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Close your eyes

And forget your name

Step outside yourself

And let your thoughts drain

As you go insane


- Slayer, "Seasons In The Abyss"




Hamlin war überwältigt von dem Anblick, der sich vor ihm auftat. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, sich einfach auszuklinken, doch er brachte es nicht fertig. Vor ihm befand sich ein riesiger runder Schacht mit über 200 Metern Durchmesser, deren oberes und unteres Ende in Dunkelheit verschwanden. Die Wände der Röhre schienen aus loderndem, unwirklichem roten Feuer zu bestehen. Flammen waberten, übersät von schimmernden, goldenen Schriftzeichen, hebräisch, Sanskrit, arabisch, alles vermischt und ständig in Bewegung. Dazwischen endlose Kolonnen Binärcode, einfach und doch unheimlich in seiner musterbildenden Einförmigkeit der Nullen und Einsen. Rund um diese Wände, deren Substanz nicht erkennbar war, am ehesten an glühende Lava hinter einer Glasscheibe erinnernd, zogen sich breite Simse, Balkone und Stege. Dazwischen Treppen, einige von schienen endlos in die Tiefe zu führen, andere stiegen empor zu den unsichtbaren Höhen des Höllenschlunds. An Simsen und Balkonen durchbrachen schwarzgähnende Öffnungen, Fenster und Türen die wilde Einförmigkeit der lodernden Wände. Hamlin bemerkte, dass sie selbst in einer solchen Türöffnung standen. Die bizarre Szenerie, das unfassbare Grauen, das er vor sich sah, zwang Hamlin dazu, sich bewusst und mit einiger Anstrengung daran zu erinnern, dass er sich nur in einer virtuellen Szenerie befand. Natürlich hatte er schon oft unmögliche Orte besucht, Hallen, bei denen die Bäume aus dem Himmel wuchsen, Seen, an denen er über Wasser wandeln konnte. Oder Ebenen, auf denen polygonförmige Iglus aus dem Eis ragten. Doch nie hatte er etwas erlebt, was so intensiv und erschreckend gewesen war wie die Anwesenheit in diesem Raum. 

Außer ihm und Josef, der nun immer weiter verblasste und durch dessen Avatar Hamlin schon die andere Seite des Tunnels hindurchschimmern sah, befanden sich noch zahllose andere Avatare in dieser riesigen Röhre.

Der ganze Schacht war offenbar bevölkert von zahllosen Wachprogrammen. Überall in dem Schacht flogen widersinnigste Gestalten herum, offenbar Wachprogramme wie sie ihnen auch draußen schon begegnet waren. Engel und Gargylen, mit unglaublich anmutigen Gesichtern oder mit hässlichen Dämonenfratzen, durchkreuzten auf unsichtbaren Wegen diese eigenartige Sphäre. Das Zentrum dieser fürchterlichen Darstellung des Abstiegs in die Hölle oder was immer es auch abbilden sollte, wurde jedoch von ihnen gemieden und ehrfürchtig betrachtet. Eine gleißende Sphäre brennenden weißen Lichts ergoss sich aus der Dunkelheit über ihren Köpfen bis in die Untiefen unter Ihnen, scheinbar endlos sich in der Dunkelheit verlierend. Es gab einzelne Stege, die direkt durch diese Säule aus Licht hindurchzuführen schienen, und erst jetzt bemerkte Hamlin, dass alles, was er in diesem Raum sah, also nicht nur die Avatare, die Engel und Dämonen, sondern auch die Treppen, Simse und Brücken in ständiger Bewegung waren, an einigen Stellen verblassten, um anderenorts wieder zu materialisieren. Dies alles wurde noch unerträglicher dadurch, dass sich die lavaartige Färbung der Wände mit all ihren Mustern, goldenen Schriftzeichen und Symbolen, beständig fließend in die Tiefe zu bewegen schien, was bei Hamlin ein heftiges Schwindelgefühl auslöste und ihn kurzzeitig zurücktaumeln ließ, als er offenbar zu nah an den Abgrund herangetreten war. Eine Dämonenfigur raste vorbei, die Darstellung war brillant, er konnte die ihn angrinsende Dämonenfratze mit den langen, herausstehenden Eckzähnen genau erkennen. Die Flügel des Untiers gaben ein leicht flatterndes Geräusch von sich, wie eine lose Plane im Wind, und er spürte sogar den Luftzug der Schwingen auf seinem Gesicht.

 

Josefs Abbild war inzwischen fast komplett durchsichtig geworden und Hamlin konnte nur schemenhaft erkennen, wie sein Freund begonnen hatte, eine schmale Brücke, die vor ihnen lag, zu überqueren. 

