Dixit
MEIN HERR
Verzeiht mir, mein Herr, daß ich nicht weiß, in welcher Form ich Euch geziemend anzureden habe, doch denke ich, ich laufe nicht Gefahr, Euch zu beleidigen, mein Herr. Ihr seid ein Mann, und kein Mann unter all den Männern, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, hatte jemals etwas dawider, als »Herr« angeredet zu werden. Also, mein Herr
Euer Exzellenz, dann?
Ayyo, noch vornehmer – das, was wir hierzulande einen Ahuaquáhuitl nennen würden, einen Baum großen Schattens. Soll es also Euer Exzellenz sein. Um so mehr beeindruckt es mich, daß eine so hervorragende Persönlichkeit jemanden wie mich hat rufen lassen, in Gegenwart Eurer Exzellenz das Wort zu ergreifen.
O nein, Euer Exzellenz, begrabt Euer Mißtrauen, auch wenn es scheint, als ob ich Eurer Exzellenz schmeichelte. Der Ruf, den Ihr ganz allgemein in dieser Stadt genießt, und diese Eure Diener hier haben mir deutlich gemacht, welch erlauchter Mann Ihr seid, Euer Exzellenz, wohingegen ich nichts bin als ein ausgefranstes, fadenscheiniges Tuch, nur mehr ein Hauch von dem, was ich einst war. Euer Exzellenz stehen stattlich gekleidet da, selbstbewußt und von Eurer überragenden Bedeutung durchdrungen, wohingegen ich nur ich bin.
Nun begehren Euer Exzellenz von dem zu hören, was ich einst war. Auch das hat man mir erklärt. Euer Exzellenz wünschen zu erfahren, wie es meinem Volk ergangen ist, wie es in diesem Lande ausgesehen hat und welch ein Leben wir geführt haben in den Jahren und in den vielen Schock Jahren, ehe der König Eurer Exzellenz, seine Kreuzesträger und Armbrustschützen geruhten, uns vom Joch unserer Barbarei zu befreien.
Stimmt das? Dann ist es freilich keine Kleinigkeit, was Euer Exzellenz da von mir verlangen. Denn wie soll ich in diesem kleinen Raum, mit meinem kleinen Verstand und in dem bißchen Zeit, das die Götter – der Herrgott – mir vielleicht noch zugestehen, meine Wege und meine Tage zu beenden, die Unendlichkeit dessen wieder heraufbeschwören, was unsere Welt war, die bunte Vielfalt der Völker, die darin lebten, die Ereignisse in Schock um Schock Jahre.
Bemüht Eure Phantasie und stellt Euch vor, Ihr wäret dieser Baum großen Schattens, Euer Exzellenz! Seht im Geiste, wie groß er ist, die mächtigen Äste und die Vögel darauf, das üppige Laub, die Sonne, die darin spielt, die Kühle, welche er einem Haus spendet, einer Familie, dem Mädchen und dem Knaben, die meine Schwester und ich waren. Könnten Euer Exzellenz diesen Baum großen Schattens zurückverwandeln in die Ecker, die der Vater Eurer Exzellenz einst zwischen die Beine Eurer Mutter warf?
Yya ayya, ich habe den Unmut Eurer Exzellenz erregt und Eure Schreiber entsetzt. Verzeiht mir, Euer Exzellenz. Ich hätte wissen müssen, daß der Umgang, den die weißen Männer in ihren vier Wänden mit ihren weißen Frauen pflegen, anders sein muß – von größerer Zartheit – als jener, zu dem ich sie unsere Frauen vor aller Augen habe mit Gewalt zwingen sehen. Und der christliche eheliche Umgang, aus dem Eure Exzellenz hervorgegangen sind, ist gewiß noch
Ja, ja, Euer Exzellenz, ich höre auf.
Aber Euer Exzellenz erkennen meine Schwierigkeit. Wie nur soll ich Euer Exzellenz dazu bringen, auf einen Blick den Unterschied zwischen unserem niedrigen Damals und unserem höheren Heute zu begreifen? Vielleicht genügen nur wenige Striche, und Ihr braucht Euch nicht die Mühe zu machen, weiter zuzuhören.
Seht Euch Eure Schreiber an, Euer Exzellenz, oder wie sie in unserer Sprache heißen, die »Wortkundigen«. Ich bin selbst Schreiber gewesen und weiß noch sehr wohl, wie schwierig es war, auf Kitzhaut, Faser- oder Borkenpapier das allen Fleisches beraubte Knochengerüst historischer Daten und Geschehnisse einigermaßen zutreffend festzuhalten. Manchmal fiel es sogar mir selbst schwer, meine eigenen Bilder ohne Stocken vorzulesen, und sei es auch nur nach den wenigen Augenblicken, die es dauerte, bis die Farben trocken waren.
Aber Eure Wortkundigen und ich, wir haben geübt, während wir auf die Ankunft Eurer Exzellenz warteten, und ich bin erstaunt, ja, überwältigt, wozu ein jeder von Euren verehrten Schreibern fähig ist. Sie sind nicht nur imstande, den Inhalt dessen, was ich sage, niederzuschreiben und mir samt allen Betonungen, Pausen und Hervorhebungen meiner Rede wieder vorzulesen. Ich hätte das für eine besondere Begabung an Gedächtnis und Ausdrucksvermögen gehalten – denn auch wir hatten unsere Worterinnerer –, doch sagen sie mir, ja zeigen und beweisen mir, daß all dies auf ihrem Papier steht. Euer Exzellenz, ich schätze mich glücklich, Eure Sprache so fließend sprechen gelernt zu haben, wie es meinem armen Kopf und meiner armen Zunge möglich war – zu schreiben wie Ihr, das würde ich nie schaffen!
In unserer Bilderschrift waren es die Farben, die sprachen, die Farben, die sangen oder weinten, die Farben, die unabdingbar dazugehörten. Wie viele verschiedene es deren gab: Magentarot, Ockergold, Ahuácatlgrün, Türkisblau, Chocólatl, das Rotgelb des Zirkonsteins, Tonerdengrau und Mitternachtsschwarz. Und trotz dieser Vielfalt waren sie nicht imstande, jedes einzelne Wort mitzubekommen, ganz zu schweigen von den feineren Unterschieden und den gefälligen Wendungen. Genau darauf versteht sich jedoch jeder einzelne von Euren Wortkundigen: jede Silbe für immer festzuhalten, und das nur mit einem Federkiel statt mit einer Handvoll Rohr und Pinseln. Und das Wunderbarste von allem – mit nur einer Farbe, diesem rostschwarzen Absud, von dem sie mir gesagt haben, es sei Tinte.
Sehr wohl, Euer Exzellenz: Da habt Ihr es in einer Ecker – den Unterschied zwischen uns Indianern und euch weißen Männern, zwischen unserer Unwissenheit und eurem Wissen, zwischen unserer alten Zeit und eurem neuen Heute. Erfüllt es Euer Exzellenz mit Genugtuung, daß mir allein der Strich eines Federkiels das Recht Eures Volkes vor Augen geführt hat, zu herrschen und unseres Volkes Schicksal, beherrscht zu werden? Weiter bedürfen Euer Exzellenz doch gewiß nichts von uns Indianern: als einer Bestätigung, daß der Sieg des Conquistadors vorbestimmt ist, und zwar nicht durch seine Waffen und seine Feuerkraft, nicht einmal durch seinen Allmächtigen Gott, sondern kraft seiner eingeborenen und natürlichen Überlegenheit über tiefer stehende Wesen wie uns. Euer Exzellenz sind gewiß nicht mehr auf mich oder meine Worte angewiesen.
