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They will darken the sky
And you cannot hide
As there is no shelter
From this terminal ride
- Die Krupps, "30 Seconds"
Seine Füße waren zunächst unsicher und er strauchelte fast, als er von dem schwankenden Kahn auf den metallenen, festen Steg sprang, der sich auf das Wasser streckte.
Er war rostig, und rechts und links reihten sich zahllose Boote der verschiedensten Typen auf. Chill drehte sich noch einmal zu der Besatzung seiner Fähre um.
»Besten Dank noch mal!«, rief er den Männern durch den dichten Regen zu.
Zunächst dachte er, sie hätten ihn nicht gehört, doch dann erhob einer, der mit der Zigarre, den Kopf und schaute in seine Richtung. Er verharrte mehrere Sekunden und blickte ihn seltsam an, mit einem irgendwie mitleidvollen Ausdruck in den Augen.
»Pass auf dich auf, Kleiner!«, rief er zurück, hob kurz die Hand zum Gruß und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Die Männer hatten die Filter inzwischen entleert. Die braunen Folien lagen zerrupft an Deck, als hätten die Fischer den Engel, zu dessen Flügeln sie in Chills Phantasie einmal gehört hatten, erlegt und würden ihn nun ausnehmen.
Warum nannten ihn heute alle nur 'Kleiner'? Das gefiel Chill überhaupt nicht, aber eigentlich konnte es ihm ja auch egal sein. War wahrscheinlich nicht so gemeint, sagte er sich und wandte sich vom Schiff ab. Er blickte den Steg entlang.
Der Regen war inzwischen wirklich übel geworden, in Sturzbächen ergoss sich das Wasser auf den Hafen. Er war bis auf die Haut durchnässt und fror. Irgendwie hatte er sich seine Ankunft in der Stadt anders vorgestellt, doch er hatte auch schon wieder vergessen, wie es hätte sein müssen. Er machte sich auf den Weg über die zusammengeschweißten Eisenrosten in Richtung Hafenmole, auf die Lichter zu.
Das erste, was er sah, als er zwischen den Booten hervortrat auf den Zementboden der Hafenmole, war eine kleine Bar, deren Wände anscheinend aus Bastmatten und alten Plastikverkleidungen bestanden und die im ganzen ziemlich heruntergekommen wirkte. Aus den Ritzen zwischen den Matten quollen dichte, weiße Wolken, und als er näher kam, spürte er die Hitze, die von diesem Dampf ausging. Außerdem stiegen die Gerüche asiatischer Gewürze in seine Nase, verlockend fremdartig. Er entdeckte an der Seite ein großes Fenster, durch das er in die Bude hineinsehen konnte. Hier standen mehrere Gestalten mit dampfenden Schüsseln und Stäbchen in der Hand und verschlangen heisse Glasnudeln und Reis. Weiter hinten in der Hütte, hinter einer improvisierten Bar, stand ein kleiner, ziemlich dürrer Chinese in fleckiger, weisser Kleidung, der offensichtlich dieses Zeug an die Leute verkaufte. Er war fast völlig von dem dichten Dunst eingehüllt, der aus seinen Töpfen hervorquoll. Das schien ihm jedoch nichts auszumachen und er warf fröhlich weitere Zutaten und Gewürze in seine Suppen, wobei er ununterbrochen mit sich selbst redete.
Die Leute sahen nicht so viel anders aus als dort, wo Chill herkam. Einen Moment lang befiel ihn der absurde Gedanke, dass die Fischer ihn nicht in die Stadt, sondern nur in ein anderes totes Viertel gebracht hatten. Doch dann blickte er die Mole entlang und bemerkte den Unterschied.
Eine endlose Reihe von Buden, Ständen und Hütten erstreckte vor ihm. Dahinter ragten düster die roten Backsteintürme der alten Speicherstadt auf, überwuchert von einem Gewirr aus Gerüsten, Zelten und Betonkonstruktionen. Zwischen der ganzen verwirrenden Architektur schob sich ein Gedränge von Menschen durch die Gassen. Das bunte Treiben wurde erleuchtet von zahllosen, verschiedenartigen kleinen Lichtquellen. Neonröhren, Gaslampen und Glühbirnen zauberten hektisch wabernde Schatten über den Markt. Eingehüllt wurden die engen Gänge von einer Geräuschkulisse, die ihn an die Straßen der Zone erinnerte, nur war das Ganze hier lauter und wirrer. Chill begab sich ohne großes Zögern in die Menschenmenge. Sofort hüllten ihn die unterschiedlichsten Geräusche und Gerüche ein. Aus einigen Hütten stieg dichter Qualm auf und zog über die Straße, die Temperatur in der engen Gasse wechselte beim Hindurchgehen sekundenschnell zwischen feucht kalt und fiebernd heiß. Ein guter Weg, seine Kleider zu trocken, dachte Chill, und blieb bei einer Auslage stehen, neben der ein altes Ölfass platziert war, in dem rote Flammen loderten. Das verkäufliche Inventar des Standes bestand aus Energieakkus der verschiedensten Sorten, allem Anschein nach hatte der Händler für jedes erdenkliche Gerät die passende Energiequelle parat. Trotzdem verließ er sich bei der Wärme für seine Kunden lieber auf ein altmodisches offenes Feuer.
