14
Running
All the way hiding
You will pay dying
One thousand deaths
- Metallica, "Seek and Destroy"
Über Induktionsfrequenzen und Chip-Kapazitäten konnte einem Greg alles erzählen, aber wie man seinen Stand vernünftig ordnet, davon hatte er offensichtlich keinen Schimmer. Jeder, der zu ihm kam und nach etwas fragte, musste erst einmal eine kleine Ewigkeit warten, bis Greg die entsprechenden Teile gefunden hatte. Wer ungeduldig wurde, wartete meist noch länger.
Irgendwie gehörte diese Warterei zum Ritual, wenn man etwas von Greg wollte, aber immerhin gab es frisch gefiltertes Wasser oder Bier für die Wartenden. Er hatte sogar ein paar wackelige Stühle an seinem Stand aufgestellt, auf die sich die Wagemutigen setzen konnten.
Alya stand lieber, mit einem dieser klapperigen Plastikhocker zusammenzubrechen wollte sie nicht riskieren.
Eigentlich wollte sie ja etwas verkaufen, aber auch das dauerte bei Greg seine Zeit. Er war mit ihren Chips nach hinten verschwunden, in einen kleinen Raum, den er sich inmitten der riesigen Halle mit Hilfe von Vorhängen und Planen gebaut hatte, und untersuchte die Daten, die sie ihm anbot.
Währenddessen ließ er sie allein mit dem Kerl, den er sich zur Bewachung seines Standes leistete. Der Typ war eigentlich gar nicht übermäßig groß, und außergewöhnlich kräftig wirkte er auch nicht. Was ihn auszeichnete, waren wohl eher seine flinken Augen und seine Behändigkeit, mit deren Hilfe er Diebe auch durch die engen Gänge zwischen den Ständen verfolgen konnte.
Alya mochte ihn nicht, er schien sich von rohem Fisch zu ernähren und roch dementsprechend auch wie ein Fischverkäufer.
Nach einer angemessenen Wartezeit erschien Greg wieder vor dem Eingang seiner kleinen Werkstatt, mit den kleinen Plastiktütchen voll Chips in der Hand, die Alya ihm gegeben hatte.
»Und?«, fragte sie leicht ungeduldig. Sie wollte schließlich noch weitere Händler aufsuchen und konnte nicht ewig hier bei Greg rumhängen.
»Ganz okay, Klasse IV, würd' ich sagen. Ich geb dir 30 für jeden, viel mehr sind die nicht wert.«
Alya bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Hör mal zu, die Dinger sind astrein kopiert auf einer 48er Dreamdata. Das ist fast Eins-zu-Eins-Qualität, 98er Level, und du willst mir lausige 30 dafür geben? 50 sollten doch wohl drin sein, oder?«
»He, reg dich nicht auf.« Greg öffnete sich eine Dose Bud. Er genoss es, sie zappeln zu lassen. »Die Startup-Sequenz ist ein bisschen zu buggy, da hab' ich teilweise 8 Prozent Verlust in der Auflösung gesehen. Der Rest ist nicht schlecht, aber so ein Error gleich im StartUp, das drückt mir den Verkaufspreis runter. Okay, weil du es bist, geb' ich dir 40. Wenn du den StartUp sauber neu aufbaust, dann kann ich auch auf 50 gehen, aber die hier sind mir soviel nicht wert. Deal?«
»Deal, hier ist der Rest.« Genervt zog sie die restlichen Chips aus dem Beinverband. Sie hatte gehofft, er würde den Bug am Beginn der Aufzeichnung nicht merken. Eigentlich ärgerte sie sich nur über sich selbst. Sie hätte wissen müssen, dass er sich die Ware immer ganz genau ansieht. Aber eigentlich war 40 ein mehr als fairer Preis, das wusste sie. Er konnte so gut zahlen, weil er ein großes Stammpublikum und einen ziemlich guten Ruf hatte. Einzelne Chips konnte er locker für 80 bis 150 Euro wieder verscherbeln.
Der Verkauf war also recht problemlos abgelaufen. Mit einem dicken Geldpolster in der Tasche konnte sie sich nun auf den Weg zu den anderen Dealern machen, die Rohfassungen und unveröffentlichtes Material anboten. Hier konnte sie sich mit neuen Sequenzen eindecken, die sie dann zu kompletten Chips zusammenstellen würde. Und Medikamente für Hamlin mussten auch noch her. Dazu musste sie aber aus dem Bereich der Stim-Chip Dealer raus und jemanden finden, der gute Biochemie anbot.
Ihr Com meldete sich mit langgezogenen Pieptönen.
Es war Hamlin, wie ihr das Display verriet.