Meine Frau ist alt und leidend, niemand kümmert sich um sie. Ich will nicht so tun, als ob meine Abwesenheit ihr Kummer bereitete, aber es ärgert sie. Da sie kränkelt und von aufbrausendem Wesen ist, tut Ärger ihr nicht gut. Und mir auch nicht. Daher möchte ich Eurer Exzellenz für den Empfang, den Eure Exzellenz mir altem Wurm gewährt haben, danken und Euch bitten
Verzeihung, Euer Exzellenz. Wie Ihr sagtet, ich habe nicht Eure Erlaubnis zu gehen, wann es mir paßt. Ich stehe Euer Exzellenz zu Diensten, solange
Nochmals Verzeihung. Es war mir weder klar, daß ich in diesem kurzen Gespräch mehr als dreißigmal »Euer Exzellenz« gesagt habe, noch daß ich es in einem besonderen Tonfall gesagt hätte. Aber der peinlich genauen Zählung Eurer Schreiber kann ich nicht widersprechen. Fürderhin werde ich mich also bemühen, meine Ehrerbietung und meine Begeisterung für Euren Titel zu zügeln, Señor Bischof, und mich eines untadeligen Tons befleißigen. Und weiter fortfahren, wie Ihr befehlt.
Nur, was soll ich sagen? Womit könnte ich Eure Ohren geneigt machen, mir zuzuhören?
Nach unseren Begriffen bin ich hochbetagt. Ich bin nicht in meiner Kindheit gestorben, wie es so viele von unseren Kindern tun. Auch bin ich weder den Kriegertod noch den heiligen Opfertod gestorben, wie es so viele bereitwillig getan haben. Ich bin weder übermäßigem Pulquegenuß noch dem Angriff eines Raubtiers, noch dem schleichenden Verfall derer zum Opfer gefallen, die von den Göttern mit Auszehrung geschlagen werden. Auch bin ich nicht daran gestorben, daß ich mir eine der gefürchteten Krankheiten zugezogen hätte, die mit euren Schiffen gekommen sind und an denen Tausende und Abertausende zugrunde gegangen sind. Ich habe sogar die Götter überlebt, denen der Tod nie etwas hatte anhaben können, und die für immer hatten unsterblich sein sollen. Ich bin nunmehr länger am Leben als ein volles Schock Jahre und habe daher viel gesehen und erfahren, woran ich mich heute noch erinnere. Aber kein Mensch kann alles wissen, nicht einmal all das, was zu seinen eigenen Lebzeiten geschehen ist, und das Leben dieses Landes begann unermeßlich lange vor der Zeit, da ich selbst das Licht der Welt erblickte. Ich kann also nur von meinem eigenen sprechen, nur meinem eigenen Leben in eurer rostschwarzen Tinte zu einem Schattendasein verhelfen …
»Und hell blitzten die Speere, hell blitzten die Speere!«
Mit diesen Worten begann ein alter Mann von unserer Insel Xaltócan stets seine Schlachterzählungen. Wir Zuhörer waren dann augenblicklich ganz Ohr und lauschten weiterhin gebannt, selbst wenn es sich um eine ganz unbedeutende Schlacht handelte, von der er berichtete, und es sich herausstellte – nachdem er erzählt, wie es dazu kam und was dabei herauskam –, daß es möglicherweise eine höchst nebensächliche Geschichte war, kaum wert, sie überhaupt zu erzählen. Nur war es nun mal seine Gewohnheit, gleich mit dem packenden Höhepunkt herauszuplatzen und von dort aus den Faden zurück-und voranzuspinnen. Im Gegensatz zu ihm, kann ich nur mit dem Anfang beginnen und in der Zeit weiter voranschreiten, wie ich sie erlebt habe.
Alles, was ich jetzt darlege und erkläre, hat sich wirklich zugetragen. Ich berichte nur das, was geschehen ist, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas zu verfälschen. Ich küsse die Erde. Das heißt: Das schwöre ich.
Oc ye nechca – oder, wie ihr sagen würdet: »Vor langer, langer Zeit« – war dieses hier ein Land, in dem sich nichts schneller bewegte als unsere Schnellboten laufen konnten, außer wenn die Götter sich bewegten, und in dem kein Geräusch lauter war als unsere Weitrufer rufen konnten, außer wenn die Götter sprachen. An dem Tag, den wir Sieben Blume nannten, im Mond des Aufsteigenden Gottes im Jahr Dreizehn Kaninchen sprach der Regengott Tlaloc in einem tosenden Sturm mit seiner lautesten Stimme. Das war ziemlich ungewöhnlich, da die Regenzeit längst hätte zu Ende sein müssen. Die Tlaloque-Geister, welche dem Gott Tlaloc zur Seite standen, teilten mit ihren gegabelten Blitzstäben Schläge aus, daß die großen Wolkentonnen grollend und rumpelnd aufsprangen und heftige Regengüsse daraus auf die Erde niedergingen.
Am Nachmittag dieses Tages, im Aufruhr dieses Sturmgewitters kam ich in einem kleinen Haus auf der Insel Xaltócan aus meiner Mutter hervor und begann mein Sterben.
Um es für Eure Chronik deutlicher zu machen – Ihr seht, ich habe mir die Mühe gemacht, auch euren Kalender zu lernen –, habe ich ausgerechnet, daß der Tag meiner Geburt der zwanzigste jenes Mondes gewesen sein muß, den ihr September nennt, und nach eurer Zeitrechnung das Jahr eintausendvierhundertsechsundsechzig. Das war zur Zeit der Herrschaft Motecuzóma Iluicamínas, was soviel bedeutet wie Der Zornige Herr, oder Derjenige, Der Pfeile In Den Himmel Schießt. Er war unser Uey-Tlatoáni, der Verehrte oder Große Sprecher; ihr würdet ihn euren König oder Kaiser nennen. Doch damals bedeutete mir weder der Name von Motecuzóma noch von irgend jemand sonst sonderlich viel.
Im Augenblick, da ich gerade warm aus dem Mutterschoß herausgekommen war, machte es mir zweifellos weit größeren Eindruck, daß man mich augenblicklich in einen Krug mit atemberaubend kaltem Wasser eintauchte. Keine Hebamme hat sich jemals die Mühe gemacht, mir zu erklären, warum, doch nehme ich an, wenn ein Neugeborenes diesen furchtbaren Schock überlebt, kann es sämtliche Krankheiten überleben, die es in seiner Kindheit befallen. Doch wie dem auch sei, höchstwahrscheinlich beschwerte ich mich lauthals, als die Hebamme mich wickelte, während meine Mutter ihre Hände von dem Strick mit den dicken Knoten daran löste, der von der Decke herabhing und den sie gepackt gehalten hatte, als sie sich hinkniete, mich auf den Boden hinauszupressen, und mein Vater sorgsam meine abgetrennte Nabelschnur um den kleinen hölzernen Kriegsschild wickelte, den er geschnitzt hatte.
