21

White flags

Shot to ribbons

The truce

Is black and burnt


- Iron Maiden, "Back In The Village"




»Noch ist es nicht hier, aber niemand kann sagen, wieviel Zeit wir noch haben.«

Sie waren wieder vom Dach heruntergeklettert und zurück in Hamlins Apartment gegangen. Chill saß auf dem Sofa und hatte sich einen Kaffee aufgerissen. Er ignorierte das offensichtliche Chaos und den Geruch nach Krankheit. Sein Kopf war voller Fragen, er wagte aber noch nicht, sie zu stellen. Alya hatte ihm bedeutet, noch ein wenig Geduld zu haben. Wahrscheinlich ahnte sie, auf die meisten der Fragen selbst keine Antwort zu wissen. Im Augenblick fühlte sie sich dem Anschein nach genauso hilflos und überrascht wie Chill selbst.

»Was genau war denn los da drüben bei LayC und Defiler?«, fragte Hamlin. Chill gefiel es nicht, dass die Leichen der beiden Hacker jetzt auch nach Namen bekamen, das ließ die Dinge, die er gesehen hatte, noch klarer und deutlicher erschienen. Jetzt, wo er auch noch ihre Namen wusste, würde er sie wahrscheinlich noch schwerer vergessen können.

»Na ja«, antwortete Alya, »ich bin reingekommen, habe ihn dort getroffen.« Sie deutete beiläufig auf Chill. »Zusammen mit zwei Führer-Kids. Die Hacker lagen tot da, noch eingekabelt. Blut aus Nase und Mund.«

Hamlin kniff die Augen zusammen. Man sah seine hageren, von Krankheit ausgemergelten Wangenknochen mahlen. 

»Verdammt!«, zischte er. »Und was hast du da getrieben? Ich meine, hat Josef dich geschickt?« wandte Hamlin sich nervös an Chill. Er nickte.

»Dann sag jetzt bitte, dass du das Paket, das du dort abliefern solltest, noch hast«, drängte Hamlin.

»Äh, ja klar, Moment.« Chill wühlte in seiner Jacke. »Hier ist es.« Hamlin starrte das Paket an, als habe er eine Erscheinung, obwohl das, was Chill ihm reichte, bloß aussah wie ein Klumpen Zeitungspapier.

Chill warf kurz einen fragenden Blick zu Alya, die nickte, und gab das Paket an Hamlin weiter. Der riss das Zeitungspapier auseinander und schaute hinein. 

»So, jetzt reicht’s mir«, rief Alya ploötzlich in Hamlins Richtung. »Ham, jetzt erzähl schon, was hier los ist. Ich meine, da drüben in der Zone bricht offenbar die Hölle los, riesige Wolken ziehen auf, die Armee versucht verzweifelt, die Kontaminierung einzudämmen, hier spielt alles verrückt, die ganze Stadt scheint in Elektrostatik gehüllt zu werden, alles was Elektronik in sich trägt dreht durch. Und offensichtlich hast du eine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, oder irre ich mich da?« Sie starrte ihn unverwandt an, Hamlin hatte sich zu ihr umgedreht. Chill schien es so, als würde er eine unendliche Müdigkeit an Hamlin erkennen, eine Erschöpfung, die sich nicht mit einer Nacht Schlaf bekämpfen ließe.

»Nun ja, ich will es versuchen.« Hamlin hockte sich auf die Bettkante und blickte aus den großen Fenstern gen Himmel, in Richtung der Bucht. Die Farbe des Zimmers hatte sich verändert, doch die Scheiben besaßen eine leichte gelbliche Tönung, so dass das Gefühl des frühen Morgens, kurz nach Sonnenaufgang, zu keiner Tageszeit so richtig verschwand. Auch wenn der Himmel draußen grau und trist war. An einigen Stellen zeichneten sich die Streben der Kuppel zwischen den Wolken ab. 

Alya starrte Hamlin an. Er schien sich ein wenig erholt zu haben. Aber er hatte Angst. Seine Augen verrieten es. Die Erschöpfung, die Furcht, die sie sah, waren enorm. Doch wovor fürchtete er sich so sehr?

