sich die Zeit zu vertreiben, schliffen ihre Werkzeuge, flickten ihre Netze oder saßen einfach nur herum und bliesen Trübsal.
Da die hohlen Tage selbst als von böser Vorbedeutung galten, war es wohl nur natürlich, daß diejenigen, die an diesem Abend in unserem Haus geblieben waren, sich über Omen und Vorbedeutungen unterhielten. Chimáli, Tlatli und ich saßen ein wenig abseits von den anderen und fuhren fort, unsere Ausbildungsstätten miteinander zu vergleichen, doch schnappte ich dabei das eine oder andere von dem auf, was die Älteren redeten.
»Vor einem Jahr ist Xopan über ihr Töchterchen hinweggestiegen, das auf dem Küchenboden herumkrabbelte. Ich hätte Xopan gleich sagen können, was sie damit dem Tonáli ihrer kleinen Tochter antat. Das Mädchen ist das ganze Jahr hindurch, seit ihre Mutter über sie hinweggestiegen ist, keinen Fingerbreit gewachsen. Sie wird eine Zwergin bleiben, wartet's nur ab.«
»Früher habe ich mich darüber lustig gemacht, aber jetzt weiß ich, daß wahr ist, was man sich über Träume erzählt. Eines Nachts träumte mir, ein Wasserkrug sei zerbrochen, und am nächsten Tag ist dann mein Bruder Xicama gestorben. Er kam im Steinbruch ums Leben, wißt ihr noch?«
»Manchmal machen sich die unheilvollen Folgen erst viel, viel später bemerkbar, so daß man vergessen könnte, welche Gedankenlosigkeit sie hervorgerufen haben. Wie damals, vor Jahren, als ich Teoxihuitl warnte, sie solle vorsichtig mit ihrem Kehrbesen umgehen, und dann doch sah, daß sie ihrem Sohn, der auf dem Boden spielte, damit über den Fuß fegte. Und tatsächlich – als der Junge heranwuchs, heiratete er eine Witwe, fast so alt wie seine Mutter Teoxihuitl, und machte sich im ganzen Dorf lächerlich damit.«
»Ein Schmetterling gaukelte mir um den Kopf herum. Erst einen Monat später erfuhr ich, was das zu bedeuten hatte. Meine einzige Schwester Cueponi war am selben Tag in ihrem Haus in Tlàcopan gestorben. Dabei hätte ich das selbstverständlich schon am Kreisen des Schmetterlings merken müssen, denn sie war meine nächste und liebste Blutsverwandte.«
Ich konnte nicht umhin, über zwei Dinge nachzudenken. Zum einen darüber, daß alle Xaltócaner in der Tat ein sehr wenig feines Nahuatl sprachen, verglichen mit der gepflegten Sprache in Texcóco, an die ich mich in der letzten Zeit gewöhnt hatte. Zum anderen aber darüber, daß von den Omen, von denen unter den Älteren die Rede war, nicht ein einziges jemals etwas anderes verhieß als Unglück, Entbehrungen, Elend oder Leid. Dann wurde ich abgelenkt durch etwas, was Tlatli erzählte und was er von seinem Meisterbildhauer erfahren hatte.
»Menschen sind die einzigen Geschöpfe, die Nasen haben. Nein, lach nicht, Maulwurf. Von allen Lebewesen, die wir schnitzen, besitzen nur Mann und Frau eine Nase, die nicht Teil eines Rüssels oder Schnabels ist, sondern für sich allein aus dem Gesicht herausragt. Und da wir unsere Standbilder mit so vielen schmückenden Einzelheiten ausstatten, hat mein Meister mich gelehrt, eine Menschengestalt immer mit einer etwas übertriebenen Nase darzustellen. Deshalb kann jeder, selbst wenn er sonst gar nichts von Kunst versteht, auch noch bei der verwirrendsten Statue auf den ersten Blick erkennen, daß es sich um einen Menschen handelt und nicht um einen Jaguar oder eine Schlange oder, wenn du willst, um die froschgesichtige Wassergöttin Chalchihuítlicué.«
Ich nickte und nahm mir vor, mir das zu merken. Von dieser Zeit an verfuhr ich in meinen Schriftbildern genauso, und später taten andere Schreiber es mir nach und statteten Männer und Frauen stets mit deutlich erkennbaren Nasen aus. Wenn es allen Stämmen bestimmt ist, von der Erde zu verschwinden wie die Toltéca, werden jedenfalls unsere Bücher zurückbleiben. Dann wird jeder zukünftige Leser unserer Bilderschriften den fälschlichen Eindruck gewinnen, jeder Bewohner unseres Landes habe eine gewaltige Nase gehabt wie die Maya; aber zumindest sollten sie keinerlei Schwierigkeiten haben, Menschenbilder von Tier-und Götterbildern in Tiergestalt zu unterscheiden.
»Dank deiner, Maulwurf, habe ich mir eine ganz besondere Signatur für meine Bilder ausgedacht«, sagte Chimáli und setzte ein verlegenes Grinsen auf. »Andere Künstler signieren ihre Werke mit ihren Namenssymbolen, ich aber verwende dieses hier.« Er zeigte mir ein Brettchen etwa in der Größe seiner Sandale, dessen Oberfläche über und über mit winzigen, gleichwohl messerscharfen Obsidianplättchen besetzt war. Entsetzt fuhr ich zusammen, als er mit der offenen Handfläche hart gegen das Brettchen schlug und sie mir dann immer noch grinsend hinhielt, so daß ich sah, wie das Blut aus seiner Handfläche und aus den Fingern heraussickerte. »Es mag noch andere Künstler namens Chimáli geben, aber du, Maulwurf, hast mich darauf aufmerksam gemacht, daß keine zwei Hände einander gleich sind.« Seine Hand war jetzt vollständig mit seinem Blut bedeckt. »Und so habe ich jetzt eine Signatur, die niemand nachmachen kann.«
Er schlug mit der Hand gegen den neben ihm stehenden dickbauchigen Wasserkrug, auf dessen brauner Tonoberfläche jetzt rot der Abdruck seiner Hand prangte. Wenn Ihr durch unsere Lande reist, Euer Exzellenz, werdet Ihr diese selbe Signatur auf vielen Wandbildern und in Tempeln und Palästen wiederfinden. Chimáli schuf sehr, sehr viele Kunstwerke, ehe er aufhörte zu arbeiten.
Er und Tlatli waren an diesem Abend die letzten Gäste, die unser Haus verließen. Beide blieben absichtlich so lange, bis wir die Trommeln und Muscheltrompeten von den Tempelpyramiden vernahmen, die den Beginn des Nemontémtin anzeigten. Während meine Mutter im Haus umherhuschte, um alle Lichter zu löschen, nahmen meine Freunde die Beine in die Hand, um ihr Elternhaus zu erreichen, ehe das Trommeln und Trompeten aufhörte. Das war leichtsinnig von ihnen – denn waren schon die hohlen Tage schlimm, die lichtlosen Nächte waren weit schlimmer –, doch daß die beiden noch geblieben waren, rettete mich davor, wegen meiner Beleidigung des Herrn Freude gezüchtigt zu werden. Weder mein Vater noch meine Mutter konnten während der folgenden Tage etwas so Ernsthaftes wie eine Bestrafung vornehmen, und als das Nemontémtin zu Ende ging, war die ganze Angelegenheit vergessen.
Gleichwohl vergingen diese Tage für mich nicht gänzlich ereignislos. Zunächst nahm mich Tzitzi beiseite und flüsterte mir eindringlich zu: »Ich muß wohl hingehen und noch einen heiligen Pilz stehlen.«
»Wie kannst du nur so gottvergessen sein, Schwester!« zischte ich, wenn auch kaum ernstlich entsetzt. »In dieser Zeit beisammenzuliegen, ist selbst für Eheleute verboten.«
»Nur für Eheleute. Für dich und mich ist es immer verboten, also laufen wir keine besondere Gefahr.«
Ehe ich irgend etwas entgegnen konnte, stand sie neben dem hüfthohen Tonkrug, in dem unser Wasservorrat für den Haushalt aufbewahrt wurde und der jetzt Chimàlis blutrotes Handzeichen trug. Sie stieß mit aller Macht dagegen, daß er umfiel und zerbrach und das Wasser sich über den Kalksteinboden ergoß. Unsere Mutter kam hereingestürmt und ließ ihr übliches Gezänk auf Titzitlini herniedergehen. Ungeschicktes Ding … ihn zu füllen, braucht man einen ganzen Tag … sollte bis zum letzten Tag des Nemontémtin reichen … keinen Tropfen Wasser im Haus und auch kein Behältnis in dieser Größe …
Ungerührt sagte meine Schwester: »Mixtli und ich können mit den größten von unseren anderen Krügen zur Quelle gehen und zusammen auf einmal genausoviel zurückbringen.«
Von diesem Vorschlag hielt unsere Mutter nicht viel, und so zeterte sie noch lange weiter fort, doch blieb ihr gar nichts anderes übrig, als uns schließlich ziehen zu lassen. Beide verließen wir das Haus mit einem dickbauchigen Henkelkrug in jeder Hand, die wir jedoch bei der ersten Gelegenheit auf dem Boden absetzten.
Zuletzt habe ich Tzitzitlíni als in der ersten Blüte ihres knospenden Frauentums stehend beschrieben; jetzt war sie voll erblüht, hatten ihre Hüften und ihr Gesäß sich zu vollen anmutigen weiblichen Rundungen entwickelt. Jede ihrer Brüste quoll über meine Hände hinweg, mit denen ich sie umfaßt hielt. Ihre Brustwarzen stellten sich steiler auf als zuvor, der Hof hatte sich vergrößert und war von dunklerer Farbe, einem schimmernden Rotbraun, das sich von der ihn umgebenden Haut wunderschön abhob. Außerdem war Tzitzi womöglich noch rascher erregt als zuvor und heißblütiger in ihren Reaktionen und Bewegungen. In dem kurzen Zwischenspiel, das wir uns zwischen Haus und Quelle gestatteten, erreichte sie mindestens dreimal den Höhepunkt. Ihre größer gewordene Fähigkeit zur Leidenschaft sowie ihre merklich fortgeschrittene körperliche Reife gaben mir einen ersten Hinweis auf eine Voraussetzung dafür, und meine Erfahrungen mit anderen Frauen in späteren Jahren haben dies immer wieder bestätigt. Daher betrachte ich es nicht als eine Vermutung, sondern als etwas Erwiesenes, bei dem es um folgendes geht:
Die Sinnlichkeit einer Frau steht in direktem Verhältnis zur Größe und der dunklen Färbung ihres Brustwarzenhofes. Mag sie auch im Gesicht noch so schön sein und von verlockender Wohlgestalt; und gleichgültig, wie willfährig oder zurückhaltend sie sich auch gibt. Diese Dinge können irreführend sein, ja, sogar bewußt von ihr eingesetzt werden. Gleichwohl – einen verläßlichen Hinweis auf die Sinnlichkeit ihres Wesens gibt es. Eine Frau mit großen und dunklen Höfen um ihre Brustwarzen ist unweigerlich heißblütig, selbst, wenn sie es nicht sein möchte. Eine Frau, die nur eine Brustwarze ohne Hof aufweist – ähnlich wie die Andeutung von Brustwarze beim Mann – ist unweigerlich kalt, auch dann, wenn sie selber sich allen Ernstes für das Gegenteil hält oder sich schamlos aufführt, um den Anschein des Gegenteils zu erwecken. Selbstverständlich gibt es gradmäßige Unterschiede in Bezug auf Größe und Färbung des Brusthofs, doch die auszuloten lernt man nur durch Erfahrung. Folglich braucht ein Mann es nur zu schaffen, einen einzigen Blick auf die bloße Brust einer Frau zu werfen, und ohne Zeit zu verlieren oder auf die Möglichkeit gefaßt sein zu müssen, enttäuscht zu werden, kann er beurteilen, wie leidenschaftlich sie …
Euer Exzellenz wünschen, daß ich dieses Thema abschließe. Nun gut, zweifellos halte ich mich deshalb so lange dabei auf, weil es meine ganz persönliche Theorie ist. Sie ist mir immer lieb gewesen, ich habe sie gern auf die Probe gestellt, und niemals ist sie entkräftet worden. Ich meine nach wie vor, daß das Wissen um die Beziehung zwischen der Sinnlichkeit einer Frau und ihrem Brustwarzenhof auch außerhalb der Schlafkammer durchaus von Nutzen sein kann.
Yyo ayyo! Wißt Ihr was, Euer Exzellenz? Mir fällt gerade ein, daß diese Erkenntnis für Eure Kirche von größtem Interesse sein kann. Sie könnte sich meiner Theorie bedienen, um rasch und ohne große Mühe jene Mädchen auszusuchen, die sich am besten eignen, als Nonne in Eure …
Ich höre ja schon auf, Exzellenz.
Laßt mich nur noch erwähnen, daß – als Tzitzi und ich unter der Last der vier schweren Krüge wankend endlich unser Elternhaus wieder erreichten – unsere Mutter uns keifend schalt, solange fortgeblieben zu sein, und noch dazu an einem solchen Tag. Meine Schwester, die noch vor wenigen Augenblicken ein wildes, hemmungsloses Tier gewesen war – stöhnend um sich geschlagen und mir in ihrer Ekstase ihre Nägel in die Haut gegraben hatte –, log nun so beiläufig und glatt wie nur je ein Priester.
»Du kannst uns nicht schelten, daß wir säumig gewesen wären oder gebummelt hätten. Es waren noch andere da, die darauf warteten, Wasser aus dem Quell zu holen. Da nahes Beisammenstehen an einem solchen Tage verboten ist, mußten Mixtli und ich in einiger Entfernung warten, bis wir an die Reihe kamen, und Stück um Stück näher heranrücken. Wir haben nicht getrödelt.«
Am Ende der trübseligen hohlen Tage stieß Die Eine Welt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Ich weiß nicht genau, was Ihr meint, Euer Exzellenz, wenn Ihr etwas von »Parodie auf die Fastenzeit« murmelt, doch am ersten Tag des Monds, da der Baum aufgerichtet wird, begann eine Runde allgemeinen Frohsinns. Die folgenden Tage wurde überall in den größeren Häusern des Adels und der wohlhabenderen unter den Gemeinfreien sowie in den Tempeln der verschiedenen Dörfer in kleinem Kreise gefeiert, und Gäste wie Gastgeber, Priester und Tempelbesucher frönten im Übermaß jenen Dingen, die sie während des Nemontémtin hatten entbehren müssen.
Diese einleitenden Festlichkeiten mögen in jenem Jahr ein wenig gedämpft verlaufen sein, da wir die Nachricht erhielten, daß unser Uey-Tla-toáni Tixoc gestorben sei. Seine Regierungszeit war allerdings die kürzeste aller Herrscher der Mexíca gewesen und auch eine, die sich durch nichts Besonderes ausgezeichnet hatte. Es ging sogar das Gerücht um, Tixoc sei vergiftet worden – entweder von den Mitgliedern seines Staatsrates, die unzufrieden waren, daß Tixoc so gar kein Interesse zeigte, sich auf neue Kriegszüge einzulassen, oder aber von seinem Bruder Ahuítzotl – Wasser Ungeheuer –, dem nächsten Thronanwärter, der vom Ehrgeiz verzehrt wurde beweisen zu können, um wieviel glänzender er zu regieren verstünde. Jedenfalls war Tixoc eine so farblose Gestalt, daß er nicht sonderlich vermißt und betrauert wurde. So kam es, daß unsere große Lob-und Bittzeremonie für den Regengott Tlaloc, die auf dem Pyramidenplatz im Herzen von Xaltócan abgehalten wurde, gleichzeitig der Thronbesteigung des neuen Verehrten Sprechers Ahuítzotl gewidmet war.
Die Feierlichkeiten begannen nicht bevor nicht Tonatíu sich in seinem Bett im Westen zur Ruhe begeben hatte; es hätte ja sein können, daß der Gott der Wärme zusah und eifersüchtig auf die Ehren wurde, welche seinem Bruder, dem Gott des Regens, erwiesen wurden. Dann jedoch fanden sich – von den Rändern des offenen Platzes und den Hängen herunterkommend, die um den Platz aufragten – sämtliche Bewohner der Insel auf dem Platz ein, mit Ausnahme derer, die zu alt, zu jung oder krank oder sonst behindert waren, oder die daheim bleiben mußten, diese zu pflegen. Sobald die Sonne untergegangen war, huschten auf dem Platz, der Pyramide und oben auf dem Tempel aufgeregt die schwarzgewandeten Priester umher; sie kümmerten sich um die letzten Vorbereitungen, setzten Unmengen von Fackeln und die künstlich gefärbten Urnenfeuer sowie die süß schwelenden Weihrauchgefäße in Brand. Der Opferstein oben auf der Pyramide sollte in dieser Nacht nicht benutzt werden. Statt dessen war am Fuß der Pyramide, wo jeder Zuschauer hineinblicken konnte, ein gewaltiges steinernes Becken aufgestellt worden, welches bis zum Rand gefüllt war mit Wasser, das zuvor durch besondere Beschwörungen geweiht worden war.
Als die Dunkelheit sich vertiefte, leuchtete es auch in dem Hain neben und hinter der Pyramide auf: Man hatte zahllose kleine Öllämpchen entzündet, die flackerten, gleichsam als würden die Bäume des Hains von allen Glühwürmchen der Welt umschwirrt. Die Äste der Bäume schwankten unter der Last der Kinder: sehr jungen und kleinen, aber behenden Mädchen und Knaben, angetan mit liebevoll von ihren Müttern gefertigten Kostümen. Manche von den kleinen Mädchen steckten in steifen Papierkugeln, entsprechend angemalt, um verschiedene Früchte darzustellen; andere trugen Halskrausen und Papierröcke, zugeschnitten und gefärbt, um verschiedene Blumen darzustellen. Die Jungen waren womöglich noch farbenprächtiger gekleidet: einige waren über und über mit angeleimten Federn bedeckt, weil sie Vögel darstellen sollten, andere trugen durchsichtige Flügel aus Ölpapier und spielten die Rollen von Schmetterlingen und Bienen. Die ganze Nacht während der feierlichen Zeremonien sprangen die Knaben-Vögel und Knaben-Insekten gewandt von Ast zu Ast und taten so, als »saugten sie den Nektar« aus den Mädchen-Früchten und Mädchen-Blumen.
Als die Nacht sich gänzlich herniedergesenkt und die gesamte Bevölkerung der Insel sich versammelt hatte, erschien oben auf der Spitze der Pyramide der Oberpriester Tlalocs. Er stieß in sein Muschelhorn, reckte dann gebieterisch die Arme, und nach und nach verstummte der Lärm, den die Menge vollführte. Er hielt die Arme emporgereckt, bis vollkommene Stille auf dem Platz herrschte. Dann ließ er die Arme sinken, und im selben Augenblick sprach Tlaloc selbst mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag – ba-ra-romm! –, der lange nachgrollte und von den Bergen widerhallte. Der ungeheure Krach ließ buchstäblich die Blätter der Bäume, die Weihrauchschwaden, die Feuerflammen und den Atem erzittern, den wir erschrocken in unsere Lungen eingesogen hatten. Selbstverständlich war es nicht Tlaloc selbst, der da sprach, sondern die mächtige »Donnertrommel«, auch »Trommel, welche die Herzen herausreißt«, genannt. Das aus dicker, straff gespannter Schlangenhaut bestehende Trommelfell wurde wie rasend mit schweren Óli-Schlegeln bearbeitet. Das Grollen der Donnertrommel ist noch in einer Entfernung von zweimal Ein Langer Lauf zu hören; ihr könnt euch also vorstellen, wie es den ganz in der Nähe Schulter an Schulter sich drängenden Menschen in den Ohren dröhnte.
Das markerschütternde Getrommel ging weiter, bis wir das Gefühl hatten, gleich müsse uns das Fleisch von den Knochen fallen. Dann nahm es langsam an Stärke ab, wurde leiser und immer leiser, bis es eins wurde mit dem Erdröhnen der kleineren »Göttertrommel«, die nur leise brummte, während der Oberpriester die traditionelle Begrüßung und Anrufung Tlalocs hinaussang. In bestimmten Abständen hielt er inne, damit die Menge im Chor mit dem langgezogenen Eulenschrei – »Hoo-oo-ooo …« antwortete – so, wie bei euch die Besucher des Gottesdienstes »Amen« sagen. An anderen Stellen hielt er gleichfalls inne, und dann traten seine Unterpriester vor, griffen in ihre Gewänder und zogen kleine Wassertiere hervor – einen Frosch, einen Axólotl-Salamander, eine Schlange –, hielten die sich windenden Geschöpfe in die Höhe und schluckten sie dann bei lebendigem Leibe unzerkaut hinunter.
Der Oberpriester schloß seinen Eingangsgesang mit den altehrwürdigen Worten, so laut er sie hinausrufen konnte: »Tehuan tiezquiàya in ahué-huetl, in Pochotl, Tlaloctzin«, was heißt: »Wir möchten unter der Zypresse stehen, unter dem Kapok-Baum, Herr Tlaloc!« – was soviel bedeutet wie: »Wir möchten dich um deinen Schutz bitten, daß du über uns herrschest.« Und als er das hinausschrie, streuten überall auf dem Platz Priester Wolken feingemahlenen Maismehls in die Urnenfeuer, daß es knisterte und blendend aufflammte, als ob ein Blitz zwischen uns herniedergefahren sei. Das Ba-rarommm der Donnertrommel fiel uns wieder an und dröhnte weiter, bis uns die Zähne klapperten, als ob sie locker in unseren Kiefern säßen.