Als Chills Kleider durch die Hitze aus der Tonne einigermaßen getrocknet waren, ging er weiter. Die Menschen hier erinnerten ihn wieder an die Zone. Viele von ihnen trugen ärmliche und zusammengeflickte Kleidung. Im Kontrast dazu standen die unzähligen winzigen technischen Geräte, die jeder bei sich zu tragen schien. Mobiltelefone, Strahlungsmessgeräte, Atemschutzmasken, HeadUp-Displays, ohne all diese Dinge kam man hier offenbar nicht aus. Chill hatte nichts dergleichen, außer einem alten Atemschutzgerät, das er aber nur an ganz heißen und smogreichen Sommertagen benutzte, um die Filter zu schonen.
Er ließ sich von der Menge weitertreiben, in Richtung der alten Speicherstadt. Das Gewühl von Markt und Menschen schien immer dichter und verwirrender zu werden, die Gassen wurden schmaler und die Buden standen zunehmend enger gedrängt aneinander. Der Boden unter seinen Füßen ging in eine Fläche aus Metallplatten über und er sah, dass der Gang, dem er folgte, einer Treppe hinauf zu einer höhergelegenen Ebene folgte. Die Treppe wirkte uralt, die metallenen Stufen waren abgenutzt von jahrzehntelangem Gebrauch, und ihre Metallstützen schienen untrennbar mit dem Skelett der Stadt verbunden zu sein. Chill konnte zwischen dicht nebeneinanderstehenden, handgemachten Hüttenkonstruktionen aus Pappe und Blech erkennen, dass sich unter ihnen ein sehr stabiles Gerüst aus schweren Stahlträgern befand. Oben auf diesem Gerüst führten die Schienen der alten Hochbahn entlang. Selbst die Fläche auf den Gleisen war dicht an dicht mit improvisierten Hütten zugebaut, so dass kein Zug mehr diese Strecke befahren konnte. Ein übler Gestank aus menschlichen Ausdünstungen und fauligem Unrat mischte sich hier oben. Vor dem alten Bahnsteig, den er jetzt betrat, thronten mehrere eingekesselte Eisenbahnwaggons wie Gefangene, die zur Schau gestellt wurden. Von ihrer rot-silbernen Lackierung war nicht mehr viel zu sehen, sie waren über und über mit bunten Graffitis zugesprüht.
Die ursprünglichen Neonlichter unter dem gewölbten, gläsernen Dach des Bahnsteigs waren gegen dumpfe Elektrostrahler ausgetauscht worden. Gebrochene Fliesen bedeckten den Boden dort, wo er nicht aus nacktem Beton bestand, der stellenweise ziemlich stümperhaft in kaputte Stellen gegossen worden war.
Seltsame Gestalten standen hier versammelt, vor dem Zug warteten ein paar Nutten auf willige Freier, davor handelten einige Deutsche und Russen mit Zigaretten, Hasch und Chemo-Drogen. Die Nutten hatten ihre besten Tage schon hinter sich, ihre Kleidung wirkte extrem billig, Lederimitat aus Plastik und viel zu bunte Reizwäsche schmückte ihre müde und ausgemergelt wirkenden Körper. Eine seltsame Stille lag über dem Platz, die Leute hier schienen sich alle betont leise zu unterhalten. Wohl mehr aus Gewohnheit als aus Furcht vor Entdeckung, denn schwer zu finden war dieser Ort nun wirklich nicht. Wahrscheinlich ein sicherer Platz, weil die entsprechenden Bullen hier selbst gern einmal privat vorbeikamen. Schon kam ein dunkelhaariger, dürrer Typ auf Chill zu, doch dieser winkte sofort ab. Der Dealer sah dreckig und krank aus und war an Gesicht und Händen von Piercings übersät. Er wollte sich nicht so leicht abweisen lassen und legte Chill eine Hand auf die Schulter, als dieser an ihm vorbeiging. Chill spürte die kleinen Eisenringe, die durch die Häute zwischen den Fingern des Mannes gebohrt waren, und zuckte unwillkürlich zusammen.
