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Welcome to the radiant silos of Atom
Man-made misery, the perfect anti-life
Divine radiation, the corruption of flesh
Ours is the God of nuclear winter
- The Kovenant, "Industrial Twilight"
Gleißend helles Licht umfing Hamlin, als er sich in den Knoten einwählte. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Netzhaut an die schneebedeckte Landschaft gewöhnte. Er sah sich um und bemerkte, dass vor seinem Gesicht eine weiße Wolke seinen kondensierenden Atem symbolisierte. Hübsch.
Vor ihm erstreckte sich ein matschiger, von Schlaglöchern, Pfützen und Schlamm bedeckter Weg, während zu seiner Linken ein endlos erscheinendes Feld unter unberührtem weißem Schnee begraben lag, der im Licht einer tiefstehenden Sonne glitzerte.
Rechts von ihm war eine ziemlich baufällige Hütte zu sehen, mehr ein Schuppen als ein Bauernhaus. Das Dach war mit Schindeln gedeckt, deren Texturen sich scheinbar nicht wiederholten und sehr filigran ausgearbeitet waren. Sehr rechenintensiv. Davor stand eine Gestalt, die er nicht sofort als Josefs Avatar erkannte. Er sah seltsam aus, sein Körper, der ganz gewöhnliche humanoide Formen hatte, war übersät von winzigen Härchen, wie Milliarden von Wimpern, die seinen Körper bedeckten. Das musste von seinem Tarnprogramm herrühren. Auch Hamlin hatte sein Tarnprogramm schon hochgeladen. Sein eigener Avatar sah in seiner ungetarnten Form aus wie aus zigtausenden kleinen Metallteilen zusammengesetzt. Ein Skelett aus Stahlstreben, verbunden durch Kabelstränge und angetrieben von kleinen, klobigen Elektromotoren. Stellenweise war diese rohe Konstruktion von Texturen überdeckt, aber an den meisten Stellen schaute man in die blanke Mechanik hinein. Er wirkte wie ein Vorkriegs-Terminator. Er mochte dieses archaische Bild, als sei sein Avatar eine mechanische Gestalt in einer rein elektronischen Umwelt.
Doch jetzt, mit aktivierter Tarnsoftware, erschienen Arme, Beine und Torso eingehüllt in endlose Spulen von hauchdünnem Kupferdraht. Wie eine elektrische Mumie. Er trat auf Josef zu.
»Hier entlang«, sagte Josef und deutete den Feldweg hinab. Dieser führte in ein Waldstück, das ziemlich dicht und ebenso verschneit wie der Rest der Landschaft war.
»Hätte ich das gewusst, dann hätte ich noch einen Eimer Rostschutzfarbe mitgebracht«, witzelte Hamlin.
Josef grinste, wobei sich zigtausende von winzigen Härchen in seinem Gesicht wellenförmig bewegten.
»Zum Wegrosten wirst du wohl kaum Zeit haben. Hast du alles bereit?«
»Ja, alles klar, wir können los.«
Sie traten auf den Feldweg und marschierten in den Wald hinein. Einmal drinnen, weitete sich die Umgebung, die Bäume waren sehr hoch und es gab fast kein Unterholz, nur die Stämme ragten auf wie ein Irrgarten. Sie marschierten stumm den Pfad entlang, und Hamlin beobachtete fasziniert die unglaublich realistisch anmutenden Nebelschwaden zwischen den hohen Stämmen. Josef schien seine Blicke bemerkt zu haben.
»Reality-Skan-System«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja, ganz sicher. Die haben die ganze Umgebung mit Kameras und Satellitenbildern abgedeckt.«
Reality-Skan war eine ziemlich coole Sache, man konnte mit Hilfe dieser Technik eine Landschaft in Echtzeit im Cyberspace abbilden, so dass man im Grunde live alle Veränderungen in der realen Umgebung auch hier mitbekam. Dazu benötigte man natürlich eine Unmenge an Kameras, die ständig das gesamte Gebiet beobachteten und alle Veränderungen sofort live an das Skan-System sendeten, um die Modifikationen im Cyberspace fast zeitgleich vorzunehmen.
»Aber sagtest du nicht – ich meine, sollte diese Basis nicht verlassen sein?«
»Ja, das stimmt, aber ich glaube, das Reality-Skan-System lief auf einem autarken Notstrom-System, das nie abgeschaltet wurde.«
»Aha.«
Sie marschierten eine Weile schweigend den matschigen Weg entlang, bis Josef auf eine Stelle weiter vorn im Wald deutete.