Doch abermals erstarb ihr Grollen nach und nach, und als unsere Ohren wieder imstande waren zu hören, drangen die Klänge von Tonflöten an unsere Ohren, die wie die Süßkartoffeln geformt waren; und die Klänge, welche hängenden Kürbissen unterschiedlicher Größe entlockt wurden, die fünf verschiedene Töne von sich gaben, wenn man mit einem Stecken dagegenschlug; und die Töne der Flöten, die aus fünf nebeneinander befestigten Rohren verschiedener Länge bestehen; während der Rhythmus für all dies von dem »Starken Knochen« angegeben wurde, dem zahnbesetzten Unterkieferknochen eines Hirsches, der mit einer. Schnur gestrichen wurde. Mit der Musik kamen die Tänzer, Männer und Frauen, die sich im Reigen aufeinander zu und voneinander weg bewegten und den Schilfrohrtanz aufführten. An Fußgelenken, Knien und Ellbogen hatten sie getrocknete Samenhülsen befestigt, die je nach ihren Bewegungen raschelten, wisperten und rasselten. Die Männer in ihren wasserblauen Kostümen trugen ein jeder ein armlanges und handgelenkdickes Rohrende. Die Frauen trugen Hemden und Röcke in der blaßgrünen Farbe jungen Schilfs, und Tzitzitlíni war die Vortänzerin.
Anmutig glitten Tänzer und Tänzerinnen zu den Klängen der heiteren Musik durcheinander, die Frauen schwenkten die Arme über dem Kopf, so daß man das Gefühl hatte, ein Schilffeld woge sanft im Wind. Die Männer schüttelten die dicken Stecken, die sie trugen, und man meinte, das trockene Rascheln von Schilfrohr in der Brise zu vernehmen. Dann verstärkte sich die Musik, wurde lauter, und die Frauen fanden sich in der Mitte des Platzes zusammen und tanzten auf ein und derselben Stelle weiter, während die Männer einen Kreis um sie herum bildeten und taten, als ob sie mit ihren dicken Schilfenden Wurfbewegungen ausführten, wobei klar wurde, daß jedes nicht ein einzelnes Rohrende war, sondern aus mehreren bestand, von denen das dickere das jeweils dünnere umschloß, welches noch wieder ein dünneres umschloß und so fort.
Vollführte ein Mann die Wurfbewegung, glitten sämtliche inneren Schilfrohre aus dem dicksten, das er in der Hand hielt, heraus und es entstand ein langes schlankes, gebogenes Rohr, dessen Spitze sich mit den Spitzen all der anderen traf. Die tanzenden Frauen tanzten wie unter einer zarten Käfigkuppel aus Schilfrohr, und abermals ließ die Menge der Zuschauer ein bewunderndes »Ho-oo-ooo« vernehmen. Mit einer gekonnten Handbewegung ließen die Männer daraufhin die Rohrlängen wieder ineinander zurückgleiten in ihre Hand. Dieses geschickte Kunststück wurde in unterschiedlichen Mustern immer und immer wiederholt; so bildeten die Männer zum Beispiel einmal zwei Reihen, und jeder warf sein Rohr, daß es hinausglitt und sich mit der Spitze dessen berührte, der ihm gegenüberstand und ein Bogengang entstand, durch welchen die Frauen hindurchtanzten.
Als der Schilfrohrtanz vorüber war, kam es zu einem lustigen Zwischenspiel. Alle jene alten Leute, die an irgendeiner Krankheit der Knochen oder der Gelenke litten, kamen auf den feuererhellten Platz herausgeschlurft und gehinkt. Ihre Gebrechen bewirken, daß sie stets mehr oder weniger gebückt und verkrüppelt sind, doch aus irgendeinem Grunde ist das während der Regenmonde besonders schmerzhaft. Daher mühten diese alten Männer und Frauen sich ab, an dieser Feier teilzunehmen und vor Tlaloc zu tanzen in der Hoffnung, daß er diesmal beim Einsetzen der Regenzeit Mitleid mit ihnen habe und ihre Schmerzen lindere.
Ihnen war es mit dem, was sie beabsichtigten, selbstverständlicherweise ernst, doch ihr Tanz wirkte nur grotesk, und so fingen die Zuschauer an, erst leise zu kichern und dann schließlich lauthals zu lachen, bis die Tänzer selber merkten, wie lächerlich sie wirkten. Daraufhin begann einer nach dem anderen, den Possenreißer zu spielen und sein Gehumpel oder Nachziehen des Beins bis ins Groteske zu steigern. Zuletzt hüpften sie auf allen Vieren herum wie die Frösche, krochen seitwärts wie die Krebse oder verrenkten die hageren Hälse wie die Kraniche während der Paarungszeit – und das, bis die Zuschauermenge brüllte und sich die Bäuche hielt vor Lachen. Die immerhin betagten Tänzer und Tänzerinnen ließen sich dermaßen hinreißen, ihr ebenso abscheuliches wie zum Lachen reizendes Gehopse und Gespringe so sehr in die Länge zu ziehen, daß die Priester sie fast mit Gewalt vom Platz vertreiben mußten. Vielleicht interessiert es Euer Exzellenz zu erfahren, daß dieses flehentliche Bemühen Tlaloc niemals bewegen hat, auch nur einem einzigen Krüppel zu helfen – ganz im Gegenteil, viele von ihnen mußten von dieser Nacht an für immer das Bett hüten –, doch diejenigen alten Narren, die dazu noch in der Lage waren, kamen Jahr für Jahr wieder, um ihre grotesken Tänze aufzuführen.
Als nächstes kam der Tanz der Auyanime, jener Frauen, deren Leib dem Dienst an Kriegern und Rittern vorbehalten war. Der Tanz, den sie aufführten, wurde Quequezcuicatl – »Reiz-Tanz« – genannt weil er bei den Zuschauern – gleichgültig, ob Mann oder Frau, jung oder alt – derartige Gefühle weckte, daß sie oft mit Gewalt daran gehindert werden mußten, nicht zwischen die Tänzerinnen zu springen und etwas ungeheuerlich Frevelhaftes zu tun. Der Tanz war in seinen Bewegungen so eindeutig, daß man – wiewohl die Auyanime nur allein tanzten und das auch noch einzeln – hätte schwören mögen, sie hätten unsichtbare, nackte Partner, mit denen sie …
Ja, nun, nachdem die Auyanime – völlig außer Atem, schweißglänzend, mit aufgelösten Haaren und weichen Knien – den Platz geräumt hatten, traten zum hungrigen Gedröhn der Göttertrommel in einem reichgeschmückten, von Priestern getragenen Tragstuhl ein Knabe und ein Mädchen auf, die beide etwa vier Jahre alt sein mochten. Da der verblichene und unbeklagte Verehrte Sprecher Tixoc äußerst lax gewesen war, was das Kriegführen betrifft, standen für das nächtliche Opfer keine gefangenen Kinder anderer Volksstämme zur Verfügung; daher waren die Priester gezwungen gewesen, sie zwei ortsansässigen Sklavenfamilien abzukaufen. Die vier Eltern saßen in einer der vordersten Reihen und schauten stolz zu, wie ihre Kinder bei mehreren Umzügen rund um den Platz vorgezeigt wurden.
Eltern wie Kinder hatten allen Grund, stolz und erfreut zu sein, denn der kleine Junge und das kleine Mädchen waren schon so lange im Voraus durch Kauf erworben worden, daß man sie gut versorgt und wohlgefüttert hatte. Sie waren jetzt pummelig und frech und winkten ihren Eltern und allen, die ihnen zuwinkten, fröhlich zu. Sie waren besser gekleidet, als sie es sich jemals hätten erhoffen können, sollten sie doch die Tlalóque-Geister darstellen, die dem Regengott aufwarten. Ihre kleinen Umhänge waren aus der feinsten Baumwolle gewebt, von blaugrüner Farbe mit silbernen Regentropfen darin und hatten an den Schulterblättern wolkenweiße Papierflügel sitzen.
Wie schon bei jeder früheren Zeremonie zu Ehren Tlalocs, hatten die Kinder nicht die geringste Ahnung, was man von ihnen erwartete. Sie waren so entzückt von der Aufregung, den Farben, den Lichtern und der Musik, daß sie sich vor Lachen kugelten und strahlten wie die Sonne selbst. Das war selbstverständlich genau das Gegenteil dessen, was sie eigentlich tun sollten. Deshalb mußten die Priester, die ihren Tragstuhl trugen, des öfteren hinauflangen und sie ins Hinterteil zwicken. Zuerst waren die Kinder völlig verwirrt, dann aber tat es ihnen doch weh. Der Junge und das Mädchen fingen an, sich zu beklagen, dann zu weinen und schließlich ein klagendes Wehgeschrei auszustoßen, wie es sich gehörte. Je mehr Geheul, desto mehr Gewitter standen zu erwarten. Je mehr Tränen, desto mehr Regen.
Die Menge fiel in das Geheul ein, wie man es von ihr erwartete und wozu man sie ermunterte; selbst die erwachsenen Männer und hartgesottenen Krieger heulten und schluchzten, bis es von den Hügeln ringsum widerhallte von Gestöhn und Geschluchze und Sich-an-die-Brust-Schlagen. Jede andere Trommel und jedes Musikinstrument, das zur Verfügung stand, verstärkte jetzt das Dröhnen der Gottestrommel und das Wehklagen der Menge, als die Priester den Tragstuhl nun am hinteren Ende des steinernen Wasserbeckens vor der Pyramide niedersetzten. Alle Geräusche zusammengenommen waren so unglaublich laut, daß wahrscheinlich nicht einmal der Oberpriester die Worte hören konnte, die er über den beiden Kindern sang, als er sie hochhob und sie eines nach dem anderen dem Himmel entgegenreckte, auf daß Tlaloc sie sähe und sich mit ihnen einverstanden erkläre.
Dann näherten sich zwei Priestergehilfen, der eine mit einem kleinen Topf, der andere mit einem Quast. Der Oberpriester beugte sich über den Knaben und das Mädchen, und wiewohl niemand es hören konnte, wußten wir alle, daß er den Kindern sagte, sie sollten jetzt Masken anlegen, damit das Wasser ihnen nicht in die Augen komme, wenn sie in dem heiligen Bassin schwämmen. Sie schnieften immer noch und lächelten keineswegs, und ihre Wangen waren feucht von Tränen. Sie sträubten sich jedoch nicht, als die Priester ihnen reichlich flüssiges Óli übers Gesicht strichen und nur ihren knospengleichen Mund freiließen. Was für ein Gesicht sie machten, als der Priester sich umdrehte und – immer noch, ohne daß irgend jemand etwas hörte – singend das letzte Flehen vorbrachte, Tlaloc möge ihr Opfer annehmen und ihnen als Morgengabe eine reiche Regenzeit schicken und so weiter.
Die Helfer hoben den Jungen und das Mädchen ein letztesmal in die Höhe, und der Priester schmierte ihnen rasch die klebrige Flüssigkeit über den unteren Teil ihres Gesichtes, so daß Mund und Nasenlöcher bedeckt waren; dann ließen die Gehilfen die Kinder ins Bassin fallen, wo die Kälte des Wassers den Kautschuk augenblicklich erstarren ließ. Wie ihr wissen müßt, verlangte das Opfer, daß sie im Wasser starben und nicht durch das Wasser. So ertranken sie nicht, sondern erstickten langsam unter ihren dicken, durch nichts zu entfernenden und unzerreißbaren Óli-Masken, während sie verzweifelt mit den Armen um sich schlugen, untergingen, wieder auftauchten und wieder untergingen, die Menge vor Trauer in Wehklagen ausbrach und Trommeln und Musikinstrumente ihr Gott anrufendes, mißtönendes Konzert vollführten. Die Kinder spritzten und kämpften immer schwächer, bis erst das Mädchen und dann der Knabe ganz aufhörten, sich zu bewegen und nur schlaff und undeutlich unter der Wasseroberfläche trieben, während ihre weißen Flügel weit ausgebreitet reglos obenauf schwammen.
Kaltblütiger Mord, Euer Exzellenz? Aber es waren doch Sklavenkinder. Sonst hätten der Junge und das Mädchen ein tierisches Leben geführt, hätten sich vielleicht gepaart, wenn sie erwachsen waren, und weitere tierische Wesen zur Welt gebracht. Wären sie dann einmal gestorben, hätten sie einen völlig sinnlosen Tod gefunden, ohne den geringsten Sinn, und hätten eine Ewigkeit im Dunkel und Nichts von Mictlan geschmachtet. Statt dessen starben sie zu Ehren Tlalocs und zum Wohle von uns, die wir weiterlebten; und durch ihren Tod errangen sie sich ein glückliches Leben im üppigen Grün der Gegenwelt Tlálocan.
Barbarischer Aberglaube, Euer Exzellenz? Doch die nächste Regenzeit fiel so reichlich aus, wie auch ein Christ sie sich nicht besser hätte erflehen können, und gewährte uns eine reichliche Ernte.
Grausam? Herzzerreißend? Hm, j … Ja, ich zumindest erinnere mich daran, daß es so war, denn es war der letzte glückliche heilige Tag, den Tzitzitlíni und ich jemals gemeinsam genießen sollten.
Als Prinz Weides Acáli kam, mich abzuholen, langte es erst weit nach Mittag an, denn es war die Zeit der rasenden Winde, und die Ruderer hatten eine stürmische Überfahrt hinter sich. Nicht minder rauh erwies sich die Rückfahrt – das Wasser war zu einer unruhigen See aufgewühlt, und der Wind riß Gischt von den Wogenkämmen – weshalb wir erst in Texcóco landeten, als die Sonne sich schon fast zur Ruhe begeben hatte.
Obgleich die Häuser und Gassen der Stadt gleich hinter den Hafenanlagen begannen, war dies nur eine Randsiedlung mit Werkstätten und Wohnungen von Handwerkern, die auf irgendeine Weise mit dem See zu tun hatten: Bootswerften; Werkstätten zur Herstellung von Netzen und Tauwerk, Angelhaken und dergleichen; die Häuser von Schiffern, Fischern und Vogelstellern. Das Zentrum der Stadt lag etwa die Hälfte von Ein Langer Lauf weiter landeinwärts. Da niemand aus dem Palast gekommen war, mich abzuholen, erboten Prinz Weides Ruderer sich, mich einen Teil des Weges zu begleiten und mir die Sachen zu tragen, die ich mitgebracht hatte: ein paar zusätzliche Kleider, noch einen Satz Farben, die Chimáli mir geschenkt hatte, und einen Korb mit Naschwerk, das Tzitzi für mich gebacken hatte.
Meine Gefährten blieben einer nach dem anderen zurück, sobald wir in das Viertel kamen, in dem sie wohnten. Doch der letzte erklärte mir, wenn ich einfach weiter geradeaus ginge, könne ich den Palast auf dem großen Platz mitten in der Stadt nicht verfehlen. Es war inzwischen stockfinster geworden, und es waren nicht viele andere Leute in dieser windigen Nacht unterwegs. Gleichwohl waren die Straßen beleuchtet. In jedem Haus brannten Lampen mit Kokosnußöl, Ahuacatl-Öl oder Fischtran oder welches Brennmaterial die Leute im Haus sich jeweils leisten konnten. Ihr Licht drang durch die Fensteröffnungen nach außen, selbst durch jene, welche mit Gitterwerk oder durch Stoffvorhänge geschlossen waren. Zusätzlich ragte an den meisten Straßenecken eine Fackel in die Höhe: auf hohen Ständern mit durchbrochenen Kupferkörben, in denen Kienspan brannte, und von denen der Wind Funken aufstieben und gelegentlich auch kleine Tropfen brennendes Harz hinausblies. Diese Ständer steckten in Löchern, welche man durch die Faust stehender oder sitzender steinerner Standbilder der verschiedenen Götter gebohrt hatte.
Ich war noch nicht weit gegangen, da beschlich mich Müdigkeit; ich schleppte so viele Bündel und wurde auch vom Wind sehr gebeutelt. Erleichtert atmete ich daher auf, als ich in der Dunkelheit unter einem rotblühenden Tapachini-Baum eine steinerne Bank stehen sah. Dankbar ließ ich mich darauf nieder, saß eine Weile da und genoß es, von den scharlachroten Blütenblättern berieselt zu werden, die der Wind herunterwehte. Dann merkte ich, daß die Bank unter mir Erhebungen und Einkerbungen eines gemeißelten Musters aufwies. Ich brauchte nur anzufangen, die Zeichnung mit dem Finger nachzuziehen – und in der Dunkelheit nicht einmal meine Augen anzustrengen –, da wußte ich, daß es sich um die Zeichen einer Bilderinschrift handelte – und wußte auch genau, was sie bedeutete.
»Ein Ruheplatz für den Herrn Nacht Wind«, zitierte ich laut und lächelte selbstgefällig.
»Genau dasselbe hast du auch gelesen«, ließ sich eine Stimme im Dunkel vernehmen, »als wir uns vor etlichen Jahren auf einer anderen Bank begegneten.«
Überrascht fuhr ich zusammen, verengte dann die Augen und erkannte am anderen Ende der Bank eine Gestalt. Wieder trug sie einen Umhang und Sandalen von guter Qualität wenngleich beides vom vielen Wandern abgenutzt war. Und wieder war die Gestalt vom Staub der Straße bedeckt so daß ihre kupferfarbenen Züge nicht deutlich zu erkennen waren. Doch diesmal war ich vermutlich genauso verstaubt und ich überlegte, wie er mich wohl erkannt haben mochte. Nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte, sagte ich:
»Jawohl, Yanquicatzin, es ist ein ungewöhnlicher Zufall.«
»Du solltest mich nicht als Herr Fremder anreden«, knurrte er genauso kratzbürstig, wie ich seine Stimme in Erinnerung hatte. »Schließlich bist du hier der Fremde.«
»Richtig, Herr«, sagte ich. »Allerdings habe ich inzwischen mehr als nur die einfachen Schriftzeichen auf Bänken am Wege lesen gelernt.«
«Das will ich auch hoffen«, sagte er trocken.
»Und zwar dank dem Uey-Tlatoáni Nezahualpíli«, erklärte ich. »Aufgrund seiner großmütigen Einladung habe ich in den Unterrichtsräumen bei Hofe viele Monde der höheren Unterweisung genossen.«
»Und womit verdienst du dir derlei Gunstbeweise?«
«Nun, ich würde alles tun, denn ich bin meinem Wohltäter dankbar und brenne darauf, ihm seine Wohltat zu vergelten. Doch bis jetzt habe ich den Verehrten Sprecher noch nicht kennengelernt und außer Schulaufgaben gibt mir niemand etwas zu tun auf. Das erfüllt mich mit Unbehagen und ich habe das Gefühl, nur ein Schmarotzer zu sein.«
»Vielleicht hat Nezahualpíli bis jetzt nur abgewartet. Um zu sehen, ob du dich wirklich als vertrauenswürdig erweist. Um
von dir selbst zu hören, daß du alles für ihn tun würdest.«
»Das würde ich tun. Alles, was er von mir verlangt.«
»Nun, vermutlich wird er irgendwann einmal etwas von dir verlangen.«
«Das hoffe ich, Herr.«
Schweigend saßen wir eine Weile da, und nur der Wind fuhr ächzend zwischen den Häusern hin und her, wie Chocaciuatl, die Weinende Frau, die für immer umherirrt und ihr verlorenes Kind sucht. Schließlich sagte der staubbedeckte Mann sarkastisch:
»Du brennst darauf, dem Hof nützlich zu sein, und dabei sitzt du hier, während der Palast dort drüben ist.« Mit einer Handbewegung wies er die Straße hinunter. Ich wurde genauso wortkarg entlassen wie das letzte Mal.
Ich stand auf, nahm meine Bündel und sagte ein wenig spitz: »Wie mein ungeduldiger Herr vorschlägt. Ich gehe. Mixpantzinco.«
»Ximopanólti«, kam es gedehnt und gleichgültig von seinen Lippen.
Unter dem Fackelgerüst an der nächsten Ecke blieb ich stehen und blickte zurück, doch das Licht reichte nicht weit genug, um die Bank zu beleuchten. Wenn der mit Reisestaub bedeckte Fremde immer noch dasaß, konnte ich seine Gestalt jedenfalls nicht erkennen. Ich sah nichts weiter als einen kleinen roten Wirbel von Tapachini-Blütenblättern, der vom Nachtwind durch die Straße getrieben wurde.
Schließlich fand ich den Palast und den kleinen Sklaven Cozcatl, der auf mich wartete, um mich in meine Gemächer zu führen. Der Palast von Texcóco war weit größer als der von Texcotzinco – er muß wohl tausend Räume enthalten haben –, denn mitten in der Stadt stand nicht genügend Raum für all die vielen notwendigen Nebengebäude zur Verfügung, die sich auf dem Lande weitläufig um den Palast verteilten. Gleichwohl war das Palastgelände immer noch beeindruckend, und Nezahualpíli wollte augenscheinlich auch mitten in seiner Hauptstadt nicht auf seine Gärten, seine schattigen Lauben, Springbrunnen und dergleichen verzichten.