»Ich will nichts kaufen, lass mich in Ruhe!«, wies Chill den Mann zurück.
Dieser fuhr leicht zusammen, blickte sich nervös um und zog sich dann mit einem seltsamen Grinsen mehrere Schritte zurück.
Irgendwie hatte der Typ etwas Beunruhigendes an sich, aber Chill konnte nicht genau deuten, ob er wirklich gefährlich war oder ob er einfach zu viele seiner Drogen selbst benutzte. Injektoreinstiche waren am Hals des Dealers erkennbar, einige davon entzündet.
Chill beeilte sich, zum anderen Ende des Bahnsteigs zu kommen, und stieg dort die Stufen wieder hinab.
Er hoffte, wieder auf den Markt zu stoßen, doch die Straße, die er nun betrat, war auf eine seltsame Weise viel stiller als die übrigen. Sie war breiter und von Müll übersät, der Gestank war hier noch schlimmer als zuvor. Es war ziemlich dunkel, nur die Lichter aus den Nebenstraßen und von höheren Gebäuden warfen einen mondlichtheuchelnden Schein in die Häuserschlucht. Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und nach und nach erkannte er, dass zwischen dem ganzen Unrat Menschen lagen. Ab und an war ein Wimmern und Stöhnen zu hören, jemand wälzte sich fast direkt vor Chills Füßen zwischen Kartonpappen in unruhigem Schlaf hin und her und murmelte wirr vor sich hin.
Er war in ein Drogenloch geraten, und zwar eines der übelsten Sorte, wie ihm schien.
Instinktiv wandte er sich um und wollte zur Treppe zurückkehren, um schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Doch am oberen Ende der Treppe konnte er mehrere Schemen ausmachen. Dealer, die ihn anstarrten. Die Elektroleuchten hinter ihnen ließen nur Schattenrisse erkennen, doch Chill hätte schwören können, dass der Typ mit den Piercings dabei war.
Langsam kamen sie die Treppe hinunter.
Scheiße, dachte Chill. Er spürte Adrenalin durch seinen Körper schießen. Er schaute sich in der Gasse um. Ein direkter Ausgang war nicht zu erkennen, deshalb lief er einfach los, schnurstracks die Straße hinunter. Hinter ihm hallten die schweren Schritte der Dealer auf den Metallstufen der Treppe wider.
Rechts und links der düsteren, schmalen Straße erstreckten sich Abbruchhäuser. Vor sich konnte Chill jetzt erkennen, dass die Straße eine Sackgasse war, dort türmte sich unüberwindbar hoch die Fassade eines mehrstöckigen Hauses auf. Anscheinend war im Erdgeschoss früher eine Bank gewesen, die großen Schaufenster der Schalterhalle waren auf wundersame Weise noch intakt geblieben. Hinter sich hörte er jetzt die Dealer rufen.
»Halt!«
»Bleib stehen, Arschloch!«
Mit seltsamen Akzenten in den rauen Stimmen.
Zwischendurch dreckiges Gelächter.
Er hörte metallisches Klappern, und ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die Typen es wirklich ernst meinten. Sie zogen Waffen unter ihren Jacken hervor und luden sie durch. Was sie von ihm wollten, wusste er nicht, ihn zu überfallen war ziemlich sinnlos, bei dem wenigen, das er besaß. Eigentlich ging er auch davon aus, dass man ihm das ansah. Es musste um irgendeine Gebietsverletzung gehen, er war wohl in ein Territorium eingedrungen, in dem er nicht viel mehr war als eine wandelnde Zielscheibe.
Chill bewegte sich jetzt blitzschnell. Er tauchte zwischen zwei überquellenden Abfallcontainern hindurch in Richtung der Schalterhalle. Mit einem Hechtsprung warf er sich durch die Türöffnung der Bank hinter der Fensterscheibe in Deckung, in der er sogleich die ersten Kugeln einschlagen hörte. Er hatte Glück, es war wirklich Panzerglas, wie er es sich von einer Bank erhofft hatte. Panik stieg in ihm auf, und er rannte durch die Schalterhalle. Auch hier lagen einige Drogenabhängige auf dem Fußboden. Der Veloursteppich war durchtränkt von Dreck und Urin. Weitere Schüsse hallten, und jetzt zerbarst auch die Fensterscheibe hinter ihm.
Die Dealer schossen wie verrückt um sich, und Chill rannte so schnell er konnte durch das Gebäude. Über dem Lärm der Schüsse meinte er wirres Gelächter und wildes Rufen hören zu können.