Dieses Zeichen übergab mein Vater bestimmt dem ersten Mexícatl-Krieger, dem er begegnete; von ihm wiederum durfte man erwarten, daß er den kleinen Schild irgendwo auf dem nächsten Schlachtfeld, auf das er befohlen wurde, in den Boden steckte. Fortan hätte mein Tonáli – Geschick, Bestimmung, Schicksal, wie immer Ihr es nennen wollt – mich ständig drängen sollen, Soldat zu werden, also den ehrenvollsten Beruf zu ergreifen, den es für unsere Schicht gab, und in der Schlacht zu fallen-, mithin den für Angehörige unseres Standes ehrenvollsten Tod zu sterben. Ich sage: »Hätte sollen«, denn wiewohl mein Tonáli mich häufig verlockt oder gedrängt hat, ausgefallene Wege einzuschlagen, selbst den aufs Schlachtfeld, habe ich nie das Verlangen gespürt, zu kämpfen oder vor meiner Zeit einen gewaltsamen Tod zu sterben.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß die Nabelschnur meiner Schwester Neun Rohr, wie es die Sitte bei Neugeborenen weiblichen Geschlechts erheischte, knapp zwei Jahre zuvor unter der Feuerstelle des Raumes vergraben worden war, in dem wir beide geboren wurden. Ihre Nabelschnur hatte mein Vater um ein winziges Spinnrad aus Ton gewickelt; was gewährleisten sollte, daß sie zu einer guten, arbeitsamen langweiligen Hausfrau heranwuchs. Das allerdings tat sie nicht. Neun Rohrs Tonáli gestaltete sich nicht minder wechselhaft als meines.
Nachdem sie mich eingetaucht und gewickelt hatte, wandte die Hebamme sich mit feierlichen Worten unmittelbar an mich – sofern sie sich bei meinem Geschrei überhaupt hat Gehör verschaffen können. Ich brauche wohl kaum zu betonen, daß ich nicht aus der Erinnerung von den Dingen erzähle, die sich bei meiner Geburt abspielten. Aber ich kenne alle mit einer Geburt verbundenen rituellen Handlungen. Die Worte, welche die Hebamme an jenem Nachmittag zu mir sprach, habe ich seither an so manchen neugeborenen Knaben richten hören, denn so geschah es bei allen unseren Neugeborenen männlichen Geschlechts. Es gehörte zu den vielen Ritualen, wie sie aus der Zeit vor aller Zeit auf uns überkommen und nie vergessen worden waren: so gaben die Vorfahren über die Lebenden ihre Weisheit an die Neugeborenen weiter.
Die Hebamme sprach mich mit Sieben Blume an. Diesen Namen – also den Namen des Tages meiner Geburt – sollte ich behalten, bis ich die Gefahren der Kindheit hinter mir hatte, ich sieben Jahre alt war und man annehmen konnte, daß ich weiterleben und großwerden würde, so daß es sich verlohnte, mir einen weniger allgemeinen und eigenen Erwachsenennamen zu geben.
Sie sprach: »Sieben Blume, mein sehr geliebtes und zärtlich zur Welt gebrachtes Kind, dies sind die Worte, die uns vor langer Zeit von den Göttern gegeben wurden. Du bist dieser Mutter und diesem Vater nur geboren worden, um ein Krieger und ein Diener der Götter zu werden. Der Ort hier, an dem du gerade geboren worden bist, ist nicht deine wirkliche Heimat.«
Und sie sprach: »Sieben Blume, du bist dem Schlachtfeld versprochen. Deine höchste Pflicht ist es, der Sonne das Blut deiner Gegner zu trinken zu geben. Erweist dein Tonáli sich als stark, wirst du nur für eine kurze Zeit bei uns und an diesem Orte bleiben. Deine wirkliche Heimat findest du im Land des Sonnengottes Tonatíu.«
Und sie sprach: »Sieben Blume, falls du aufwächst, um als Xochimíqui zu sterben – als einer, der das Glück hat, im Krieg oder durch Opfer den Blumentod zu sterben –, wirst du für immer im glücklichen Tonatíucan, der Gegenwelt der Sonne leben, wirst Tonatíu ewig und immerdar dienen und frohlocken in seinem Dienst.«
Ich sehe, daß Ihr Euch innerlich windet, Euer Exzellenz. Das wäre auch mir so ergangen, hätte ich damals diese bedrückenden Willkommensworte begriffen, mit denen ich in dieser Welt begrüßt wurde, oder die Worte, die unsere Nachbarn und Verwandten sprachen, die hereindrängten, einen Blick auf das Neugeborene zu werfen, wobei ein jeder sich mit dem traditionellen Gruß über mich neigte. »Du bist gekommen, um zu leiden. Um zu leiden und zu erdulden.« Würden Kinder mit der Fähigkeit geboren, eine solche Begrüßung zu verstehen, würden sie sich alle eiligst wieder zurückschlängeln in den Schoß ihrer Mutter und schrumpfen, bis sie wieder so klein wären wie der Samen, aus dem sie gewachsen sind.
Aber zweifellos sind wir auf die Welt gekommen, um zu leiden und zu erdulden; welchem Menschen wäre das je anders ergangen? Doch die Worte, welche die Hebamme über Kriegsdienst und Opfer sprach, waren nur nachgeplappert wie von einer Spottdrossel. Wie viele andere solche erbaulichen Ansprachen habe ich nicht zu hören bekommen – von meinem Vater, von meinen Lehrern, von unseren Priestern – und euren –, die alle gedankenlos wiederholten, was sie selbst von Generationen derer gehört hatten, die längst vergangen sind. Ich persönlich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Längstverstorbenen keineswegs weiser waren als wir, auch nicht, als sie noch lebten, und daß ihr Totsein ihrer Weisheit auch keinen Glanz verliehen hat. Ich habe die feierlichen Worte der Toten stets yca mapilxocoitl, mit meinem kleinen Finger genommen – mit einem Gran Salz, wie es bei euch heißt.
Wir wachsen heran und blicken hinab, wir werden alt und blicken zurück. Ayyo, doch was es hieß, ein Kind zu sein, ein Kind! Vor dem sich alle Wege und Tage unendlich weit erstrecken und in die Höhe führen, ohne daß man auch nur einen einzigen verpaßt oder verschwendet hätte, oder welche, die man bedauerte, gegangen zu sein oder gelebt zu haben! Alles in der Welt noch unbekannt und neu, wie einst für Ometecútli und Omeciuatl, unser Herrscherpaar, die ersten Lebewesen in der ganzen Schöpfung.
Mühelos entsinne ich mich, rufe ich mir in die Erinnerung, welche Geräusche das Morgengrauen auf unserer Insel Xaltócan begleiteten, habe ich sie wieder in meinen altersschwachen Ohren. Erwachen tat ich beim Ruf des Frühvogels Pápan, der seine vier Töne zwitscherte – »Papaquiqui, papaquiqui!« – und die Welt aufforderte: »Aufstehen, singen, tanzen, glücklich sein!« Manchmal wachte ich auch zu dem noch frühmorgendlicheren Geräusch auf, das meine Mutter machte, wenn sie den Mais im Métlatl-Stein mahlte oder klatschend den Maismehlteig zu den großen dünnen Rundfladen des Tláxcala-Brotes formte, die ihr heute Tortillas nennt.
Mühelos, ohne mich anstrengen zu müssen, erinnere ich mich der heißen Mittage, da Tonatíu – die Sonne – in all seiner jugendlichen Kraft heftig seine Flammenspeere schwenkte, während er auf dem Dach des Universums stand und mit dem Fuß aufstampfte. Im schattenlosen Blaugold der Mittagszeit schienen die Berge um den See Xaltócan herum zum Greifen nahe. Wenn ich's recht bedenke, ist das vielleicht sogar meine früheste Erinnerung – ich muß damals knapp zwei Jahre alt gewesen sein und kann noch nicht gewußt haben, was Entfernungen sind –, denn der Tag und die Welt um mich herum lechzten nach Luft, und es verlangte mich, etwas Kühles zu berühren. Noch heute weiß ich, wie baß erstaunt ich war, als ich den Arm ausstreckte und das Blau des bewaldeten Berges, der doch so klar und greifbar nahe vor mir aufragte, nicht berühren konnte.