Selbst ein Irrgarten befand sich auf diesem Gelände, groß genug, daß zehn Familien durch Ackerbau ihren Lebensunterhalt daraus hätten ziehen können. Angelegt hatte ihn ein längst verstorbener königlicher Ahne Nezahualpílis, und seither war er stetig gewachsen und die Hecken immer fein säuberlich gestutzt worden. Jetzt war dieser Irrgarten eine Allee schnurgerade nebeneinander verlaufender, undurchdringlicher Dornenhecken von doppelter Mannshöhe, die um Ecken herumführte, sich verzweigte und wieder auf sich selbst zurückführte. Die äußere Umfassungshecke wies nur einen einzigen Zugang auf, und es hieß, jeder, der ihn betrete, würde nach langem Hin- und Herwandern durch verschlungene Alleen im Herzen des Irrgartens zuletzt auf eine kleine, grasbewachsene Lichtung gelangen, doch sei es ein Ding der Unmöglichkeit, jemals den Weg zurück und hinauszufinden. Einzig der alte Obergärtner des Palastes kannte den Rückweg – ein Geheimnis, das in seiner Familie vom Vater auf den Sohn vererbt und traditionellerweise selbst vor dem Uey-Tlatoáni geheim gehalten wurde. Infolgedessen durfte niemand hinein, es sei denn, in Begleitung des Gärtners – oder allein, zur Bestrafung. Gelegentlich wurde ein überführter Gesetzesbrecher dazu verurteilt, allein und nackt in diesen Irrgarten hineingetrieben zu werden – nötigenfalls mit Waffengewalt. Nach etwa einem Monat ging dann der Gärtner hinterher und brachte zurück, was von dem verhungerten, dornenzerfetzten, von Vögeln angepickten und wurmzerfressenen Leichnam übriggeblieben war.
Am Tag nach meiner Rückkehr wartete ich auf den Unterrichtsbeginn, als Prinz Weide zu mir trat. Nachdem er mich wieder im Palast willkommen geheißen hatte, sagte er ganz beiläufig: »Übrigens, mein Vater würde sich freuen, dich im Thronsaal zu begrüßen, wenn du Zeit hast, Kopf Neiger.«
Wenn ich Zeit hatte! Mit welch ausgesuchter Höflichkeit auch noch der ranghöchste Acólhua den niedrigsten Fremden, welcher sich seiner Gastfreundschaft erfreute, vor sein Angesicht zitierte. Selbstverständlich verließ ich augenblicklich das Klassenzimmer und wäre durch die Galerie des Palastes fast gerannt, so daß ich ganz außer Atem war, als ich mich auf der Schwelle zum riesigen Thronsaal auf ein Knie niederließ und die Geste des Erdeküssens vollführte und sagte: »In Eurer erhabenen Gegenwart, Verehrter Sprecher.«
»Ximopanólti, Kopf Neiger.« Als ich demütig in meiner knieenden Stellung verharrte, sagte er: »Du kannst aufstehen, Maulwurf.« Als ich mich zwar erhob, doch stehenblieb, wo ich war, sagte er: »Tritt nur näher, Dunkle Wolke.« Und als ich auch das tat – langsam und voller Ehrerbietung – lächelte er und sagte: »Du hast so viele Namen wie ein Vogel, der über alle Völker Der Einen Welt dahinfliegt und von jedem Stamm anders genannt wird.« Mit einem Fliegenwedel wies er auf einen von mehreren Icpáltin-Stühlen, die im Halbrund vor dem Thron aufgestellt waren, und sagte: »Nimm Platz.«
Nezahualpílis eigener Stuhl war auch nicht größer oder eindrucksvoller als der kurzbeinige, auf dem ich saß, nur stand er auf einem Podest, so daß ich zu ihm aufschauen mußte. Er hatte die Beine nicht förmlich gekreuzt oder die Knie sittsam nebeneinandergestellt, sondern lässig weit von sich gestreckt und die Fußgelenke übereinandergeschlagen. Wiewohl der Thronsaal mit federgewirkten Wandteppichen und Wandbildern ausgestattet war, wies er keine andere Einrichtung auf als eben jenen erhöhten Thron und die niedrigen, für die Besucher bestimmten Stühle – sowie, unmittelbar vor dem Uey-Tlatoáni, einen niedrigen Tisch mit schwarzer Onyxplatte, auf welcher ihm zugewandt ein schimmernder weißer Totenschädel stand.
»Den hat mein Vater, Hungernder Kojote, dorthin stellen lassen«, erklärte Nezahualpíli, als er bemerkte, daß meine Augen darauf ruhten. »Warum, weiß ich nicht. Vielleicht war es irgendein besiegter Feind, an dessen Anblick er sich weidete. Oder der Kopf einer Geliebten, welche er nicht aufhören konnte zu betrauern. Vielleicht aber hat er ihn dort auch aus dem gleichen Grund stehen gehabt wie ich.«
Woraufhin ich nur sagen konnte: »Und das wäre, Hoher Gebieter?«
»Weil dies das lauterste und aufrichtigste Gesicht ist, das ein Mensch aufsetzen kann. Ohne Schminke und Verkleidung, ohne Arglist und Verstellung, ohne verschlagenes Augenzwinkern noch einnehmendes Lächeln. Nichts weiter als ein festgefrorenes ironisches Grinsen, Ausdruck des Spotts über alle drängenden menschlichen Bedürfnisse. Wenn ein Besucher mich bittet, daß ich hier und jetzt irgendein Machtwort spreche, versuche ich, Zeit zu gewinnen, verstelle ich mich, rauche ich ein oder zwei Poquietl und versenke mich in den Anblick des Totenschädels. Der erinnert mich daran, daß jedes der Worte, die ich spreche, möglicherweise länger lebendig und wirksam bleibt als mein eigenes Fleisch, und lange, lange Zeit hindurch als königliche Verordnung das Leben der Menschen bestimmt – und wer weiß, auf welche Weise sie sich auf diejenigen auswirken, die dann leben? Ayyo, dieser Schädel hat mich oft davor bewahrt, eine ungeduldige und der Regung des Augenblicks entspringende Entscheidung zu fällen.« Nezahualpíli wandte den Blick vom Schädel ab, blickte mich an und lachte: »Wer weiß, als er noch am Leben war, war es vielleicht der Kopf eines stammelnden Schwachsinnigen; jetzt jedoch, wo er tot ist und stumm, dient er mir wahrhaftig als Ratgeber.«
Ich sagte: »Ich glaube, kein Ratgeber wäre von irgend welchem Nutzen, Herr, es sei denn, einem Mann, der weise genug ist, auch auf einen Rat zu hören.«
»Das nehme ich als Kompliment, Kopf Neiger. Vielen Dank. Nun denn, war es weise von mir, dich aus Xaltócan hierherzuholen?«
»Das kann ich nicht sagen, Gebieter. Ich weiß ja nicht, was Euch dazu bewegen hat.«
»Seit den Zeiten von Hungernder Kojote ist die Stadt Texcóco berühmt als Mittelpunkt des Wissens und der Kultur, nur entwickelt eine solche Kultur sich nicht notwendigerweise von selbst weiter. Noch die edelsten Familien können Dummköpfe und Faulpelze hervorbringen – ich könnte dir sogar ein paar von mir selbst gezeugte nennen –, und deshalb sehen wir keinen Anlaß, uns zu scheuen, Begabungen von anderswoher zu uns zu holen und sind selbst einer Zufuhr fremden Bluts nicht abgeneigt. Du schienst vielversprechend, und deshalb bist du hier.«
»Um auch weiterhin hier zu bleiben, Verehrter Sprecher?«
»Das liegt an dir oder deinem Tonáli, oder an Umständen, die weder du noch wir vorhersehen können. Doch deine Lehrer haben bisher nur Gutes von dir berichtet, und deshalb meine ich, ist es an der Zeit, daß du ein wenig tatkräftiger an unserem Hofleben teilnimmst.«
»Ich hatte gehofft, Euch Eure Großzügigkeit einmal vergelten zu können, Gebieter. Soll das heißen, daß mir eine nützliche Beschäftigung zugewiesen wird?«
»Sofern sie dir zusagt. Als du vor kurzem fort warst, habe ich eine weitere Frau genommen. Sie heißt Chálchiunenetl – Jadestein Puppe.«
Ich schwieg und überlegte verwirrt, ob er wohl aus irgendeinem Grunde vielleicht das Thema gewechselt hätte. Doch fuhr er fort:
»Sie ist die älteste Tochter von Ahuítzotl, ein Geschenk von ihm anläßlich seiner Thronbesteigung als neuer Uey-Tlatoáni von Tenochtítlan. Sie ist Mexícatl wie du auch, und erst fünfzehn Jahre alt, könnte also deine jüngere Schwester sein. Unsere Vermählung ist gebührend gefeiert worden, doch wird der körperliche Vollzug der Ehe selbstverständlich noch hinausgeschoben werden, bis Jadestein Puppe reifer geworden ist.«
Ich schwieg immer noch, wiewohl selbst ich dem weisen Nezahualpíli einiges über die körperlichen Fähigkeiten heranwachsender Mexíca-Mädchen hätte erzählen können.
Er fuhr fort: »Man hat ihr ein kleines Heer von Frauen zugeteilt, die ihr aufwarten, sowie den gesamten Ostflügel als Wohnung für sie selbst, Unterkunft für die Dienerschaft und eine eigene Küche; ein eigener kleiner Hofstaat, wenn du so willst. Was die Bequemlichkeit, Bedienung und weibliche Gesellschaft betrifft, so dürfte es ihr an nichts mangeln. Doch jetzt möchte ich gern wissen, ob du dich einverstanden erklären könntest, in ihren Hofstaat einzutreten, Kopf Neiger. Die Gesellschaft von jedenfalls einem männlichen Wesen wäre gewiß gut für sie, zumal es sich dabei auch noch um einen Bruder-Mexícatl handeln würde. Gleichzeitig würdest du dadurch mir dienen: das Mädchen in unseren Sitten und Gebräuchen unterweisen, ihr unsere Texcócoer Sprechweise beibringen, sie darauf vorbereiten, eine Gemahlin zu sein, auf die ich stolz sein kann.«
Ausweichend sagte ich: »Chálchiunenetzin ist aber möglicherweise nicht sonderlich erbaut davon, wenn ich zu ihrem Aufseher ernannt werde, Verehrter Sprecher. Junge Mädchen können launisch und schwer zu gängeln sein, begierig nach Freiheit …«
»Wie gut ich das weiß«, sagte Nezahualpíli seufzend. »Ich habe selber zwei oder drei Töchter in diesem Alter. Und da Jadestein Puppe als Tochter eines Uey-Tlatoáni Prinzessin und die Königsgemahlin eines anderen ist, könnte es durchaus sein, daß sie noch lebenssprühender ist als die anderen. Meinen ärgsten Feind würde ich nicht dazu verurteilen, Aufseher über eine feurige junge Frau zu sein. Doch meine ich, Maulwurf, daß du sie zumindest angenehm anzuschauen finden wirst.«
Er mußte schon eine Weile zuvor an einem verborgenen Klingelzug gezogen haben, denn er forderte mich durch eine Handbewegung auf, mich umzudrehen, und als ich es tat, sah ich ein schlankes Mädchen, in ein reich geschmücktes Zeremonialgewand, -bluse und -kopfputz gekleidet, langsam und doch königlich auf das Podest zuschreiten. Ihr Gesicht war vollkommen ebenmäßig, den Kopf trug sie aufrecht, und die Augen hatte sie sittsam niedergeschlagen.
»Meine Liebe«, sagte Nezahualpíli. »Das hier ist Mixtli, von dem ich dir schon gesprochen habe. Möchtest du ihn in deinem Hofstaat haben, als Gefährten und Beschützer?«
Sie hob die langbewimperten Augen, sah mich an, und ihre Augen waren wie unergründlich tiefe Waldseen. Später kam ich dahinter, daß sie sich stets Tropfen vom Saft des Camopalxihuitl-Krauts in die Augen zu tröpfeln pflegte, welche ihre Pupillen enorm weiteten und ihren Augen Glanz verliehen, als wären es Edelsteine. Freilich zwang diese Gewohnheit sie auch, hellen Lichterglanz, ja, selbst das Tageslicht zu meiden, denn dann sah sie mit ihren geweiteten Pupillen fast genausowenig wie ich mit meinen Augen.
»Nun denn«, sagte der Verehrte Sprecher und rieb sich befriedigt die Hände. Mir schwante nichts Gutes, als ich darüber nachdachte, wie lange er sich wohl mit seinem Totenschädel beraten haben mochte, ehe er sich zu diesem Arrangement entschlossen hatte. Zu mir sagte er:
»Ich verlange nichts weiter, als daß du ihr brüderlichen Rat und Lenkung zuteil werden läßt. Auf keinen Fall erwarte ich, daß du die Dame Jadestein Puppe züchtigst oder schlägst. Es wäre in jedem Fall ein Schwerverbrechen, wenn ein Gemeinfreier Hand oder Stimme gegen eine Adlige erhöbe. Auch erwarte ich nicht, daß du den Gefängnisaufseher, Spitzel oder Verräter dessen spielst, was sie dir anvertraut. Was mich hingegen freuen würde, Maulwurf, wäre, wenn du deiner Landsmännin jene Zeit widmen würdest, welche du von deiner Arbeit in der Schule und von deinen Studien erübrigen kannst. Ich erwarte, daß du ihr mit der gleichen Hingabe und Verschwiegenheit dienst, mit welcher du mir oder der Ersten Dame Tolána-Teciuapil dienst. Jetzt geht, meine jungen Freunde, ximopanólti, und lernt Euch erstmal kennen.«
Wir bezeugten ihm den gebührenden Respekt und verließen den Thronsaal. Im Korridor schenkte Jadestein Puppe mir ein bezauberndes Lächeln und sagte: »Maulwurf, Kopf Neiger, Mixtli. Wie viele Namen hast du eigentlich?«
»Meine Herrin mag mich nennen, wie immer es ihr beliebt.«
Daraufhin wurde ihr Lächeln womöglich noch bezaubernder, legte sie die Kuppe eines Fingers an das kleine Kinn. »Ich werde dich …« Ihr Lächeln wurde immer süßer, und sie sagte mit einer Süße, die schmeckte wie der klebrige Maguey-Sirup: »Ich werde dich Qualcuie nennen!«
Dieses Wort ist die Befehlsform dritte Person Singular des Verbs »holen« und wird stets mit Nachdruck und in befehlendem Ton ausgesprochen. »Hole!« Mein Herz wurde mir schwer. Wenn mein neuester Name Hole! lautete, schienen meine bösen Vorahnungen hinsichtlich dieses Arrangements gerechtfertigt. Und ich hatte recht damit. Wiewohl sie weiterhin mit dieser magueysirupsüßen Stimme redete, ließ die junge Königin jeden Anschein von Zurückhaltung, Lenkbarkeit und Ergebenheit fallen und sagte höchst hoffärtig:
»Du brauchst deine Arbeiten tagsüber nicht zu vernachlässigen, Hole! Nur möchte ich, daß du mir abends zur Verfügung stehst und – falls nötig – nachts, wenn ich dich rufen lasse. Bitte, bringe alle deine Sachen in die Wohnung genau gegenüber der meinen auf der anderen Seite der Halle.« Und ohne auch nur das geringste Wort der Zustimmung von mir abzuwarten, ja, ohne auch nur ein höfliches Abschiedswort von ihr, machte sie kehrt und ging den Gang hinunter.
Jadestein Puppe. Sie wurde nach dem Mineral Chalchihuitl gerufen, welches – wiewohl weder seltener noch sonst von größerem Wert – von uns Mexícatl deswegen so hochgeschätzt wurde, weil es von der Farbe Des Mittelpunkts Von Allem war. Im Gegensatz zu euch Spaniern, die ihr nur die vier Himmelsrichtungen kennt, wie sie auf dem eingezeichnet sind, was ihr einen Kompaß nennt, gab es in unserer Vorstellung deren fünf, die jeweils mit einer anderen Farbe gekennzeichnet wurden. Genauso wie ihr, hatten wir den Osten, Norden, Westen und Süden, von denen wir freilich als von der Richtung von Rot, Schwarz, Weiß und Blau sprachen. Außerdem hatten wir zusätzlich noch die Richtung Grün: um gleichsam den Mittelpunkt des Kompasses zu kennzeichnen – jenen Ort, an dem der Mensch in jedem Augenblick gerade war samt dem ganzen Raum über dieser Stelle bis hinauf in den Himmel sowie allem darunter bis hinunter in die Mictlan-Unterwelt. Aus diesem Grunde bedeutete die Farbe Grün uns sehr viel, galt uns der grüne Jadestein als besonders kostbar und hatte nur ein Kind edler Abkunft und von hoher Berufung ein Anrecht darauf, Jadestein Puppe genannt zu werden.
Genau wie mit der Jade, galt es, mit dieser Mädchen-Königin äußerst behutsam umzugehen. Gleich einer Puppe, war sie von erlesenem Aussehen, wunderschön und das Werk göttlicher Schaffenskraft. Doch – auch darin einer Puppe gleich – besaß sie weder ein menschliches Gewissen, noch kannte sie irgendwelche Bedenken. Und – wiewohl ich diese böse Vorahnung nicht sogleich als solche erkannte – war es ihr wie einer Puppe bestimmt, zerbrochen zu werden.
Ich muß zugeben, daß ich die verschwenderische Pracht meiner neuen Wohnung im höchsten Maß genossen habe. Drei Räume, und neben der Badestube auch noch ein eigenes abgeschlossenes Dampfbad! Das Bett in der Schlafkammer bestand aus einem noch höheren Stapel weicher Decken, die unter einer ausladenden Tagesdecke aus Hunderten winziger, weißgebleichter und zusammengenähter Eichhörnchenfelle fast verschwanden. Über dem ganzen war ein fransenbesetzter Baldachin aufgespannt, von welchem nahezu unsichtbar feinmaschige Vorhänge herunterhingen, die ich um das Bett herum zuziehen konnte, um mich vor Moskitos und Nachtfaltern zu schützen.
Der einzige Nachteil an der Wohnung war, daß sie weit von jenen anderen entfernt war, für die der Sklave Cozcatl sorgen mußte. Als ich das Jadestein Puppe gegenüber erwähnte, wurde der kleine Cozcatl von einem Tag auf den anderen von seinen übrigen Pflichten entbunden, damit er sich ausschließlich um mich und meine Bedürfnisse kümmerte. Der Junge war unendlich stolz auf seine Beförderung, und ich selbst kam mir jetzt wie ein verwöhnter junger Herr vor. Später, als Jadestein Puppe und ich in Ungnade gefallen waren, sollte ich froh sein, daß Cozcatl stets bei mir gewesen und so loyal war, zu meinen Gunsten auszusagen.
Denn eines sollte mir bald klar werden: wenn Cozcatl mein Sklave war, dann war ich der von Jadestein Puppe. An jenem ersten Abend, als mich eine ihrer Zofen in ihre großartigen Wohngemächer eintreten ließ, lauteten die ersten Worte der jungen Königin:
»Ich bin froh, daß du mir geschenkt wurdest, Hole!, denn es fing nachgerade an, mich sterblich zu langweilen, wie ein seltenes Tier in diesem Käfig eingesperrt zu leben.« Ich versuchte, Einspruch gegen den Ausdruck »geschenkt« zu erheben, doch ließ sie mich gar nicht erst zu Wort kommen. »Pitza« – und damit zeigte sie auf eine ältere Zofe, die hinter ihrer kissenbelegten Ruhebank kniete – »hat mir gesagt, du verstündest dich trefflich darauf, die Ähnlichkeit eines Menschen auf dem Papier festzuhalten.«
»Ich schmeichle mir, Gebieterin, daß Leute sich und sich gegenseitig auf meinen Zeichnungen erkannt haben. Allerdings ist es schon eine Zeitlang her, daß ich mich darin geübt habe.«
»Dann wirst du dich jetzt an mir üben! Pitza, geh zu Cozcatl und laß ihn das Gerät herüberbringen, das Hole! braucht.«
Der kleine Junge brachte mir etliche Kreidestifte und ein paar Bogen Borkenpapier – jenes braune, das billigste, nicht mit Kalk überzogene, welches ich für flüchtige Skizzen meiner Bilderschriftsymbole brauchte. Auf meine Handbewegung hin ging der Knabe in eine Ecke des großen Raums und hockte sich dort nieder.
Entschuldigend sagte ich: »Ihr wißt, wie schlecht es um mein Augenlicht bestellt ist, Gebieterin. Wenn Ihr gestattet, daß ich mich näher heransetze?«
Damit schob ich einen niedrigen Stuhl vor die Ruhebank. Jadestein Puppe hielt den Kopf unbewegt und still und hatte dabei ihre herrlichen Augen auf mich gerichtet, während ich mich an einer Skizze versuchte. Als ich fertig war und ihr den Zeichenbogen reichte, warf sie gar nicht erst einen Blick darauf, sondern hielt ihn über ihre Schulter gleich ihrer Zofe hin.
»Pitza, bin ich das?«
»Selbst das Grübchen in der Wange ist nicht vergessen, Herrin. Und diese Augen könnten niemand sonst gehören!«
Woraufhin die junge Königin sich herabließ, es zu betrachten, dann zu nicken und mich mit einem süßen Lächeln zu bedenken. »Ja, das bin ich. Ich bin sehr schön. Vielen Dank, Hole! Verstehst du dich aber auch auf Körper?«
»Nun, ja, das Verhältnis der Gliedmaßen zueinander, die Gewandfalten, Wappen und Amtszeichen, an denen sie zu erkennen sind …«
»Das äußere Gewand interessiert mich nicht. Ich meine den Körper. Hier, zeichne meinen.«
Die Zofe Pitza stieß einen unterdrückten Schrei aus, und Cozcatl fiel die Kinnlade herunter, als Jadestein Puppe ohne sich zu genieren und ohne Zögern aufstand und sich all ihres Geschmeides, ihrer Spangen, ihrer Sandalen, der Bluse und des Rocks und schließlich auch noch des letzten Untergewands entledigte. Pitza trat beiseite und barg ihr flammendrotes Gesicht in den Falten eines Vorhangs am Fenster – Cozcatl schien wie erstarrt –, als die junge Königin sich wieder auf ihrer Ruhebank ausstreckte.