Auf der anderen Seite befand sich eine weitere riesige Fensterfront. Auch hier schienen die Scheiben noch intakt zu sein. Chill stand einen Moment unschlüssig davor. Erst als eine Kugel mühelos die Fensterfront durchschlug, erkannte er, dass dort nur Plast-Scheiben eingesetzt waren. Er nahm Anlauf und sprang durch die dünne Kunststoffschicht, die in großen Scherben zu Boden klapperte.
Die Straße auf der er landete, war wieder etwas belebter, und er rannte los, um in irgendeiner Menschenmenge Unterschlupf zu finden. Einige Passanten starrten ihn an und blieben stehen, doch ihr Interesse an ihm erstarb schnell, als er sich zwischen den ersten Menschen hindurchwand und einige Kugeln durch das zerborstene Fenster peitschten. Nachdem er drei weitere Straßen hinter sich gelassen hatte, blieb Chill zum ersten Mal stehen und stütze die Hände auf die Knie. Das Durchatmen fiel ihm schwer, er keuchte. Schweiß schien ihm aus jeder Pore zu fließen. Die Dealer waren ihm nicht aus ihrem angestammten Bereich heraus gefolgt.
Er konnte förmlich spüren, wie die Wirkung von Adrenalin und Panik schleichend nachließen. Seine Hände, nein sein ganzer Körper begann zu zittern, und er nahm das wilde Schlagen seines Herzens wahr. Erst jetzt spürte er auch, dass er sich bei dem Sprung durch die Scheibe den Jackenärmel und den Ellenbogen aufgerissen hatte, ein kleines Rinnsal von Blut tröpfelte vor ihm auf den Beton.
Nachdem er sich wieder einigermaßen gesammelt hatte, kaufte er sich an einem Stand ein kleines Erste-Hilfe-Set, um sich den Arm zu verbinden. Das nahm er mit in eine winzige Bar, die der ersten, die er hier gesehen hatte, verblüffend ähnelte, nur dass hier der Koch nicht mit sich selbst sprach. Diese Bar hatte sich auf mexikanisches Essen spezialisiert, doch überbackene Hühnerkrallen waren nicht ganz nach Chills Geschmack.
Er setzte sich in einen der leidlich bequemen Plastikstühle und verspeiste zwei pappige Weizen-Tortillas, gefüllt mit einem nicht wirklich definierbaren Gemüse-Brei, nachdem er seinen Ellenbogen verbunden hatte. Es war nur eine leichte Schnittwunde, die schnell aufgehört hatte zu bluten. Er hatte Glück gehabt, die scharfen Plastik-Scherben konnten verdammt gefährlich werden. Er hatte sogar schon Typen getroffen, die sich aus solchen Scherben Waffen gebaut hatten, die es von der Schärfe her mühelos mit einer Metallklinge aufnehmen konnten. Schlimmer noch, wenn man Pech hatte, dann brach die Klinge und Plastiksplitter blieben in der Wunde zurück. Dadurch war die abschreckende Wirkung dieser archaischen Waffen noch um einiges höher als die von herkömmlichen Messern mit Metallklingen.
Er nahm sich vor, nach dem Erlebnis mit den Dealern besser darauf zu achten, wo er hinging.
Gegenüber der Bar erblickte er ein Baugerüst, auf das jemand aus Wellblech kleine Behälter gebaut hatte.
Ein Sarghotel, eine Unterkunft, die nur aus winzigen Zellen bestand, in denen man gerade einmal liegen und schlafen konnte, mehr auch nicht. In Japan gab es angeblich riesige derartige Anlagen. Dieses Hotel hier bedeckte lediglich die unteren Stockwerke eines Häuserblocks, bot aber bestimmt mehr als einhundert Menschen Platz zum Schlafen.
Als Chill auf seiner Schaumstoffmatratze lag und die Werbezettel am Deckel der Box studierte, spürte er langsam die Anspannung aus seinem Körper weichen. Das war wirklich kein gelungener Auftakt seines Lebens in der Stadt gewesen.
Das letzte, was er sah, bevor er einschlief, war ein Flugblatt irgendeiner Band namens 4001AD, halb verdeckt von einer Reklame für infektionshemmende Pflaster.
Ein Songtext wurde darauf eingeblendet.
Oh look at the moon so cold
and watch our doom unfold
oh see the children freeze
out in the toxic breeze
chorus
It’s the dying illusion
retaliation from hell
the dying of virtue
jesus in a prison cell
Is the last revelation
already here,
why are we just waiting
trembling with fear
Oh look at the sun so blind
the first god of mankind
oceans are tearstreaks now
on the face of the world.
rep. chorus
The dying illusion
i want to keep it awake
oh dying illusion
don’t go away
- 4001AD, "The Dying Illusion",
taken from the LP "Frozen Carnival"