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They awake for flesh
Choose pain as a path
Refuse the light
To blind you and me
- Moonspell, "Full Moon Madness"
Seit er krank war, hatte Hamlin sich viele Gedanken über das Sterben gemacht. Seine Furcht davor war verschwunden. Er war sich nicht sicher, ob dies ein Zeichen dafür war, dass er den Kampf schon aufgegeben hatte oder ob er einfach schon zu geschwächt, zu gezeichnet von der Krankheit war, um überhaupt noch zu kämpfen. Wahrscheinlich machte das nicht wirklich einen Unterschied. Alya, seine neue Mitbewohnerin jedenfalls, machte ihm immer wieder Mut und zeigte ihm, dass er sich auf dem Weg der Besserung befand.
Sein Körper war bleich und abgemagert. Man erkannte die Bögen seiner Rippen unter der Brust, aufragend wie schmale Bergrücken. Sie warfen sogar feine Schatten im flach hereinfallenden Licht. Seine kränkliche Haut war verschwitzt und schmutzig. Er hatte kaum noch die Kraft, sich länger als ein paar Minuten auf den Beinen zu halten. Doch es ging ihm im Großen und Ganzen schon besser als noch vor ein paar Tagen. Da hatte er sich kaum rühren können, sein Fieber hatte ihn niedergedrückt. Doch jetzt hatte er sich zum Ziel gesetzt, endlich wieder regelmäßig aus dem Bett aufzustehen und zu duschen. Die Ziele, die man sich setzte, wurden kleiner, wenn es einem so dreckig ging wie ihm, doch auf irgendetwas musste er sich konzentrieren, um nicht vom ewig gleichen Anblick seiner Wohnung irre zu werden.
Sein Apartment war eigentlich recht geräumig und auch angenehm eingerichtet. Er war immer ein wenig stolz darauf gewesen, dass er einen gewissen guten Geschmack bei der Ausstattung seiner Wohnung bewiesen hatte und somit eine stilvollere Wohnung hatte als alle anderen Hacker, die er kannte. Diese Wohnung war für ihn sozusagen ein Ausgleich für den ständigen Aufenthalt im Netz gewesen, eigentlich sehr untypisch, verglichen mit den normalerweise üblichen, verdreckten Wirehead-Buden. Doch die Pflege der Räume war ziemlich vernachlässigt worden in der letzten Zeit.
Auf den Scheiben der hohen Fenster suchte sich das fahle, gelbliche Licht der aufgehenden Sonne seinen Weg durch die verschiedenen Staub- und Schmutzschichten, um mit leuchtenden Speeren bizarre Muster auf die Wände des Raums zu zeichnen. Neben dem beigefarbenen Sofa türmten sich Berge von schmutziger Kleidung, benutzten Handtüchern, Pappschachteln und Unrat auf. Ein Wunder, dass er bisher nur in seinen Fieberphantasien Ratten von der Größe eines Autoreifens hier gesehen hatte. Der Tisch vor dem Sofa war mit leeren Getränkedosen, Folienverpackungen und durchweichten Papptellern überhäuft. Der kleine, gläserne Beistelltisch daneben jedoch war freigeräumt und ragte wie eine Insel aus dem Meer von Müll auf. Auf ihm standen sechs fein säuberlich aufgeschichtete Türme aus gestapelten, schwarzen Holochips, unscheinbare Kunststoffquadrate mit äußerlich nicht erkennbarem Wert.
Hamlin besaß sogar Pflanzen, wenn auch keine echten. Doch selbst die dunkelgrünen Blätter der Kunstgewächse machten einen welken Eindruck, sie hingen herunter und tanzten träge im Luftzug des Deckenventilators.
Er hatte einfach zuviel Zeit in der virtuellen Welt des Netzes verbracht, und die Krankheit war die Quittung dafür gewesen. IOS, Information Overdose Syndrom, hatte irgendein phantasieloser Mediziner sein Krankheitsbild getauft. Durch die ständige Beanspruchung der Schläfenbuchse, die über tausende von winzigen Metallfäden direkt mit seinem Gehirn verbunden war, hatten sich Entzündungen und Blutgerinnsel an den mikroskopisch feinen Leitungen gebildet. Die Folge waren Fieber, Halluzinationen und endlose Kopfschmerzen gewesen. Man hatte ihn retten können und seine Schmerzen eingedämmt, doch die Heilung war langwierig und teuer.