In meiner Aufregung ließ ich etliches von meinen Malsachen von meinem Schoß auf den Boden fallen, doch gelang es mir, mit sehr gestrenger Stimme zu sagen: »Herrin, das schickt sich ganz und gar nicht.«
»Ayya, die typische Prüderie des Nichtadligen«, machte sie sich über mich lustig und lachte. »Du mußt lernen, Hole!, daß eine Edelfrau nichts dabei findet, in Gegenwart von Sklaven nackt zu sein, zu baden oder ihre Notdurft zu verrichten. Ob Mann oder Frau, sie könnten genausogut Hirsch oder Wachtel sein, oder ein Nachtfalter im Raum; daß sie etwas sehen, ist völlig bedeutungslos.«
»Ich bin kein Sklave«, erklärte ich steif. »Daß meine Augen meine Herrin unbekleidet sehen – die Königin des Uey-Tlatoáni – würde in jedem Fall als Schwerverbrechen angesehen werden. Außerdem können diejenigen, die wirklich Sklaven sind, reden.«
»Meine nicht. Dazu fürchten sie meinen Zorn mehr als jedes andere Gesetz oder jeden anderen Herrn. Pitza, zeig Hole! deinen Rücken!«
Die Zofe stieß einen klagenden Ton aus, zog jedoch, ohne sich umzudrehen, ihre Bluse herunter, damit ich die entzündeten Striemen sähe, die irgendeine Peitsche hinterlassen hatte. Ich sah zu Cozcatl hinüber, um mich zu vergewissern, daß er gleichfalls sah und begriff.
»So«, sagte Jadestein Puppe mit magueysirupsüßem Lächeln, »und jetzt komm so nahe heran, wie du willst, Hole!, und zeichne mich ganz.«
Selbiges tat ich, wiewohl mir die Hand dermaßen zitterte, daß ich die Linien häufig wegwischen und neu ziehen mußte. Freilich beruhte mein Zittern nicht ausschließlich auf meinem Entsetzen und meiner Angst. Der Anblick der völlig nackten Jadestein Puppe hätte, glaube ich, jeden Mann zum Zittern gebracht. Sie hätte zutreffender Gold Puppe heißen müssen, denn Gold war die Farbe ihres Körpers, und jede Fläche, Linie und Rundung, jede Falte, Wölbung und Vertiefung war vollkommen, wie von der Hand eines Toltécatl-Puppenmachers. Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, daß ihre Brustwarzen und die sie umgebenden Höfe tiefdunkel und herrlich groß waren.
Ich zeichnete sie in der Pose, die sie eingenommen hatte: lang ausgestreckt auf der Ruhebank, bis auf ein Bein, das sie lässig auf den Boden hängen ließ; die Hände hatte sie hinterm Kopf verschränkt, um ihre Brüste noch herausfordernder herauszudrücken. Wiewohl ich nicht anders konnte, als mir gewisse Partien ihres Körpers zu betrachten – fast möchte ich sagen, mir einzuprägen –, muß ich gestehen, daß mein Gefühl für Schicklichkeit mich dazu brachte, diese auf der Zeichnung ein wenig verschwommen darzustellen, worüber Jadestein Puppe sich beschwerte, als ich ihr das fertige Bild reichte.
»Zwischen den Beinen bin ich ganz verschmiert! Bist du nur prüde, Hole!, oder kennst du dich im weiblichen Körper nicht aus? Das Allerheiligste meines Körpers verdient doch gewiß ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Genauigkeit!«
Sie erhob sich von der Ruhebank und stellte sich breitbeinig vor mich hin, der ich auf dem niedrigen Stuhl hockte. Mit dem Finger zog sie nach, was sie jetzt zur Schau stellte und peinlich genau beschrieb. »Siehst du? Wie diese zarten rosigen Lippen hier vorn zusammenstoßen, um diesen kleinen Xacapíli-Knopf zu umschließen, der wie eine rosige Perle ist und – ach so empfänglich für noch die leichteste Berührung.«
Mir rann der Schweiß am ganzen Körper herunter, die Zofe Pitza hatte sich nahezu völlig in den Vorhang eingewickelt, und Cozcatl schien vollends erstarrt, wie er geduckt in der Ecke hockte.
»Jetzt hör endlich auf, dich zimperlich zu winden, Hole!« sagte die Mädchen-Königin. »Ich wollte dich nicht reizen, sondern eher dein Können auf die Probe stellen. Ich habe nämlich eine Aufgabe für dich.« Sie wandte sich um und fauchte die Zofe Pitza an: »Pitza, hör auf, deinen Kopf zu verstecken! Komm und kleide mich wieder an!«
Während dies getan wurde, sagte ich: »Die Gebieterin wünscht, daß ich das Bild von jemand zeichne?«
»Ja.«
»Und von wem, Herrin?«
»Von irgendwem«, sagte sie, und ich zwinkerte verwirrt. »Verstehst du, wenn ich mich in den Palastgärten ergehe oder in meinem Tragestuhl in die Stadt tragen lasse, wäre es bei meiner Stellung unmöglich, auf jemand zu zeigen und zu sagen: den da! Außerdem vermögen meine Augentropfen mich dermaßen zu blenden, daß ich jemand wirklich Attraktiven womöglich übersehe. Ich meine selbstverständlich Männer.«
»Männer?« wiederholte ich begriffstutzig.
»Ich will, daß du dein Papier und deine Kreide immer bei dir trägst, wo du auch hingehst. Und jedesmal, wenn du einen hübschen Mann triffst, halte sein Gesicht und seine Gestalt für mich auf dem Papier fest!« Sie hielt inne und kicherte. »Du brauchst ihn nicht auszuziehen. Ich will so viele verschiedene Bilder von so vielen verschiedenen Männern, wie du nur beibringen kannst. Doch darf keiner erfahren, warum du es tust, oder für wen. Fragt man dich aus, sagst du, du übtest dich nur in deiner Kunst.« Sie warf mir meine beiden Zeichnungen wieder zu. »Das ist alles. Du darfst dich zurückziehen, Hole! Und wage nicht, zu mir zurückzukommen, bevor du nicht ein Schock Bilder vorzuweisen hast.«
Schon damals beschlich mich eine Ahnung, daß Jadestein Puppes Befehl einmal böse Folgen haben könnte. Allerdings ließ ich diese Ahnung nicht weiter in mir hochkommen, sondern konzentrierte mich darauf, den Auftrag nach bestem Können und Vermögen auszuführen. Meine Hauptschwierigkeit bestand darin zu erraten, was ein fünfzehn Jahre altes Mädchen als »hübschen« Mann ansah. Da mir keine weiteren Anhaltspunkte gegeben worden waren, beschränkte ich mich bei meinen verstohlenen und in aller Heimlichkeit gefertigten Skizzen auf Prinzen und Ritter, Krieger, Athleten und andere stramme Burschen. Doch als ich dann zusammen mit Cozcatl, der meinen Stapel Borkenbögen trug, zu der Königin zurückkehrte, hatte ich aus Übermut auch noch eine Skizze hinzugefügt, die ich aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte – und zwar von dem gebeugten und verhutzelten kakaobraunen Mann, der seltsamerweise immer wieder in meinem Leben auftauchte.
Sie schnaubte verächtlich und sagte: »Ich glaube, du willst dich über mich lustig machen, Hole! Immerhin, ich habe Frauen davon tuscheln hören, welch besondere Wonnen man von Zwergen und Buckligen zu erwarten hat und« – dabei blickte sie rasch auf Cozcatl – »einem kleinen Jungen mit einem Tepúli, nicht größer als ein Ohrläppchen. Sollte ich eines Tages der gewöhnlichen Männer überdrüssig …«
Sie blätterte die Zeichnungen durch, dann hielt sie inne und sagte: »Yyo ayyo! Dieser hier, Hole!, hat kühne Augenbrauen. Wer ist das?«
»Das ist Kronprinz Schwarze Blume.«
Ihr Stirnrunzeln war reizvoll. »Nein, das könnte mich in Schwierigkeiten bringen«, sagte sie, betrachtete eingehend jede Skizze, bis sie schließlich fragte: »Und dieser hier?«
»Wie er heißt, weiß ich nicht, Herrin. Er ist ein Schnellbote, den ich manchmal Botschaften überbringen sehe.«
»Das ist genau, was ich suche«, sagte sie mit dem für sie charakteristischen süßen Lächeln. »Hole ihn!« Diesmal war es nicht nur der Name, sondern auch ein Befehl. »Bring ihn her!«
Bänglich hatte ich etwas Derartiges bereits geahnt; trotzdem brach mir jetzt der kalte Schweiß aus. Äußerst schüchtern und förmlich erklärte ich:
»Gebieterin, man hat mir befohlen, Euch zu dienen und mich gewarnt, Euch weder zurechtzuweisen noch zu kritisieren. Wenn ich Eure Absichten jedoch richtig deute, bitte ich Euch, es Euch noch einmal genau zu überlegen. Ihr seid die jungfräuliche Prinzessin des mächtigsten Herrn in Der Einen Welt und als Jungfrau rechtmäßig dem einen Herrn vermählt, der gleichfalls ein mächtiger Gebieter ist. Ihr erniedrigt zwei Verehrte Sprecher und Euch selbst, edle Dame, wenn Ihr Euch mit einem anderen Mann abgebt, ehe Ihr das Bett Eures Gemahls besteigt.«
Ich erwartete jeden Augenblick, daß sie die Peitsche zog, mit der sie ihre Sklavinnen traktierte, doch, immer dieses aufreizende süße Lächeln im Gesicht, hörte sie mich bis zu Ende an. Dann sagte sie:
»Ich könnte dir sagen, daß deine Unverschämtheit sträflich ist, will mich jedoch darauf beschränken, dir zu erklären, daß Nezahualpíli älter ist als mein eigener Vater und seine Männlichkeit offenbar von der Dame von Tolan und allen seinen anderen Frauen und Konkubinen völlig entkräftet ist. Er hält mich hier einsam und abgesondert, während er ohne Zweifel verzweifelt Medizinen und Beschwörungen ausprobiert, um seine erschlafftes und verschrumpeltes altes Tepúli wieder steif zu machen. Warum aber sollte ich meine drängenden Bedürfnisse und die Blüte meiner Schönheit verschwenden, während ich darauf warte, bis es ihm paßt oder er dazu wieder fähig ist? Wenn er darauf angewiesen ist, seine Gattenpflichten noch aufzuschieben, werde ich dafür sorgen, daß sie wirklich lange aufgeschoben werden. Und dann, wenn er und ich bereit sind, kannst du sicher sein, daß ich Nezahualpíli davon überzeuge, unberührt, jungfräulich und ängstlich vor dem Kommenden zu sein wie nur je eine Jungfrau.«
Ich versuchte es nochmals, tat wirklich mein bestes, sie davon abzubringen, doch glaube ich nicht, daß irgend jemand mir das hinterher wirklich glaubte.
»Gebieterin, denkt daran, wer Ihr seid und aus welch einer Familie Ihr stammt. Ihr seid die Enkelin des Verehrten Motecuzóma, und der wurde von einer Jungfrau geboren! Sein Vater warf einen geschnittenen Stein in den Garten seiner Geliebten. Sie steckte sich ihn an den Busen und empfing das Kind Motecuzóma, ehe sie seinen Vater ehelichte oder ihm beiwohnte. So steht Ihr in einer Tradition der Reinheit und Jungfräulichkeit, die Ihr nicht ….«
Sie unterbrach mich mit einem Lachen. »Deine Fürsorge rührt mich, Hole! Doch diese Predigt hättest du mir halten sollen, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Als ich wirklich noch Jungfrau war.«
Zu spät kam mir der Gedanke, mich umzudrehen und zu Cozcatl zu sagen: »Du solltest besser – du kannst jetzt gehen, Junge.«
Jadestein Puppe sagte: »Du kennst jene Schnitzereien, welche die schändlichen Huaxtéca fertigen? Die hölzernen Statuen mit dem übergroßen männlichen Glied? Mein Vater Ahuítzotl hat an der Wand einer Galerie eine solche hängen, als Kuriosum, um seine männlichen Freunde damit in Erstaunen zu versetzen. Frauen interessiert das jedoch auch. Das Glied ist glänzend und glatt gerieben von den vielen, die im Vorübergehen bewundernd ihre Hand darauf gelegt haben – Edelfrauen, Sklavinnen, ich selbst.«
Ich sagte: »Ich glaube, ich möchte diese Dinge wirklich nicht …« Doch sie ging einfach darüber hinweg.
»Ich mußte eine schwere Truhe an die Wand schieben, um darauf zu steigen und das Ding erreichen zu können. Und das kostete mich viele schmerzvolle Tage, denn nach jedem meiner frühen Versuche mußte ich ruhen und abwarten, bis mein noch viel zu kleines Tipili aufhörte zu schmerzen. Aber ich ließ nicht locker und empfand es schon als einen großen Triumph, als es mir schließlich gelang, zumindest die Spitze des gewaltigen Glieds hereinzubringen. Nach und nach nahm ich immer mehr davon in mir auf. Seither habe ich wohl an die hundert Männer gehabt, doch keiner von ihnen hat mir jene Empfindungen geschenkt, deren ich mich in jenen Tagen erfreute, da ich mit meinem kleinen Bauch an diesem groben Standbild der Huaxtéca rieb.«
Ich flehte sie an: »Ich sollte diese Dinge nicht erfahren, Gebieterin.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich suche nicht nach Entschuldigungen dafür, wie ich bin. Diese Art von Erlösung brauche ich, brauche ich oft und werde ich mir verschaffen. Selbst dich würde ich zu diesem Zweck gebrauchen, Hole! Du bist nicht ohne Reiz. Und du würdest mich nicht verraten, denn ich weiß, daß du Nezahualpílis Wunsch achten wirst, nichts zu hinterbringen. Das jedoch würde dich nicht daran hindern, dein eigenes Schuldgefühl zu beichten, wenn wir uns paarten, und das würde unser beider Verhängnis sein. Daher …«
Sie reichte mir die Zeichnung, die ich von dem nichtsahnenden Schnellboten gezeichnet hatte, sowie einen Ring von ihrem Finger. »Gib ihm diesen. Er ist das Hochzeitsgeschenk meines Gemahls, und es gibt keinen anderen Ring, der ihm gleich wäre.«
Der Ring bestand aus rotem Gold und trug einen riesigen Smaragd von unschätzbarem Wert. Derlei Edelsteine wurden nur selten von den Kaufleuten gebracht, die sich bis in das Land der Quautemälan hinunterwagten, unserer am weitesten nach Süden vorgeschobenen Handelsbeziehung, und der Smaragd stammte nicht einmal von dort, sondern aus einem Land unbekannten Namens, noch unendlich viel weiter im Süden als Quautemälan. Der Ring war von der Art jener, die dazu bestimmt sind, an der hocherhobenen Hand getragen zu werden, denn am Reif selbst hingen noch Jadeanhänger, die am vorteilhaftesten wirkten, wenn ihre Trägerin ihre Hand hochhielt. Der Ring war in der Größe eigens für Jadestein Puppes Mittelfinger gefertigt. Ich konnte ihn kaum über meinen kleinen Finger streifen.
»Nein, tragen darfst du ihn nicht«, warnte das Mädchen mich. »Und er auch nicht. Diesen Ring würde jeder sofort erkennen, der ihn jemals gesehen hat. Er soll ihn nur verborgen bei sich tragen und ihn dann um Mitternacht bei der Wache am Osttor vorweisen. Beim Anblick dieses Rings wird sie ihn durchlassen. Pitza wird gleich hinterm Tor warten und ihn herbringen.«
»Heute nacht?« sagte ich. »Aber ich muß ihn doch erst wiederfinden, Gebieterin. Wer weiß, wohin er gerade mit einer Botschaft geschickt worden ist.«
»Heute nacht«, sagte sie. »Ich habe es schon zu lange entbehren müssen.«
Ich weiß nicht, was sie mit mir gemacht haben würde, hätte ich den Mann nicht gefunden; aber ich schaffte es und sprach ihn an wie ein junger Edelmann, der will, daß er irgendwohin eine Nachricht überbringt. Bewußt nannte ich ihm nicht meinen Namen. Er jedoch sagte: »Ich heiße Yeyac-Netztlin – Euch stets zu Diensten, Herr!«
»Einer Dame zu Diensten«, berichtigte ich ihn. »Sie wünscht, daß du ihr heute um Mitternacht im Palast deine Aufwartung machst.«
Er machte ein betretenes Gesicht und sagte: »Es ist höchst schwierig, nachts weit zu laufen, Herr …« Doch dann fielen seine Augen auf den Ring, den ich auf meiner Handfläche liegen hatte, seine Augen weiteten sich, und er sagte: »Dieser Dame zu Diensten zu sein, würde mich selbstverständlich weder Mitternacht noch Mictlan oder sonst was abhalten.«
»Es handelt sich um einen Dienst, der Verschwiegenheit erfordert«, sagte ich und hatte dabei einen sauren Geschmack auf der Zunge. »Weise diesen Ring der Wache am Osttor vor, dann wirst du eingelassen.«
»Ich höre und gehorche, junger Herr. Ich werde zur Stelle sein.«
Und er war zur Stelle. Ich blieb wach und lauschte an meiner Tür, bis ich Pitza und Yeyac-Netztlin auf Zehenspitzen über den Korridor schleichen hörte. Danach hörte ich nichts mehr, deshalb weiß ich nicht, wie lange er blieb, noch wie er es fertigbrachte, wieder herauszuschlüpfen. Und ich lauschte auch nicht an der Tür, als er zu wiederholten Malen wiederkam. Daher weiß ich auch nicht, wie oft er sie besuchte. Immerhin dauerte es einen ganzen Mond, ehe Jadestein Puppe, vor Langeweile gähnend, mir den Auftrag erteilte, mögliche neue Bettgenossen für sie zu skizzieren; offensichtlich hatte also Yeyac-Netztlin sie über diese Zeitspanne hinweg zufriedengestellt. Der Name dieses Schnellboten bedeutete übrigens passenderweise Lange Beine, und vielleicht war er auch sonst mit einiger Länge begabt.
Wiewohl Jadestein Puppe meine Zeit während dieses Monds nicht weiter beanspruchte, war mir die ganze Zeit über alles andere als wohl in meiner Haut. Der Verehrte Sprecher kam etwa jeden achten oder neunten Tag, seiner vorgeblich verhätschelten und ungeduldigen Prinzessin-Königin einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, und ich war oft dabei und mühte mich, während dieser Unterhaltungen nicht sichtbarlich zu schwitzen. Ich konnte mich nur immer wieder kopfschüttelnd fragen, wieso in aller Götter Namen Nezahualpíli nicht erkannte, daß er eine Frau geheiratet hatte, die reif war, augenblicklich von ihm genommen zu werden. Oder von irgendeinem anderen Mann.
Die Juweliere, die mit Jade handeln, behaupten, dieser Stein finde sich häufig leicht unter den gewöhnlichen Steinen auf den Feldern, weil er sein Vorhandensein und seine Verfügbarkeit weithin kundtue. Man braucht nur bei Sonnenaufgang hinauszugehen, behaupten sie, und man werde hier und da einen Stein sehen, der einen schwachen, doch unmißverständlichen Dunst ausströme, der stolz verkünde: »In mir ist ein Jadestein verborgen. Komm und hol ihn dir!« Gleich dem hochgeschätzten Edelstein, nach dem sie benannt war, ging auch von Jadestein Puppe irgendeine nicht zu benennende Ausstrahlung oder Vibration aus, die jedem Mann sagte: »Hier bin ich. Komm und nimm mich!« Sollte Nezahualpíli der einzige Mann in der ganzen Einen Welt sein, der ihr Feuer und ihr Bereitsein nicht spürte? Sollte er wirklich so impotent und uninteressiert sein, wie die junge Königin behauptet hatte?
Nein. Als ich sie zusammen sah und ihnen zuhörte, ging mir auf, daß er sich größten Zartgefühls und größter Zurückhaltung befleißigte. Denn Jadestein Puppe tat in ihrem eigensinnigen Widerstreben, sich mit einem einzigen Liebhaber zu begnügen, alles, damit er in ihr nicht ein mannbares Mädchen in seiner vollen Jugendblüte sähe, sondern eine zarte und unreife Heranwachsende, die vor der Zeit für eine Vernunftehe bestimmt worden war. Während jener Besuche war sie durchaus nicht die Jadestein Puppe, wie ich und ihre Sklavinnen – und wahrscheinlich auch Yeyac-Netztlin – sie so gut kannten. Sie trug züchtige Gewänder, welche ihre aufreizenden Rundungen verbargen und sie als schlankes und gebrechliches Kind erscheinen ließen. Irgendwie unterdrückte sie in seiner Gegenwart ihre sonstige geradezu greifbare Sinnlichkeit, ganz zu schweigen von ihrer Hoffart und ihrer Neigung zu jähen Zornesausbrüchen. Kein einziges Mal bediente sie sich des rüden Namens Hole!, wenn sie von mir sprach. Irgendwie hielt sie die wirkliche Jadestein Puppe verborgen – topco petlacalco, »im Beutel oder im Kasten«, wie wir von einem Geheimnis sagen.
In Anwesenheit ihres Gebieters lag sie weder schmachtend auf ihrer Ruhebank, ja, saß nicht einmal auf einem Stuhl, sondern kniete zu seinen Füßen, die Knie schicklich zusammengenommen, die Augen sittsam niedergeschlagen, und sprach mit kindlich-schüchterner Stimme. Selbst mich hätte sie damit zum Narren halten und mich glauben machen können, sie sei höchstens zehn Jahre alt; nur wußte ich, daß sie selbst in diesem zarten Alter bereits mit allen Wassern gewaschen gewesen war.
