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Let me be your neon god
We've got brand new illusions for your plastic souls
We’re all wired up and ready to go
Because gravity means nothing now
- The Kovenant, "Neon"
Chill hatte gerade den dritten Kaffee aufgerissen, als Hamlin sich regte und die Brille vom Kopf nahm. Alya saß neben dem Hacker auf dem Bett und wischte ihm mit einer Serviette vom Neon Samurai-FastFood-Stand das Blut ab, das in winzigen Tropfen aus dem wunden Gewebe an seinem Datenport floss.
Hamlin rieb sich die Augen, sah die blutbefleckte Serviette und grinste sie schief an.
»Danke«, sagte Hamlin.
Alya stand wortlos auf und warf die Serviette in eine Plastiktüte, die neben dem Sofa stand und seit neuestem als Abfalleimer diente.
»Was hat dieser Josef für ein Problem?«, fragte sie wütend. «Ich meine, was sollte diese Nummer mit dem Backup?«
»Beruhig dich.« Hamlin war sofort wieder ganz sachlich und wischte Alyas Wut beiseite. »Er ist etwas eigen, aber was macht das schon? Die Sache ist nun einmal hochwichtig und echt heiß. Da müssen wir mit solchen Kleinigkeiten leben.«
Hamlin begann, wieder auf seiner Tastatur herumzutippen, diesmal benutzte er seinen Flatscreen an der Wand als Display. Er wirkte nervös und hektisch, fand Chill.
»Hat er was gefunden?«
»Ja.«
»Und was?«, fragte Alya genervt.
»Schon gut, schon gut«, antwortete Hamlin und drehte sich zu ihnen um.
Er gab den beiden eine kurze Zusammenfassung seines Gesprächs mit Josef.
Alya beruhigte sich, ihre Wut war wohl vor allem darin begründet gewesen, dass sie es nicht leiden konnte, nicht zu wissen, was vor sich ging.
»Okay, okay, diesen KI-Scheiß verstehe ich zwar nicht ganz, aber das alles so überstürzt anzugehen, ist doch der Wahnsinn«, sagte Alya.
Hamlin hatte sich jetzt wieder seinem Flatscreen zugewandt, als er weiterhin mit ihnen sprach.
»Klar, aber es ist einfach keine Zeit mehr. Wer weiß, was das Teil noch vor hat und wann es die nächste Stufe seines Planes umsetzen will? Ist doch nur eine Frage der Zeit. Ich wette, die Nummer hier ist nur ein Testlauf für das, was da noch kommen soll.«
Alya antwortete nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und trat wieder ans Fenster. Chill spürte, dass sie sich wirklich ernsthaft Sorgen um Hamlin machte.
»Vielleicht könnte ich ja … «, begann Chill. »Ich meine, diese Jungs, die ich in der Hacker-Bude getroffen habe. Der eine sagte, sein Bruder sei ein Hacker in Russland.«
»Keine Zeit«, unterbrach ihn Hamlin barsch. »Es gibt zig tausende Wireheads, aber erklär mal irgendwem die Situation und bring ihn dazu, in einen alten Militärstützpunkt einzudringen, um eine wildgewordene Renegade-KI auszuschalten. Viel Erfolg! Und außerdem möchte ich mal ein Straßenkid treffen, das nicht erzählt, sein großer Bruder sei ein Bundesliga-Wirehead, Söldnerhauptmann oder Präsident von Luxemburg. Ist doch albern.«
Hamlin hatte Recht. Das machte einfach keinen Sinn, und wenn sie sofort losschlagen mussten, konnten sie nur Josef und Hamlin schicken. Zu zweit gegen – ja gegen was eigentlich? Chill hatte keine Ahnung, was es da für Gefahren gab, im Cyberspace, beim Kampf gegen eine KI.
Und sie konnten nichts tun außer Warten und hier bei Hamlin zu sitzen, ihm das Blut abwischen und womöglich den Stecker ziehen. Viel war das nicht.
»Ich geh jetzt rein.«
Hamlin hatte sich in den einzigen Sessel im Raum gesetzt, hatte sorgfältig sein Board auf dem Schoß platziert, alle Kabel gecheckt, Alya hatte seine wunden Stellen mit Salbe behandelt. Sie saß mit BackUp-Brille neben ihm auf dem Sofa, also war es jetzt an Chill, den Blut-Abwisch-Job zu machen.
»Viel Glück«, wünschte ihm Chill.
Hamlin grinste ihn an. »Wird schon klappen. Dein alter Mann ist schließlich verdammt ausgefuchst. So ziemlich der Beste, den ich kenne. Dem wird schon nichts passieren.«
»Trotzdem – pass auf ihn auf«, sagte Chill. »Und auf dich selbst natürlich auch«, fügte er eilig hinzu.
»Klar.« Hamlin zwinkerte ihm zu. Und wieder fühlte sich Chill so, als hätte Hamlin gerade »Kleiner« zu ihm gesagt. Aber es war okay.