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As the dark blackened walls close in on me

Dementia strikes, there's no turning back


- Anathema, "Memento Mori"




Die metallene Bank war hart, und die kalte Luft ließ die Haut im Gesicht eiskalt frieren. Doch Kälte war ihm nicht fremd von seiner Zeit im Ghetto, an Land. Chill saß still an der Reling des Kutters und spürte das regelmäßige Schlagen der Kolben des Motors unter Deck. Alles an Bord vibrierte leicht. Es roch nach Öl, nach Diesel und nach Moder.

An Bord zu gelangen, war leicht gewesen. Die Männer waren längst nicht so gefährliche Typen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sie hatten ohne viel Aufhebens sein Geld genommen und ihm gesagt, er solle sich einen Platz suchen und nicht im Weg stehen. Ab diesem Moment hatten sie ihn nicht weiter beachtet, und nachdem sie die Kartons und Plastikkisten mit ihren Waren an die Leute am Festland verscherbelt hatten, hatten sie die dicken Taue gelöst, die das leicht schwankende Schiff an der Mole hielten, und der Diesel hatte das Schiff schnaufend wieder auf Fahrt gebracht.

Das flaue Gefühl in Chills Magen war stärker geworden, jetzt, da er den Eindruck hatte, dass es kein Zurück mehr gab. Von hier draussen sah die Gegend, in der er sein Leben bisher verbracht hatte, gar nicht so übel aus. Die Nacht war gut darin, in Dunkelheit zu verbergen, was am Tage abstoßend wirkte. Die Umrisse der Häuser ragten schwarz auf, und die Lichter, die überall zwischen ihnen erstrahlten, schienen hell und ließen die Kulisse wie ein gewöhnliches Stadtpanorama erscheinen. Wer es nicht besser wusste, mochte dahinter gepflegte Wohnungen vermuten, mit schönen Möbeln, gefüllten Kühlschränken und glücklichen Familien darin.

Doch der Tag würde schnell wiederkehren, und dann würden nur noch die Nebel zu verbergen versuchen, wie sich die verzweifelten Gestalten zwischen den Häuserruinen um Essensreste prügelten.

Chill bemühte sich, die seltsame Wehmut aus seinen Gedanken zu vertreiben und sog die kalte Nachtluft tief in seine Lungen. Er versuchte, sich auf das Schiff zu konzentrieren. Es war ein alter, kleiner Kutter, der wohl früher einmal zum Fischen benutzt worden war. Das Metall seines Rumpfes und der Aufbauten war schon endlos viele Male mit dicken Farbschichten überzogen worden, um das Metall vor der Witterung zu schützen. An vielen Stellen blätterte die Farbe jedoch wieder ab und war bereits häufig nachgebessert worden, ein scheinbar endloser Kampf, den letztendlich doch nur der Rost gewinnen konnte.

Auf dem Deck befanden sich ein paar eigenartige Apparaturen mit langen Armen aus Aluminium, an denen große Papierfilter befestigt waren. Sie konnten seitlich ausgefahren werden und dienten zum Filtern des Wassers während der Fahrt. Diese Technik war weit verbreitet, und viele versuchten auf diese Art, brauchbare chemische Grundstoffe aus der verseuchten Brühe zu ziehen, die sie dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen konnten. Die moderne, zynische Zunft der Fischer sozusagen. Wirklich reine Substanzen konnte man so sicherlich nicht erzielen, doch mit Hilfe der aufwendigen Filterapparaturen, die sich am Heck neben der schmalen Kajüte befanden, ließ sich die Reinheit der gefundenen Stoffe verbessern, so dass man sie immer an irgendeinen zwielichtigen Straßendoc verhökern konnte. Chill dachte unwillkürlich an die Medikamente oder Drogen, die solche Gestalten daraus fabrizierten, und versuchte sich zu merken, dass er so etwas besser nicht kaufen sollte. Obwohl – wahrscheinlich würde ihm erst mal nichts Anderes übrigbleiben, bis er zu Geld gekommen war. Sofern er Medikamente brauchte. Drogen-User war er nicht, und seine russischen Zigaretten waren eigentlich ganz okay. 

Er sah über die Reling nach unten auf die braun-graue Suppe, die träge in der Bucht herumschwappte. Das Positionslicht des Schiffes färbte sie orange, was sie jedoch nur noch giftiger aussehen ließ. 