Aber das schlimmste war, dass er seine Schläfenkontakte nicht mehr benutzen konnte und deshalb schon seit Wochen nicht mehr im Netz gewesen war, nur per Screen, doch das war in seiner unerträglichen Langsamkeit kaum zu ertragen. Zumindest für ihn, der vorher in rasender Geschwindigkeit durch die Datenwelten getaucht und in der Lage gewesen war, Massen von Informationen in Sekundenbruchteilen zu verarbeiten.
Oft hatte er dagesessen, mit seinem Deck vor sich, und hatte kaum noch widerstehen können, doch immer hatte ihn entweder eine Welle von Schmerzen oder Alyas rettende Hand davon abgehalten.
Der teure Esstisch aus japanischem Ahornimitat bog sich fast unter der enormen Menge von Hardware, die Alya dort aufgebaut hatte. Die grauen Kästen surrten leise vor sich hin.
Dicke Kabelstränge wanden sich vom Tisch herab, halb am Boden liegend und halb in der Luft gespannt, quer durch den Raum zum Stromaggregat im Flur, wo Alya die halbe Wandverkleidung weggerissen hatte, um ihre Geräte alle mit Strom versorgen zu können.
Alya hatte aus seiner Wohnung eine einzige Werkstatt gemacht, seit sie hier eingezogen war. Das störte Hamlin jedoch nicht im geringsten, so war immerhin immer jemand da, der sich um ihn sorgte, und was konnte ihm besseres passieren. Er hatte schon mehrmals überlegt, ob er Alya auch hier hätte einziehen lassen, wenn er gesund gewesen wäre und hatte ab und an Schuldgefühle, dachte, dass er sie nur ausnutzte. Aber im Grunde war das Unsinn, sie war schließlich auch froh, dass sie hier hatte unterkommen können. Bei den Unwettern vor ein paar Wochen, die so heftig gewesen waren, dass ganze Teile der Floßstadt weggerissen oder versenkt worden waren, da war der Keller, in dem sie bisher gewohnt und gearbeitet hatte, vollkommen überschwemmt worden, und bisher hatte das Wasser auch noch keinerlei Anstalten gemacht, sich von dort wieder zurückzuziehen. Irgendwie war Hamlin insgeheim froh darüber, da er Angst hatte, Alya würde wieder dorthin zurückkehren, sobald sich die Möglichkeit böte. Sicher, sie würde jeden Tag nach ihm sehen, aber er hatte sie gern, und er mochte es, wenn sie hier bei ihm saß und an ihren Geräten unermüdlich Holochips brannte, um sie später auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Sie ging dann zum Markt zwischen den alten Speichertürmen im Hafen, und brachte immer etwas Warmes zum Essen mit. Dann saßen sie meist noch lange zusammen und sie erzählte die neuesten Gerüchte, die sie auf dem Markt aufgeschnappt hatte. Er musste schließlich auf dem Laufenden bleiben. Dabei aßen sie heiße Glasnudeln oder Gemüsesuppen und machten sich meist noch ein paar Dosen Bier dazu auf. Das war eigentlich immer die Zeit des Tages, in der es ihm am Besten ging.
Jetzt war es früh am Morgen, und Alya saß vor ihren Kopiergeräten, um die letzten Exemplare für den heutigen Abend fertig zu brennen. Das gelbe Licht der Morgensonne, das durch die Fenster auf ihr Gesicht fiel, schenkte ihren ernsthaften Gesichtszügen einen dramatischen Ausdruck. Ihre großen, dunklen Augen bewegten sich unaufhörlich über die Geräte vor ihr, völlig versunken in das Brennen der Chips. Sie schienen jede der Digitalanzeigen und jeden der Monitore gleichzeitig im Blick zu behalten.
