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In a whirlpool sadness creeps
Shadows walk with silent feet
Is there something in the air
Turns your hope into despair
- Magnum, "Kingdom of Madness"
Es war kaum erkennbar, welche Tageszeit herrschte, als Jed und Deke den Keller verließen und zwischen den Trümmern über eine Betontreppe an die Oberfläche zurückkletterten. Das ewige gleichförmige Grau am Himmel offenbarte nicht viel.
Jed ging voraus und überquerte einige Haufen von Schuttbrocken und Steinen, um zur Kreuzung vor dem Gebäude zu gelangen.
»Lass uns mal um den Block gehen, und dann rauf«, schlug Jed vor und deutete an dem Hochhaus empor.
»Geht klar«, antwortete Deke.
Jed suchte in einer seiner Beintaschen und holte zwei frische Filtereinsätze hervor, in knisternde Plastikfolie eingeschweißt. Einen reichte er Deke.
»Hier, nimm lieber einen Frischen«, sagte Jed und deutete auf den Indikator an Dekes Maske, der schon gelblich-braun verfärbt war.
Deke nickte wortlos und nahm den Filtereinsatz, riss die Folie auf und wechselte ihn gegen seinen alten aus. Jed wechselte seinen auch, obwohl seine Maske noch halbwegs in Ordnung war. Aber wenn sie durch irgendetwas hier draußen länger festgehalten würden, wäre es ein zu großes Risiko, mit einem verbrauchten Filter herumzulaufen.
Mit den frischen Filtern an den Gesichtsmasken und ihren G-14 in der Armbeuge machten sich Jed und Deke auf ihren Streifengang. Die einzige militärische Ausbildung, die sie beide vorweisen konnten, hatten sie aus Video- und VR-Games. Sie machten sich dennoch ziemlich erfolgreich gegenseitig vor, dass sie etwas davon verstünden.
Deke humpelte etwas unbeholfen mit seiner improvisierten Krücke hinter Jed her, doch sie kamen einigermaßen gut voran. Sie marschierten langsam um die Häuserblocks herum, die die Kreuzung umgaben. Dabei trafen sie niemanden, eine geisterhafte Stille lag über dem Viertel. In der breitesten Straße erwartete sie ein beißender Geruch, gefolgt von dichtem Rauch. Sie beobachteten, wie sich dichte, gelbliche Rauchschwaden einen Weg zwischen den Häusern hindurch bahnten und in die Straße wallten. Der Schaumregen, den sie kaum noch wahrnahmen, kämpfte vergeblich dagegen an und konnte dem dichten Qualm nur wenig Einhalt gebieten.
»Scheiße, was zur Hölle ist das?«
»Keine Ahnung, vielleicht irgendein Rohr geplatzt. Lass uns mal besser die andere Richtung nehmen.«
Sie brachen ihren Erkundungsgang ab und kehrten um.
»Gehen wir hoch?«, sagte Jed.
»Also los!«, erwiderte Deke und hinkte in Richtung Rolltreppen.
Die Treppen und Fahrstühle im Inneren des Gebäudes lagen natürlich ohne Strom da, so dass sie die hohen Stufen der metallenen Rollbahnen aus eigener Kraft erklimmen mussten.
Für Deke war das mühsam, aber mit einiger Anstrengung und seiner Krücke ganz gut zu meistern. Er würde bald etwas nachwerfen müssen, der Fuß fing langsam wieder an zu schmerzen.
Bis in den zehnten Stock führten die Rolltreppen, dann mussten sie einen zerfallenen Ausstellungsraum durchqueren, um zum Not-Treppenhaus auf der anderen Seite zu gelangen.
Der Ausstellungsraum wirkte unheimlich. Das matte Licht fiel nur sehr flach ein, so dass viele Bereiche in düsterem Zwielicht dalagen. Alles war von einem weißen Film aus Staub und Schmutz überzogen. Schaufensterpuppen lagen auf einem Haufen aufgetürmt, abgetrennte Plastikgliedmaßen darum verstreut. An den Wänden waren Gangsymbole zu erkennen, und überall verteilt lagen Überreste von kleinen Lagerstätten, leere Konserven- und Bierdosen, Feuerstellen, alte Gaskartuschen, verdreckte Schlafsäcke. Doch alles lag unter dieser Staubschicht, war also wohl schon lange verlassen.
Jed öffnete die Feuerschutztür, die erstaunlicherweise noch intakt war und ordentlich in ihrem Rahmen hing. Sie begannen den weiteren Aufstieg. Nachdem sie zweimal Pause gemacht und unzählige Stufen erklommen hatten, erreichten sie schwitzend das Dach des Gebäudes.
Auch hier waren die Überreste von alten Lagerplätzen zu sehen. Jemand hatte ein Kreuz errichtet, an das eine Schaufensterpuppe in Jesus-Pose genagelt hing. Der Körper der Figur war übersät von Einstichen und Einschusslöchern, als hätte jemand sie als Zielscheibe für Schieß- und Wurfübungen benutzt. Mit Autolack hatte danach irgendjemand Blutspritzer dazugemalt.