Genauso mühelos erinnere ich mich, wie die Tage endeten, da Tonatíu zum Schlafen seinen schimmernden Federumhang um sich zog und sich herabsinken ließ auf sein weiches Lager aus vielfarbigen Blütenblättern und darin in Schlaf versank. Er hatte sich an Den Dunklen Ort, Mictlan, zurückgezogen, wo wir ihn nicht mehr sehen konnten. Von den vier Gegenwelten, in denen unsere Toten weilen konnten, war Mictlan die am tiefsten gelegene Wohnstatt der ganz und gar und unerlösbar Toten, der Ort, wo nichts geschieht, jemals geschehen ist oder geschehen wird. Nur aus Mitleid pflegte Tonatíu Dem Dunklen Ort der hoffnungslos Toten eine Zeitlang sein Licht zu spenden (eine kurze Zeit nur verglichen damit, wie lange er uns damit beschenkte).
Mittlerweile stieg in Der Einen Welt – oder zumindest auf Xaltócan, der einzigen Welt, die ich kannte – blaßblauer Dunst vom See auf, so daß die dunkelnden Berge ringsum darauf zu schweben schienen, zwischen dem roten Wasser und dem violetten Himmel. Dann blinkte eben über dem Horizont, wo Tonatíu verschwunden war, für eine Weile Omexóchitl, der Abendstern Nach Blume auf. Dieser Stern kam, Nach Blume ließ uns nicht im Stich, sondern versicherte uns, daß – wiewohl die Dämmerung einsetzte – wir nicht zu fürchten brauchten, diese Nacht werde so finster werden wie das Vergessensdunkel des Dunklen Ortes. Die Eine Welt lebte und würde auch weiterhin am Leben bleiben.
Mühelos kommt mir die Erinnerung an die Nächte und an eine Nacht im besonderen. Metztli, der Mond, hatte seine monatliche Sternenmahlzeit beendet und war rund und satt, hatte sich den Bauch bis zum Bersten vollgeschlagen, so daß die Gestalt des Kaninchen im Mond deutlich darauf zu erkennen war wie eine Steinmetzarbeit an einer Tempelwand. In dieser Nacht – ich muß damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein – setzte mein Vater mich auf seine Schulter und hielt mich fest an den Fußgelenken gepackt. Seine weitausgreifenden Schritte trugen mich durch den kühlen Schimmer und das noch kühlere Dunkel: durch das gesprenkelte Mondlicht und den Mondschatten unter den weitausladenden Ästen und Blättern des »ältesten der ältesten« Bäume, der Ahuehuétque-Zypresse.
Ich war damals alt genug, um von den schrecklichen Dingen gehört zu haben, die nächtens eben hinter dem Gesichtskreis der Menschen lauerten. Da war Chocaciutl, die Weinende Frau, die erste aller Mütter, die im Kindbett starb, nun ewig unterwegs, ihr verlorenes Kind und ihr eigenes verlorenes Leben beklagend. Da waren die namen-, kopf- und gliederlosen Leiber, denen es irgendwie gelang zu stöhnen, während sie sich blind und hilflos auf dem Boden wanden und zuckten. Da waren die entkörperlichten, fleischlosen Totenschädel, die kopfhoch durch die Luft trieben und Reisende scheuchten, die unterwegs von der Nacht überrascht wurden.
Manch anderes, was im Dunkel weste, war nicht ganz so sehr zu fürchten. Da war zum Beispiel der Gott Yoáli Ehécatl, Nacht Wind, der nächtens die Straßen entlangfegte und versuchte, jeden zu packen, der so unvorsichtig war, noch in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Aber Nacht Wind war launisch wie jeder andere Wind auch. Manchmal packte er einen Menschen, ließ ihn dann jedoch wieder frei, und wenn das geschah, wurden dem Betreffenden auch noch die Erfüllung seines Herzenswunsches und ein langes Leben zuteil, sich daran zu erfreuen. Deshalb hatten unsere Leute in der Hoffnung, den Gott stets nachsichtig und mild gestimmt zu halten, schon vor langer Zeit an verschiedenen Wegkreuzungen auf der Insel Steinbänke aufgestellt, damit Nacht Wind sich bei seinem ungestümen Umherfegen darauf ausruhen könnte. Wie gesagt, ich war alt genug, die Geister der Dunkelheit zu kennen und zu fürchten. Doch in dieser Nacht, da ich auf den breiten Schultern meines Vaters saß und eine Zeitlang größer war als ein ausgewachsener Mann, mein Haar die Zypressenzweige streifte und mein Gesicht von gesprenkeltem Mondschein liebkost wurde, hatte ich keine Angst.
An diesen Abend erinnere ich mich deshalb so ganz besonders mühelos, weil mir in dieser Nacht zum ersten mal erlaubt wurde, einer Zeremonie beizuwohnen, bei der Menschenopfer gebracht wurden. Es handelte sich nur um eine recht unbedeutende feierliche Handlung, die zu Ehren einer weniger bedeutenden Gottheit vollzogen wurde: Atláua, des Gottes der Vogelsteller. (In jenen Tagen wimmelte es auf dem See Xaltocan von Enten und Gänsen, die auf ihren Wanderzügen hier einfielen, um sich auszuruhen und zu fressen – und von uns gegessen zu werden.) So sollte in dieser Nacht des bis zum Bersten gesättigten Monds, zu Beginn der Zeit, da die Wasservögel einfielen, nur ein Xochimíqui zur höheren Ehre des Gottes Atláua rituell getötet werden, nur ein einziger Mann. Es handelte sich nicht einmal um einen Kriegsgefangenen, der seinem Blumentod heiter oder schicksalergeben entgegengehen sollte, sondern um einen Freiwilligen, der ihn recht wehmütig erwartete.
»Ich bin schon tot«, hatte er den Priestern erklärt. »Ich schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Meine Brust ringt nach mehr und mehr Luft, doch nährt sie mich einfach nicht mehr. Meine Glieder werden immer schwächer, mein Augenlicht schwindet, in meinem Kopf schwimmt alles, ich falle in Ohnmacht und stürze zu Boden. Ich möchte lieber auf einen Schlag sterben, als wie ein Fisch herumzuzappeln, bis mir die Luft schließlich endgültig abgedrückt wird.«
Der Mann war ein Sklave, der vom Volk der Chinantéca weit im Süden zu uns gekommen war. Diese Menschen wurden und werden immer noch von einer merkwürdigen Krankheit befallen, die sich in bestimmten Familien zu vererben scheint: Die Chinantéca und wir nannten das die Gemalte Krankheit, weil die Haut eines Befallenen sich stellenweise leuchtendblau färbt, und ihr Spanier wiederum nennt die Chinantéca pueblo pinto oder Pintos. Nach und nach schafft der Körper eines solchen Kranken es nicht mehr, die Luft zu verarbeiten, die er einatmet, und so stirbt er einen qualvollen Erstickungstod, genauso, wie ein Fisch, den man aus seinem Lebenselement herausgerissen hat.
