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Looking down through shades of iron

At the shattered remains of the world

New bays on coasts, new land in the sea

Deserts of ash on death-row earth


- Sentenced, "Ode to the End"




Der verharschte Schnee knirschte laut unter den Kunststoffsohlen der abgelaufenen Schuhe. Die aufbrechende braune Kruste des schmutzigen Schnees gab den Blick frei auf das leuchtende weiß darunter, wie eine verbrannte Makrone mit Kokosraspelfüllung.

Als er stehen blieb, um zu warten, sogen sich Jaroslavs Stiefel langsam mit dem Wasser voll, das in einer Pfütze schmelzenden Schnees um seine Füße herum entstand. Es war kalt hier draußen, vor dem Häuserblock. Seine dicke Jacke und die Hose, die er mit Plastiktüten verstärkt und so vor dem schneidenden Wind zu schützen versucht hatte, hielten ihn aber einigermaßen warm. Nicht dass ihn drinnen ein schönerer Ort erwartet hätte. Dort oben, in der winzigen 2-Zimmer-Wohnung, saßen nur seine Mutter und seine drei kleinen Schwestern um den winzigen eisernen Ofen herum, den sie ständig mit feuchtem Holz fütterten und der eine ölige, rauchige Wärme in die Räume blies.

Jaroslav hatte Glück, dass sie zumindest dieses Quartier hatten. Nicht, dass es hier Wohnungsnot gäbe, nein, viele der Wohnungen in den Häuserblocks der Siedlung Yeltsin standen leer. Doch fast überall lauerten brüchige Böden, feuchte Wände und giftiger Unrat auf den unbedarften Besucher.

Er, seine Mama und seine drei Schwestern waren schon vor einem halben Jahr hergekommen. Sie schlugen sich seitdem mehr schlecht als recht hier so durch. Sie hatten aus Saratov fliehen müssen, als sich bei einem in der Nähe gelegenen Atomreaktor eine Kernschmelze anbahnte. 


Ihr Vater war schon vor zwei Jahren zur Armee abkommandiert worden, rekrutiert für einen Krieg irgendwo in der Nähe des Baikal-Sees. Jaroslav wusste nicht einmal, wie der Staat hieß, gegen den sein Vater gekämpft hatte. Alles, was sie nach ein paar Briefen aus dem Kriegsgebiet noch von ihm gehört hatten, war ein formell aufgesetztes Schreiben, das ihnen den Tod von Georgij M. mitgeteilt hatte. Dieses Schreiben stand nun auf dem flachen Schrank neben dem Bett seiner Schwestern, zusammen mit einem alten Print eines Fotos von seinem Vater. Dazu ein vertrockneter Strauß Blumen, dessen Familie wohl auch längst ein Schreiben hätte bekommen müssen.

Immerhin konnte Jaroslav hier relativ ungestört und mit guten Leuten die virtuelle Welt besuchen. Aydin, ein Türke, der auch vor ein paar Monaten hergekommen war, und Semir, ein Rumäne, mit ähnlichem Schicksal wie Jaroslavs. Sie trafen sich regelmäßig und gingen dann mit ihren selbst ausgebauten Maschinen ans Netz. Aydin war ziemlich gut darin, die richtigen Teile zu besorgen, und Jaroslav baute sie dann in ihre Decks ein. Die russischen Bauteile waren zwar meist nicht so leistungsfähig wie die aus Japan oder Korea, aber dafür konnte man sie wunderbar zusammenschalten und aus ihnen wahre Kampfboards erschaffen. Mutanten-Boards nannte man so was in Japan, hatte Jaroslav mal gehört.

Sie nannten sich Gulag19, weil das irgendwie ziemlich russisch klang und auch symbolisierte, wie schwer sie daran schufteten, gute Boards zu bekommen.


Jetzt stand er hier vor seinem Wohnblock in der Yeltsin-Siedlung und wartete auf Aydin, der ihn mit seiner Enduro abholen wollte. Heute war der große Tag, und wenn sie Glück hatten, würden sie jede Menge Ranking-Punkte absahnen und in der Wirehead-Szene einen gewaltigen Satz nach vorne machen. Bekanntheit war alles, und wenn sie sich richtig anstellten, würde vielleicht sogar der eine oder andere lukrative Auftrag herausspringen. Mama war dagegen, sie verstand nicht, was ihr Jaro da tat, sie betrachtete es als Spielerei und Zeitverschwendung. Ihr wäre es lieber gewesen, er wäre auf den Markt gegangen und hätte dort vier Stunden für ein Stück Fleisch angestanden. Doch er würde Ihr schon zeigen, dass es sich lohnte, mit vorne dabei zu sein bei den Wireheads. Russische Hacker hatten eine große Tradition, und ihr Improvisationstalent war ungeschlagen in der Welt. Während Japaner ständig Zugriff auf die neueste Hardware hatten, meist noch bevor sie offiziell auf dem Markt war, mussten sie sich hier in der Einöde, zwischen zerfallenden Betonruinen und Kriegsüberbleibseln schon etwas einfallen lassen, um so richtig oben mitmischen zu können. Das war ein Talent, das schon ihre Vorfahren damals zu Ostblockzeiten entwickelt hatten.

Aydin hatte da eine große Sache aufgetan, und sie schienen die einzigen zu sein, die das erledigen konnten. Irgendein Deutscher war auf sie aufmerksam geworden, und obwohl auch Jaroslav Hunger in seinem leeren Magen verspürte, ging er heute nicht zum Markt wie seine Mutter dachte, sondern traf sich mit den anderen. Das Entscheidende war wohl, dass in der Nähe ihrer Siedlung ein ehemaliger Militärstützpunkt lag, den die Armee schon lange verlassen hatte, und der als kontaminiertes Gebiet gekennzeichnet war. Umso besser, dann würde sie wahrscheinlich niemand behelligen, sobald sie die Absperrungen überwunden hatten. Dort sollte sich ein riesiges Rechenzentrum befinden, das noch einigermaßen intakt war und das sie nur noch zum Laufen bekommen mussten. Dann den Kram für den Deutschen erledigen und bumm – schon einen Sprung machen auf dem Wirehead-Ranking.

Aufregung machte sich in Jaro breit, als er daran dachte, und er versuchte, das Kribbeln in seinem Bauch nicht dem Hunger, sondern der Anspannung zuzuordnen.

Aus Richtung der Zubringerstraße, mit der die einzelnen Wohnenklaven verbunden waren, näherte sich der Klang des kaputten Auspuffs von Aydins Maschine, und im nächsten Augenblick knatterte er schlingernd auf der vereisten Straße zwischen den Häuserblocks hervor.

Er hielt vor Jaroslav, sie gaben sich wortlos die Hand und grinsten sich breit an. Uunterhalten konnten sie sich sowieso nur online, Weder konnte Jaroslav Türkisch noch sprach Aydin brauchbares Russisch, ohne Interpreter lief da gar nichts. Jaroslav schwang sich auf den Sozius und sie knatterten los. Er dachte, er müsste taub sein von dem Lärm des Auspuffs, wenn sie ankämen. Doch das dachte er jedes Mal.