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You watch the world exploding
Every single night
Dancing in the sun
A newborn in the light
- Iron Maiden, "The Wicker Man"
Wo genau der Markt anfing, vermochte niemand mit Gewissheit zu sagen. Er erstreckte sich über bestimmt 30 Straßenzüge, ein großes Industriegebiet, einen Teil des Hafens sowie die alte Speicherstadt, wo er sich sogar bis auf das Wasser der Elbe ergoss.
Die meisten Menschen hier gingen nicht zum Markt, sie lebten einfach dort. Während die Erdgeschosswohnungen und Lagerhallen größtenteils mit Marktständen, Bars und Geschäften vollgestopft waren, befanden sich darüber zahllose Wohnungen und Apartments. Sogar zwei der japanischen Sarghotels gab es hier, wo man sich nächteweise eine kleine, etwa drei Meter lange und einen Meter hohe Kammer mit Schaumstoffmatratze und Netzanschluss mieten konnte. Natürlich waren dies hier nur billige Kopien der echten Sarghotels, die man in Japan an jedem Flughafen oder in jedem Einkaufszentrum fand. Aber sie erfüllten ihren Zweck.
Im Grunde war der Markt ein richtiger Stadtteil, der jedoch ständig seine Ausmaße veränderte und täglich woanders wucherte oder abstarb.
Die Randbezirke waren jedoch nicht unbedingt Alyas Terrain. Hier bekam man nur die harmlosen und langweiligen Dinge, die aber zum Leben nun einmal unerlässlich waren, wie Geschirr, Töpfe, Wasserkanister, Medikamente, Haushaltselektronik, synthetische Vorratspakete, Werkzeug und Ersatzteile.
Etwas weiter innen hatte sich eine Art unsichtbarer Gürtel gebildet, ein kaum erkennbarer Übergang zum wirklich interessanten Teil des Durcheinanders. Hier trieben sich massenweise zwielichtige Händler aus aller Herren Länder herum, die billigen Importschrott verscherbelten. Von der Infrarotbrille bis zum chinesischen Sturmgewehr gab es hier einiges zu bestaunen. Wer genetisch veränderte Tiere und Pflanzen suchte, konnte hier unter Umständen ebenfalls fündig werden, obwohl es so etwas wie Herkunfts- oder Züchtungszertifikate hier kaum gab.
Dieser Gürtel war auch die letzte Grenze, die der Arm des Gesetzes erreichen konnte. Von Zeit zu Zeit drangt die Polizei hierher vor, aber meist eher um Präsenz zu zeigen, als um wirklich konsequent gegen Schmugglerringe oder illegale Waffenhändler vorzugehen.
Dies war Teil eines symbolischen Paktes zwischen den Händlern des inneren Marktes und der Staatsgewalt. So konnte die Polizei ihr Ansehen wahren, und die legalen Händler und die Bürger hatten das Gefühl, mit der Hilfe der Polizei rechnen zu können. Zur Vermeidung von Aufständen und Anarchie sicher ein effektiver Beitrag. Im Gegenzug wurden die Händler weiter innen meist verschont und konnten relativ ungestört ihren Geschäften nachgehen.
Die Händler des Gürtels ließen das alles natürlich nicht grundlos über sich ergehen: sie versuchten so, sich in der unsichtbaren Hierarchie des Marktes nach oben zu arbeiten und auf diese Art und Weise einen besseren Platz in der Hierarchie zu erringen.
Im Herz des Marktes, auf den Kanälen um die Türme der ehemaligen Speicherstadt, die sich schon früher Freihandelszone nennen durfte, konnte man alles für Euros kriegen, was man sich vorstellen konnte. Drogen, Waffen, Fahrzeuge, es gab nichts, was es nicht gab, zumindest für den entsprechenden Preis. Gerüchten zufolge hatten hier schon einige Präsidenten von kleinen oder armen Ländern ihre Privatarmeen komplett mit Waffen, Panzern und elektronischer Ausrüstung ausgestattet.
Die Händler hatten einen fast lückenlosen Teppich aus Booten, Yachten , Planken, Brettern und Planen über die Kanäle gezogen. So dicht, dass sich teilweise sogar bis zu drei Stockwerke übereinander türmten. Die verbindenden Leitern und Stege wirkten alles andere als vertrauenerweckend, aber wer etwas illegales oder unmöglich zu beschaffendes kaufen wollte, der musste sich an diesen Ort wagen.