Mein Vater und ich langten am Ufer des Sees an, wo ein wenig auseinander zwei kräftige Pfosten in den Boden hineingetrieben worden waren. Die Nacht rings umher erhellten Feuer in Becken, und sie war erfüllt von Schwaden schwelenden Weihrauchs. Durch diesen Dunst hindurch tanzten die Priester des Atláua: alte Männer, ganz schwarz, die Gewänder schwarz und die Gesichter geschwärzt, das lange Haar mit Oxitl verklebt, dem schwarzen Kiefernteer, mit dem unsere Vogelsteller sich Beine und Unterleib einschmieren, um sich vor der Kälte zu schützen, wenn sie in das Wasser des Sees hinauswaten. Zwei Priester dudelten die rituellen Melodien auf Flöten aus menschlichen Schienbeinknochen, während ein anderer auf eine Trommel schlug. Es handelte sich um eine besondere Trommel, die für diese Gelegenheit besonders geeignet war; sie bestand aus einem mächtigen getrockneten Kürbis, der zum Teil mit Wasser gefüllt war, so daß die Trommel bis zur Hälfte im seichten Wasser versank und schwamm. Mit Schlegeln aus Hüftknochen bearbeitet, gab die Wassertrommel einen dumpfen Trommelwirbel von sich, der von den rings um den See unsichtbar aufragenden Bergen widerhallte.
Der Xochimíqui wurde in das Rund aus rauchigem Licht hereingeführt. Er war nackt und trug nicht einmal ein Maxtlatl, mit dem die Männer sonst Lenden und Scham verhüllten. Selbst im flackernden Zwielicht konnte ich erkennen, daß sein Körper nicht von blaugesprenkelter Fleischfarbe war, sondern von einem Totenblau, das hier und da einen fleischfarbenen Sprenkel aufwies. Er wurde mit abgespreizten Gliedern zwischen den Uferpfosten festgebunden, ein Fuß- und ein Handgelenk jeweils an einem Pfosten. Ein Priester, der einen Pfeil schwenkte wie einen Taktstock, stimmte einen Beschwörungsgesang an.
»Den Lebenssaft dieses Mannes geben wir dir, Atláua, vermischt mit dem Lebenswasser unseres geliebten Sees Xaltócan. Wir bringen es dir zum Geschenk dar, Atláua, auf daß du die Güte besitzen mögest, Schwärme köstlicher Vögel in die Netze unserer Vogelsteller gehen zu lassen …« Und so weiter.
Lange zog sich das hin, so lange, bis es mich langweilte – und Atláua vermutlich längst. Dann, ohne jede Warnung und ohne jegliche rituelle Gebärde senkte der Priester unvermittelt den Pfeil, riß ihn mit aller Kraft hoch und drehte ihn im Geschlecht des blauen Mannes. Mochte das Opfer auch noch so heiß ersehnt haben, vom Leben befreit zu werden, jetzt stieß es einen Schrei aus. Es gellte diesen Schrei hinaus, schrill wehklagend, daß es den Klang der Flöten, der Trommel und des Gesanges übertönte. Es schrie, aber es schrie nicht lange.
Der Priester mit dem blutigen Pfeil zog ein Kreuz über die Brust des Mannes: das Ziel, und alle Priester tänzelten im Kreis um ihn herum, ein jeder mit einem Bogen und vielen Pfeilen in den Händen. Wer jeweils vor dem Xochimíqui stand, schickte einen Pfeil in die blau sich hebende und senkende Brust. Nachdem der Tanz vorüber und alle Pfeile verschossen waren, sah der Tote aus wie ein überlebensgroßes Tier, das wir Kleines Stachelschwein nennen. Weiter geschah in der Zeremonie sonst nichts. Der Leichnam wurde von den Pfosten losgebunden und mit Stricken hinten an dem auf den Strand gezogenen Acáli eines Vogelstellers festgemacht. Der Vogelsteller ruderte sein Kanu hinaus auf den See, bis wir ihn nicht mehr sehen konnten; dabei hatte er den Leichnam im Schlepptau, bis dieser durch das Wasser, welches durch seine natürlichen Körperöffnungen und die Pfeillöcher eindrang, so schwer geworden war, daß er unterging. Dergestalt nahm Atláua sein Opfer entgegen.
Mein Vater hob mich wieder auf seine Schultern und trat weit ausgreifend den Rückweg über die Insel an. Während ich sicher und unversehrt dort oben auf- und abhüpfte, schwor ich mir knäbisch und überheblich eines. Sollte es jemals mein Tonáli sein, für den Blumentod oder als Opfer auserwählt zu werden, und wäre es auch für eine fremde Gottheit – ich würde nicht schreien, was immer man mir auch antun und welche Schmerzen ich auch erleiden sollte.
Törichtes Kind. Damals dachte ich, der Tod, das hieße nur sterben, und zwar entweder tapfer oder jämmerlich. Doch wie hätte ich damals, in der elterlichen Geborgenheit meines unbedrohten jungen Lebens, da ich auf starken Schultern einem süßen Schlaf entgegengetragen wurde, aus dem ich erst durch den Ruf des Frühvogels geweckt werden sollte – wie hätte ich damals wissen sollen, was der Tod wirklich ist?
Wir glaubten in jener Zeit, einen im Dienst eines mächtigen Herrn gefallenen oder zu Ehren einer hohen Gottheit geopferten Helden erwarte mit Gewißheit ein ewiges Leben in der strahlendsten aller Gegenwelten, in der er für immerdar mit Glückseligkeit belohnt und beschenkt werden würde. Jetzt erfahren wir durch das Christentum, daß wir auf ein späteres Leben in einem ähnlich strahlenden Himmel hoffen dürfen. Doch überlegt. Selbst der heldischste Held noch, der im Dienste der allerehrenwertesten Sache stirbt, ja sogar der frömmste christliche Märtyrer, der in der Gewißheit stirbt, in den Himmel zu kommen – nicht einmal der wird jemals wieder die Liebkosung des Mondscheins dieser Welt auf seinem Gesicht spüren, wenn er unter den raschelnden Zypressen dieser Welt dahingeht. Ein harmloses Vergnügen – klein, so schlicht, so gewöhnlich –, aber es nie wieder zu erleben!
Euer Exzellenz bekunden Ungeduld. Verzeiht, Señor Bischof, daß mein alter Geist manchmal vom geraden Pfad abweicht und sich auf gewundenen Nebenwegen ergeht. Ich weiß, manches, was ich erzählt habe und anderes, wovon ich noch erzählen werde, betrachtet Ihr vielleicht nicht gerade als streng historischen Bericht. Aber ich bitte Euch um Geduld, denn ich weiß nicht, ob ich jemals wieder Gelegenheit haben werde, diese Dinge zu sagen. Und bei allem, was ich sage, sage ich doch nicht alles, was gesagt werden könnte …
Zu unserer Zeit gab es nur wenige Gesetze – absichtlich wenige, damit jedermann sie alle in seinem Kopf und in seinem Herzen haben und sich nicht mit Nichtwissen herausreden konnte, wenn er gegen sie verstieß.
Diese Gesetze wurden nicht niedergeschrieben wie die euren, und auch nicht an öffentlichen Plätzen angeschlagen, wie ihr es macht, so daß man ständig gezwungen ist, die lange Liste von Verordnungen, Regeln und Gesetzen zu befragen, weil man sich bei euch auch noch in der geringsten seiner Handlungen nach dem »Du sollst« und »Du sollst nicht« richten muß. Für eure Begriffe mögen unsere wenigen Gesetze sich lax oder launisch ausnehmen und die Strafen, die für Verstöße gegen dieselben verhängt wurden, unangemessen hart. Dennoch wirkten sich unsere Gesetze für uns alle zum Guten aus – und da jedermann die furchtbaren Folgen kannte, die ein Verstoß nach sich zog, richtete sich jeder nach ihnen. Und wer es nicht tat – nun, der verschwand.
