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I see the sun begin to rise
And I'm blinded too
I've seen the world through jaded eyes
That I'm crying through
I've watched the darkness hypnotize
And confided
- Machine Head, "The Burning Red"
Chill wusste nicht wirklich, wie ihm geschah. Er fürchtete sich, hatte Angst nicht nur um sich selbst sondern um all die anderen, drüben in der Zone. Vor allem um Josef. Niemand wusste, was dort wirklich passierte, und er saß hier und konnte nichts tun. Er fühlte sich so hilflos, so allein wie noch nie in seinem Leben. All die verwirrenden Geschichten, die dieser Hamlin erzählte, von KIs und künstlichen Wolken, machten ihm noch mehr Angst. Wenn die ganze Scheiße, die sich drüben auf der anderen Seite der Bucht zusammengezogen hatte, nicht natürlichen Ursprungs war und eine KI dahinter steckte, und dann auch noch hinter Josef her war? Absurd. Und die Armee war dort. Ausnahmsweise mal, um den Leuten zu helfen und sie zu beschützen? Möglich. Vielleicht aber auch, um dafür zu sorgen, dass niemand entkam. Ja, das konnte er sich schon eher vorstellen. Die ganze Zone einkesseln und dann warten, bis die Giftwolken mit ihrem ganzen Unheil das Ghetto einhüllten und die Bewohner darin verrecken mussten. Ihm kam der Gedanke, dass er ja eigentlich froh sein musste, von dort entkommen zu sein, so kurz bevor das Chaos hereinbrach. Doch er fühlte sich irgendwie schuldig, hatte Josef alleingelassen und saß jetzt hier, in diesem seltsamen Apartment bei einem schwerkranken Hacker und hörte sich dessen wirre Geschichten an. Na ja, wenn er es recht überlegte, war es ja eigentlich Josef gewesen, der ihn immer wieder angetrieben hatte, von dort zu verschwinden. Jetzt wusste Chill auch, warum. Perfektes Timing.
Aber das seltsamste war das, was er von Alya über Josef gehört hatte. Hamlin hatte das bestätigt, die beiden waren ja sogar so was wie gute Freunde. Ein Wirehead-Freund sozusagen. Irre, dass er das die ganze Zeit nicht gemerkt hatte. Klar, Josef hatte viel komisches Zeug gebastelt, aber dass er ein bekannter Hacker war, ein Wirehead, das hätte sich Chill im Traum nicht vorstellen können.
Und Alya? Sie schien hier mit Hamlin zu wohnen, hatte allerhand Kram hier untergebracht, der eigentlich nicht in die durchgestylte Wohnung passte. Chips stapelten sich überall, er hatte schon die Befürchtung in einer Drogenküche gelandet zu sein, wo Alya für Chipheads ihre alternative Realität zurechtbastelte.
Aber sie war keine Dealerin, zumindest nicht was das harte Zeug anging. So eine Art Raubkopiererin eher. Chip-Piratin. Das klang cool, und wenn er sie so ansah mit ihrem Kopftuch über dem harten, entschlossenen Gesicht und den leuchtenden grünen Augen, musste er an alte Piraten-Vids denken, oder an die ExposedBrains, eine Gang, die sich am Hafen rumtrieb. Harte Typen, die als Piraten mit kleinen, wendigen Motorbooten auf Beutezug gingen und besonders bei kleineren Händlern gefürchtet waren. So ein Typ schien sie auch zu sein. Ein wenig zumindest.
Ja, Alya war schon in Ordnung. Irgendwie faszinierte sie ihn, und er hatte fast so etwas wie Neid verspürt, als sie ihn zu Hamlin gebracht hatte. Eifersucht? Nein, so weit war es wohl nicht, immerhin kannte er sie erst runde sechs Stunden. Und für solche Gedanken war bisher nun wirklich kaum Zeit gewesen.
Jetzt hoffte Chill einfach, dass dieser Hamlin es schaffte mit Hilfe der Chips, die Josef ihm mitgegeben hatte, etwas gegen diese komische KI auszurichten. Hoffentlich konnte er Kontakt zu Josef aufnehmen, Chill interessierte es brennend, ob es dem alten Mann gut ging. Obwohl ihm inzwischen klar geworden war, dass Josef nicht ganz so hilfsbedürftig war, wie er immer gedacht hatte. Irgendwie kränkte ihn das.
Alya kramte in dem Haufen von Hardware herum, der neben dem riesigen Esstisch auf dem Boden verstreut war.
»Hier!«, rief sie plötzlich und warf eine VR-Brille zu ihm herüber.
Dann drehte sie sich herum und sagte: »Wir können ihn begleiten. Immer nur einer, der andere sollte hier die Augen offen halten. Okay?«
Chill nickte.
»Du zuerst«, sagte sie und machte sich daran, die Brille am Notebook einzustöpseln.
Chill lehnte sich im Sessel zurück und setzte die Brille auf. Noch waren die winzigen Projektoren deaktiviert und er sah das Zimmer wie durch eine sehr starke Sonnenbrille.
Er hatte schon ein wenig VR-Erfahrung gemacht, aber nie besonders lange. Aufregung machte sich in ihm breit. Er versuchte, sich auf dem Sofa entspannt hinzusetzten.
Eine Datenbuchse besaß er natürlich nicht, das hätte er sich nie leisten können. Deshalb würde er nicht wirklich im dreidimensionalen Raum des Netzes unterwegs sein, er würde den Ausflug eher wie ein Fernsehbild erleben. Außerdem konnte er sich ja nicht frei bewegen, BackUp bedeutete, dass er nur das Blickfeld von Hamlins Avatar mitbeobachten konnte, aber nicht selbst in der Lage war, einzugreifen.
Grün leuchtende Zahlenkolonnen zeugten davon, dass die Boot-Sequenz lief, und Sekunden später wurde der Raum vor seinen Augen von Schwärze verschluckt.