»Nicht erschrecken.«
Doch Hamlin tat genau das, als er auf dem Weg vor ihnen drei Gestalten stehen sah, schattenhaft zwischen den Bäumen. Sie saßen alle drei auf unmöglich aufgemotzten Motorrädern und hatten furchtbar bunte Avatare.
Ein Clown, ein Gorilla und eine Art Superheldenfigur, mit Muskelbergen, einer grünen Maske und grünen Strumpfhosen, starrten sie an.
»Die Russen«, sagte Josef, zu Hamlin gewandt. Dann erhob er die Hand und grüßte die drei bizarren Gestalten. Hamlins Übersetzerprogramm blendete ihm Untertitel zu den russischen Worten ein.
»Hallo! Mission erfüllt?«
»Klar Boss«, sagte der Gorilla. Hamlin sah auf seiner Schulter eine winzige weiße Frau sitzen. Er hätte schreien können beim Anblick dieser albernen Gestalten, doch er hielt sich zurück.
»Okay, hier ist Euer Lohn.« Josef warf dem Gorilla ein Icon zu, das sich im Flug in eine Kokosnuss verwandelte. Jetzt konnte Hamlin nicht mehr an sich halten und musste grinsen. Nur gut, dass sein Avatar die Gesichtszüge nicht besonders deutlich darstellte. Er konnte sich genau vorstellen, wie der junge Russe zu Hause vor seinem Deck errötete. Es war wahrscheinlich eine ganz normale Überweisung, aber den Spaß hatte Josef sich wohl nicht verkneifen können.
Die Motoren der Maschinen heulten auf, alle in verschiedenen Klangfarben, und mit quietschenden Reifen (auf dem Feldweg!) brausten sie davon, verfolgt von einer Menge Clipping-Fehler.
»Was war das denn für ein Haufen?«, fragte Hamlin.
»Noch ziemlich jung. Aber gar nicht so übel, die Jungs. Scheinen die Anlage wieder in Gang gekriegt zu haben.«
Hamlins Spott wich Respekt. Das klang nach einer schwierigen Aufgabe, die die Jungs da bewältigt hatten.
Sie marschierten weiter und erreichten nach etwa 50 Metern einen hohen, stabil erscheinenden Zaun, mit elektrischen Drähten, Isolatoren und unzähligen Warnschildern. Doch das Tor stand offen.
»Siehst du?«
»Ich sag ja gar nichts mehr.« Josef sah sich um und trat dann vorsichtig durch das Tor. Dahinter lag eine gerodete hügelige Fläche. Doch es waren keine natürlichen Hügel, es war die typische Oberfläche einer Bunkeranlage. Überall ragten aus den Hügeln Betonwände heraus, und betonumrahmte Öffnungen starrten in den Wald.
Josef ging voran, Hamlin folgte ihm dichtauf. Er spürte, wie jetzt die Anspannung in ihm hochkam, die sie so lange wie möglich mit Hilfe von Scherzen und der freundlichen Unterstützung der russischen Nachwuchshacker verdrängt hatten.
Josef blendete einen Lageplan ein, so dass auch Hamlin ihn sehen konnte und klinkte ihn rechts oben in ihrer beider Gesichtsfeld ein.
Er marschierte auf einen der Eingänge zu. Es gab fünf der auffällig unauffälligen Hügel, einen Großen in der Mitte und vier weitere drumherum, die durch Wälle (in denen sich höchstwahrscheinlich Gänge befanden) mit dem mittleren verbunden waren.
Sie öffneten eine schwere Stahltür und traten in einen endlos lang erscheinenden Gang hinein. Schwaches Neonlicht strahlte aus Röhren von der Decke. Hamlin dachte zuerst, dass sich jemand unglaubliche Mühe gemacht haben musste, den Verfall einer Bunkeranlage zu simulieren, doch dann fiel ihm das Reality-Skan-System wieder ein. Wenn es die ganze Zeit weitergelaufen war, während die reale Bunkeranlage schon lange verlassen dalag, dann hatte das System natürlich auch den ganzen Verfall mitaufgezeichnet, was im Cyberspace reichlich bizarr wirkte. Überall lagen Berge von Staub und Dreck herum, tote Ratten, Laub und Erde. Pfützen hatten sich an einigen Stellen gesammelt, einzelne Lampen waren ausgefallen. Die Karte zeigte ihnen momentan nur einen Ausschnitt der Anlage. Hamlin zoomte ein wenig herum und scannte sich durch die anderen Bereiche.