Ein Beispiel. Nach den Gesetzen, die ihr aus Spanien mitbrachtet, wird ein Dieb mit dem Tode bestraft. So war das früher bei uns auch. Nur gilt nach euren Gesetzen ein Hungriger, der etwas Nahrung stiehlt, als Dieb. Nicht so bei uns. In einem unserer Gesetze hieß es, daß von jedem Maisfeld, das an einer öffentlichen Straße angelegt wird, die vier der Straße zunächst liegenden Reihen dem Vorübergehenden zur Verfügung stünden. Jeder hungrige Reisende konnte also so viele Maiskolben brechen, wie sein Bauch brauchte. Jemand jedoch, der sich aus Habgier zu bereichern trachtete und das Maisfeld plünderte, um einen Sackvoll nach Hause zu tragen oder zu verkaufen, mußte, wenn er dabei erwischt wurde, sterben. So sorgte das Gesetz für zweierlei Gutes zugleich: dafür, daß jemand, der stahl, für immer von seiner Dieberei geheilt wurde, und dafür, daß der Hungrige niemals zu verhungern brauchte.
Unser Leben wurde weniger von Gesetzen geregelt als vielmehr von althergebrachten Sitten und Gebräuchen. Die meisten davon bestimmten das Verhalten von Erwachsenen, von Familienverbänden und ganzen Gemeinden. Gleichwohl wurde ich mir schon als Kind, das noch nicht über den Namen Sieben Blume hinausgewachsen war, bewußt, welch ganz besonderen Wert die Tradition darauf legte, daß ein Mann tapfer, stark, mutig, arbeitsam und ehrlich zu sein habe und eine Frau bescheiden, sittsam, sanft, arbeitsam und zurückhaltend.
Die Zeit, die ich nicht mit meinen Spielzeugen verbrachte – das meiste davon kleine Kriegswaffen und Nachbildungen des Arbeitsgeräts, das mein Vater für sein Handwerk brauchte – und die Zeit, in der ich nicht mit Chimáli und Tlatli und anderen Jungen meines Alters spielte, verbrachte ich, sofern er nicht im Steinbruch arbeitete, in der Gesellschaft meines Vaters. Wiewohl ich ihn selbstverständlich Tete nannte, wie alle Kinder ihren Vater nennen, hieß er eigentlich Tepetzálan, was soviel bedeutet wie Tal, und zwar nach dem tiefliegenden Ort zwischen den Festlandbergen, in dem er geboren war. Da er die meisten Männer bei uns um Haupteslänge überragte, klang dieser Name, den er im Alter von sieben Jahren bekommen hatte, für einen Erwachsenen ziemlich lächerlich. Alle unsere Nachbarn und die anderen Steinbrucharbeiter riefen ihn bei einem Spitznamen, der eine Anspielung auf seine Größe enthielt: Handvoll Sterne, Kopf Neiger und dergleichen. Und in der Tat mußte er den Kopf weit bis zu mir herunterneigen, wenn er mir eine der traditionellen Predigten halten wollte, wie Väter sie nach altem Brauch ihren Söhnen halten. Erwischte er mich etwa dabei, wie ich frech den schlurfenden Gang des alten Buckligen nachahmte, der bei uns im Dorf die Abfälle einsammelte, redete mein Vater mir streng ins Gewissen:
»Paß auf, daß du dich nicht lustig machst über die Alten, die Krüppel, oder diejenigen, die irgend etwas Törichtes getan oder sich eine Gesetzesübertretung haben zuschulden kommen lassen. Beleidige und verachte sie nicht, sondern erniedrige dich vor den Göttern und zittere, auf daß sie dich nicht mit dem gleichen Elend strafen.«
Oder wenn ich wenig Interesse zeigte für das, was er mir von seinem Handwerk beibringen wollte – von jedem Macehuáli-Jungen, der nicht den Ehrgeiz besaß, das Handwerk des Kriegers zu erlernen, wurde erwartet, daß er in die Fußstapfen seines Vaters trat –, neigte er sich wohl zu mir herab und erklärte mit großem Ernst:
»Drücke dich nicht vor der Arbeit, welche die Götter dir zugewiesen haben, mein Sohn, sondern sei es zufrieden. Ich bete darum, daß sie dir Verdienste und Glück schenken mögen, doch was immer sie dir auch zuteilen, nimm es dankbar entgegen. Ist es nur eine bescheidene Gabe, verachte sie nicht, denn die Götter können dir auch dieses Wenige noch wieder nehmen. Gewähren sie dir aber Großes, schenken sie dir vielleicht eine bedeutende Gabe, sei nicht stolz und werde nicht übermütig, sondern denke daran, daß die Götter dieses Tonáli einem anderen vorenthalten haben, um es dir geben zu können.«
Bisweilen hielt mein Vater mir ohne jeden ersichtlichen Grund und mit leicht gerötetem Gesicht eine kleine Predigt, aus der ich damals überhaupt nicht schlau wurde. Sie ging etwa folgendermaßen:
»Führe ein sauberes Leben und sei nicht ausschweifend, sonst erzürnst du die Götter und sie überhäufen dich mit Schande. Sei enthaltsam, mein Sohn, bis du das Mädchen kennenlernst, das die Götter dir zur Frau bestimmt haben, denn die Götter verstehen sich darauf, alle Dinge richtig zu ordnen. Vor allem aber vergnüge dich nie mit der Frau eines anderen Mannes.«
Das wollte mir damals als überflüssiges Gebot erscheinen, denn ich führte ja ein sauberes Leben. Genauso wie jeder andere Mexícatl – mit Ausnahme der Priester – badete ich zweimal täglich in heißer Seifenlauge, schwamm häufig im See und schwitzte in bestimmten Abständen alle mir noch verbliebenen schlechten Säfte in unserem ofenheißen Schwitzbad aus. Ich reinigte mir morgens wie abends die Zähne mit einer Mischung aus Bienenhonig und weißer Asche. Und was das Sichvergnügen betraf, so kannte ich keinen Mann auf der Insel, der eine Frau meines Alters hatte, und Mädchen bezog keiner von uns Jungen in seine Spiele mit ein.
Meine Mutter war ganz und gar untypisch für eine Frau unserer Schicht auf Xaltócan: Sie war die wahrscheinlich wenigst bescheidene, wenigst fügsame und am wenigsten zurückhaltende Frau, die man sich vorstellen konnte. Sie war ein schrillstimmiges, zänkisches Weib, ein Hausdrachen für unsere kleine Familie und eine Plage für alle unsere Nachbarn. Dabei brüstete sie sich, ein Muster aller weiblichen Tugenden zu sein, was zur Folge hatte, daß sie in einem Zustand ständiger und zorniger Unzufriedenheit mit allem und jedem um sie herum lebte. Falls ich überhaupt etwas Nützliches von meiner Tene mitbekommen habe, dann, daß ich manchmal unzufrieden mit mir selber war.