Alya trug eine Armeehose in grau-weißen Flecktarnfarben für die Stadt, und ihre Beine waren von unterhalb der Knie bis zu den Knöcheln mit dunklem Stoff umwickelt. Darin verborgen waren, wie er wusste, ein Kampfmesser und eine Betäubungspistole sowie die wertvollsten ihrer Chips. Ihre Kampfstiefel trugen ein auffälliges Flammenmuster, das eine eventuelle Tarnwirkung der Hose gnadenlos zunichte machte. Ihr dunkles Haar trug sie kurzgeschnitten und unter einem roten Tuch verborgen, das aus dem selben Stoff gemacht war wie ihr T-Shirt.
Er mochte sie sehr und fragte sich, ob er sich schon ein wenig in sie verliebt hatte, obwohl sie fast zwanzig Jahre jünger war als er. Doch für solche Dinge war in seinem Kopf momentan nur selten Platz, seine Gedanken waren von der Furcht vor dem Sterben und den Schmerzen und Gebrechen seines Körpers beherrscht. Es war gut, dass Alya da war und ihn mit großer Beharrlichkeit immer wieder aufmunterte und ihn mit den nötigsten Medikamenten versorgte, sonst hätte er sich womöglich schon längst eine Kugel in den Kopf gejagt.
Sie musste gehört haben, dass er sich im Bett aufgerichtet hatte und nach seinem Wasserkanister tastete, und wandte ihm kurz dan Kopf zu.
»Gut geschlafen?«, fragte sie.
»Na ja, wie man hält schläft, wenn man das Gefühl hat, das Kopfkissen sei mit Rasierklingen gefüllt.« Er setzte sich vollständig auf und füllte einen Plastikbecher mit gereinigtem Wasser. Als er zum Fenster sah, traf ihn ein Sonnenstrahl genau ins Auge und blendete ihn kurz.
»Und wie läuft’s bei dir?«
»Vorhin war kurz der Strom weg, aber ich hab’s wieder hingekriegt. Kann sein, dass der Typ unter uns jetzt kein Licht mehr hat, aber was solls«, lächelte Alya.
»Wen interessierts, der ist eh immer so zu, das er das gar nicht merken wird.« Hamlin lehnte den Kopf an die Betonwand. Sie war angenehm kühl. Das aseptische Aroma des Wassers mit den aufgelösten Desinfektionstabletten darin schmeckte wie süßer Wein für ihn.
»Auch etwas Ambrosia gefällig?«, fragte er.
»Nee«, lachte Alya, »besten Dank auch.« Sie stand auf und ging zu dem kleinen Tisch mit den Chips hinüber.
»Was gibt’s heute im Angebot?«, fragte Hamlin.
Sie nahm zwei der kleinen Türme vom Tisch.
»Na ja. Wir hätten Luxusfrauen und harte Kerle in schnellen Autos … «, sie hielt einen der Stapel hoch, » … oder eine Reise zur Venus im Angebot«, sagte sie und streckte ihm die andere Hand entgegen.
»Na toll. Wenn da wenigstens das Wetter besser ist.«
»Kannst du einstellen. Obwohl die Landung bei extremen Atmosphärenstürmen wohl das Highlight sein soll.«
»Na, ein anderes Mal vielleicht.«
»Nun gut. Ich muss jetzt los. Kommst du klar hier?« Sie ließ die Holo-Programme in den Taschen ihrer Hose verschwinden und sah ihn mit einem leicht besorgten Blick an.
»Kein Problem. Ich werd ein paar Gewichte stemmen und vielleicht so ein bis zweimal die Fassade rauf und runterklettern.«
Mit einem breiten Grinsen verabschiedete sich Alya. »Witzbold. Dann bist du ja beschäftigt. Also dann, bis später.«
»Viel Erfolg!«, wünschte er ihr noch, als auch schon die Tür ins Schloss fiel. Er erhob sich mühsam aus dem Bett und ging zum Fenster, bemüht, nicht über irgendwelche Kabel zu stürzen.
Auf der Straße war nicht viel los. Kaum Autos waren unterwegs, eine Helikopter-Patrouille schwirrte am Himmel entlang, und die schwachen Strahlen der Sonne mühten sich durch die dichten Wolken hinter den Häusern gegenüber, als Alya unten aus dem Haus trat, sich kurz umsah und dann in Richtung Hafen davonmarschierte.