Erleuchtet wurde das Labyrinth nur von schwach flackernden Neonröhren, flimmernden Bildschirmen, elektrischen Notbeleuchtungen (die jetzt dort fehlten, wo wirklich ein Notfall auftrat) und den glühenden Spiralen zahlloser Batterie-Heizgeräte, welche sich surrend abmühten, die vom Wasser aufsteigende Kälte zu vertreiben.
Durch die zahllosen Blechwände, Zeltbahnen, Plastikfolien und Bretterverschläge, die scheinbar ständig umgebaut wurden, war eine Orientierung auf dem schwimmenden Markt fast unmöglich. Nur auf dem obersten Stockwerk konnte man stellenweise hinaus sehen und sich mit Hilfe der Lichter der Stadt ein wenig zurechtfinden. Deshalb hatte sich ein blühendes Geschäft von Führern entwickelt, die sich dafür bezahlen ließen, Besucher genau dorthin zu führen, wo sie das finden könnten, was sie suchten. Es waren zumeist zehn- bis vierzehnjährige Jungen und Mädchen, die absurde Preise verlangten, aber sich meistens so gut auskannten, dass diese Preise gerechtfertig waren. Niemand konnte verlangen, die günstigste Panzerfaust auf dem Markt gezeigt zu bekommen, ohne dafür ordentlich zu bezahlen.
Über dem ganzen Treiben des Marktes lag ein ständiger, geschäftig anmutender Geräuschteppich, zusammengesetzt aus zahllosen Stimmen, die in etlichen Sprachen feilschten und Waren anpriesen, mindestens einem Dutzend verschiedener Musikstücke unterschiedlichster Kulturkreise, surrenden Stromaggregaten und dem Stampfen der Dieselmotoren an- und ablegender Boote.
Alya kannte einige der festen Orientierungspunkte in diesem Labyrinth, was es ihr ermöglichte, sich dort einigermaßen zurechtzufinden. Sie selbst hatte mal einige Monate als Führer gearbeitet, war dann aber schnell zum Kurier aufgestiegen. Dadurch, dass sie so klein und zierlich war, konnte sie sich extrem schnell durch das Gewirr der Boote bewegen und war so für diese Aufgabe natürlich bestens geeignet gewesen. Das hatte ihr relativ schnell ein kleines Vermögen eingebracht, woraufhin sie angefangen hatte, selbst ein wenig zu handeln. Sie hatte mit Holochips angefangen und war irgendwie dabei geblieben. Inzwischen entschlüsselte und kopierte sie die Chips selbst, was einen ganz anständigen Verdienst einbrachte. Der Flut, die auch weite Teile des Marktes zerstört hatte, war nun aber fast ihr komplettes Equipment zum Opfer gefallen, und sie war gerade erst dabei, sich wieder die nötige Technik zusammenzukaufen. Der Großteil ihres Geldes ging jedoch momentan für Hamlins Medikamente drauf, aber das ließ sich nun mal nicht aufschieben. Er durfte es bloß nie erfahren, was sie für ihn alles ausgab, dann würde er sich sicher furchtbar aufregen und wahrscheinlich lieber verrecken als ihre Hilfe anzunehmen. Er gab ihr zwar Geld für die Medikamente, und sie hielt ihn auch in dem Glauben, dass dieses Geld dafür ausreichte, doch seit der Flut hatten die Preise extrem angezogen. Hamlin konnte das nicht wissen, und Alya fühlte sich gut dabei, dass sie ihren Teil zu seiner Heilung beitrug.
Sie hatte den äußeren Gürtel fast durchquert, als sie tatsächlich eine Polizeistreife erblickte, die dort im Einsatz war. Etwa ein Dutzend Polizisten in nachtblauen Kampfanzügen richteten ihre Sturmgewehre auf eine zusammengetriebene Gruppe von etwa ebenso vielen Händlern. Die Gefangenen schienen größtenteils osteuropäischer Herkunft zu sein, und ihrer Kleidung nach waren sie ziemlich arm. Die Polizei nutzte gern die Gelegenheit, neu angekommenen Händlern gleich die deutsche Gesetzeshärte beizubringen, die jedoch eigentlich nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Ein Gespenst, das ab und zu erschien und ein paar arme Seelen erschreckte, aber eigentlich niemals jemandem wirklich weh tun konnte.