Dahinter ragte eine riesige, elektronische Werbetafel über das Dach hinaus, die zu beiden Seiten mit einer schier endlosen Anzahl winziger Leuchtkristalldisplays übersät war. An einer anderen Seite stand eine hohe Wand aus Monitoren, von denen die meisten auch zerschossen oder eingeschlagen waren. Eigentlich war dieses Dach wohl mit einer Glaskuppel überdacht gewesen, einzelne Stahlträger ragten noch empor, hielten aber nichts mehr, was an ein Dach erinnert hätte.
Deke ließ sich erschöpft zu Boden gleiten und warf das G-14 neben sich. Er wühlte in seinem Rucksack und warf ein paar Painkiller ein.
»Alter, dröhn dich jetzt nicht zu. Hab keinen Bock drauf, hier bei Alarm alleine dazustehen.«
»Ach, leck mich.« Deke klang eher erschöpft als aggressiv. Er sah Jed an. »Dem Alten wird schon nix passieren. Ich kann bloß diese verdammten Schmerzen nicht ertragen. Ich will endlich hier raus und zu einem anständigen Straßendoc.«
Jed wandte sich ab. Mit Deke war momentan wohl nichts anzufangen. Er marschierte die Kante des Daches ab und suchte nach einem guten Platz, von dem er möglichst viel Fläche überblicken konnte. Er entschied sich für eine Position direkt hinter der Jesusfigur. Von dort aus hatte er eine gute Sicht über die Kreuzung. In der Ferne konnte er sogar die Bucht erkennen, über der noch immer eine Menge Ospreys und Helikopter unterwegs waren. Ein Tanker lag mitten in der Bucht und diente offenbar als Basis für die vielen Löschhubschrauber, die immer wieder versuchten, die Straßenzüge der Zone mit ihrem ekligen Schaum einzunebeln.
Er blickte sich zu Deke um, der sich langsam erhob und die Monitorwand entlang schritt. Sein Freund wirkte erschöpft und müde. Sein Gesicht starrte vor Dreck, genau wie seine Kleidung. Von den endlosen Stunden in alten Kellern und Ruinen waren sie beide schon völlig verwahrlost. Jed wischte sich den Rotz von seiner triefenden Nase und wollte Deke gerade zu sich herüberwinken, als der zusammenzuckte, sich versteifte und dann auf der Stelle zusammenbrach. Jed sprang auf und rannte zu ihm.
»Deke!«, schrie er. »Scheiße, was hast du dir eingeworfen?« Er rannte auf ihn zu und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen.
Er drehte Dekes Oberkörper herum und ertastete eine feuchte Stelle an der Schulter. Blut drang durch das T-Shirt und bildete einen beständig wachsenden Fleck. Er legte seinen Freund flach auf den Rücken, zerriss Dekes T-Shirt und versuchte, so gut es eben ging, die Blutung zu stoppen.
Unter dem aufgerissenen T-Shirt erblickte er eine Schusswunde auf Dekes Bauch, die sich sauber durch den Hals eines eintätowierten Drachen gebohrt hatte.
Die Atmung des Verletzten wandelte sich langsam von erschrecktem, hektischem Keuchen in einen schwachen, gleichmäßigen Rhythmus. Jed bemühte sich, einen anständigen Druckverband aus den zur Verfügung stehenden Lumpen herzustellen. Er hoffte, dass Dekes Herz lange genug weiterschlug, um ihn hier rauszubringen. Er wandte sich von Deke ab und kroch zur Dachkante zurück.
Unten vor dem Kaufhaus konnte er Bewegung erkennen, er sah zwei Gestalten in dunklen Tarnanzügen, die sich geschickt von Deckung zu Deckung vorarbeiteten und auf das Gebäude zu kamen. Doch sie konnten von dort unten unmöglich den Schuss abgegeben haben, der Deke so schwer verletzt hatte. Es musste noch einen Scharfschützen geben, der sich im gegenüberliegenden Gebäude verschanzt hatte. Jed fehlte die Erfahrung, um sich dieser Situation stellen zu können. Er zitterte am ganzen Körper, und der kalte Kunststoff seines G-14-Gewehrs kam ihm nun seltsam fremdartig und bedrohlich vor.
Er versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen und schob langsam den Lauf des Gewehrs über den Rand des Daches. Jeden Moment rechnete er damit, dass ihm eine weitere Kugel des Scharfschützen den Schädel wegfetzte, doch entweder hatte dieser ihn noch nicht entdeckt, oder er ließ sich einfach nur eine Menge Zeit. Dieser Gedanke behagte Jed gar nicht.
Er schaffte es, die Waffe in Anschlag zu bringen und klemmte sich die Schulterstütze zwischen Kinn und Schulter, das kompliziert aussehende Zielfernrohr vor seinem Auge. Er blickte hindurch und sah die Umgebung in Falschfarben, alles war in Grüntönen zu erkennen, mit seltsamen Linien überzogen und von diversen Zahlen, deren Werte ihm alle nichts sagten, umgeben.
Er starrte auf die gegenüberliegende Hauswand, durch das Fernrohr seltsam verfremdet, und für kurze Zeit fühlte er sich in eines der Games versetzt, die er häufig schon bis zum Umfallen gespielt hatte. Doch dies hier war echt, und er war kurz davor, seine Hose nass zu machen, als er die andere Hauswand nach einem Zeichen des Scharfschützen absuchte.
Er wartete.