»Wohin müssen wir?«, fragte er Josef. Dieser antwortete, indem er ihm ein winziges rotes Kreuz sandte, das durch die Luft auf ihn zu schwebte und sich dann in seine Karte pflanzte.
Der Karte nach hatten sie dann noch einen langen Weg vor sich, und Hamlin stellte fest, dass die Bunkeranlage, durch die sie eingedrungen waren, nur eine von mehreren war, die eine große Militärbasis mit Flughafen und Kaserne umgaben.
Sie marschierten durch triste Gänge, dass es Hamlin ewig vorkam. Kaum war ein Gang bewältigt, mündete er in den nächsten. Sie waren auf der Hut vor Überwachungssystemen, doch diese Teilbereiche der Anlage schienen noch immer dabei zu sein, hochzufahren, da die russischen Hacker sie gerade erst wieder aktiviert hatten.
Natürlich dürfte die Aktivierung auch der KI nicht verborgen geblieben sein. Nach endlosem Laufen und endlos gleichen Gängen erreichten sie die Hauptbasis. Hamlin konnte sich bis hierher kaum einen langweiligeren Ort vorstellen, um ein Reality-Skan-System zu installieren.
Zumindest seine Karte sagte ihm, dass sie bald die Hauptbasis erreichten, und auch Josef schien immer angespannter und nervöser zu werden. Sofern man das an einem virtuellen Avatar erkennen konnte. Doch bald bestätigte sich Hamlins Ahnung. Der schmale Wartungsgang, den sie eben noch als Abkürzung benutzt hatten, mündete in einen breiten Gang, an dessen Ende eine schwere stählerne Tür lag. Besser gesagt ein Rolltor, das laut Karte auf das Flugfeld der Anlage führen sollte. Sie standen also in einem kleinen Hangar.
Josef sah Hamlin an. Er nickte. Das universelle Zeichen für »Alles klar!«, »Weiter!«, »Jetzt wird’s langsam heiß!« und noch viele andere Dinge.
Sie marschierten nebeneinander auf das Tor zu. Es war etwa einen halben Meter hochgezogen, so dass sie darunter durchkriechen konnten, und hing leicht schräg in der Führungsschiene. Da hatte der Reality-Skan es wohl mal wieder sehr genau genommen.
Hamlin aktivierte seine Waffenprogramme, und in seinen Händen erschien eine schwere Gatling-Kanone mit 12 Läufen, die er wie eine gewöhnliche Schrotflinte bedienen konnte.
Auch Josef aktivierte seine Waffensysteme, und er zog zwei Uzi-artige Maschinenpistolen aus bis dahin unsichtbaren Beinhalftern. Die Mündungen der Uzis waren von zitternden bläulichen Blitzen umgeben.
Sie ließen sich auf die Knie hinab und krochen unter dem Tor hindurch.
Auf der anderen Seite bot sich ein gespenstisches Bild.
Sie standen unter einem Betondach, das den Weg zum gegenüberliegenden Hangar auf einer Breite von 30 Metern überspannte. Rechter Hand lag eine Garage, in der zahlreiche schwere Fahrzeuge, Feuerwehrwagen und Schleppfahrzeuge standen.
Dahinter erstreckte sich das Flugfeld, erleuchtet von einer fahlen Sonne, die ihnen aus einen flachen Winkel entgegenschien.
Auf dem Feld bot sich ein bizarrer Anblick.
Zahllose steinerne Statuen standen dort, Engelsstatuen wie auf einem Friedhof. Aufgereiht wie eine riesige Armee, reglos und tot. Ihre Körper waren aus grauem Stein gemeißelt, eine filigrane Bildhauerarbeit, digital perfekt umgesetzt.
Hamlin stockte der Atem bei diesem Anblick, weil er die Figuren zunächst für Avatare hielt. Hier hatte jemand eine Speicherbank mit Wachprogrammen abgelegt. Einer verflucht großen Menge an Wachprogrammen. Und sie könnten unmöglich hier durchkommen, ohne in den Radius der Wachsoftware zu kommen. Im Gegenteil, sie mussten schon mitten drin stehen. Wie als Antwort auf diese Gedanken, die in Sekundenbruchteilen durch seinen Kopf gerast waren, begannen die ersten Reihen zum Leben zu erwachen und sich zu bewegen.