Ein waghalsiger und offenbar ziemlich guter Polizeipilot hatte es geschafft, eine klobige, gepanzerte Schwenkrotormaschine vom Typ Osprey 8, auf der winzigen Kreuzung von zwei Gassen zu landen. Nicht ohne einen der Verkaufsstände einzureissen, natürlich. Der Besitzer dieses Standes, dessen Warenangebot jetzt komplett auf dem Weg verstreut lag, war ein fettleibiger Schwarzer mit freiem Oberkörper. Er stand zeternd neben dem Cockpit des Osprey und fluchte wutschnaubend in Richtung des Piloten. Dieser hatte es verständlicherweise vorgezogen, seinen Helm und sein Navigationssystem auf dem Kopf zu behalten, so dass der Schwarze nur auf eine glänzende blaue Halbkugel einschrie. Der Pilot sah wahrscheinlich nur seinen künstlichen Horizont vor sich, Wärmebilder der Passanten, seine zwölf Kameraden mit eingeblendeten Kennziffern neben dem Helm und die Gefangenen, deren elektronische IDs gerade der Computer der Rotormaschine ermittelte und dann sukzessive neben dem Kopf der jeweiligen Person hellgrün einblendete.
Ein schmächtiger Typ mit Baseballkappe redete von hinten auf den Schwarzen ein, versuchte ihn zu beruhigen und von der Polizeimaschine wegzuzerren, was ihm mit einiger Mühe auch gelang. Das war wahrscheinlich eine ziemlich gute Idee, solange die Polizisten noch anderweitig beschäftigt waren.
Alya hätte alles darauf gewettet, dass der Pilot unter seinem Helm grinste.
Sie verließ den kleinen Platz und zwängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch in Richtung Hafenmole.
Sie war froh, so klein und wendig zu sein. Alles, was sie am Körper trug, war unter ihrer Kleidung versteckt, und die Taschen aus Klebeband und Stoff an ihren Beinen, die die Chips sicher verbargen, erfüllten auch ihren Zweck.
Sie war vorbereitet. Es war nicht selten, dass ein unvorsichtiger Neuling hier in kürzester Zeit ausgeraubt wurde und durch ein Loch zwischen den Planken in das kalte Wasser der Elbmündung fiel, ohne dass er überhaupt realisierte, was mit ihm geschah.
Alyas Adrenalin hatte inzwischen genau den richtigen Level erreicht. Der Boden wechselte von Beton zu Holz, dann zu gelochtem Stahlblech und wieder zu Holz, und der Himmel verschwand hinter Planen und Blechplatten.
Sie stieg eine Leiter hinab und wäre im funzeligen Licht von zwei Fernsehern fast über einen Tisch mit abstrusen, uralten Nazi-Devotionalien gestürzt, noch bevor sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dort türmten sich antike Gegenstände wie U-Boot-Geschirr, Hakenkreuzbanner oder Weinflaschen mit dem Konterfei des Führers, während hinter dem Skin an der Wand einige Prints alter Gemälde hingen, röhrende Hirsche und bizarre Gebirgsseen.
Sie beantwortete das mürrische Fluchen des kahlköpfigen und schädeltätowierten Neofaschisten, der irgendwas von »ins Lager« murmelte, mit einem kurzen »Sorry, Arschloch«, bevor sie sich hinter die nächste Plane verdrückte und den Gang weiter entlang eilte. Jetzt bloß keinen Ärger mit irgend so einem Penner, dachte sie und verharrte, nachdem sie drei Boote Distanz zwischen sich und den Fascho gebracht hatte. Diese Typen kannten immer eine Menge Leute – und Spaß, den kannten sie eigentlich gar nicht. Auf dem Rückweg würde sie einen anderen Ausgang nehmen als den hier, schrieb sich Alya ins Gedächtnis.
Sie tastete kurz nach den Chips an ihrem Bein, nach dem Taser am anderen, und machte sich auf den Weg zu den Holo-Dealern.