Daß ich von meinem Vater körperlich gezüchtigt worden wäre, ist, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal vorgekommen. Wir Jungen durften auf Vögel schießen, wie etwa auf Krähen und Stare, die sich an den Früchten unseres Gartens gütlich taten, ja, wurden sogar dazu ermuntert, es zu tun; und wir taten das mit Blasrohren, aus denen spitz zulaufende kleine Tongeschosse herauskamen. Eines Tages zielte ich aus irgendeiner boshaften Regung heraus nach der zahmen Wachtel, die wir in unserem Haus hielten. (Die meisten Familien hielten einen solchen Hausvogel, damit er Skorpione fernhielt und Raupen und Würmer vertilgte.) Um mein Vergehen zu vertuschen, versuchte ich, meinem Freund Tlatli die Schuld am Tode des Vogels in die Schuhe zu schieben.
Mein Vater brauchte nicht lange, um hinter die Wahrheit zu kommen. Hätte die Tatsache, daß ich die harmlose Wachtel umgebracht hatte, mir nur eine bescheidene Strafe eingetragen, so war das bei der streng verbotenen Sünde des Lügens nicht möglich. Für das »Speichel und Schleim Sprechen«, wie wir das Lügen nannten, mußte mein Tete die dafür vorgeschriebene Bestrafung an mir vollziehen. Er wand sich innerlich, als er es tat: mir nämlich mit dem Dorn des Maguey-Strauchs die Unterlippe durchbohrte und diesen bis zum Schlafengehen darin ließ. Ayya ouiya, dieser Schmerz, diese Schande, dieser Schmerz, diese Tränen der Reue, dieser Schmerz!
Die Bestrafung hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck bei mir, daß ich diesen wiederum in den Archiven unseres Landes hinterlassen habe. Wenn Ihr unsere Bilderschrift gesehen habt, dann habt Ihr Figuren von Menschen oder anderen Geschöpfen gesehen, denen ein geringeltes, schriftrollenähnliches Zeichen entwächst. Dieses Zeichen bedeutet ein Nahuatl, das heißt: eine Zunge, Sprache, Rede oder Klang. Es deutet an, daß die Figur spricht oder irgendeinen Laut von sich gibt. Ist das Nahuatl geringelter als sonst, und wird es noch erweitert durch das Zeichen für Schmetterling oder Blume, dann spricht die Figur Dichtung oder singt ein Lied. Als ich selber Schreiber wurde, fügte ich unserer Bilderschrift noch eine Erweiterung hinzu: ein von einem Maguey-Dorn durchbohrtes Nahuatl ist ein Zeichen, das alle unsere anderen Schreiber bald übernommen haben. Seht Ihr dieses Zeichen vor einer Figur, so wißt Ihr, daß jemand eine Lüge spricht.
Meine Mutter, die weit häufiger mit Züchtigungen bei der Hand war als mein Vater, teilte diese ohne zu zögern, ohne Gewissensbisse und ohne Mitleid aus, ja, ich vermute, sogar mit einer gewissen lustvollen Genugtuung daran, uns neben der Zurechtweisung auch noch Schmerz zuzufügen. Diese Bestrafungen mögen sich nicht auf die Bildergeschichte unseres Landes ausgewirkt haben wie das Zeichen der vom Dorn durchbohrten Zunge, um so nachdrücklicher jedoch auf das Leben von mir und meiner Schwester. Ich sehe noch heute vor mir, wie meine Mutter das Hinterteil meiner Schwester wütend mit einem Bündel Nesseln bearbeitete, so daß es flammend rot wurde, weil das Mädchen sich der Sünde der Schamlosigkeit schuldig gemacht hatte. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, daß Schamlosigkeit bei uns nicht notwendigerweise das gleiche bedeutete, was es offensichtlich bei euch weißen Männern bedeutet: die unanständige Zurschaustellung des unbekleideten Körpers. Überhaupt – was die Kleidung betrifft, liefen wir Kinder beiderlei Geschlechts, sofern das Wetter es zuließ, bis zum Alter von vier oder fünf Jahren vollkommen nackt herum. Danach bekleideten wir unsere Nacktheit mit einem langen, groben, rechteckigen Tuch, welches wir über einer Schulter zusammenknoteten und das bis zur Hälfte des Oberschenkels hinunterreichte. Sobald wir erwachsen wurden – das heißt, mit dreizehn Jahren –, trugen wir Jungen unter unserem Überwurf noch ein Maxtlatl-Schamtuch, das jetzt aus feinerem Stoff bestand. Etwa im gleichen Alter, je nachdem, wann sie ihre erste Blutung bekamen, trugen die Mädchen dann Frauenröcke und -blusen sowie ein Untergewand, das so ähnlich aussah wie das, was ihr eine Windel nennt.
Verzeiht, wenn ich mich bei unbedeutenderen Einzelheiten aufhalte, aber ich versuche, mir darüber klarzuwerden, wann etwa es zu dieser Nesselzüchtigung bei meiner Schwester kam. Aus Neun Rohr war vor einiger Zeit Tzitzitlíni geworden – der Name bedeutet soviel wie »Glöckchengeläut« –, also muß sie älter als sieben gewesen sein. Allerdings hatte ich gesehen, daß ihr Hinterteil brennend rot war, was bedeutet, daß sie kein Untergewand trug, also noch keine dreizehn Jahre alt war. Alles bedacht, muß sie dann wohl zehn oder elf gewesen sein. Und alles, womit sie sich ihre Züchtigung verdient hatte – das einzige, dessen sie sich schuldig gemacht –, bestand darin, daß sie verträumt gemurmelt hatte: »Ich höre Trommeln und Musik. Ob sie heute abend wohl tanzen?« Für unsere Mutter war das schamlos. Tzitzi sehnte sich offensichtlich nach leichtfertiger Tändelei, wo sie sich doch hätte an den Webrahmen setzen oder etwas ähnlich Langweiliges tun sollen.
Eines Tages – ich war damals vier oder fünf Jahre alt – saß ich zusammen mit Tlatli und Chimáli im Hof unseres Hauses und spielte das Patóli-Bohnenspiel mit ihnen. Dabei handelte es sich nicht um das gleichfalls Patóli genannte Glücksspiel der erwachsenen Männer, welches gelegentlich eine Familie ihr Vermögen kostete oder eine tödliche Familienfehde nach sich zog. Nein, wir drei Jungen hatten nur einen Kreis auf dem Boden gezogen, und jeder von uns hatte eine Springbohne in die Mitte gelegt; bei diesem Spiel geht es darum, wessen von der Sonnenwärme in Tätigkeit versetzte Bohne als erste über das Kreisrund hinausspringt. Meine Bohne schien ziemlich träge, und so belegte ich sie mit irgendeinem Fluch. Vielleicht habe ich »Pochéoa« oder etwas Ähnliches gesagt.
Plötzlich fühlte ich mich in die Höhe gerissen und hing mit dem Kopf nach unten. Meine Tene hatte mich bei den Fußgelenken gepackt. Ich sah die umgekehrten Gesichter von Chimali und Tlatli, die Mund und Augen vor Überraschung weit aufrissen, dann wurde ich ins Haus hineingetragen und neben der Kochstelle abgesetzt. Meine Mutter veränderte ihren Zugriff, so daß sie eine Hand frei hatte, mit der sie ein paar getrocknete rote Chili-Schoten ins Feuer warf. Als sie knisterten und einen dichten gelben Rauch entwickelten, packte meine Tene mich abermals bei den Fußgelenken und hielt mich kopfüber in diesen beizenden Rauch hinein. Sich auszumalen, was in den nächsten paar Augenblicken geschah, überlasse ich Eurer Phantasie, jedenfalls war mir fast, als müßte ich sterben. Ich weiß noch, daß mir die Augen einen halben Mond hinterher tränten und ich kaum etwas sehen konnte; auch konnte ich keinen Atemzug tun, ohne das Gefühl zu haben, ich atmete Flammen und Funken ein.