Hamlin zögerte kurz, dann erhob er seine Gatlingkanone und feuerte.
Dabei bewegte er sich zurück zu dem Tor, aus dem sie gekommen waren. Josef begann auch, seine Uzi einzusetzen, und blaue Energiestrahlen fegten über den Platz. Die ersten Engelsstatuen zerplatzen im Kugelhagel aus Hamlins Gatling, während weitere den Blitzen von Josefs Waffen zum Opfer fielen.
Doch ihre Zahl schien endlos.
Zu seinem Schrecken erkannte Hamlin, dass Josef sich anders entschieden hatte als er selbst und, seitlich mit seinen Uzis feuernd, den Gang entlang rannte. Hamlin schrie ihm hinterher, doch über dem Lärm seiner Schüsse hörte ihn Josef nicht.
Immer mehr der unheimlichen Statuen erwachten zum Leben, und nur wenige blieben durch Hamlins Gatling-Kugelhagel liegen. Die meisten bewegten sich auch mit abgesprengten Körperteilen weiter, gespenstisch wie in einem alten Zombie-Film. Josef hatte es schon bis zur Mitte geschafft, doch die ersten Wachdämonen hatten nun fast den Gang erreicht. Hamlin schaffte es, eine Schneise in die Streitmacht der Engel zu schießen, und er entschloss sich, den Vorstoß zu Josef zu wagen. Er feuerte nur noch kurze Feuerstöße und versuchte dabei, immer direkt auf einen Torso zu zielen. Die Wachprogramme waren glücklicherweise nur mit Nahkampfwaffen ausgerüstet, mit Speeren und Schwertern. Doch Hamlin sah, dass die Speere auch als Wurfwaffen eingesetzt werden konnten. Josef fand sich inmitten eines Hagels von steinernen Wurfspeeren wieder, als Hamlin sich ihm näherte. Die Blitze aus Josefs MPs wurden weniger, als er sich mehr aufs Laufen verlegte und zur anderen Seite durchsprintete. Auch Hamlin entschied sich, seine zeitraubende Ballerei einzustellen. Er deaktivierte sein Tarnprogramm, das ihm ohnehin wohl nicht mehr viel nutzte, ihn aber entscheidend verlangsamte, und sprintete zwischen fliegenden Speeren hindurch zu Josef hinüber, der schon fast das andere Tor erreicht hatte.
Die meisten Speere zerschellten am Boden oder trafen die gegenüber stehenden Fahrzeuge. Einer jedoch erwischte Hamlin gerade in dem Moment, als er dachte, er hätte es geschafft.
Der steinerne Spieß jagte ihm ins Bein und fetzte einen Haufen von Metallsplittern heraus, um danach klirrend zu Boden zu scheppern. Dann war er durch.
Als Hamlin über den Beton schlitterte, Funken sprühend, seine Gatling voraus werfend, stand Josef schon an der Instrumententafel neben dem Tor und ließ es ratternd hinunter. Zwei Speere schlitterten noch hindurch und glitten über den Boden. Weitere Speere prallten an dem Rolltor ab, doch nach einigen Sekunden ebbten die wütenden Angriffe langsam ab und die Wachprogramme schienen sich zurückzuziehen und die Bekämpfung der Eindringlinge den Mechanismen des nächsten Sektors zu überlassen.
Josef zerstörte die Mechanik des Tores und sie schienen fürs erste sicher.
Hamlin rappelte sich auf und deaktivierte die Gatling-Software.
Josefs Uzis waren auch verschwunden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Josef.
»Ja, geht schon«, antwortete Hamlin.
»Ich meine – dein Bein«, sagte Josef, aber ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging in den Hangar hinein. Hamlin sah an seinem Bein herunter, aber dort waren bereits mehrere spinnenförmige kleine Roboter dabei, die Mechanik wieder zusammenzusetzen und mit Teilen, die sie scheinbar aus der Luft herbeizauberten, seinen Unterschenkel wieder komplettierten.
Er folgte Josef zur anderen Seite der Halle.
Dieser Hangar war größer als sein Gegenüber, und hier waren auch mehrere Flugzeuge untergebracht, militärische Überschall-Jets, wahrscheinlich MiGs oder etwas ähnliches.
Hamlin hätte es nachprüfen können, hatte aber keine Lust dazu.