»Ich hoffe, du findest dein Leben nicht mehr so eingeengt«, sagte Ne-zahualpili, »jetzt, wo du Mixtli zum Gefährten hast.«
»Ayyo, ja, mein Gebieter«, sagte sie und lächelte, daß sich ihre Grübchen reizvoll vertieften. »Er ist ein unschätzbarer Begleiter. Mixtli zeigt mir vieles und erklärt es mir. Gestern hat er mich in die Bibliothek mitgenommen, welche die Dichtungen Eures geschätzten Vaters enthält, und hat mir einige seiner Gedichte vorgelesen.«
»Und haben sie Euch gefallen?« erkundigte sich der Uey-Tlatoáni.
»Oh, sehr sogar. Allerdings meine ich, Gedichte von Euch, mein Gemahl, würde ich noch lieber hören.«
Folglich sprach Nezahualpíli einige seiner Gedichte, freilich mit einer Bescheidenheit, die ihm wohl anstand. »Sie klingen selbstverständlich besser, wenn mein Trommler mich begleitet.« Eines davon, in dem der Sonnenuntergang gepriesen wurde, schloß mit den Zeilen:
… Gleich einem leuchtenden Blumenstrauß
Wirft unser strahlender, unser schimmernder Gott, die Sonne,
Sich in ein Gefäß aus
Reinstem Edelgestein, und der Tag ist dahin.
»Bezaubernd«, hauchte Jadestein Puppe. »Das stimmt mich ein wenig schwermütig.«
»Der Sonnenuntergang?« fragte Nezahualpíli.
»Nein, mein Gebieter – daß Ihr die Götter erwähnt. Ich weiß, daß ich nach und nach all die Götter Eures Volkes kennenlernen werde. Doch inzwischen habe ich keine meiner altgewohnten Götter um mich. Wäre es allzu dreist, wenn ich meinen Verehrten Gatten um die Erlaubnis bäte, ein paar Statuen der Lieblingsgötter meiner Familie aufzustellen?«
»Meine liebe kleine Puppe«, sagte er nachsichtig, »Ihr könnt alles haben, was Euch glücklich und weniger von Heimweh geplagt macht. Ich werde Pixquitl zu Euch schicken, meinen Hofbildhauer, und Ihr braucht ihm nur zu sagen, nach welchen Götterbildern Euer sanftes Herz sich sehnt, und er wird sie Euch machen.«
Als Nezahualpíli diesmal ihre Gemächer verließ, forderte er mich durch eine Geste auf, ihn zu begleiten. Ich folgte dieser Aufforderung und befahl stumm meinen Schweißporen, weiterhin ihre Schleusen nicht zu öffnen, denn ich war fest davon überzeugt, daß er mich danach ausfragen werde, was Jadestein Puppe denn tue, wenn sie gerade keine Bibliotheken besuche. Zu meiner großen Erleichterung erkundigte der Verehrte Sprecher sich jedoch nach meinem eigenen Tun.
»Ist es eine große Belastung für dich, Maulwurf?«, fragte er sehr freundlich, »wenn du deiner jungen Dame Schwester soviel Zeit opferst?«
»Nein, Gebieter«, log ich. »Sie ist äußerst rücksichtsvoll und verlangt nicht, daß ich über meinem Dienst bei ihr meine Ausbildung vernachlässige. Erst am Abend plaudern wir miteinander, streifen durch den Palast oder gehen in der Stadt spazieren.«
»Wenn ihr euch unterhaltet«, sagte er, »würde ich dich bitten, dich möglichst zu bemühen, ihr den Mexícatl-Akzent abzugewöhnen. Du selbst hast unsere Texcocóer Sprechweise so rasch angenommen. Ermuntere sie doch, sich in der Aussprache einer etwas größeren Eleganz zu befleißigen, Kopf Neiger.«
»Gewiß, mein Gebieter. Ich werde es versuchen.«
Er fuhr fort: »Unser Ober-Unterweiser in der Wortkunde hat mir berichtet, du habest es in der Kunst des Bilderschreibens binnen kurzer Zeit bewundernswert weit gebracht. Könntest du möglicherweise noch etwas von deiner Freizeit erübrigen, um dieses Können praktisch anzuwenden?«
»Aber gewiß doch, mein Gebieter!« erklärte ich mit Feuereifer. »Ich werde dafür sorgen, daß ich Zeit habe.«
Auf diese Weise begann endlich meine eigentliche Laufbahn als Schreiber, und das weitgehend dank Jadestein Puppes Vater, Ahuítzotl. Unmittelbar nach seiner Krönung zum Uey-Tlatoáni von Tenochtítlan hatte Ahuítzotl höchst wirkungsvoll sein überragendes Können als Herrscher bewiesen, indem er den Huaxtéca der Nordwestküste den Krieg erklärte. Unter seiner persönlichen Führung hatte ein aus Mexíca, Acólhua und Tecpanéca bestehendes Heer diesen Krieg binnen eines Monds zu einem siegreichen Ende gebracht. Die Heere hatten reiche Kriegsbeute mit nach Hause gebracht, und das unterworfene Volk wurde wie üblich zu jährlichen Tributzahlungen verpflichtet. Die Beute sowie die Tribute sollten, wie gleichfalls üblich, unter dem Dreibund verteilt werden: jeweils zwei Fünftel an Tenochtítlan und Texcóco sowie ein Fünftel an Tlà-copan.
Die mir von Nezahualpíli zugedachte Aufgabe bestand darin, sämtliche von den Huaxtéca bereits gelieferten sowie noch ausstehenden Posten einzeln in einem Hauptbuch aufzuführen, und außerdem die verschiedenen Waren – Türkis, Kakao, Baumwollumhänge, Röcke und Obergewänder sowie Ballen Baumwolltuch – in andere Bücher einzutragen, aus denen dann zu ersehen war, wo und wie sie auf die verschiedenen Texcócoer Lagerhäuser verteilt wurden. Es handelte sich um eine Aufgabe, bei der ich sowohl mein Können in der Bilderschrift als auch im Rechnen üben konnte; ich warf mich mit viel Freude darauf und nahm mir bewußt vor, meine Sache besonders gut zu machen.
Doch wie schon gesagt verstand auch Jadestein Puppe, meine Fähigkeiten zu nutzen; abermals ließ sie mich rufen und befahl mir, meine Suche nach »hübschen Männern« zu erneuern und Skizzen von ihnen zu liefern. Bei dieser Gelegenheit beklagte sie sich mir gegenüber über die Unfähigkeit des Hofbildhauers.
»Wie mein Gemahl mir gestattete, bestellte ich diese Statue und gab dem alten Narren von Bildhauer, den er schickte, genaue Anweisungen. Aber schau sie dir an, Hole! Eine Ungeheuerlichkeit!«
Ich sah sie mir an: eine lebensgroße männliche Gestalt, in Ton modelliert, mit lebensechten Farben bemalt und dann hart gebrannt. Sie stellte keineswegs einen mir bekannten Gott der Mexíca dar, hatte jedoch etwas, was mir merkwürdig vertraut vorkam.
»Die Acólhua sollen in den Künsten Treffliches leisten«, sagte sie voller Verachtung. »Aber wisse, Hole! Ihr anerkannter Meisterbildhauer beweist eine beklagenswerte Unfähigkeit, verglichen mit dem Können einiger weniger berühmter Künstler, von denen ich daheim Arbeiten gesehen habe. Wenn Pixquitl meine nächste Statue nicht besser macht als diese hier, werde ich diese unbekannten Mexíca aus Tenochtítlan kommen lassen und ihn der Schande preisgeben. Geh hin und sag ihm das!«
Ich freilich hegte den starken Verdacht, daß die Dame nur einen Vorwand suchte, nicht Künstler, sondern ehemalige Liebhaber nach Texcóco zu bringen, an denen sie noch hing. Aber gleichwohl – wie befohlen, suchte ich den Hofbildhauer Pixquitl in seiner unter der Erde gelegenen Werkstatt auf. Dort toste laut das Feuer der Brennöfen sowie das Hämmern und Meißeln seiner Studenten und Lehrlinge. Ich mußte schreien, um ihm Jadestein Puppes Beschwerde und Drohung zu übermitteln.
»Ich habe mein möglichstes getan«, erklärte der schon etwas betagte Künstler. »Die junge Königin wollte mir aber nicht einmal den Namen ihres erwählten Gottes nennen, und so konnte ich mich nicht an andere Statuen oder gemalte Bilder von ihm halten. Das einzige, wonach ich mich richten konnte, war dies hier.«
Mit diesen Worten zeigte er mir eine Kreidezeichnung auf Borkenpapier – meine eigene Skizze, die ich von Yeyac-Netztlin gemacht hatte. Ich wußte wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Wieso hatte Jadestein Puppe das Standbild eines Gottes in Auftrag gegeben – gleichgültig, um welchen Gott es sich auch handelte – und befohlen, daß er aussähe wie ein einfacher sterblicher Schnellbote? Da ich jedoch annahm, sie würde mich anfauchen und mir bedeuten, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, fragte ich sie nicht danach.
Als ich meinen nächsten Stapel Zeichnungen ablieferte, legte ich in voller Absicht und nicht nur zum Scherz das Bild von Jadestein Puppes legitimem Gatten, des Verehrten Sprechers Nezahualpíli, dazu. Sie bedachte sowohl die Skizze als auch mich nur mit einem verächtlichen Schnauben, als sie sie beiseitelegte. Das Bild, welches sie diesmal wählte, war das eines jungen Untergärtners im Palast, namens Xali-Otli; ihm mußte ich am nächsten Tag ihren Ring und ihre Anweisungen überbringen. Genauso wie sein Vorgänger, war auch er nur ein Gemeinfreier, sprach Nahuatl jedoch mit Texcócoer Akzent, und so hoffte ich, daß er fortfahren werde, ihr, wie Nezahualpíli begehrte, eine feinere Aussprache beizubringen, da ich ja eine Zeitlang von der Pflicht, der Dame zu Diensten zu sein, entbunden sein würde.
Nachdem ich mit der Anfertigung der Tributliste der Huaxtéca fertig war, übergab ich das Hauptbuch dem Unterschatzmeister, der für derlei Dinge zuständig war, und sich gegenüber seinem Vorgesetzten, der Weiblichen Schlange, in den höchsten Tönen des Lobes ob meiner Arbeit erging: Herr Stark Knochen wiederum war so freundlich, gegenüber Nezahualpíli ein gutes Wort über mich fallen zu lassen. Woraufhin der Verehrte Sprecher bei mir anfragen ließ, ob ich wohl Lust hätte, mich an der gleichen Art von Arbeit zu versuchen, die ihr tut, ehrwürdige Patres. Das heißt, schriftlich festzuhalten, was in der Kammer gesprochen wurde, in welcher der Uey-Tlatoáni mit seinem Staatsrat zusammentraf, und im Gerichtsgebäude, in welchem er weniger hochstehenden Acólhua, die sich mit Bitten und Beschwerden an ihn wandten, Unterredungen gewährte.
Selbstverständlich übernahm ich diese Aufgabe freudigen Herzens und mit Begeisterung, wenn es auch zu Anfang nicht ganz leicht war und mir Fehler unterliefen; zuletzt erwarb ich mir jedoch auch für diese Arbeit großen Beifall. Nun muß ich sagen, auch wenn es unbescheiden klingt, ich hatte mir eine beträchtliche Behendigkeit, Können und Genauigkeit beim Hinschreiben meiner Bilderschriftsymbole erworben. Jetzt ging es darum, die Symbole auch noch schneller zu zeichnen, wiewohl ich es selbstverständlich niemals zu einer solchen Hurtigkeit als Schreiber gebracht habe, wie ein jeder von euch sie aufbringt, ehrwürdige Patres. In diesen Ratsversammlungen und beim Empfang von Bittstellern gab es selten Augenblicke, da keine Worte gesprochen wurden, die es nicht wert gewesen wären, festgehalten zu werden; häufig sprachen sogar mehrere Personen durcheinander. Zum Glück für mich war es so, daß wir – genauso wie ihr – stets zwei oder mehrere erfahrene Schreiber gleichzeitig arbeiten hatten; dadurch wurde das, was dem einen entging, mit einiger Wahrscheinlichkeit vom anderen Schreiber mitgeschrieben.
Früh lernte ich, nur jene Symbole aufzuzeichnen, aus denen die wichtigsten Wörter in der Rede hervorgingen, und auch diese nur andeutungsweise in skizzenhaften Umrissen. Hinterher, wenn ich Muße hatte, bemühte ich mich, das Fehlende zu erinnern und es zu ergänzen, fertigte dann eine saubere Abschrift an und fügte die Farben hinzu, die das ganze erst völlig verständlich machten. Durch diese Methode vergrößerte ich nicht nur meine Geschwindigkeit beim Schreiben, ich stärkte auch noch mein Gedächtnis.
Außerdem empfand ich es als hilfreich, eine Reihe von Zeichen zu entwickeln, die man zusammenfassende Symbole nennen könnte und die eine ganze Folge von Wörtern bargen. So zum Beispiel malte ich bloß einen winzigen Kreis, der den geöffneten Mund darstellte und welcher für die ganze, immerhin wortreiche lange Vorrede stand, mit der jeder Mann und jede Frau seine Rede an den Uey-Tlatoáni einleitete. »In Eurer erlauchten Gegenwart, mixpantzinco, Verehrter Sprecher Nezahualpíli …« Sprach jemand abwechselnd von Ereignissen, die sich vor kurzem oder aber schon vor längerer Zeit zugetragen hatten, unterschied ich dazwischen, indem ich entweder die Symbole zeichnete, die ein Baby darstellten oder einen Geier. Das Symbol für Baby bedeutete soviel wie »neu« und bezeichnete kürzlich Geschehenes. Der Geier jedoch mit seinem kahlen Kopf stand für »alt« und bezeichnete Ereignisse von früher. Ach, ja. Alle diese Gedanken mögen für Schreiberkollegen wie euch, verehrte Patres, von beruflichem Interesse sein, doch in Wahrheit spreche ich von diesen Dingen, weil ich mich innerlich sträube, von anderem zu berichten – etwa davon, wie ich das nächstemal vor der Dame Jadestein Puppe zu erscheinen hatte.
»Ich brauche ein neues Gesicht«, sagte sie. Dabei wußten wir beide, daß es kein neues Gesicht war, das sie brauchte. »Und ich habe keine Lust, solange zu warten, bis du eine neue Sammlung von Zeichnungen fertig hast. Laß mich die fertigen noch einmal durchsehen.« Ich brachte sie ihr, sie durchflog sie, sah jede einzelne nur kurz an, bis sie plötzlich innehielt und sagte: »Den hier! Wer ist das?«
»Irgendein Sklave, den ich im Palast gesehen habe«, erklärte ich ihr. »Ich glaube, er arbeitet als Abfallträger.«
»Hole ihn!« befahl sie und reichte mir ihren Smaragdring.
»Aber Gebieterin!« wandte ich ein. »Einen Sklaven?«
»Wenn ich sehr gibberig bin, bin ich nicht sonderlich heikel«, sagte sie. »Außerdem sind Sklaven manchmal sehr gut. Diese Tröpfe wagen es nicht, sich zu weigern, auch noch den erniedrigendsten Aufforderungen zu entsprechen, die an sie gestellt werden.« Sie lächelte ihr sirupsüßes Lächeln. »Und je weniger Rückgrat ein Mann hat, zu desto reptilienhafteren Verrenkungen gibt er sich her.«
Ehe ich weitere Einwände erheben konnte, führte Jadestein Puppe mich zu einem Alkoven in einer Wandnische und sagte: »Jetzt sieh dir das hier an! Der zweite Gott, den ich dem sogenannten Meisterbildhauer Pixquitl in Auftrag gegeben habe.«
»Das ist kein Gott«, sagte ich, und mir sträubten sich die Haare. »Das ist der Gärtner Xali-Otli.«
Warnend und mit kalter Stimme sagte sie: »Was dich und jeden anderen in Texcóco betrifft, ist das hier irgendein geringerer Gott, der von meiner Familie in Tenochtítlan verehrt wird. Aber lassen wir das. Du hast jedenfalls das Gesicht erkannt. Ich lege aber meine Hand dafür ins Feuer, daß das niemand sonst täte, höchstens noch seine Mutter. Dieser alte Pixquitl ist ein hoffnungsloser Nichtskönner. Ich habe nach diesen Mexíca-Künstlern geschickt, von denen ich sprach. Sie werden gleich nach dem Ochpanitztli-Fest hier eintreffen. Gehe hin und bestelle Pixquitl, ich wünsche, daß er eine eigene Werkstatt für sie vorbereitet und mit allem ausstattet, was sie brauchen. Jetzt such mir diesen Sklaven. Gib ihm den Ring und erteile ihm die üblichen Anweisungen.«
Als ich dem Bildhauer wieder gegenübertrat, sagte er verdrießlich: »Ich kann nur sagen, daß ich mein Bestes mit der Zeichnung getan habe, die mir gegeben wurde. Allerdings hat sie mir diesmal auch noch einen Schädel gegeben, damit zu arbeiten.«
»Was?«
»O ja, es ist wesentlich leichter, eine überzeugende Ähnlichkeit zu erreichen, wenn man tatsächlich die Schädelknochen hat, sie mit Ton überzieht und danach zu modellieren.«
Immer noch wollte ich nicht glauben, was mir schon längst hätte klar sein müssen, und daher stammelte ich: »Aber – aber, Meister Pixquitl-, kein Mensch könnte den Totenschädel eines Gottes haben.«
Lange und eindringlich blickte er mich aus seinen alten Augen mit den schweren Lidern darüber an. »Ich weiß nur, daß man mir den Schädel eines Mannes gegeben hat, der noch nicht lange tot war – und daß die Schädelstruktur annähernd den Gesichtszügen der Zeichnung entsprach, die ich gleichfalls erhielt. Außerdem hat man mir gesagt, die Zeichnung stelle einen weniger bedeutenden Gott dar. Ich bin kein Priester. Wie käme ich also dazu, daran zu zweifeln, daß es sich wirklich um einen Gott handelt. Aber ich bin auch kein Narr, den Befehl einer gebieterischen Königin anzuzweifeln. Ich verrichte die Arbeit, die mir aufgetragen wird, und habe es bislang geschafft, daß mir mein eigener Schädel noch auf dem Hals sitzt. Versteht Ihr?«
Wie vor den Kopf geschlagen nickte ich. Endlich verstand ich, und zwar nur allzu gut.
Der Meister fuhr fort: »Ich werde die Werkstatt für die neuen Künstler vorbereiten, die bald eintreffen sollen. Allerdings muß ich sagen, beneiden tue ich niemand, der auf diese Weise für die Dame Jadestein Puppe arbeiten muß. Weder mich. Noch sie! Noch Euch.«
Mir behagte diese Erkenntnis – Opferbeschaffer einer Mörderin zu sein – genausowenig, steckte jedoch schon so tief in allem drin, daß ich keine Möglichkeit sah, mich dem zu entziehen. Also ging ich hin und suchte den Sklaven, der Niez Hueyotl hieß – also den für Sklaven typischen hochtrabenden Namen, »Ich Werde Größe Besitzen«, trug. Offenbar machte er diesem Namen jedoch keine Ehre, denn es dauerte nicht lange, da ließ Jadestein Puppe mich abermals holen.
»Du hattest recht, Hole!« sagte sie. »Ein Sklave kann ein Fehler sein. Dieser hatte die Stirn, sich nachgerade als Mensch zu betrachten.« Sie lachte. »Nun, es wird nicht lange dauern, und er ist ein Gott, und das ist mehr, als er jemals hat erwarten dürfen. Aber dabei geht mir etwas auf. Mein Herr und Gebieter könnte anfangen, sich zu fragen, warum ich eigentlich nur Götter in meinen Gemächern habe. Es sollte zumindest eine Göttin dazukommen. Unter den letzten Bildern, die du mir gezeigt hast, war auch das einer hübschen Frau. Geh und hol mir dieses Bild.«
Ich tat es, wiewohl mir das Herz dabei sank. Ich bedauerte, der jungen Königin diese Skizze gezeigt zu haben. Ich hatte sie zu keinem besonderen Zweck gezeichnet, sondern, der Regung des Augenblicks nachgebend, aus Bewunderung für diese Frau, als sie zuerst meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie zog in der Tat die Augen vieler Männer auf sich, und in diesen Augen leuchtete vor allem heftiges Begehren auf. Aber Nemalhuili war bereits verheiratet, war die Frau eines wohlhabenden Federwirkers vom Texcócoer Handwerksmarkt. Nicht nur ihr lebhaftes und strahlendes Gesicht war schön. Ihre Bewegungen hatten etwas Fließendes und Sanftes, ihre Haltung war stolz, und stets hatte sie ein Lächeln für alle bereit. Nemalhuili strahlte einfach unauslöschliches Glücklichsein aus, und ihr Name paßte ausnehmend gut zu ihr, er bedeutete nämlich »Etwas Köstliches«.