Gleichwohl muß ich wohl von Glück sagen, denn es war bei uns nicht Sitte, daß ein Knabe viel Zeit in der Gesellschaft seiner Mutter verbrachte; von nun an nutzte ich jedoch jede Gelegenheit, es nicht zu tun.
Ich mied sie hinterher wie mein Freund mit dem störrischen Wirbelhaar, Chimáli, den Priestern der Insel aus dem Wege ging. Selbst wenn sie nach mir suchte, um mir irgendeine Besorgung oder einen Botengang aufzutragen, konnte ich mich stets auf dem Hügel mit den Kalköfen in Sicherheit bringen.
Die Steinbrucharbeiter glaubten, keine Frau dürfe jemals ihren Kalköfen nahekommen, sonst werde der Kalk nicht gut; und nicht einmal meine Mutter wagte es, diesen Hügel zu betreten.
Aber die arme Tzitzitlíni hatte keinen solchen Zufluchtsort. Im Einklang mit der Sitte und ihrem Tonáli mußte ein Mädchen die Fertigkeiten von Frauen und Ehefrauen erlernen – Kochen, Spinnen, Weben, Nähen und Sticken –, und so mußte meine Schwester den größten Teil eines jeden Tages unter dem scharfen Auge und der zänkischen Zunge meiner Mutter zubringen. Ihre Zunge ließ keine Gelegenheit aus, eine der herkömmlichen, langatmigen Ermahnungen über Tzitzi ergehen zu lassen, wie Mütter sie nun einmal Töchtern zuteil werden lassen. Einige davon, die Tzitzi mir wiederholte, waren – darin stimmten wir überein – von einer, wer weiß welcher, längst verstorbenen Ahnin mehr zum Wohle der Mutter als dem der Tochter ersonnen worden.
»Befleißige dich stets des Dienstes an den Göttern, Mädchen, und strebe unablässig danach, das Wohl deiner Eltern zu mehren. Wenn deine Mutter dich ruft, laß dich nicht zweimal bitten, sondern komme augenblicklich. Erteilt man dir einen Auftrag, erhebe keine frechen Widerworte und säume nicht, ihm auf der Stelle nachzukommen. Ja, mehr noch: Wenn deine Tene jemand anders ruft und dieser andere nicht sogleich kommt, dann komme du, um zu sehen, was sie wünscht, mache du es dann und mache es gut.«
»Wenn du auf der Gasse oder sonst in der Öffentlichkeit einem passenden jungen Mann begegnest, beachte ihn nicht und gib ihm kein Zeichen, denn das könnte seine Leidenschaften entzünden. Hüte dich vor ungehörigen Vertraulichkeiten mit Männern, gib den niederen Regungen deines Herzens nicht nach, sonst verdirbt Wollust deinen Charakter so wie Schlamm klares Wasser.«
Tzitzitlíni hätte dieses einzige vernünftige Verbot wahrscheinlich nie übertreten. Als sie jedoch zwölf Jahre alt geworden war, spürte sie, ganz natürlich, so etwas wie sexuelle Regungen in sich und war voller Neugier, was diese zu bedeuten hätten. Vielleicht wollte sie das, was sie für unschickliche und unaussprechliche Gefühle hielt, verheimlichen, und versuchte, wenn niemand sie sah, allein und insgeheim diesen Gefühlen Luft zu verschaffen. Ich weiß nur, daß meine Mutter eines Tages unerwartet früh von einem Gang zum Markt nach Hause zurückkam und meine Schwester dabei überraschte, wie sie – von der Hüfte abwärts nackt – auf ihrem Nachtlager lag und etwas tat, dessen Bedeutung ich damals noch nicht verstand. Sie wurde dabei ertappt, wie sie mit ihren Tipili-Teilen spielte und sich dazu einer kleinen hölzernen Spindel bediente.
Ihr murmelt halblaut vor Euch hin, Euer Exzellenz, und rafft die Falten Eurer Soutane geradezu schützend zusammen. Habe ich Euch mit meinem freimütigen Bericht dessen, was geschah, vielleicht verletzt? Ich habe mich sehr wohl bemüht, keine unflätigen Ausdrücke zu benutzen.
Und da es in unser beider Sprachen eine Fülle unflätiger Ausdrücke gibt, muß ich annehmen, daß die Akte, die sie beschreiben, bei den Menschen unserer beider Völker nichts Ungewöhnliches sind.
Um Tzitzitlínis Vergehen gegen ihren eigenen Körper zu bestrafen, packte unsere Tene sie, ergriff das Gefäß mit dem Chili-Pulver und rieb die freiliegenden, zarten Tipili-Teile wütend mit dem scharfen, brennenden Gewürz ein. Obwohl sie die Schreie ihrer Tochter mit dem Bettzeug zu ersticken versuchte, hörte ich sie, kam herbeigelaufen und fragte atemlos: »Soll ich den Arzt holen?«
»Nein! Keinen Arzt!« fuhr meine Mutter mich an. »Was deine Schwester getan hat, ist zu schändlich, als daß es außerhalb dieser vier Wände bekannt werden dürfte.«
Tzitzi unterdrückte ihr Schluchzen und schloß sich der Bitte unserer Mutter an: »Es tut nicht besonders weh, kleiner Bruder. Hol keinen Arzt. Sag keinem Menschen etwas davon, auch Tete nicht. Versuch, so zu tun, als ob du nichts wüßtest. Ich bitte dich inständig.«
Über meine tyrannische Mutter hätte ich mich vielleicht hinweggesetzt, doch nicht über die flehentlichen Bitten meiner geliebten Schwester. Wenngleich ich nicht wußte, aus welchem Grunde sie jede Hilfe abgelehnt hatte, respektierte ich das und schlich mich davon, machte mir in aller Stille Sorgen und zerbrach mir den Kopf darüber, was eigentlich geschehen sei.
Hätte ich doch nur nicht auf sie beide gehört und doch etwas unternommen! Nach dem, was später geschah, nehme ich an, daß die Grausamkeit, die meine Mutter bei dieser Gelegenheit bewiesen hatte und die eigentlich hatte dazu dienen sollen, Tzitzis erwachendes sexuelles Verlangen zu unterdrücken, genau das Gegenteil bewirkte. Ich glaube, von da an prickelten die Tipili-Teile meiner Schwester wie ein chiliversengter Rachen, brannten und dürsteten danach, befriedigt zu werden. Ich meine, es hätten noch viele Jahre vergehen können, ehe meine geliebte Tzitzitlíni »rittlings auf die Straße ging«, wie wir von einer verworfenen und wahllos sich Männern an den Hals werfenden Frau sagen. Tiefer konnte eine Mexícatl-Frau nicht sinken – zumindest glaubte ich das, bis ich von dem noch weit schlimmeren Schicksal erfuhr, das meiner Schwester schließlich zuteil wurde.
Wie sie sich später verhielt, was aus ihr wurde und wie sie zuletzt genannt wurde, werde ich an passender Stelle berichten. Hier möchte ich nur eines sagen. Ich möchte ausdrücklich erklären, daß sie für mich immer Tzitzitlíni war und immer bleiben wird – »Glöckchengeläut«.