Josef stand auf der freien Fläche mitten zwischen den Jets und starrte auf eine Tür. Hamlin humpelte zu ihm, und sah, dass es sich um einen Fahrstuhl handelte, dessen Türen sich öffneten, als Hamlin bei Josef ankam.
Josef wirkte seltsam weggetreten und starrte mit glasigem Blick geradeaus. Er hatte jetzt auch seine Tarnvorrichtung abgeschaltet, musste aber irgendeine andere Routine laufen haben, denn sein Avatar wirkte seltsam blass, die Farben waren kontrastschwach und die Schattierungen nicht besonders intensiv.
Hamlin wagte nicht, zu sprechen. Er wusste, dass sie der KI jetzt ganz nahe waren.
Wortlos stiegen sie in den Fahrstuhl. Ruckelnd setzte er sich in Bewegung und brachte sie, wenn man der Anzeige Glauben schenkte, 20 Stockwerke abwärts. Auf die unterste Ebene. Spüren konnte man nichts, weil ein sich umdrehender Magen sich softwaremäßig noch nicht besonders gut simulieren ließ.
Die Türen öffneten sich.
Ein schmaler, langer Raum eröffnete sich vor ihnen. In etwa dreißig Metern Entfernung lag die gegenüberliegende Wand. Eine Tür in der Mitte.
Hier schien jemand massiv an der Erscheinung der Basis herumgebaut zu haben.
Vor der gegenüberliegenden Tür lag eine Statue, menschengroß, am Boden.
Ein steinerner Engel. Auf den Rücken gestürzt und von einer riesigen Lanze durchbohrt, direkt unter dem Herzen.
Hamlin überlegte kurz, seine Gatling-Kanone wieder zu aktivieren, aber scheinbar war diese Statue bloß eine Dekoration.
Erleuchtet wurde sie von einem eigenartigen Licht, welches aus den Ritzen drang, die die gegenüberliegende Tür umgaben. Es drang so massiv hindurch, dass man den Eindruck gewann, dahinter würde unglaubliche Hitze herrschen, glühende Lava würde jeden Moment hindurchbrechen. Im seltsamen, roten Licht dieser Erscheinung wirkte die Statue des getöteten Engels noch bedrohlicher.
Auf dem Gesicht der Statue konnte Hamlin ein Lächeln erkennen.
Josef trat zu der Statue. Er fuhr wie beiläufig langsam, fast zärtlich mit der Hand über ihren Kopf.
»Weißt du, Hamlin … «, sagte er gedehnt, ohne sich umzudrehen, «hast du schon mal daran gedacht, wie es wäre, wenn du abends einschläfst, und am nächsten Tag nicht wieder aufwachst?« Er wandte den Kopf zu ihm um.
Hamlin schaute ihn fragend an. Ihm fiel ein, dass sein Avatar diese Mimik nicht besonders gut transportieren konnte und fragte: »Was? Wovon redest du?«
Josefs Avatar wirkte immer noch blass, fast schon durchscheinend. Er lächelte ihn an. »Ich meine nicht, ob du dir Gedanken darüber machst, wie es im Jenseits aussieht oder ob du daran glaubst einmal als … «, er zögerte und wandte seinen Blick der neben ihm liegenden Statue zu, »sagen wir, Engel umherzufliegen. Nein, das interessiert mich nicht. Hast du dich nicht schon mal gefragt, ich meine als Techniker, ob das wirklich nötig ist.«
»Zu sterben?«
»Ja, genau. Ich meine, es ist doch schließlich einer der ältesten Träume der Menschheit, Unsterblichkeit zu erlangen.«
»Zur Hölle, worauf willst du hinaus? Was soll das? Ich verstehe dich nicht.«
»Nein, das tust du nicht. Weißt du, bei dieser ganzen Arbeit, an den KIs und so, da ist mir einige klar geworden. Einiges, das von entscheidender Bedeutung sein dürfte für alles, was uns in Zukunft erwartet.«
»Du bewunderst sie, nicht wahr?«, fragte Hamlin zögerlich.