Jadestein Puppe betrachtete eingehend das Bild und sagte dann zu meiner Erleichterung. »Dich kann ich nicht zu ihr schicken, Hole! Das wäre ein zu großer Verstoß gegen die guten Sitten und könnte unliebsames Aufsehen erregen. Ich werde eine meiner Sklavinnen zu ihr schicken.«
Doch war ich noch lange nicht aus allem heraus, wie ich gehofft hatte. Das nächste, was ich von der jungen Königin hörte, war: »Die Frau Nemalhuili wird heute nacht hier sein. Und ob du es glaubst oder nicht – es wird das erstemal sein, daß ich eine von meinem eigenen Geschlecht genieße. Ich will, daß du mit deinem Zeichenmaterial dabei bist und dieses Abenteuer festhältst, auf daß ich mich später an den verschiedenen Dingen ergötzen kann, die wir miteinander tun werden.«
Mich packte schieres Entsetzen bei dieser Vorstellung, und das aus drei Gründen. Zuerst war ich wütend auf mich selbst, weil ich Etwas Köstliches unabsichtlich in die ganze Sache hereingezogen hatte. Wiewohl ich sie nur dem Aussehen nach und wegen ihres Rufes kannte, hegte ich größte Hochachtung vor ihr. Zweitens, und das war höchst selbstsüchtig gedacht, konnte ich nach dieser Nacht beim besten Willen niemals mehr behaupten, ich wüßte nicht genau, was sich in den Gemächern der Dame abspielte. Und drittens empfand ich einen gewissen Abscheu vor der Aussicht, zur Zeugenschaft bei etwas gezwungen zu werden, was meiner Überzeugung nach zwei Menschen nur unter sich abzumachen haben. Ich sah jedoch keine Möglichkeit, mich zu weigern, muß jedoch gestehen, daß ich auch von einer gewissen Neugier getrieben wurde. Zwar hatte ich den Ausdruck Patlachuia bereits gehört, vermochte mir jedoch beim besten Willen nicht vorzustellen, was zwei Frauen miteinander anfangen konnten.
Etwas Köstliches sah fröhlich und anmutig aus wie immer und wußte – was durchaus verständlich ist – nur nicht recht, was sie von diesem heimlichen mitternächtlichen Treffen halten sollte. Es war Sommer, und die Luft draußen war keineswegs kühl; trotzdem trug sie einen schweren Überwurf um die Schultern.
»Gebieterin«, sagte sie höflich fragend und sah von der jungen Königin zu mir, der ich mit einem Stoß Papier auf dem Schoß dasaß. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, meine Anwesenheit diskret zu verbergen, da ich meiner schwachen Augen wegen ganz in der Nähe sitzen mußte, wollte ich etwas von dem festhalten, was sich abspielen sollte.
»Übersieh den Schreiber einfach«, sagte Jadestein Puppe. »Richte deine Aufmerksamkeit ausschließlich auf mich. Zunächst einmal muß ich wissen, daß dein Mann nichts von diesem Besuch weiß.«
»Nichts, Gebieterin. Er schlief bereits, als ich das Haus verließ. Eure Zofe hatte mich angewiesen, ihm nichts zu sagen, und so habe ich es auch nicht getan, da ich dachte, vielleicht wolltet Ihr etwas von mir – nun, etwas, was Männer nichts angeht.«
»Genau das ist es«, sagte die Gastgeberin und gluckste belustigt. Als die Augen der Frau abermals zu mir herüberwanderten, fauchte Jadestein Puppe: »Ich habe gesagt: übersieh ihn! Er ist nichts weiter als ein Stück Möbel. Er sieht nichts und hört nichts. Er ist überhaupt nicht vorhanden.« Dann senkte sie die Stimme, daß sie nur mehr ein einschmeichelndes Murmeln war. »Man hat mir gesagt, du seiest eine der schönsten Frauen von Texcóco. Wie du siehst, meine Liebe, bin ich das auch. Mir kam der Gedanke, daß es vielleicht lustig sein könne, wenn wir unsere Schönheit miteinander verglichen.«
Mit diesen Worten griff sie mit ihren eigenen königlichen Händen nach dem Überwurf und hob ihn in die Höhe, so daß der Schlitz in der Mitte Nemalhuilis Kopf hindurchließ. Die Besucherin machte selbstverständlich ein überraschtes Gesicht als die Königin ihr höchst eigenhändig den Überwurf abnahm. Dann jedoch verwandelte sich ihre Überraschung in Schrecken und Verblüffung, als Jadestein Puppe ihr nun auch noch die Bluse über den Kopf zog, so daß sie von der Hüfte an nackt dastand.
Nur ihre geweiteten Augen bewegten sich. Abermals blickten sie rasch zu mir herüber, wie eine Hindin, die von der Meute gestellt ist und jetzt Hilfe von den Jägern erwartet, die auf sie eindringen. Ich jedoch tat so, als sähe ich nichts, setzte ein undurchdringliches Gesicht auf, und tat so, als hielte ich die Augen gebannt auf die Zeichnung gerichtet, mit der ich gerade eben begonnen hatte. Ich glaube auch nicht, daß Etwas Köstliches jemals wieder zu mir herübergeschaut hat. Von diesem Augenblick an brachte sie es offensichtlich über sich, zu tun, was man ihr gesagt hatte: zu glauben, daß ich nicht da sei, ja, überhaupt nicht existierte. Ich meine, wenn die Frau es nicht fertiggebracht hätte, mich aus ihrem Bewußtsein auszulöschen – sie wäre in dieser Nacht vor Scham gestorben.
Während Nemalhuili barbrüstig und so stocksteif dastand, als wäre sie bereits eine Statue, zog Jadestein Puppe sich selbst – langsam, verführerisch – ihre Bluse aus; man hätte meinen können, sie tue es, um einen Mann zu erregen, der nicht reagieren wollte. Sodann trat sie näher, bis beider Körper sich fast berührten. Etwas Köstliches mochte zehn Jahre älter sein als die Mädchen-Königin und etwa eine Handbreit größer.
»In der Tat«, sagte Jadestein Puppe, »deine Brüste sind wunderschön. Nur« – sie machte einen Schmollmund – »deine Brustwarzen sind schüchtern und wagen es nicht, sich zu entfalten. Können sie nicht schwellen und sich aufrichten wie die meinen?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, neigte den Oberkörper ein wenig vor und rief aus: »Aber sieh doch, sie passen genau aufeinander! Unsere Busen passen vollkommen zueinander, meine Liebe. Ob alles andere es wohl auch tut?«
Damit preßte sie ihre Lippen auf die von Etwas Köstlichem. Die Frau schloß weder die Augen, noch veränderte sich ihr Ausdruck im geringsten, nur Jadestein Puppes Wangen wurden nach innen gesaugt. Nach einem Augenblick zog sie ihr Gesicht gerade weit genug zurück, um entzückt sagen zu können: »Schau! Deine Brustwarzen können doch wachsen! Ich hab's ja gewußt. Spürst du, wie sie sich den meinen entgegenrecken?« Sie neigte sich vor, versuchte es nochmals mit einem tief tastenden Kuß, und diesmal schloß Etwas Köstliches doch die Augen, gleichsam als befürchtete sie, etwas Verräterisches könnte in ihnen aufleuchten.
Regungslos standen sie da, lange genug für mich, ein Bild von ihnen zu zeichnen: Jadestein Puppe immer noch hochgereckt auf Zehenspitzen, Nemalhuili nirgends berührend außer an den Lippen und den Spitzen der Brüste. Dann griff die jüngere von beiden nach der Rockschließe der älteren, nestelte sie auf, und raschelnd fiel der Rock zu Boden. Ich saß nahe genug dabei, um zu sehen, wie kaum merklich ein Zittern über Nemalhuilis Muskeln hinwegging, als sie die Beine wie schützend zusammendrückte. Nach einem Augenblick machte Jadestein Puppe die Schließe ihres eigenen Rocks auf, der sich zu ihren Füßen ringelte. Sie hatte nichts darunter an, so daß sie bis auf ihre Goldsandalen jetzt vollständig nackt war. Doch als sie sich mit ihrem ganzen Körper gegen den von Etwas Köstlichem drängte, merkte sie, daß diese, wie jede anständige Frau, immer noch ihr Untergewand trug.
Jadestein Puppe trat einen Schritt zurück und betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung, Zärtlichkeit und Mißmut und sagte dann süß: »Ich werde dir deine letzte sittsame Hülle nicht abnehmen, Etwas Köstliches. Ich werde dich nicht einmal bitten, es zu tun. Ich werde dich soweit bringen, daß du es von dir aus willst.«
Die Mädchen-Königin nahm die Frau bei der Hand und zog sanft, bis sie mitkam; dann durchquerten sie den ganzen Raum und gingen zu dem großen, weichen, baldachinbewehrten Bett hinüber, und ich rückte mit meinen Kreiden und Papieren näher heran.
Jawohl, Pater Jerónimo, es ging durchaus noch weiter. Schließlich war ich dabei und habe alles gesehen – und vergessen habe ich nichts. Aber selbstverständlich seid Ihr entschuldigt, es Euch nicht weiter anzuhören, falls Ihr das wünscht.
Vielleicht sollte ich euch Patres, die ihr hiergeblieben seid, berichten, daß ich in meiner Zeit durchaus Zeuge gewesen bin, wie Frauen Gewalt angetan wurde. Ich habe erlebt, wie Soldaten – unsere wie eure – über ihre weiblichen Gefangenen hergefallen sind. Doch mein Lebtag habe ich nicht erlebt, wie einer Frau an ihrer Seele als auch an ihrem Geschlecht dermaßen Gewalt angetan wurde – so infam, gründlich, verheerend und entsetzlich Gewalt angetan wurde – wie Etwas Köstlichem von Jadestein Puppe. Und der Grund, warum all dies mir in meinem Gedächtnis haften geblieben ist – lebhafter als je die Vergewaltigung einer Frau oder eines Mädchens durch einen Mann – ist, daß das kaum zur Frau erblühte Mädchen sich die verheiratete Frau nicht etwa durch Gewalt oder mit Drohungen gefügig machte, sondern durch sanfte Berührungen, durch Streicheln und Liebkosungen, welche Nemalhuili schließlich zu einem solchen Höhepunkt der Ekstase brachten, daß sie fortan nicht mehr für das verantwortlich gemacht werden kann, was sie tat.
Es mag angemessen sein, an dieser Stelle einzufügen, daß wir, wenn wir von der Verführung einer Frau sprechen, den Ausdruck sagen: »Ich liebkose sie mit Blumen …«
Eine Zeitlang lag Etwas Köstliches rücklings und entschlossen gleichgültig da und nur Jadestein Puppe rührte sich. Sie setzte Lippen und Zunge ein und die äußersten Spitzen ihrer Finger, fuhr damit zärtlich über die geschlossenen Augenlider und Wimpern von Etwas Köstlichem hin, bearbeitete ihre Ohrläppchen und Salzfässer, die grübchenhafte Höhlung des Nabels, strich die Beine hinunter und herauf. Wiederholt vollführte sie mit Fingerkuppen oder Zunge langsam kreisende Bewegungen um die Frauenbrüste, ehe sie die steif und hochgereckt dastehenden Brustwarzen zwickte und leckte. Das Mädchen zwang Etwas Köstlichem nicht noch einmal einen leidenschaftlichen Kuß auf, kam jedoch von ihren anderen Beschäftigungen zwischendurch immer wieder zurück, um ihr mit der Zunge aufreizend über die zusammengekniffenen Lippen zu fahren. Und allmählich schwollen die Lippen der Frau gleich ihren Brüsten und färbten sich tiefrot. Ihre Haut, von einem hellen Kupferton und anfangs ganz glatt, prickelte, wurde überall zu einer Gänsehaut und zitterte an manchen Stellen.
Zwischendurch mußte Jadestein Puppe immer wieder in ihren Liebkosungen innehalten und die Frau mit einer allesumschlingenden Gebärde an sich drücken. Selbst wenn Etwas Köstliches die Augen weiterhin geschlossen hielt, konnte sie einfach nicht anders – sie mußte fühlen und wissen, was mit dem Mädchen vorging. Nur ein Standbild aus Stein hätte davon ungerührt bleiben können, und selbst die tugendsamste, widerstrebendste und zögerndste Frau ist kein Standbild. Als beim nächsten Mal ein hilfloses Erschauern die junge Königin durchlief, stieß Etwas Köstliches eine Art girrenden Laut aus, gleichsam wie eine Mutter, die ein verängstigtes Kind begütigt. Sie hob die Hand, um Jadestein Puppes Kopf hochzuheben und ihn sich auf den Busen zu betten, und gab ihr zum erstenmal von sich aus einen Kuß. Ihre Lippen zwängten die des Mädchens auseinander, und sie saugte ihre Wangen nach innen; dann entrang sich den beiden aufeinandergepreßten Mündern ein winselnder Laut, beider Körper erbebten gemeinsam, und die Frau ließ eine ihrer Hände fallen, um das Untergewand wegzuziehen, welches immer noch hindernd zwischen ihnen lag.
Danach lag Etwas Köstliches wieder ganz still da, schloß die Augen und biß sich in den Handrücken, was jedoch nicht verhinderte, daß sich ihr ein unterdrücktes Schluchzen entrang. Nachdem Jadestein Puppes Erbeben abgeebbt war, war sie wieder die einzige, die sich auf dem zerwühlten Bett bewegte. Die Frau allerdings war nunmehr gleichfalls ganz nackt und an jeder Stelle angreifbar, so daß das Mädchen mehrere Stellen hatte, denen sie ihre Aufmerksamkeit zuwenden konnte. Eine Zeitlang hielt Etwas Köstliches ihre Beine immer noch zusammengepreßt. Doch langsam, ganz allmählich – gleichsam, als habe das mit ihr selbst überhaupt nichts zu tun – entspannte die Frau ihre Muskeln, lockerte sie ihre Beine, die sich ein wenig öffneten, dann ein wenig mehr …
Jadestein Puppe barg ihren Kopf darin und suchte nach dem, was sie mir gegenüber einmal als die »rosige kleine Perle« beschrieben hatte. Das ging eine Weile so weiter, und die Frau stieß wie gepeinigt viele und höchst unterschiedliche kleine Laute aus, und vollführte zuletzt eine äußerst heftige Bewegung. Nachdem sie sich wieder gefaßt hatte, muß sie zu dem Schluß gekommen sein, da sie sich nun so weit hatte gehen lassen, könne sie sich durch ein weitergehendes Sichhinreißenlassen nicht noch mehr entwürdigen. Denn jetzt tat Etwas Köstliches, was Jadestein Puppe bislang nur ihr angetan, und das hatte eine Reihe unterschiedlicher Stellungen zur Folge. Manchmal umschlangen sie einander wie Mann und Frau, küßten sich Mund auf Mund, während ihre Schamhügel sich aneinander rieben. Manchmal jedoch lagen sie auch anders herum auf dem Bett, umschlang eine die Hüften der anderen und benutzte ihre Zunge wie ein kleines, wiewohl wesentlich hurtigeres männliches Glied. Bisweilen lagen sie auch mit übereinandergelegten Schenkeln da, berührte sich nur der untere Teil ihres Körpers und bemühten sie sich, sich zurückzubiegen, so daß nur ihre kleinen rosigen Perlen einander berührten und sich gegenseitig rieben.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß die Frau und das Mädchen bei allen verwickelten Stellungen, die sie einnahmen und bei aller Gier, mit der sie einander liebkosten, nicht um sich schlugen und auf- und abhüpften, wie ein Mann und eine Frau es tun, wenn sie besagten Akt vollführen. Ihre Bewegungen hatten etwas Gleitendes, nichts Eckiges, etwas Anmutiges, nichts Plumpes. Viele Male kamen mir die beiden – so emsig beschäftigt manche Teile von ihnen unzweifelhaft waren, ohne daß man es sah – vor, als ob sie so ruhig dalägen wie im Schlaf. Dann jedoch erschauerte wohl eine von ihnen oder versteifte sich oder vollführte eine ruckartige Bewegung oder wand sich. Ich habe zuletzt nicht mehr mitgezählt, doch weiß ich, daß Etwas Köstliches und Jadestein Puppe in dieser Nacht beide viele, viele Male mehr zum Höhepunkt gelangten, als beide es mit einem noch so virilen und ausdauernden Mann getan hätten. Zwischen diesen kleinen Zuckungen verharrten sie jedoch lange genug in den verschiedenen Stellungen, daß ich Skizzen von ihnen machen konnte, entweder ineinander verschlungen oder allein. Und wenn einige Bilder etwas verschmiert oder mit zittriger Hand gezogen waren, so lag das nicht an den Vorbildern, höchstens in dem Sinne, daß ihr Tun den Künstler erregte. Auch ich war nicht aus Stein. Während ich sie beobachtete, wurde ich von mitfühlenden Schaudern überlaufen, und zweimal straffte sich mein eigenes Glied …
Jetzt verläßt uns auch noch Pater Domingo überstürzt. Eigentümlich, wie manche Worte abstoßend auf einen Mann wirken und andere wiederum auf einen anderen. Ich glaube, Wörter beschwören in verschiedenen Gemütern verschiedene Bilder. Selbst in den Gehirnen unpersönlicher Schreiber, die sie nur als Zeichen auf dem Papier wiedergeben sollen.
Da dem so ist, tue ich vielleicht gut daran, nicht auch noch von den anderen Dingen zu berichten, die das Mädchen und die Frau im Laufe dieser langen Nacht taten. Zuletzt ließen sie jedenfalls erschöpft voneinander ab und lagen schwer atmend nebeneinander. Ihre Lippen und Tipili-Teile waren ausnehmend geschwollen und gerötet; ihre Haut glänzte von Schweiß und Speichel und anderen Ausscheidungen; ihre Körper waren wie das Jaguarfell von Kuß- und Bißmalen getüpfelt.
Leise erhob ich mich von meinem Platz neben dem Bett und sammelte mit zitternder Hand die Zeichnungen ein, die um den Stuhl herum verstreut lagen. Nachdem ich mich in eine Ecke des Raums zurückgezogen hatte, erhob auch Etwas Köstliches sich, bewegte sich müde und matt wie jemand, der sich von einer schweren Krankheit erholt, und zog langsam ihre Kleider an. Sie vermied es, mich anzusehen, aber ich konnte erkennen, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.
»Du wirst dich ausruhen wollen«, sagte Jadestein Puppe zu ihr und zog an der Klingelschnur über ihrem Bett. »Pitza wird dir eine Kammer zeigen, in der du allein sein kannst.« Etwas Köstliches weinte noch immer, als die verschlafene Sklavin sie aus dem Zimmer geleitete.
Mit unsicherer Stimme sagte ich: »Und was ist, wenn sie es ihrem Mann erzählt?«
»Das bringt sie nicht über sich«, sagte die junge Königin voller Zuversicht. »Und sie wird es auch nicht tun. Laß mich die Zeichnungen sehen.« Ich reichte sie ihr hinüber, und sie betrachtete sie sehr eingehend eine nach der anderen. »So also sieht es aus. Hinreißend. Und da hatte ich nun gedacht, ich hätte sämtliche Erfahrungen … Welch ein Jammer, daß Nezahualpili mir nur alte Dienerinnen mit nichtssagenden Gesichtern zugeteilt hat. Ich denke, ich werde Etwas Köstliches eine Zeitlang auf Abruf für mich bereit halten.«
Das zu hören, war ich froh, wußte ich doch, welches Schicksal dieser Frau sonst sehr rasch geblüht hätte. Das Mädchen reichte mir die Zeichnungen zurück, streckte sich dann und gähnte wollüstig. »Weißt du was. Hole!? Ich glaube wahrhaftig, das war das beste, besser als alles, was ich seit dem alten Huactéca-Ding genossen habe, mit dem ich mich zu ergötzen pflegte.«
Mir wollte das durchaus einleuchten, als ich in meine eigenen Gemächer hinüberging. Eine Frau sollte sich wirklich besser darauf verstehen, auf dem Körper einer anderen Frau zu spielen als irgendein Mann. Nur eine Frau konnte genau über die empfindlichsten der verborgenen und reaktionsfähigen Zonen und Vertiefungen ihres eigenen Körpers, und damit des Körpers einer jeden anderen Frau, Bescheid wissen. Woraus folgerte, daß ein Mann seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet verbessern sollte und sowohl seine eigene Lust als auch die einer jeden Bettgenossin steigern könnte, wenn er sich in eben diesen Dingen auskennt. Ich verbrachte viel Zeit damit, mich in die Zeichnungen zu vertiefen und mir genau all das zu vergegenwärtigen, was ich auf den Bildern nicht hatte wiedergeben können.
Ich war nicht stolz auf die Rolle, die ich bei der Erniedrigung von Etwas Köstlichem gespielt hatte, habe andererseits jedoch immer gefunden, daß man versuchen sollte, auch noch aus den beklagenswertesten Vorkommnissen, in die man verwickelt wird, Nutzen zu ziehen.
Ich will nicht behaupten, daß die Vergewaltigung von Etwas
Köstlichem das beklagenswerteste Ereignis war, dessen ich Zeuge in meinem Leben war. Ein weiteres schreckliches Geschehen erwartete mich, als ich zum Ochpanitztli-Fest heimfuhr nach Xaltócan.
Der Name des Festes bedeutet »Fegen der Straße« und bezieht sich auf die religiösen Riten, die gefeiert wurden, um zu gewährleisten, daß die kommende Maisernte gut ausfiel. Das Fest wurde in unserem elften Mond gefeiert, was etwa der Mitte eures August entspricht, und bestand aus verschiedenen Feiern, die ihren Höhepunkt fanden in der Darstellung der Geburt des Maisgottes Centéotl. Bei dieser Zeremonie bestimmten ausschließlich die Frauen; Männer, selbst die meisten Priester, waren dabei nichts weiter als Zuschauer.
Anfangen tat es damit, daß die ehrbarsten und tugendhaftesten Xaltócaner Frauen und Witwen mit Besen, die eigens aus Federn gebunden worden waren, sämtliche Tempel und andere heilige Stätten auf der Insel fegten. Danach sangen und tanzten ausschließlich Frauen unter der Leitung unserer weiblichen Tempelhelferinnen und machten in dieser Nacht des Höhepunktes Musik. Eine Jungfrau, die unter den Mädchen der Insel ausgewählt wurde, spielte die Rolle von Teteoinan, der Mutter aller Götter. Höhepunkt der Nacht war die Vorführung, die sie oben auf der Tempelpyramide gab – ganz allein, ohne männlichen Partner –, wobei sie so tat, als werde sie entjungfert und geschwängert, dann die Geburtswehen durchmache und zuletzt das göttliche Kind zur Welt bringe. Danach wurde sie von Frauen getötet, von Bogenschützinnen, die selbiges mit Ernst und Hingabe, gleichwohl jedoch ohne großes Können taten, so daß sie für gewöhnlich einen häßlichen Tod und einen in die Länge gezogenen Todeskampf hatte.