Plötzlich kam ihm der Gedanke, was wäre, wenn die Typen ihn einfach mitten in der Bucht über Bord werfen würden, einfach nur so aus Spaß. Sein Geld hatten sie ja schon, und viel mehr war bei ihm ja nicht zu holen. Er hoffte, dass man ihm das ansah, und blickte skeptisch zu den Männern hinüber. Zwei von ihnen standen an der Kajüte, wobei einer der beiden die Steuereinheit im Blick hatte und ab und an eine Taste drückte, um den Kurs zu korrigieren. Es waren eigentlich relativ unspektakuläre Gestalten, nicht die verwegenen Typen, die immer erschienen waren, wenn er sich ausgemalt hatte, wie seine Flucht wohl verlaufen würde. Er hatte diese Nacht schon tausendmal in Gedanken durchgespielt, doch so harmlos hatten die Schieber nie gewirkt. Sie sahen sehr sachlich aus, in ihrem dunkelblauen Regenzeug mit Ölschlieren darauf. Ihre Gesichter steckten hinter weißen Atemmasken, um sie vor der Luft über dem verseuchten Wasser zu schützen. Aus dem selben Grund trugen sie auch Arbeitshandschuhe und hatten wasserfeste, schwarze Stiefel an den Füßen. 

Ein weiterer Mann saß am Heck neben den Filtriermaschinen, er hatte seine Atemmaske vom Gesicht vor den Hals geschoben und kaute auf dem zerfledderten Stummel einer dicken Zigarre herum. Er bediente die Konsole vor sich, und Chill hörte ein leises elektrisches Surren. Die Aluminiumstreben an den Seiten des Schiffes wurden mit einem leichten Rucken aktiviert. Es waren Teleskopstangen, die sich auf eine beträchtliche Länge ausfuhren, während sie langsam nach aussen klappten. Die an den Stangen befestigten, frischen weißen Papierfilter falteten sich auseinander wie riesige Schwingen. Chill musste an eine der Figuren aus Josefs Krippe denken, einen weißen Engel, der über dem Dach des Stalls hing und eine aufgeschlagene Bibel in den Händen hielt. Er hatte  seine Flügel ausgebreitet und verkündete das Wort Gottes. Ein absurdes, uraltes Konzept, von dem er immer wieder alte Leute hatte sprechen hören, wenn sie ihre ehrfürchtigen Gebete aufsagten. Damit hatte Chill eigentlich noch nie was anfangen können, auch seine Eltern waren nie besonders gläubig gewesen. Er wusste gerade mal, warum Weihnachten gefeiert wurde, aber ansonsten erschien ihm das ganze Thema nicht besonders interessant. 

Er kannte Leute, die bis heute ihren Glauben nicht verloren hatten, und alles, was ihnen an Schlechtem und an Gutem passierte, als Gottes Werk und Gottes Geschenk ansahen. Sicherlich war dies eine Art, das Leben erträglich und verständlich zu machen, ihm ein Muster aufzudrücken, genau wie die Kuppeln mit ihrem Stahlgerüst ein Muster auf den Himmel zeichneten. Einmal hatte er eine Gruppe von Russen gesehen, die so streng gläubig waren, dass sie meinten, wenn sie nichts zu essen hätten, würde ihnen ihr Gott schon helfen. Aber nachdem die ersten beiden elendig vor Hunger verreckt waren, hatten die anderen endlich eingesehen, dass es doch schlauer wäre, die Hilfe der Nachbarn anzunehmen.

Vielleicht war ja doch was dran an dem Zeug, dachte Chill, als er jetzt so da saß, auf diesem Kutter, der langsam auf den Wellen dahinglitt und seine weißen Schwingen ausbreitete. Doch spätestens in dem Moment, als die weißen Filter sich in das Wasser senkten und sich mit der braunen Brühe vollsogen, war der Zauber verflogen. 

Die Lichter des gegenüberliegenden Ufers waren noch in weiter Ferne, Chill schätzte, daß es mindestens noch eine Stunde dauerte, bis sie die Stadt erreichten. Das Letzte, was ihn jetzt noch von seinem Ziel trennte, waren die dicken, dunklen Nebelschwaden, durch die das Schiff seinem illegalen Kurs folgte, der Stadt entgegen.