»Ja!«, zischte Josef. »Mehr als alles andere auf dieser stinkenden Welt. Aber es gibt nicht viele Möglichkeiten, ihr nahe zu sein.« Josefs Blick durchbohrte ihn förmlich. »Die KI kann mit uns Kontakt aufnehmen, genau wie wir zu ihr. Und in der virtuellen Welt hier, zwischen den Pixeln und Elektronen, da kann man sogar eine Illusion der körperlichen Begegnung schaffen. Doch um sie wirklich zu verstehen, um herauszufinden, wie sie denkt, ob sie fühlt, ob sie lebt, ob sie existiert, dazu ist die Distanz einfach zu groß.«
»Aber wie willst du das ändern? Ich dachte, wir wären hier, um sie zu zerstören, zu löschen, zu vertreiben, was auch immer. Und jetzt faselt du plötzlich davon, ihr nahe sein zu wollen?«
»Weißt du, diese ganzen armseligen Wireheads, nichts für ungut, diese ganzen armen Techie-Schweine, die denken, sie würden die Maschinen verstehen, sie würden sie beherrschen – ha! Einen Scheiß tun die. Sieh dir die Macht an, sieh dir die Fähigkeiten an, die diese KI besitzt. Mehr als jemals ein Mensch zu erlangen in der Lage ist.«
»Aber – sie ist trotzdem den Menschen ausgeliefert.«
»Ja, das schon. Aber warum haben wir es dann bislang nicht geschafft, sie zu erwischen? Sicher, womöglich könnten wir in ihren Cortex stürmen und versuchen, sie mit Erasern zu bombardieren, aber was würde das nützen?«
»Drehst du jetzt durch? Wir müssen sie vernichten, bevor sie noch mehr Schaden anrichtet! Du hast doch gesehen, was sie schon begonnen hat, und ich glaube nicht, dass sie damit aufhören wird«, rief Hamlin.
»Nein, nein, du begreifst nicht«, unterbrach ihn Josef in einem seltsam schneidenden Tonfall, »wir würden es niemals schaffen, sie komplett zu löschen, sie endgültig zu vernichten. Wahrscheinlich gibt es Unmengen von Backup-Dateien und Rückversicherungen. Ganz bestimmt hat sie etliche Vorgänge auf Standby gelegt, die ausgelöst werden, sobald ihre Hauptroutinen vernichtet werden. Ist dir der Gedanke noch nicht gekommen? Deshalb ist es viel zu gefährlich, sie einfach nur zu eliminieren.
Keine Angst – du hast mich bis hierher begleitet, du hast dich als mein Freund erwiesen, und es gibt keinerlei Grund, dir so etwas abzuverlangen. Doch ich, ich habe alles dafür vorbereitet, die Schwelle zu überschreiten. Ich werde eins sein mit ihr, ich werde der erste sein, der diese Verschmelzung vornimmt.«
»Verschmelzung?«
»Ja, ich werde in sie eintauchen und meinen Geist mit ihrem vereinigen. Das ist der einzige Weg, sie aufzuhalten.«
»Du willst damit sagen – du hast das alles geplant? Du willst dich opfern? Du bist ja total übergeschnappt. Und was hast du jetzt vor? Wie soll diese Verschmelzung stattfinden? Kannst du mir das vielleicht mal verraten? Willst du in deinen beschissenen Rechner reinkriechen? Oder willst du sie in deinen implantierten Speicher hochladen oder was? Mann, komm zu dir!« Hamlin schrie jetzt.
Josef starrte ihn mit einer eisigen Maske an.
»Ich denke nicht, dass ich mich opfere. Ich verbinde mich mit ihr. Ich werde über ihre Fähigkeiten, über ihre Rechenkapazität verfügen. Versteh doch. Ich bin alt, habe mein halbes Leben im Dreck, in Slums und auf der Straße zugebracht. Mein Körper ist angegriffen von etlichen Giften, deren Existenz noch nicht einmal bewiesen ist. Es gibt niemanden, der mir etwas gegen meine Schmerzen geben kann. Rheuma, Arthritis, was weiß ich, und das mit 50 Jahren. Sieht fast so aus, als ginge die Lebenserwartung der Menschen wieder zurück, was? Ich bin bereit dazu, und ich bin bereit, diese Dinge hinter mir zu lassen. Ich will nicht länger so leben.
Geh jetzt, klink dich aus. Ich brauche dich nicht mehr!«, sagte er und wandte sich der seltsamen Tür zu.
Hamlin stürzte voran und versuchte Josef zu ergreifen, doch sein blasser Avatar wurde jetzt noch durchsichtiger, die mechanischen Hände von Hamlins Gestalt griffen einfach durch ihn hindurch. Josef schrie ihn an: »Los, verschwinde endlich von hier!«
Die Tür verblasste.
Das gleißende rote Licht stürzte ihnen entgegen, und Hamlin blickte in einen Höllenschlund.