Selbstverständlich wurde im letzten Augenblick immer jemand anders untergeschoben, denn von unseren eigenen Jungfrauen opferten wir nie eine, es sei denn, sie stellte sich aus einem besonderen Grunde freiwillig zur Verfügung. Es starb also nicht wirklich die Jungfrau, welche die Rolle der Teteoinan gespielt hatte, sondern irgendeine entbehrliche Sklavin oder Gefangene von einem anderen Volk.
Nachdem sie, von zahllosen ungeschickt abgeschossenen Pfeilen verletzt, zerfetzt und durchbohrt endlich tot war, traten zum erstenmal einige Priester auf den Plan. Sie kamen aus dem Pyramidentempel, in dem sie sich verborgen hatten, und schleiften den Leichnam – ihrer schwarzen Gewänder wegen fast immer noch unsichtbar – in den Tempel hinein. Dort zogen sie ihm von einem Schenkel rasch die Haut ab. Ein Priester stülpte sich diese spitz zulaufende Kappe über den Kopf und kam unter plötzlich anhebender lauter Musik und Gesang aus dem Tempel herausgehüpft. Der junge Maisgott Centéotl war geboren. Er sprang die Pyramidenstufen hinunter, gesellte sich unter die Tänzerinnen, und alle zusammen tanzten sie die ganze Nacht hindurch.
Ich berichte all dies jetzt, weil ich annehme, daß die Feierlichkeiten dieses Jahres sich genauso vollzogen wie all die Schock Jahre zuvor. Genau sagen kann ich es nicht, weil ich nicht solange blieb, um es mitzuerleben.
Der großzügige Prinz Weide hatte mir abermals sein Acáli samt Ruderern zur Verfügung gestellt, und als ich in Xaltócan anlangte, stellte ich fest, daß die anderen – Pactli, Chimàli und Tlatli – ebenfalls zum Fest heimgekommen waren. Pactli übrigens für immer, denn er hatte nunmehr seine Calmécac-Ausbildung abgeschlossen. Diese Vorstellung bereitete mir beträchtliche Sorgen. Er hatte nämlich fürderhin überhaupt nichts mehr zu tun, außer darauf zu warten, daß sein Vater, Rot Reiher, starb und den Thron freimachte. Solange das nicht der Fall war, konnte Pactli alle Zeit und Kraft darauf verwenden, mit Hilfe seiner zuverlässigsten Verbündeten – meiner titelhungrigen Mutter – die Frau zu erringen, die er begehrte – meine Schwester, die ihn nicht haben wollte.
Doch etwas anderes bereitete mir im Augenblick weit mehr Sorgen. Chimáli und Tlatli waren dermaßen darauf erpicht, mich zu sprechen, daß sie, als mein Kanu festmachte, schon am Landesteg warteten und mich aufgeregt umtanzten. Beide fingen gleichzeitig an zu reden, zu rufen und zu lachen, ehe ich überhaupt einen Fuß an Land gesetzt hatte.
»Maulwurf, etwas Wunderbares ist geschehen!«
»Unser erster Auftrag, außerhalb zu arbeiten, Maulwurf!«
Es dauerte eine Weile und ich mußte selbst laut werden, ehe ich dahinterkam und begriff, was sie zu sagen hatten. Und als mir die ganze Wahrheit aufging, war ich zutiefst erschrocken. Meine beiden Freunde waren die »Mexíca-Künstler«, von denen Jadestein Puppe gesprochen hatte. Sie sollten nach den Ferien nicht nach Tenochtítlan zurückkehren, sondern mich begleiten, wenn ich nach Texcóco zurückfuhr.
Tlatli sagte: »Ich soll die Statuen machen und Chimáli sie bemalen, daß sie ganz lebensecht aussehen. So hieß es in der Nachricht, welche die Dame Jadestein Puppe uns hat zukommen lassen. Stell dir vor! Die Tochter eines Uey-Tlatoáni und die Gemahlin eines anderen! Eine solche Ehre ist ganz gewiß noch keinen anderen Künstlern unseres Alters zuteil geworden.«
Chimáli sagte: »Wir hatten keine Ahnung, daß die Dame Jadestein Puppe jemals die Arbeiten gesehen hat, die wir in Tenochtítlan geschaffen haben.«
Tlatli sagte: »Sie gesehen und so sehr bewundert hat, daß sie uns jetzt auffordert, viele Male Ein Langer Lauf zurückzulegen. Die Dame muß einen guten Geschmack haben!«
Verkniffen sagte ich: »Die Dame hat mehr als nur einen Geschmack.«
Meine Freunde fanden es merkwürdig, daß ich mich von ihrer Begeisterung nicht anstecken ließ, und Chimáli sagte, fast als wolle er sich entschuldigen: »Es ist unser erster großer Auftrag, Maulwurf. Die Statuen und Bilder, die wir in der Stadt geschaffen haben, dienten im Grunde nur der Verschönerung des neuen Palastes, den Ahuizotl gebaut hat, und man hat unsere Arbeit nicht höher geschätzt und auch nicht besser bezahlt als die der Steinmetze. Und jetzt heißt es in dieser Nachricht, wir würden unsere eigene Werkstatt bekommen, die voll ausgestattet auf uns warte. Selbstverständlich können wir uns vor Freude kaum fassen. Gibt es irgendeinen Grund, warum wir das nicht sollten?«
Tlatli fragte: »Ist die Dame denn eine Tyrannin, die uns zu Tode schinden wird?«
Ich hätte selbstverständlich sagen können, daß er es höchst treffend ausgedrückt habe, als er davon sprach, ›zu Tode‹ geschunden zu werden, doch sagte ich statt dessen: »Diese Dame ist recht eigenwillig. Aber wir werden noch Zeit genug haben, uns über sie zu unterhalten. Im Augenblick bin ich selbst von meiner Arbeit ziemlich mitgenommen.«
»Selbstverständlich«, sagte Chimàli. »Komm, laß uns dein Gepäck tragen, Maulwurf. Begrüße du erst deine Familie, iß und ruhe dich aus. Und dann mußt du uns alles über Nezahualpílis Hof und Texcóco erzählen. Wir möchten nicht, daß man uns dort für unwissende Provinzler hält.«
Auf dem Weg zu meinem Elternhaus plapperten die beiden, fröhlich über ihre glänzenden Aussichten, wohingegen ich schwieg und angestrengt nachdachte – über ihre Aussichten. Ich wußte sehr gut, daß Jadestein Puppes Verbrechen irgendwann einmal ans Tageslicht kommen müßten. Und wenn das geschah, würde Nezahualpíli sich an allen rächen, welche dem ehebrecherischen Treiben der jungen Königin Vorschub geleistet hatten – den Morden, um diesen fortgesetzten Ehebruch zu vertuschen, und den Statuen, die dazu dienten, mit den Morden auch noch großzutun. Ich hatte zumindest die leise Hoffnung, daß man mich von jeder Schuld freisprechen würde, da ich mich strikt an die Befehle Nezahualpílis gehalten hatte. Jadestein Puppes Untergebene hatten jedoch auf ihren Befehl hin gehandelt. Zwar hätten sie nicht wagen können, sich diesen Befehlen zu widersetzen, doch dieser Umstand würde ihnen kaum Gnade von dem entehrten Nezahualpíli eintragen. Sie hatten den Hals bereits jetzt in der blumenumwundenen Schlinge stecken: die Sklavin Pitza, die Torwache und vielleicht Meister Pixquitl, und bald nun auch noch Tlatli und Chimáli …
Mein Vater und meine Schwester umarmten mich herzlich, meine Mutter nicht ganz so warmherzig – was sie damit entschuldigte, daß ihre Arme ganz schlaff seien und müde vom vielen Fegen in den Tempeln. Sie erging sich langatmig über die Vorbereitungen, welche die Frauen für die Feier des Ochpanítztli-Festes trafen, doch davon bekam ich nur sehr wenig mit denn ich zermarterte mir den Kopf, irgendeine List zu finden, allein irgendwohin mit Tzitzi verschwinden zu können. Ich brannte nicht nur darauf, ihr ein paar von den Dingen beizubringen, die ich von Jadestein Puppe und Etwas Köstlichem gelernt hatte. Genausosehr war mir daran gelegen, mit ihr über meine zweifelhafte Stellung am Hof von Texcóco zu reden und sie um Rat zu fragen, was ich – falls überhaupt – tun könne, um zu verhindern, daß nun auch noch Chimàli und Tlatli dorthin kamen.
Diese Gelegenheit sollte sich nie ergeben. Die Nacht brach herein, und meine Mutter klagte immer noch über die viele Arbeit, die mit dem »Fegen der Straßen« verbunden war. Die schwarze Nacht brach herein, und mit ihr kamen die schwarzgewandeten Priester. Vier waren es, und sie kamen wegen meiner Schwester.
Ohne den Herrn des Hauses auch nur mit einem »Mixpantzinco« zu begrüßen – Priester hatten stets nur Verachtung für die gewöhnlichen Höflichkeiten übrig –, verlangte einer von ihnen, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden, zu wissen: »Wohnt hier die Jungfrau Chiucnáui-Acatl Tzitzitlíni?« Seine Stimme klang unbeholfen und verschleimt, so wie sich ein kollernder Truthahn anhört, und seine Worte waren nicht leicht zu verstehen. Das war bei vielen Priestern so, denn eine ihrer Bußübungen bestand darin, sich ein Loch in die Zunge zu bohren und dieses von Zeit zu Zeit auszuweiten, indem sie Dornen, Schnurstränge oder gar Schilfrohr hindurchsteckten.
»Meine Tochter«, sagte unsere Mutter und vollführte eine stolze Geste in ihre Richtung. »Neun Rohr, Feines Glöckchengeläut.«
»Tzitzitlíni«, wandte sich der verkommene alte Mann jetzt direkt an sie. »Wir sind gekommen, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß du ausgewählt worden bist, in der letzten Nacht des Ochpanítztli-Festes die Rolle der Göttin Teteoinan zu spielen.«
»Nein«, sagte meine Schwester mit ihren Lippen, wiewohl sich kein Laut von ihnen löste. Fassungslos starrte sie die vier Männer in ihren zerrissenen Roben an und fuhr sich mit bebender Hand übers Gesicht. Das Kitzbraun ihrer Haut war unversehens der hellsten Bernsteinfarbe gewichen.
»Du wirst uns begleiten«, sagte ein anderer Priester. »Es gilt, vorher einige Formalitäten zu erledigen.«
»Nein«, sagte Tzitzi abermals, diesmal laut. Sie wandte den Kopf und sah mich an, und ich wäre unter dem Flehen ihrer Augen am liebsten in den Erdboden versunken. Ihre Pupillen waren geweitet vor Entsetzen und genauso bodenlos schwarz wie die von Jadestein Puppe, wenn sie ihre pupillenerweiternden Tropfen nahm. Meine Schwester wußte genausogut wie ich, was das hieß, »vorher einige Formalitäten zu erledigen« – es handelte sich dabei um eine von den Gehilfinnen der Priester durchgeführte körperliche Untersuchung, um festzustellen, ob die so geehrte Jungfrau auch tatsächlich noch Jungfrau sei. Wie ich schon gesagt habe, hätte Tzitzi sich darauf verstanden, als unberührte Jungfrau dazustehen und selbst den argwöhnischsten Mann zu täuschen. Nur hatte sie keine Ahnung gehabt, daß diese Geier von Priestern sich aus heiterem Himmel auf sie herniederstürzen würden, und keinen Grund gehabt, sich darauf vorzubereiten; nun war es zu spät dazu.
»Tzitzitlíni«, wies mein Vater sie zurecht. »Kein Mensch schlägt einem Tlamacázqi etwas ab oder weigert sich, einer Aufforderung nachzukommen, die er überbringt. Das wäre ungehörig den Priestern gegenüber und hieße, der Abordnung von Frauen Verachtung entgegenbringen, welche dir diese Ehre zugedacht hat. Ja, schlimmer noch – es wäre eine Beleidigung der Göttin Teteoinan selbst.«
»Außerdem würde es den Unmut unseres geschätzten Tecútli erregen«, mischte sich unsere Mutter ein. »Der Herr Rot Reiher ist über die Wahl der diesjährigen Jungfrau bereits unterrichtet, und sein Sohn Páctlitzin desgleichen.«
»Mich hat aber keiner gefragt!« erklärte meine Schwester in einem letzten Aufbegehren.
Jetzt wußten wir beide, wer sie für die Rolle der Teteoinan vorgeschlagen hatte, ohne sie vorher zu fragen oder ihr Einverständnis einzuholen. Und wir wußten auch, warum. Damit unsere Mutter stellvertretend den Ruhm für Tzitzis tänzerische Leistung einheimste; damit unsere Mutter sich im Beifall der gesamten Insel sonnen könne; damit die in aller Öffentlichkeit vorgeführte Pantomime des Geschlechtsakts die Wollust des Herrn Freude noch steigerte; damit er mehr denn je bereit sein würde, im Austausch für das Mädchen unsere ganze Familie in den Adelsstand zu erheben.
»Ehrwürdige Priester«, gab Tzitzi flehentlich zu bedenken. »Ich bin wirklich nicht dazu geeignet. Ich kann keine Rolle spielen, jedenfalls die Rolle nicht. Es wäre mir peinlich, und man würde mich deswegen auslachen. Ich würde der Göttin Schande bringen …«
»Unsinn«, erklärte einer der vier. »Wir haben dich tanzen sehen, Mädchen. Komm mit! Jetzt gleich.«
»Die Formalitäten, die vorher erledigt werden müssen, dauern nur wenige Augenblicke«, sagte unsere Mutter. »Geh schon, Tzitzi, und wenn du zurückkommst, unterhalten wir uns über dein Kostüm. Du sollst die strahlendste Teteoinan sein, die jemals das Kind Centéotl zur Welt gebracht hat.«
»Nein«, erklärte meine Schwester noch einmal, allerdings ziemlich verzagt, und dabei doch verzweifelt auf irgendeinen Ausweg sinnend. »Es ist – es ist die falsche Zeit des Monds für mich …«
»Es gibt kein Nein«, fuhr der Priester sie an. »Es gibt keine Ausreden, die gelten gelassen werden. Komm jetzt, Mädchen, oder wir nehmen dich mit Gewalt mit.«
Sie und ich hatten keine Gelegenheit, einander auch nur Lebewohl zu sagen, denn es hieß ja, daß sie nur kurze Zeit fortbleiben werde. Als Tzitzi auf die Tür zuging und die vier übelriechenden Männer sie in die Mitte nahmen, warf sie mir über die Schulter hinweg noch einen verzweifelten Blick zu. Ums Haar hätte ich das nicht einmal mitbekommen, denn ich blickte mich suchend im Raum um, nach irgend etwas, was ich als Waffe hätte gebrauchen können.
Ich schwöre, würde ich Blut Schwelgers Maquáhuitl zur Hand gehabt haben, ich hätte uns schwertschwingend den Weg durch Priester und Eltern – Unkraut, das es galt niederzumähen – freigekämpft und wir beide hätten uns irgendwo in Sicherheit gebracht, ganz egal wo. Doch war weder etwas Scharfes noch Schweres in greifbarer Nähe, und mich mit bloßen Händen auf die anderen zu stürzen, wäre sinnlos gewesen. Ich war damals zwanzig Jahre alt, ein erwachsener Mann, und mit den vier Priestern wäre ich wohl ohne Mühe fertiggeworden, doch meinem von der Arbeit kräftigen Vater wäre es gewiß nicht schwergefallen, mich zurückzuhalten. Und das wiederum wäre verdächtig gewesen, hätte Befragungen und Nachforschungen zur Folge gehabt, womit unser Schicksal besiegelt gewesen wäre …
Ich habe mich seither oft gefragt: wäre dieses Schicksal nicht dem vorzuziehen gewesen, das sie dann wirklich erlitt? Ein solcher Gedanke huschte mir auch in diesem Augenblick durch den Kopf, aber ich schwankte, ich zögerte. Tat ich das, weil ich in einem feigen Winkel meines Bewußtseins wußte, daß ich bei Tzitzis Verhängnis ungeschoren davonkommen würde – das mich jetzt zaudern und zögern ließ? Lag es daran, daß ich die verzweifelte Hoffnung nährte, Tzitzi könne die untersuchenden Frauen doch hinters Licht führen – was mich schwanken und zaudern ließ? War es einfach mein unwandelbares und unentrinnbares Tonáli – oder ihres –, das mich zögern und zaudern ließ? Ich werde es nie wissen. Ich weiß nur, daß ich in der Tat schwankte, daß ich zauderte, doch dann war der Augenblick, da ich hätte handeln können, bereits vorüber, war Tzitzi fort, samt ihrer Ehrengarde von geiergierigen Priestern in der Dunkelheit verschwunden.
Sie kam an diesem Abend nicht wieder nach Hause.
Wir saßen da und warteten noch weit über die übliche Schlafenszeit hinaus, über die Zeit hinaus, da durch das Muschelhorn des Tempels Mitternacht verkündet wurde – und keiner von uns sagte ein Wort. Mein Vater schaute besorgt drein – zweifellos seiner Tochter und der ungewöhnlichen Verzögerung wegen, welche die »Formalitäten vorher« erfuhren. Meine Mutter machte gleichfalls ein besorgtes Gesicht, zweifellos, weil ihr listig eingefädelter Plan der Selbsterhöhung irgendwie ans Licht gekommen war oder sonst zunichte gemacht worden wäre. Zuletzt jedoch lachte sie auf und sagte: »Aber selbstverständlich! Die Priester haben Tzitzi doch nicht im Dunkeln heimschicken können. Die Tempeljungfrauen haben ihr eine Kammer gegeben für die Nacht. Es ist töricht von uns, schlaflos zu warten. Laßt uns zu Bett gehen.«
Zwar streckte ich mich auf meinem Lager aus, doch schlafen konnte ich nicht. Mich quälte die Vorstellung, daß die Frauen, die sie untersuchen sollten, festgestellt hatten, Tzitzi sei keine Jungfrau mehr – was sonst sollten sie feststellen? – und daß die Priester sich diesen Umstand gierig zunutze machten. Sämtliche Priester all unserer Götter waren durch Eid zur Ehelosigkeit verpflichtet, doch glaubte kein vernünftiger Mensch, daß sie sich daran hielten. Die Tempelfrauen konnten wahrheitsgemäß berichten, Tzitzi sei bereits ohne ihr Chitoli-Häutchen und jungfräuliche Enge zu ihnen gekommen, was nur auf ihre eigene Liederlichkeit geschoben werden könne. Mochte auch in der Zwischenzeit geschehen sein, was wolle, wenn sie den Tempel wieder verließ, konnte sie keinerlei Vorwürfe gegen die Priester beweisen.
Verzweifelt warf ich mich auf meinem Lager hin und her. Ich stellte mir vor, daß diese Priester sich Tzitzi die ganze Nacht hindurch vornähmen, einer nach dem anderen, und schadenfroh sich ein diebisches Vergnügen daraus machten, all die anderen Priester all der anderen Tempel auf der Insel herbeizurufen. Nicht, weil irgendeiner von ihnen in dieser Beziehung ausgehungert gewesen wäre; denn wie es hieß, hielten sie sich je nach Lust und Bedürfnis an die Tempelfrauen. Doch wie es euch, ehrwürdige Patres, vielleicht auch an euren eigenen Nonnen aufgefallen ist, sind die Frauen, welche sich dem Tempeldienst weihen, selten mit einem Aussehen und einem
Körper begabt, die einen Mann vor Verlangen von Sinnen kommen lassen. Die Priester mußten an diesem Abend überglücklich gewesen sein, in der Gestalt des begehrenswertesten Mädchens von ganz Xaltócan des Geschenks frischen Fleisches teilhaftig geworden zu sein.
Ich sah sie förmlich nach Tzitzis wehrlos daliegendem Körper Schlange stehen, in ganzen Schwärmen, wie Geier, die von gefühllosem Aas angezogen werden. Mit flatternden Gewändern gleich flügelschlagenden Geiern, zischend wie Geier, krallenbewehrt wie Geier und schwarz wie Geier. Denn sie waren noch an einen anderen Eid gebunden: sich nie wieder eines Gewandes zu entledigen, nachdem sie die priesterlichen Gelübde abgelegt hatten. Doch selbst wenn sie diese Gelübde brachen und nackt über Tzitzi herfielen – ihr Körper würde dennoch von schwarzem Schmutz starren und schuppig sein, da sie sich seit Ablegung ihrer Gelübde nie wieder gewaschen hatten.
Ich hoffe, ich habe mir das in fiebriger Überhitzung alles nur eingebildet. Ich hoffe, daß meine wunderschöne und geliebte Schwester in dieser Nacht nicht als Aas diente, das von den Geiern zerrissen wurde. Doch kein Priester verlor hinterher auch nur ein einziges Wort über ihren Tempelaufenthalt – weder um meine Befürchtungen zu bestätigen, noch sie zu entkräften; und Tzitzi kam auch am nächsten Morgen nicht heim.