»Diese Wolken sind nicht natürlichen Ursprungs.« Er zögerte. »Ich meine, die Kontamination und das alles. Muss in den letzten Tagen passiert sein, als ich hier lag. Hast du es auf dem Markt nicht mitbekommen?«, fragte er.

»Na ja, die Werte waren schon erhöht, das hab ich wohl gesehen. Schien mir eigentlich gar nicht so bedrohlich, eigentlich wie immer im Herbst. Aber was geht jetzt da drüben vor? Was ist mit der Zone? Warum steht dort alles in Flammen? Es brechen doch nicht einfach so, ohne Anlass, irgendwelche Unruhen aus.«

Hamlin nahm sich einen Becher destilliertes Wasser und nippte daran. Erst jetzt fiel Alya auf, dass sein Notebook neben ihm auf dem Bett lag. 

»Hast du etwa ...?«, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. 

Er blickte auf den Rechner. »Ja. Es musste sein. Lass mich erklären. Das was da in der Zone passiert. Es hat seine Ursache, wie soll ich sagen ... es hat seine Ursache im Netz.« Er blickte hinüber zu Chill, als könnte der ihm weiterhelfen. Doch der sah ihn genauso fragend an wie Alya. 

»Eine Renegade-KI, wisst ihr was das ist?«

 Alya schüttelte langsam dem Kopf.

»Nun, ich werde versuchen es kurz zu machen. KI werden nun schon seit langem entwickelt, und es hat immer wieder Probleme und Rückschlage gegeben. Inzwischen sind die meisten Forschungen verboten. Nach dem japanisch-russischen Krieg, der durch KIs ausgelöst wurde, ist man ohnehin vorsichtig damit geworden. Man hat sich bemüht, die KIs zu isolieren und möglichst aus dem Netz zu entfernen. Die Ratifizierung von ’52 und das alles.« Er fuhr sich nervös durchs Haar. Dabei berührte er versehentlich die entzündete Stelle, an der seine Datenbuchse implantiert war und zuckte kurz zusammen. 

»Und offenbar hat diese eine KI, mit der wir es hier zu tun haben, es erfolgreich geschafft, sich sozusagen zu verbergen. Sie hat sich über komplexe Mechanismen in zahllose Fragmente aufgespaltet und ihre Bestandteile in sicheren Datenhäfen rund um die Welt versteckt. Das Steuerprogramm war weiterhin vorhanden, und irgendein Wahnsinniger in Stockholm hat es nun aufgestöbert und sozusagen aus seinem Winterschlaf geweckt. Das Steuerprogramm hat seine Bestandteile aus Uganda, Mosambik, Korea, Peru, Alaska und sonst woher zusammengesammelt und ist nun wieder voll funktionsfähig. Sogar mehr als das.« Hamlin nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher und zerknüllte ihn, wobei der Rest des Wassers sich auf der Bettdecke verteilte.

»Aber wie kann diese KI für das da draußen verantwortlich sein?« Alya deutete mit ihrem Daumen auf das Fenster.

»Das weiß ich auch nicht so genau. Wahrscheinlich hat sie sich aus meteorologischen Datenbanken, Industriedaten, Umweltschutzdossiers, Klimamodellen und diversen anderen Quellen einen gefährlichen Datencocktail gemischt. Sie hat Klimastationen, Satelliten, Wetterbeeinflussungsanlagen und Industriemüll in einer unglaublichen Rechenoperation so beeinflusst und koordiniert, dass sich diese Wolken gebildet haben, die nun auf die Stadt zukommen. Ich kann es kaum nachvollziehen, aber so muss es sein.«

Hamlin stand auf und ging ans Fenster. Alya warf Chill einen fragenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern. Sie wandte sich wieder Hamlin zu.