»Hi, was gibt’s?«, fragte sie mit einem leicht ungeduldigen Unterton, während sie sich weiter ihren Weg durch die Marktbesucher bahnte, auf dem Weg zu den Biochemikern.
»Hamlin hier. Glaube, es gibt ein Problem. Kannst du mir helfen?«
»Schieß los.«
»Okay. Hab mich eben mit einem Freund unterhalten, Hacker und Händler drüben in der Zone. Es geht um zwei Kumpel von ihm, sitzen in der Speicherstadt drüben bei dir. Zeit, mal vorbeizuschauen? Hatten wohl ein Problem im Netz, Kontakt ist abgebrochen.«
»Hm, okay, müsst’ ich schaffen.«
Hamlin gab ihr die Daten des Apartments durch. Alya hoffte, dass der Abstecher nicht zu lange dauern würde. Nach einem kurzen Abschied war sie unterwegs.
Der Gang roch steril, wie ein Krankenhausflur. Sehr still war es hier, nur dumpf drang der Lärm der unteren Stockwerke hier oben durch die Kunststoffverkleidung der Wände. Irgendetwas machte Alya nervös. Vorsichtshalber zog sie ihre Betäubungspistole aus dem Beinhalfter. Langsam näherte sie sich der Tür des Apartments der Hacker.
Sie war nur angelehnt. Alya ging schnell auf den Spalt zu und blickte unvermittelt in ein schmutzstarrendes Gesicht, das sie mit weit aufgerissenen Augen anglotzte. Einzelne Nudelfäden hingen aus dem Mund. Der Junge saß mit gekreuzten Beinen am Boden, eine Pappschachtel mit Fertignudeln auf dem Schoß.
Alya war kurz unschlüssig, richtete dann ihren Taser auf den Typen.
»Mach jetzt keinen Fehler!«, blaffte sie ihn an und trat mit dem rechten Fuß die Tür auf. Er zuckte zurück und versuchte sich auf die Beine aufzurappeln.
»Sitzen bleiben!«
Alya wendete ruckartig den Kopf, um einen schnellen Blick in das Innere des Zimmers zu werfen, blickte dann wieder auf den Jungen am Boden.
»Okay, steh ganz langsam auf. Na los!«, kommandierte sie. Der Bursche erhob sich nervös, die ganze Zeit den Taser anstarrend. Sie machte eine schnelle Bewegung mit der Pistole, bedeutete ihm damit, hineinzugehen. Er folgte der Aufforderung, die Nudelschachtel fiel auf den Teppich und bildete eine hässliche Pfütze aus fettiger Soße.
Im selben Augenblick erschien in der Türöffnung eine Gestalt.
»Vorsicht, sie hat ne Knarre!«, meinte der Wachposten von der Tür und sah sich schuldbewusst zu ihr um. Alya hörte Fluchen aus dem Wohnzimmer und stieß den Kleinen vor sich her. Als sie durch den Türrahmen in den Wohnraum spähte, überlief Alya ein kalter Schauer. Sie erblickte ein großes Durcheinander, in dessen Zentrum zwei blutüberströmte Körper am Boden lagen.
Daneben hockten zwei weitere Typen, kaum älter als der Junge vom Eingang.
»Los, alle da rüber.« Sie deutete in die gegenüberliegende Ecke des Raumes. Die drei Jungs starrten sie aus großen Augen an, folgten dann aber ihrem Kommando und bewegten sich langsam zur Seite.
»Hey, wart mal. Wir … «
»Halts Maul!«, unterbrach Alya die winselnde Stimme des blonden Typen mit der zerrissenen Bomberjacke. Sie hockte sich hin und fühlte bei den Hackern den Puls. Das heißt, sie suchte ihn, doch da war nichts mehr. Sie waren tot. Verfluchte Scheiße, wo hatte Hamlin sie da reingezogen?
Die drei Typen starrten sie von der gegenüberliegenden Wand aus an. Einer hielt einen Datenhandschuh in der Hand.
»Also, was ist das hier? Seid ihr beschissene Plünderer oder was ist hier los?«
Die zwei Jungs mit den schmutzigen Gesichtern schauten fragend den Bomberjacken-Typ an.
»Äh … «, begann der, »nein nein. Obwohl … «, ein betont zur Schau gestellter Anflug von Mut schlich sich in seine Stimme, «dasselbe könnten wir dich fragen!«
»Ihr habt hier aber nichts zu fragen, klar?« Ein paar vorlaute Kinder und zwei tote Hacker, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Irgendwie eine absurde Situation. Alya konnte sich kaum vorstellen, dass die Jungs hier die Hacker, auf welche Weise auch immer, umgebracht hatten, aber was machte sie da so sicher? Sie wollte jetzt so gern Hamlin anrufen, aber das hätte ihre Position hier ziemlich schwach aussehen lassen. Wie lächerlich wäre das, wenn sie jetzt erst mal nachfragte, was zu tun sei.