Dafür kam ein Priester, einer von den vieren vom Abend zuvor, und sein Gesicht war bar jeden Ausdrucks. Er berichtete schlicht: »Deine Tochter kann die Teteoinan in der Feier nicht darstellen. Sie hat zumindest einmal zuvor einem Manne beigewohnt.«
»Yya ouiya ayya!« wehklagte meine Mutter. »Das macht alles zunichte.«
»Ich verstehe nicht«, murmelte mein Vater. »Sie ist immer ein so gutes, braves Mädchen gewesen. Ich kann nicht glauben …«
»Vielleicht«, fiel der Priester ihm ungerührt ins Wort, »willst du deine Tochter statt dessen freiwillig für das Opfer zur Verfügung stellen.«
Durch zusammengebissene Zähne hindurch zischte ich den Priester an: »Wo ist sie?«
Gleichmütig sagte er: »Als die Frauen, die sie untersuchten, feststellten, daß sie sich nicht eigne, haben wir selbstverständlich sogleich im Palast wissen lassen, daß eine andere Kandidatin ausgesucht werden müsse. Woraufhin der Palast forderte, Neun Rohr Tzitzitlíni solle heute morgen hingebracht werden, zwecks einer Unterredung mit …«
»Pactli!« entfuhr es mir.
»Er wird verzweifelt sein«, sagte mein Vater und schüttelte traurig den Kopf.
»Außer sich vor Wut wird er sein, du Narr!« hielt meine Mutter ihm vor. »Wir alle werden diesen Zorn zu spüren bekommen, und das nur wegen deiner Schlampe von Tochter.«
Ich erklärte: »Ich werde sofort zum Palast gehen.«
»Nein«, hielt der Priester mich entschlossen davon ab. »Der Hof hat zweifellos Verständnis für deine Sorge, doch lautete die Botschaft ganz eindeutig: nur der Tochter dieser Familie soll Zutritt gewährt werden. Zwei unserer Tempelfrauen begleiten sie jetzt dorthin. Keiner von euch sonst hat um eine Unterredung zu bitten und hinzukommen, es sei denn, er würde gerufen.«
Tzitzi kam auch an diesem Tag nicht nach Hause. Aber es suchte uns auch sonst kein Mensch auf, denn mittlerweile mußte die ganze Insel von unserem Unglück erfahren haben. Nicht einmal die Frauen, welche mit den Festvorbereitungen beschäftigt waren, kamen, meine Mutter heute zum Fegen abzuholen. Dieser Beweis dafür, daß wir geächtet waren, noch dazu von Frauen, auf die sie bald herabzusehen gehofft hatte, trieb sie dazu, womöglich noch lauter als sonst zu zetern und zu keifen. Sie verbrachte den traurigen Tag damit, meinen Vater mit Vorwürfen zu überhäufen, er habe seine Tochter »herumstreunen« lassen; mich schalt sie, zweifellos hätte ich meine Schwester mit einigen meiner »üblen Freunde« zusammengebracht und zugelassen, daß einer von ihnen sie verführte. Diese Unterstellung war zwar lächerlich, aber sie brachte mich auf einen Gedanken.
Ich schlüpfte aus dem Haus und suchte Chimàli und Tlatli auf. Sie begrüßten mich mit einiger Verlegenheit und unbeholfenen Mitleidsbekundungen.
Ich sagte: »Einer von euch kann Tzitzitlíni helfen, wenn er will.«
»Wenn es etwas gibt, was wir tun können, werden wir das selbstverständlich tun«, sagte Chimàli. »Laß hören, Maulwurf.«
»Ihr wißt, seit wie vielen Jahren der unerträgliche Pactli meine Schwester bestürmt. Jeder weiß das. Und jetzt weiß auch jeder, daß Tzitzi einen anderen ihm vorzog. Folglich ist der Herr Freude ins Licht geraten, liebeskrank und betört worden zu sein und hinter einem Mädchen herzustellen, das ihn verachtet. Um sich für seinen verletzten Stolz zu rächen, wird er jetzt seine Demütigung an ihr auslassen, und das kann er auf grauenhafte Weise tun. Einer von euch könnte ihn daran hindern, das zu tun.«
»Und wie?« fragte Tlatli.
»Indem er sie heiratet«, sagte ich.
Kein Mensch wird jemals wissen, welch einen Stoß ich meinem Herzen geben mußte, das zu sagen, denn dieses Angebot hieß nichts weiter als: »Ich verzichte auf sie. Nehmt sie mir weg.« Meine beiden Freunde schraken zurück und blickten mich mit großen erstaunten Augen an.
»Meine Schwester hat gefehlt«, fuhr ich fort, »das kann ich nicht leugnen. Aber ihr beide kennt sie aus der Zeit, wo wir alle Kinder waren, und ganz gewiß seid ihr euch darüber im klaren, daß sie keine Schlampe ist, die sich jedem an den Hals wirft. Wenn ihr ihr den Fehltritt verzeiht und glaubt, daß sie ihn nur tat, um der unwillkommenen Aussicht zu entgehen, den Herrn Freude heiraten zu müssen, wißt ihr auch, daß ihr keine keuschere und treuere und redlichere Frau für euch finden könnt. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß sie wahrscheinlich das schönste Mädchen ist, das ihr jemals finden könntet.«
Voller Unbehagen tauschten die beiden einen Blick. Das konnte ich ihnen kaum verargen, denn dieser radikale Vorschlag muß sie mit einer Plötzlichkeit getroffen haben wie ein Blitz, den Tlaloc herniederschleudert.
»Ihr seid Tzitzis einzige Hoffnung«, sagte ich eindringlich. »Jetzt hat Pactli sie in der Gewalt – als eine Jungfrau, bei der man plötzlich entdeckt hat daß sie gar keine ist. Er kann sie beschuldigen, ›rittlings auf die Straße‹ gegangen zu sein. Er kann sogar behaupten – was gelogen wäre –, daß sie ihm verlobt gewesen und ihm absichtlich untreu gewesen sei. Das wäre gleichbedeutend mit Ehebruch, und er könnte Herrn Rot Reiher dazu bringen, sie zum Tode zu verurteilen. Das jedoch kann er nicht machen mit einer Frau, die rechtmäßig verheiratet oder um deren Hand offiziell angehalten worden ist.«
Erst blickte ich Chimáli, dann TIatli eindringlich in die Augen. »Wenn einer von euch vorträte und in aller Öffentlichkeit um ihre Hand anhielte …« Sie konnten meinem Blick nicht standhalten und senkten die Augen. »Gewiß, ich weiß. Dazu gehört einiger Mut, und ihr würdet euch auch ein wenig lächerlich machen. Man würde denken, ihr wäret derjenige, der sie vorher entehrt hätte. Aber durch eine Heirat wäre das gesühnt, und es würde sie vor allem bewahren, was Pactli ihr antun könnte. Damit wäre sie gerettet, Chimáli. Es wäre eine edle Tat, TIatli. Ich bitte euch, ich flehe euch an …«
Beide sahen sie mich wieder an, und diesmal verriet ihr Blick echten Kummer. TIatli sprach für sie beide:
»Wir können nicht, Maulwurf. Beide nicht.«
Ich war schmerzlich enttäuscht und verletzt, doch mehr als das: ich begriff nicht. »Wenn ihr sagtet, ihr wollt nicht, könnte ich das verstehen. Aber . . . ihr könnt nicht?«
Sie standen Seite an Seite vor mir, der untersetzte TIatli und der gertenschlanke Chimáli. Mitleidig schauten sie mich an, dann wandten sie sich einander zu, und ich wurde nicht recht klug aus dem, was einer dem anderen mit seinem Blick sagte. Schüchtern, unsicher, schob jeder von ihnen die Hand vor und nahm die des anderen, wobei ihre Finger sich verschränkten. Nun sie miteinander verbunden vor mir standen, durch mich gezwungen, ein Band einzugestehen, auf das ich nicht einmal im Traum gekommen wäre, blickten sie mich wieder an. Ihre Augen verrieten einen trotzigen Stolz.
»Ach«, erklärte ich wie vom Donner gerührt. Und nach einem Augenblick sagte ich: »Verzeiht. Ich hätte nicht darauf bestehen sollen, als ihr ablehntet.«
TIatli sagte: »Wir haben nichts dagegen, daß du es weißt, Maulwurf, allerdings wäre es uns nicht recht, wenn alle Welt das wüßte.«
Ich versuchte es noch einmal. »Wäre es dann nicht gerade vorteilhaft für euch zu heiraten? Ich meine, euch nur der Zeremonie zu unterziehen. Hinterher …«
»Ich könnte das nicht«, erklärte Chimáli mit leisem Eigensinn, »und würde auch nicht zulassen, daß TIatli es täte. Eine Schwäche würde das bedeuten, eine Besudelung dessen, was wir für einander empfinden. Sieh es doch mal so herum, Maulwurf. Stell dir vor, jemand forderte dich auf, einen von uns zu heiraten.«
»Nun, das würde allem Gesetz und allem Herkommen widersprechen, wäre etwas Unerhörtes. Aber wenn einer von euch Tzitzi zur Frau nähme, wäre es das genaue Gegenteil. Nur dem Namen nach, Chimáli, und hinterher ….«
»Nein«, erklärte er und fügte dann, möglicherweise aufrichtig, hinzu: »Es tut uns leid, Maulwurf.«
»Mir auch«, sagte ich seufzend, drehte mich um und ging.
Aber ich war entschlossen, noch einmal zurückzukommen und meinem Vorschlag ein wenig mehr Nachdruck zu verleihen. Ich mußte einen von beiden überzeugen, daß es für uns alle von Vorteil wäre. Ich würde meine Schwester der Gefahr entreißen, gleichzeitig wäre damit jedem möglichen Getuschel über die Beziehung zwischen Chimàli und Tlatli ein für allemal die Spitze genommen – und dem Getuschel über Tzitzi und mich desgleichen. Sie konnten sie in aller Offenheit mitnehmen, wenn sie nach Texcóco kamen, und sie insgeheim zu mir bringen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto idealer wollte mir dieser Plan für alle Beteiligten erscheinen. Chimáli und Tlatli konnten mir einfach nicht weiterhin die Heirat mit Tzitzi unter dem durchsichtigen Vorwand abschlagen, sie würde ihre Liebe besudeln. Ich würde sie schon überzeugen – notfalls rundheraus mit der Drohung, sie als Cuilontin bloßzustellen. Jawohl, ich würde noch einmal zurückkommen zu Chimàli und Tlatli.
Doch dann stellte es sich heraus, daß ich es doch nicht tun sollte. Es war bereits zu spät.
Auch an diesem Abend kehrte Tzitzi nicht nach Hause zurück.
Trotz allem schlief ich und träumte diesmal nicht von Geiern, sondern von Tzitzi und mir selbst und dem gewaltigen bauchigen Krug, in dem unser Wasservorrat aufgehoben wurde und der Chimális Handzeichen in Blut trug. In meinem Traum war ich wieder in den leblosen Tagen, da Tzitzi für uns einen Vorwand gesucht hatte, gemeinsam das Haus zu verlassen. Sie hatte den Wasserkrug umgeworfen und zerbrochen. Das Wasser hatte sich über den ganzen Estrich ergossen und war bis zu meinem Gesicht heraufgespritzt. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, war mein Gesicht tränennaß.
Die Aufforderung, sich im Palast des Tecútli einzufinden, kam am nächsten Morgen; und zwar erging sie nicht, wie man hätte erwarten sollen, an das Familienoberhaupt, meinen Vater Tepetzàlan. Vielmehr verkündete der Bote, die Herren Rot Reiher und Freude erwarteten, daß meine Mutter sich augenblicklich bei ihnen einfinde. Gedrückt und schweigend saß mein Vater mit gebeugtem Kopf da und wagte es die ganze Zeit nicht, da wir auf ihre Rückkehr warteten, mir in die Augen zu sehen.
Bei ihrer Rückkehr war sie bleich, und es zitterten ihr die Hände, als sie das Umschlagtuch von Kopf und Schultern nahm; doch sonst war sie in ihrer ganzen Art merkwürdig aufgekratzt. Sie war nicht mehr die Frau, in welcher der Zorn darüber nagte, eines Titels verlustig gegangen zu sein; aber sie war auch ganz und gar nicht die Mutter, die den schmerzlichen Verlust einer Tochter beklagte. Sie sagte: »Es sieht aus, als hätten wir eine Tochter verloren; aber wir haben, scheint's, nicht alles verloren.«
»Was heißt: sie verloren?« fragte ich.
»Tzitzi ist nie im Palast angekommen«, sagte meine Mutter, ohne mich anzublicken. »Sie ist den Tempelfrauen, die sie hinbringen sollten, entschlüpft und weggelaufen. Selbstverständlich ist der arme Páctlitzin nahezu von Sinnen über den Verlauf, den alles genommen hat. Als die Frauen ihre Flucht meldeten, gab er Befehl, die ganze Insel abzusuchen. Ein Vogelsteller hat gemeldet, ihm fehle ein Kanu. Du erinnerst dich« ~ dies zu meinem Vater –, »daß deine Tochter einmal gedroht hat, genau das zu tun. Ein Acáli zu stehlen und aufs Festland zu entfliehen.«
»Ja«, sagte er noch ganz benommen.
»Nun, sie scheint das getan zu haben. Man weiß nicht, in welche Richtung sie sich gewendet hat, und daher hat Pactli die Suche nach ihr widerstrebend abgeblasen. Er ist genauso gebrochen wie wir.« Das war so offensichtlich eine Lüge, daß meine Mutter mich erst gar nicht zu Wort kommen ließ und hastig weitersprach. »Wir müssen Tzitzitlíni als verloren aufgeben. Sie ist geflohen, genau so, wie sie es uns angedroht hat. Für immer. Kein Mensch ist dafür verantwortlich, nur sie ganz allein. Und sie wird nie wagen, sich auf Xaltócan noch einmal blicken zu lassen.«
Ich sagte: »Von alledem glaube ich kein Wort.« Sie jedoch beachtete mich nicht, sondern wandte sich weiter an meinen Vater:
»Wie Pactli, teilt der Tecútli unseren Schmerz, hält uns aber nicht für verantwortlich für das schlechte Betragen unserer ungeratenen Tochter. Zu mir hat er gesagt: ›Ich habe immer Hochachtung vor Kopf Neiger gehabte Und dann hat er noch zu mir gesagt: ›Ich möchte etwas tun, um ihm über seine Enttäuschung und seinen Verlust hinwegzuhelfen.‹ Und zuletzt hat er zu mir gesagt: ›Was meinst du, ob Kopf Neiger wohl die Beförderung annehmen würde, Oberaufseher über alle Steinbrüche zu werden ?‹«
Der gebeugte Kopf meines Vaters fuhr in die Höhe, und er rief aus: »Was?«
»Genau das waren die Worte, die Herr Rot Reiher gesprochen hat. Die Oberaufsicht über alle Steinbrüche von Xaltócan. Er sagte: ›Damit ist zwar nicht die Schande getilgt, die er erlitten hat, aber vielleicht beweist ihm das, wie sehr ich ihn schätzen«
Abermals sagte ich: »Davon glaube ich kein Wort.« Der Herr Rot Reiher hatte meinen Vater nie zuvor Kopf Neiger genannt; ich bezweifle sogar, daß er Tepetzàlans Spitznamen überhaupt kannte.
Meinen Einwurf immer noch nicht zur Kenntnis nehmend, sagte meine Mutter zu meinem Vater: »Wir haben Pech gehabt mit unserer Tochter, doch haben wir Glück, einen solchen Tecútli zu haben. Jeder andere hätte uns alle womöglich von der Insel verbannt. Überlege doch einmal, Rot Reihers eigener Sohn ist von unserer Tochter beleidigt und der Lächerlichkeit preisgegeben worden – und er bietet dir dieses Zeichen des Mitgefühls.«
»Oberaufsehen über alle Steinbrüche …«, murmelte mein Vater und sah dabei eher aus, als hätte er einen der Steine in seinem Steinbruch auf den Kopf bekommen. »Dann wäre ich der jüngste Oberaufseher, den es je …«
»Wirst du annehmen?« fragte meine Mutter.
Mein Vater stammelte: »Nun … nun …, das ist ein geringer Trost dafür, eine geliebte Tochter verloren zu haben, mag sie noch so sehr gefehlt haben …«
»Wirst du annehmen?« wiederholte meine Mutter, in schärferem Ton diesmal.
»Mir wird in Freundschaft eine Hand entgegengestreckt«, fuhr mein Vater fort zu murmeln. »Sie zurückzuweisen … nachdem mein Gebieter beleidigt worden ist … das wäre eine womöglich noch größere Beleidigung …«
»Wirst du annehmen?«
»Nun … ja. Das muß ich wohl. Ich werde das Angebot annehmen. Ich könnte es ja gar nicht ausschlagen, oder?«
»Na also!« sagte meine Mutter höchlichst erfreut. Sie wischte sich die Hände aneinander ab, als habe sie eine besonders schmutzige Arbeit hinter sich gebracht. »Dank der Dirne, deren Namen ich nie wieder aussprechen möchte, können wir vielleicht nie mehr adlig werden, aber immerhin sind wir unter den Macehuáltin eine Stufe höher gekommen. Und da der Herr Rot Reiher willens ist, unsere Schande zu übersehen, wird auch jedermann sonst das tun. Wir können immer noch den Kopf hochtragen und brauchen ihn nicht in Schande hängen zu lassen. Aber jetzt«, schloß sie munter, »muß ich wieder hinaus. Die Frauen von der Abordnung warten darauf, daß ich zusammen mit ihnen die Tempelpyramide fege.«
»Ich begleite dich ein Stück, meine Liebe«, sagte mein Vater. »Ich glaube, ich sehe mir den westlichen Steinbruch etwas genauer an, solange die Arbeiter frei haben. Ich habe schon lange den Verdacht, daß der Meistersteinhauer dort eine vielversprechende Schicht übersehen hat …«
Während sie beide zur Tür gingen, drehte meine Mutter sich noch einmal um und sagte zu mir: »Ach, Mixtli, würdest du die Sachen deiner Schwester zusammenpacken und irgendwo zurechtlegen? Wer weiß, vielleicht schickt sie eines Tages jemand her, der sie für sie abholen soll.«
Ich wußte, daß sie das weder tun konnte noch tun würde, tat jedoch trotzdem, wie mir aufgetragen worden war, und verpackte alles in Körbe, was ich als ihr persönliches Eigentum erkannte. Nur eines packte ich nicht mit ein, sondern verbarg es: ihr kleines Figürchen von Xochiquétzal, der Göttin der Liebe und der Blumen, das sie neben ihrem Lager stehen gehabt hatte; jener Göttin, an die junge Mädchen sich im Gebet wenden, um eine glückliche Ehe zu erflehen.
Nachdem ich Tzitzis Habseligkeiten verstaut hatte, packte ich meine eigenen, die ich aus Texcóco mitgebracht hatte. Das letzte, was ich noch in meinen Weidenkorb steckte, war die kleine Figur der Xochiquétzal. Dann schulterte ich den Korb und verließ mein Elternhaus, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Doch eines wußte ich: Eines Tages würde ich mich an Pactli rächen, der meine Schwester zu Tode gebracht hatte. Als ich zum Seeufer hinunterging, begleitete mich eine Zeitlang ein Schmetterling und umgaukelte mich ein paarmal.
Ich hatte das Glück, einen Fischer zu finden, der wider Sitte und Herkommen entschlossen war, auch während des Ochpanitztli-Festes weiter in seiner Arbeit fortzufahren und gerade im Begriff stand, hinauszurudern und draußen auf dem See darauf zu warten, daß die Weißfische an die Oberfläche stiegen. Er erklärte sich einverstanden, mich gegen eine Bezahlung, die weit höher lag als alles, was er sich verdient haben würde, wenn er die ganze Nacht gefischt hätte, nach Texcóco zu rudern.
Unterwegs fragte ich ihn: »Hast du von irgendeinem Fischer oder Vogelsteller gehört, daß ihm vor kurzem ein Kanu abhandengekommen ist? Oder daß irgend jemandes Acáli abgetrieben oder gestohlen worden wäre?«
»Nein«, sagte er.
Ich blickte zurück zur Insel, die an diesem Sommernachmittag sonnenüberflutet und friedlich dalag. Sie dehnte sich auf dem Wasser, wie sie es immer getan hatte und immer tun würde, nur, daß sie nie wieder »Feines Glöckchengeläut« vernehmen – und auch keinen Gedanken weiter an einen solchen Verlust verschwenden würde. Der Herr Rot Reiher, der Herr Freude, meine Mutter und mein Vater, meine Freunde Chimàli und Tlatli und alle anderen Bewohner von Xaltócan waren bereits übereingekommen, sie zu vergessen. Ich jedoch nicht.
»Aber wieso denn, Kopf Neiger!« rief die Dame von Tolan aus, der erste Mensch, dem ich auf dem Weg zu meinen Gemächern im Palast begegnete. »Du bist aber früh aus deinen Ferien wieder daheim.«
»Ja, Gebieterin. Xaltócan ist für mich keine Heimat mehr. Und hier habe ich viel zu tun.«
»Willst du damit sagen, du hättest Heimweh gehabt nach Texcóco?« sagte sie und lächelte. »Dann müssen wir dich dazu gebracht haben, uns alle gern zu haben. Diese Vorstellung entzückt mich, Kopf Neiger.«
»Bitte, Gebieterin«, sagte ich und hatte dabei einen Kloß im Hals, »ruft mich nicht mehr mit diesem Namen. Ich habe zuviel an Kopfneigen gesehen.«
»Ach?« sagte sie, und ihr Lächeln schwand, als sie mein Gesicht genau betrachtete. »Welchen Namen ziehst du dann vor?«
Ich dachte an die vielen Dinge, die ich zu tun hatte, und so sagte ich zu ihr: »Tliléctic-Mixtli lautet der Name, der mir aus dem Buch der Erkenntnis und der Weissagungen gegeben wurde. Nennt mich, was ich bin. Dunkle Wolke.«