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The twisted souls awakened by the chanting
Unchained at last, rise, they will now rise!
- Candlemass, "The Well Of Souls"
Deke wühlte sich aus dem Haufen von Decken, in
den ihn die anderen eingewickelt hatten. Er befand sich im ersten
Stock, und die Aussenwände des Gebäudes fehlten, so dass er auf die
Fronten der umliegenden Häuser blickte. Der pochende Schmerz in
seinem Knöchel war zwar kaum zu ertragen, doch er musste einfach
sehen, was da draußen vor sich ging.
Gestern noch war alles ruhig gewesen, es hatte nur Warnungen über erhöhte Kontaminationsgrade gegeben, was an sich aber auch nichts besonderes war und alle paar Tage einmal vorkam. Doch diesmal schien es diese Gegend um einiges schlimmer erwischt zu haben. Der Regen hatte förmlich auf der Gesichtshaut gebrannt und sammelte sich in Pfützen, in denen sich regenbogenschimmernde Schlieren bildeten. Deke setzte sich auf einem Stapel hölzerner Paletten, direkt über dem großen Eingangsportal. Von dort konnte er auf die Kreuzung hinausblicken.
Die Rauchschwaden schlängelten sich träge zwischen den Häusern entlang und es schneite Schaum. Auf der Straße und in einigen Hauseingängen konnte Deke einzelne Körper zwischen den umgeworfenen Marktständen und ausgebrannten Autoteilen sehen, entweder ermordet von umherziehenden Plünderern oder verreckt an der vergifteten Luft. Ansonsten lag die Straße vollkommen ruhig da. Er checkte die Verfärbung seines Atemfilters, vorsichtshalber. Das Kontrollfeld hatte sich erst ganz leicht gelblich verfärbt, noch kein Grund zur Panik. Trotzdem hoffte er, dass Jed bald wieder hier auftauchen würde. Und der alte Mann, der ihm den Chip überbrückt hatte. Er schien ein echter Profi in solchen Dingen zu sein. Deke selbst hatte schon überlegt, sich den Chip irgendwie rauszureissen oder ihn auszubrennen, aber solch eine Tortur hatte er sich dann unmöglich selbst zufügen können.
Noch immer waren seine Hände aufgeschürft von der Aktion in dem alten Hotel, wo er ausgerastet war. Er war überzeugt, dass das mit diesem Chip zu tun gehabt hatte. Er konnte sich an nichts erinnern, war erst wieder zu Verstand gekommen, als er schon auf der Strasse gelegen hatte, mit aufgeschürften Handflächen. Als er hatte aufstehen wollen und sein Fuß ihm eine Lanze aus Schmerzen durch den gesamten Körper jagte, da war er schlagartig wieder völlig zu sich gekommen. Schon seltsam, was diese Implantats-Teile mit einem machen konnten. Er hatte sich auch gefragt, weshalb diese Typen in der Organhändler-Klinik sich solch eine Mühe gemacht hatten, ihm diesen verfluchten Chip einzubauen.
In einiger Entfernung konnte Deke jetzt zwei Gestalten erkennen, die auf die Kreuzung zu kamen. Im ersten Moment dachte er an Plünderer, die ihn womöglich aufgespürt hatten und umbringen wollten, doch dann erkannte er hinter den Papierfiltern die Gesichter von Jed und dem Alten. Sie sahen abgehetzt aus und wirkten so, als hätten sie es sehr eilig.
Ausserdem wäre es schon bizarr gewesen, wenn hier Plünderer auftauchen würden. Hier, wo sowieso jedes zweite Gebäude schon längst niedergebrannt war, wo es nun wirklich gar nichts zu holen gab, das hätten schon extrem dämliche Plünderer sein müssen.
»Hey Deke!«, rief Jed zu ihm herauf, als er nahe genug herangekommen war.
»Alles klar bei dir?«
»Ja, kein Problem. Habt ihr irgendwas gekriegt?«
»Na ja, nicht viel.« Jed holte eine kleine Schachtel mit Schmerzmitteln aus seiner Tasche. »Mehr war nicht zu holen, da drüben ist die Hölle los. Alles steht in Flammen. Komm runter. Schaffst du es alleine?«, fragte Jed und wandte plötzlich den Kopf. Deke schaute in die Richtung, die Jed anvisierte, und sah einen Schützenpanzer über die Trümmer rollen, der dann aber in die andere Richtung drehte und hinter einer Häuserzeile verschwand.
»Ja, klar. Ich komm runter!«
Deke kroch zurück zu seinem Lager, klaubte zusammen was er brauchen würde und quälte sich die stillstehende Rolltreppe hinunter. Er hatte sich ein Brett aus den Holzpaletten heraus gebrochen, das er behelfsmäßig als Krücke benutzen konnte.
Vor dem Gebäude warteten Josef und Jed auf Deke, Schutz suchend unter den Resten des zertrümmerten Glasvordaches, das über dem ehemaligen Haupteingang des Kaufhauses hevor ragte.
Josef schien seltsam nervös und ungeduldig. »Komm mit, ich muss mir deinen Chip ansehen. Vielleicht muss ich die Überbrückung erneuern.«
Zu ihrer Überraschung führte er die beiden in das Kaufhaus hinein und in den Keller hinab. Eigentlich befand sich sein Quartier im Erdgeschoss des Kaufhauses, dort hatte Josef eine beträchtliche Menge an Einrichtungsgegenständen und Lebensmitteln gehortet und sich häuslich eingerichtet. Sogar einen elektrischen Ofen und ein enorm großes Stromaggregat hatte er dort untergebracht. In der ersten Etage, wo auch Jed und Deke untergekommen waren, standen Josefs alte Weihnachtskrippe und seine riesige Sammlung von zusammengesuchten und selbstgefertigten Figuren.
Ein pochender Schmerz machte sich langsam wieder in Dekes Kopf breit. Fast freute er sich auf die Behandlung durch den Alten, wenn dadurch nur die Schmerzen nachließen.