»Also, ihr erzählt mir jetzt wahrscheinlich, dass zufällig die Tür offenstand und ihr nur mal nach dem Rechten sehen wolltet.«
»Ja, so ungefähr war es sogar.« Der Blonde wieder. »Ich, ähm, sollte hier nur etwas abholen und die beiden«, er zeigte auf die anderen Jungs, »haben mir nur den Weg gezeigt.«
»Na klar. Und wer hat dich hierher geschickt? Der Weihnachtsmann oder was?« Alya ging das langsam an die Nerven, vor allem die zwei Leichen, die die ganze Zeit neben ihr am Boden lagen.
»Nein.« Er zögerte. »Ein Freund von mir. Josef.« Er bekam einen Blick, als hätte er gerade unter Folter ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert.
»So so, Josef.« Alya war unschlüssig. Egal wie es wirkte, sie sah jetzt keinen anderen Weg mehr, als Hamlin anzurufen. Sie wusste schließlich nichts Genaueres über diese ganze Geschichte.
In dem Moment, als Alya ihrem Com den Befehl geben wollte, Hamlin zu kontaktieren, hörte sie schwere Schritte den Gang entlang rennen und gedämpfte Stimmen, die in einem harten Befehlston Kommandos keuchten.
»Verflucht.« Sie wich zurück und presste sich neben der Eingangstür mit dem Rücken an die Wand. Im nächsten Augenblick schon wurde die Tür von schweren Stiefeln eingetreten. Alya langte mit ihrem Arm um die Ecke, spähte kurz in den Gang und feuerte dann eine Ladung aus ihrem Taser in die Silhouette, die sie im Türrahmen ausmachen konnte. Schien ein Volltreffer zu sein, der Typ stöhnte auf und stürzte zurück, Kinn und Hals gespickt mit winzigen Betäubungsnadeln.
In die Jungs an der anderen Wand kam Bewegung, sie rissen ein Fenster auf und machten sich daran, hinauszuklettern. Wahrscheinlich nicht die dümmste Idee. Alya ließ sie weitermachen. Der Angriff von der Tür aus war ins Stocken geraten, mit Gegenwehr hatten die Typen wohl nicht gerechnet. Wer konnte das sein? Unzählige Möglichkeiten schossen Alya in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Bullen? Eine Gang? Andere Hacker? Die Kommandos im Flur wurden lauter. Im nächsten Moment flog ein eiförmiges Geschoss durch die Türöffnung und rollte über den Fußboden. Am Arm eines der beiden Hacker blieb die Granate liegen. Es gab eine kleine Detonation und im nächsten Augenblick war der Raum fast komplett in Nebel eingehüllt. Tränengas wahrscheinlich. Alya überlegte nicht lang, kniff die Augen zu und stürzte durch den Raum in Richtung Fenster, wo gerade der letzte der Jungs, der Typ mit der Bomberjacke, auf die Metallrosten vor der Fensterbank kletterte und sogleich neben der Öffnung verschwand. Alya tat es ihm gleich und kletterte hinter ihm auf ein Vordach. Er beachtete sie nicht und war genug damit beschäftigt, den Anschluss zu den anderen beiden nicht zu verlieren. Diese bewegten sich mit einer enormen Geschicklichkeit zwischen den Leitern und Gerüsten hindurch nach oben. Alya blieb dran und hatte von Zeit zu Zeit Gelegenheit, sich umzublicken. Zwei der Typen waren jetzt auch auf dem Sims angekommen, dem ersten jagte sie eine Taserladung von oben in die Schulter.
Er wankte zur Seite, ließ seinen Kameraden vorbei, machte sich dann aber weiter an den Aufstieg.
Die beiden Anführer von Alyas Gruppe waren inzwischen oben angelangt und verschwanden mit einem behenden Sprung auf dem Dach des Speichers.