Er befand sich schon mitten auf der Brücke, als sich plötzlich die ersten Wachprogramme auf ihn stürzten. Zwei Gargylen stießen herab, mit dreispitzigen Speeren versuchten sie Josef von der Brücke zu stoßen. Hamlin fuhr seine Gatling-Routine hoch und versuchte  sie zu erwischen. Er hielt grob in ihre Richtung, bemüht, Josef nicht zu treffen. 

Einen erwischte er, und in einem schlecht gerenderten Pixelregen verlor die Gestalt ihre Auflösung, wurde immer grobkörniger und verschwand schließlich in einem Strahl senkrechter Linien. Der andere Avatar rannte geradewegs in die Feuerlinie, in der zuvor auch schon sein Nebenmann gefallen war, und verging auf dieselbe Weise.

Vor Josef landeten nun mehrere Engel auf dem schmalen Steg und stellten sich ihm in den Weg. Hamlin konnte nicht auf sie zielen, sonst hätte er womöglich Josef getroffen. 

Zu den ohnehin schon verwirrenden Bildern gesellten sich nun weitere, Standbilder, die wie Projektionen einfach mitten im Raum freischwebend aufblitzten und seine Sicht verdeckten und wieder freigaben. Hamlins Sinne waren vollkommen überfordert, er konnte nicht mehr genau erkennen, wie und wo er sich befand, unter seinen Füßen begann das Sims langsam zu verblassen und den Blick in die schier unendliche Tiefe freizugeben. Er bewegte sich rückwärts bis zu der Tür, durch die er gekommen war. Zwei Gargylen wandten sich nun ihm zu, doch mit der Gatling-Kanone konnte er sie gerade noch erwischen, bevor sie ihn erreichten. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen wurden ihre ledrigen Schwingen zurückgerissen, wo die Geschosse aus der Kanone sie getroffen hatten und sie stürzten in die Tiefe. Hamlin blickte auf und sah Josef kaum noch. Er rief ihm hinterher, bekam jedoch keine Antwort.

Josef hatte inzwischen die Engel erreicht, die sich vor ihm auf der schmalen Brücke aufgebaut hatten. Mit Grauen beobachtete Hamlin, wie sich die Brücke hinter Josef langsam zu verflüssigen schien und in großen Brocken in die Dunkelheit stürzte. Lange Risse zogen sich durch den Boden und schossen auf Josefs halbdurchsichtige Füße zu. Hamlin versuchte zu schreien, doch der Schacht verschluckte seine Rufe, als würde er sich ein Kissen vor das Gesicht halten. 

Erst jetzt bemerkte er die wahre Kakophonie von Lärm, die bereits die ganze Zeit auf ihn hereinprasselte. Er wunderte sich, weshalb er in dieser Geräuschkulisse so zarte Geräusche wie den Wind auf den Schwingen des Gargylen hatte hören können, und dieser Gedanke erinnerte ihn daran, dass er sich hier nur in einer virtuellen Umgebung befand. Wieder kam ihm der Gedanke, sich auszuloggen, bevor die Situation noch unerträglicher würde, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, seinen Freund hier zurückzulassen. Wenn sie wenigstens in der Realwelt im selben Raum gewesen wären, dann hätte man Josefs Deck herunterfahren und ihn hier herausholen können, auch gegen seinen Willen.

Hamlin merkte, dass er auf eine unbestimmte Art eine riesige Furcht davor spürte, dass Josef in den gleißenden Lichtspeer hineintrat.

Er versuchte hinüberzusehen, zwischen seltsamen, durch den Raum wirbelnden Bildern, willkürlich platziert, verschwommen und halbtransparent. Hinter dieser Wand aus Farben und Formen erblickte er mit Mühe Josef, der gerade an den Engeln vorbeischritt.

Was zur Hölle geschah da?

Zwischen einigen der Projektionen hindurch konnte er eindeutig Josefs Avatar erkennen, der scheinbar gewachsen war, wie er an den Wachavataren, die ihm offenbar ein Spalier bildeten, vorbei schritt und in einem gleißenden Lichtblitz mit der Säule verschmolz.

Das nächste, was Hamlin spürte, war ein brennend heißer Schmerz, der ihm schier das Rückgrat zerriss, und die Spitze eines langen steinernen Speers brach zwischen den metallenen Teilen aus seinem Bauch hervor. Er verlor den Halt und stürzte in die Tiefe, der Bewusstlosigkeit entgegen.