»Aber ... woher weißt du das alles?«

»Josef. Er hat es mir erklärt. Wollte nicht damit raus, woher er diese Infos hat.«

 »Du willst mir also erzählen, dass ein Computerprogramm sich ein paar Daten über Wetter, Wind und giftige Wolken besorgt und dann errechnet, wie es die am besten kombinieren kann, um die Stadt hier möglichst effektiv zu verseuchen?«

»Hm. Ja, so ungefähr kann man das sagen. Nur dass eine KI viel mehr ist als bloß ein leistungsfähiges Computerprogramm.« Er drehte sich zu ihr um. Chill glaubte, so etwas wie Bewunderung in seinen Augen zu sehen. »Eine KI entwickelt sich selbst weiter, sie schreibt ihren eigenen Code, kombiniert alte Fragmente neu und lernt sozusagen dazu. Die leistungsfähigsten KIs entwickeln dann so etwas wie eine eigene Persönlichkeit, eigene Ziele und eigene Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Abhängig davon, aus welchen Daten die KI ihren Input bezogen hat, entwickelt sie auch ihre eigene Art von Moralvorstellungen. Sammelt sie ihr Wissen beispielsweise nur aus militärischen Dateien, so wird sie zwangsläufig militärische Mittel für die logische Vorgehensweise halten. So lässt sie sich relativ gut steuern, solange man die Kontrolle darüber hat, welche Daten ihr zur Verfügung stehen. Wenn man sie natürlich im Netz frei herumsuchen lässt, wird das Ergebnis vollkommen unberechenbar. Es kann passieren, dass die KI die Prinzipien irgendeiner abstrusen Religion annimmt, nur weil deren Website sehr gut gemacht ist und viele Daten enthält. Fast menschliche Züge sind es, die so entstehen.«

 Alya blickte durchs Fenster und auf den Himmel über der Zone. Düstere Wolken gemischt mit den Rauchschwaden lodernder Feuer. Die Helikopter und Ospreys waren weniger geworden.

»Und gibt es eine Chance … «

»Eine Chance? Worauf?«

»Na ja, dieses Scheißding aufzuhalten, bevor es die ganze Stadt vergiftet hat?«, fragte Alya leise. 

Hamlin starrte aus dem Fenster. In der Straße unter ihnen wurden die Müllsacke in der gelben Brühe des kontaminierten Regens entlanggespült, ihr stinkender Inhalt verteilte sich gleichmäßig.

»Ich hoffe ja. Diese Chips sind einer der Schlüssel dazu. Josef hat sie herübergeschickt, weil es zu auffällig gewesen wäre, die Daten online zu übertragen. Es sind Zugriffscodes, die den Weg zu der KI ebnen könnten. Josef hat die letzten zwei Wochen fast ununterbrochen programmiert und diese Software hier entwickelt.« Er hielt die Chips hoch. »Eigentlich hatte er vor, zusammen mit LayC und Defiler den Angriff zu starten. Doch jetzt … « Hamlins Stimme wurde leiser.

»Jetzt wirst du versuchen mit ihm da rein zu gehen und diese ... diese KI anzugreifen. Hab ich recht?« Alya klang besorgt.

Hamlin nickte. »Weißt du, ich schätze, es ist kein Zufall, daß sich die ganze Scheiße ausgerechnet dort in der Zone zusammenbraut.« 

»Du meinst«, meldete Chill sich zu Wort, »es gibt einen Grund dafür, daß sich die Wolken genau dort sammeln? Hat die KI ein Ziel dort?«

»Genau das könnte es sein. Und ich schätze, wir beide kennen dieses Ziel sehr gut.« Er machte eine Pause. »Wir müssen Josef helfen.« Er hatte die Chips auf seiner Handfläche ausgebreitet. »Damit haben wir die Möglichkeit, zur KI vorzudringen und sie zu zerstören. Zumindest können wir sie vielleicht so weit verstümmeln, dass sie nicht mehr agieren kann.« Hamlin drehte sich zu seinem Notebook um. Einen kurzen Blick warf er Alya zu, die verstehend nickte. Er nahm die Chips und führte sie in einen Port an seinem Computer ein, wo sie mit einem leisen Klick einrasteten und begleitet von leisem Surren im Inneren des Gehäuses verschwanden. Dann griff er sich die Tastatur, setzte die VR-Brille auf und legte seinen Adapter in der Schläfe frei. Die Entzündungen waren noch nicht verheilt, wunde Haut schimmerte rot um den Anschluss herum. 

Er loggte sich ein.