Die Bomberjacke folgte, und Alya feuerte noch einmal mit ihrem Taser auf die Verfolger, der Schuss verfing sich aber in einer milchigen Kunststoffplane. Dann sprang auch sie auf das Dach und lief den anderen hinterher. Die zwei schienen wirklich gut zu wissen, wo es hier lang ging. Vor ihnen türmte sich ein riesiger Wald aus Antennen und Stromaggregaten auf. Alya spürte, wie ihr durch die extreme Statik, die hier herrschte, sämtliche Haare elektrisiert vom Körper abstanden. Sie rannte weiter, hinter sich die Schritte der Verfolger. Leichter Regen machte den Halt auf dem Dach ziemlich unsicher, und die Sicht unter dem graubraunen Himmel war auch nicht besonders. Für einen kurzen Moment verlor sie die drei anderen aus den Augen, dann fand sie sie jedoch wieder. Sie stürmten geradewegs auf ein Gerüst zu, das diesen Speicher mit dem nächsten verband. Sie wollte etwas rufen, doch urplötzlich wurde ein dumpfes Geräusch, das sie bisher kaum wahrgenommen hatte, immer lauter und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. Ein Hubschrauber erschien an der Seite des Daches und erhob sich drohend über ihr. Sie suchte Deckung unter einer Gruppe großer Parabolspiegel, die sogleich mit einer schweren Maschinengewehrsalve eingedeckt wurden. Alya warf sich zu Boden und robbte in den toten Winkel hinter einem Stromaggregat.
Keuchend lag sie flach am Boden und nutzte diese Sekunden, um ein neues Magazin in ihren Taser einzulegen. Da kam plötzlich Bewegung in ihr Sichtfeld und vor ihr stand einer der Verfolger. Sie konnte den Dreck an seiner Stiefelspitze bis ins kleinste Detail erkennen.
Sie erhob sich langsam auf die Knie. Der Regen war ihr in die Augen gelaufen. Sie wischte sich übers Gesicht.
Der Typ erschien ihr jetzt riesig. Er war in schwarze Armeeklamotten gehüllt, auf dem Kopf trug er ein nach hinten gedrehtes Barett. Sein rechter Arm zielte in einem komischen Winkel auf ihre Beine. Sie sah in das Gesicht des Mannes, es war fast komplett verdeckt durch einen anthrazitfarbenen Luftfilter und eine UV-Schutzbrille.
Als ihr Blick von seinem Gesicht zur Schulter schweifte, wurde ihr klar, warum der Mann auf ihre Beine zielte. Aus dem zerrissenen Stoff des Schulterteils seines Kampfanzugs ragten winzige, zehn Zentimeter lange Nadeln hervor, die in alle Richtungen abstanden. Die Tasernadeln, die sie in seinen Arm geschossen hatte, wirkten wie ein bizarrer Tribal-Schmuck, sorgten aber dafür, dass der Typ seine Waffe gar nicht richtig benutzen konnte. Sie enthielten ein schwaches Nervengift, das in kürzester Zeit Lähmungen hervorrief, die für einige Stunden anhalten würden.
Alya konnte erkennen, wie die Hand stark zu zittern begann wie unter enormer Muskelbelastung. Sie wusste, dass seine Wahrnehmung jetzt langsam verschwamm und sich die Chemikalien von den Nadeln in seinem Blut verteilten. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dazu kam es nicht mehr. Alya sprang auf, trat ihm mit aller Kraft in die Weichteile und rammte ihm in einer halben Drehung den Ellenbogen ins Gesicht. Seine Gegenwehr beschränkte sich auf Straucheln und wildes Rudern mit den Armen. Alya ergriff seinen Arm und entriss ihm die schwere Pistole. Dann drehte sie sich weg und rannte nur noch.
Sie erreichte schnell den Rand des Daches und blickte hoch. Der Helikopterpilot schien sie kurz aus den Augen verloren zu haben, offensichtlich war er den anderen zum Dach des zweiten Speichers gefolgt. Obwohl eigentlich heller Tag war, war die Luft hier oben so vernebelt, dass die Hubschrauberbesatzung ihre Suchscheinwerfer einsetzen musste. Die elektronischen Sichtgeräte, die auch über Modi wie Infrarot oder Lichtverstärkung verfügten, lieferten aufgrund der mächtigen Störungen hier im Antennenwald wahrscheinlich keine brauchbaren Daten.
Alya sah die Wand des Speichers hinunter, es war keine glatte Mauer zu erkennen, die Gerüste umschlangen das Gebäude wie ein wuchernder Tumor. Die Verbindung zum nächsten Gebäude, über dem auch der Hubschrauber suchend schwebte, bestand aus zusammengeschweißten Stahlstreben, die einen schmalen Gang sowie zahllose Kabelstränge herüberführten.
Sie sah sich noch einmal um. Weitere Verfolger würden nicht lange auf sich warten lassen.
Sie entschied sich für einen schnellen Spurt über das Gerüst und schwang sich auf den schmalen Steg, der auf beiden Seiten von einer mannshohen Wand aus Kabeln und Rohren begrenzt war. Unter ihren Füßen konnte sie durch die Metallrosten bis auf die Dächer der Marktstände am Boden sehen.