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Drain you of your sanity

Face the thing that should not be.


- Metallica, "The Thing That Should Not Be"




Weiß und hellblau leuchtende Polygonsplitter, die sich zu Eiszapfen formten, schwammen ins Sichtfeld. Grau zerfasert senkte sich ein düsterer Himmel über die unwirkliche Szenerie. Über diesen Himmel zogen sich Datenspuren wie dunkle Schlieren und verschwanden zu beiden Seiten des Betrachters im Nichts des Horizonts. Im Zoom erkennbar flossen unendliche Datenströme über das digitale Firmament, schwarze Zahlenkolonnen digitalisierter Wirklichkeit.

Vor Hamlin breitete sich eine mit Iglus übersäte, schneebedeckte Ebene aus, durchbrochen von Rissen in der Oberfläche, zwischen denen dunkles, sanft an die schroffen Eiskanten schwappendes Wasser sichtbar wurde. 

Einen Scherz, einen ziemlich schlechten noch dazu, stellten in dieser bizarren, virtuellen Umgebung die Iglus dar. Scheinbar wahllos verstreut über die gesamte sichtbare Eisfläche, präsentierten sie sich dem Auge in sämtlichen erdenklichen geometrischen Formen. Würfelförmig, rund, als Zylinder oder Ellipse, sie schienen die naiven Formen der Datenkonstrukte aus der Anfangszeit des Cyberspace zu imitieren. Einer dieser üblichen schlechten Techie-Witze, die außerhalb der Wirehead-Welt niemand verstand.

Früher hatte man Datenknoten so schlicht und zweckorientiert gestaltet, einfach um Rechenkapazität zu sparen, und hatte sich nicht mit großartigen Metaphern für den virtuellen Raum aufgehalten.

Hamlin sah sich um, checkte noch einmal, ob er an der korrekten Adresse angekommen war, die er von Josef erhalten hatte, und begann langsam zwischen den eigentümlichen Eisbauten hindurch zu schlendern. Glücklicherweise hatte sich niemand die Mühe gemacht, auch das Gefühl von polarer Kälte zu imitieren, das wäre Hamlin momentan dann doch ziemlich auf die Nerven gefallen.

Es war schmerzhaft für Hamlin, sich in seinem Zustand in den virtuellen Raum zu begeben. Er konnte spüren, wie das leichte Wabern der elektrischen Impulse sich in das zerstörte Gewebe seiner Haut rund um den Schläfenport fraß, minimale Kaskaden von warmem Schmerz, der durch seine Nervenbahnen hinauswucherte. Sein Kopf brannte, und immer wieder verfiel er in ein leichtes Schwindelgefühl. Die gleißende Helligkeit der arktischen Metapher erleichterte ihm die Orientierung dabei nicht gerade. Er stapfte zwischen den bizarren Eisfestungen hindurch. Schnee knirschte unter seinen Füßen.

Am Horizont materialisierte eine dunkle Kontur in seinem Blickfeld. Länglich, etwa zwei Meter hoch, hob sie sich vom strahlend weißen Himmel ab, auf dem unaufhörlich die vorbeiziehenden Datenströme ihre Spuren auf blassen Polarlichtern hinterließen.

Etwas zögerlich näherte er sich der Struktur.

Er war sich noch immer nicht sicher, was er von der ganzen Geschichte halten sollte. Josef hatte die Zugriffscodes für die KI besorgt, das war schon mal ein großer Schritt. Doch ob sie damit in der Lage sein würden, das Konstrukt aufzuhalten, und ob die Codes überhaupt noch brauchbar waren, das stand auf einem anderen Blatt. Doch sicherlich würde ihm niemand in dieser Situation weiterhelfen können außer Josef selbst.

Ein stechender Schmerz flammte kurz auf, als ein stärkerer Impuls durch sein Interface drang. Er versuchte den kurz verschwimmenden, schwarzen Fleck vor sich neu zu fokussieren, was ihm mit einiger Anstrengung auch gelang. 

Eine Telefonzelle.

Jemand hatte einen Com-Port geöffnet, der sich nun hier in einer Standard-Symbolform darstellte. Aus dem Schnee des Eisfeldes erhob sich dunkel die Form einer einfachen Telefonzelle mit einem altmodischen Fernsprechapparat.

Beim Nähertreten konnte Hamlin das Klingeln des Telefons erkennen. Erst leise, dann immer lauter und präsenter werdend. Absurd wirkte das, dieser Fernsprecher mitten in der eisigen Weite, doch Hamlin war solch seltsame Szenarien gewohnt. Wireheads hatten stets einen bizarren Sinn für Humor gehabt, und irgendwie war es auch beruhigend, als wollte man selbst sicherstellen, immer zu wissen, dass man sich nur im virtuellen Raum befand und nicht vergessen, dass die reale Welt da draußen ganz anders war. Bei den perfekt gestalteten Präsenzen einiger großer Konzerne oder Banken konnte einem das schon eher passieren. Und schließlich hatte es nicht wenige Fälle von Cyberspace-Usern gegeben, die nach extremen Erfahrungen oder einfach zuviel Zeit im Cyberspace die Unterscheidung nicht mehr sauber hinbekommen hatten.

Hamlin marschierte auf die Telefonzelle mitten in der Eiswüste zu. Die Scheiben der Kabine waren beschlagen, jedoch nicht von Eiskristallen überzogen, wie man es vielleicht in der Realität erwartet hätte.

Er griff nach dem kühlen Plastik des Türgriffs und trat in den winzigen Raum der Kabine. Das Klingeln des Telefons war inzwischen zu einem lauten, unangenehm scheppernden Geräusch angewachsen.

Er hob den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr.

In diesem Augenblick endete die Metapher der Telefonzelle und ein leuchtendes Rechteck materialisierte vor seinen Augen, freischwebend.

Er bestätigte seinen Zugriffscode, und im nächsten Moment erblickte er auf dem Rechteck vor sich einen Raum, der im vorderen Bereich mit einem Schreibtisch möbliert war, auf dem sich kleine Häufchen von elektronischen Bauteilen und Werkzeugen zum typischen Arbeitsumfeld eines Nanotechnikers zusammenfügten. 

Im Hintergrund waren einfache Metallregale, vollgestopft mit elektronischen Geräten und Schrott sowie nackte Betonwände zu erkennen. Zwischen den Baumaterialien lag wie ein Fremdkörper eine schwere Pistole auf dem Schreibtisch. Als Hamlin die Szenerie in sich aufgenommen hatte, bewegte sich von der Seite das vertraute Gesicht von Josef in das Sichtfeld. Er trug wie immer seinen optischen Augmentor, seine kleine Elektrischka, wie er das Teil nannte. Das rührte wohl daher, dass das Gerät tatsächlich ein russisches Produkt war, sozusagen eine der wenigen nanotechnischen Errungenschaften der Ostrepubliken.

Josef sah gealtert aus, übernächtigt und ausgelaugt starrte er Hamlin aus tiefen Augenhöhlen entgegen.

»Hallo Ham«, sagte er und rang sich ein knappes Lächeln ab.

»Hi Josef. Alles okay mit dir? Du siehst fertig aus«, erwiderte er.

»Danke. Hast du jemanden als BackUp laufen?«

»Ja. Chill ist hier bei mir.«

»Chill? Gut zu hören.« 

Josef sandte ein weiteres schnelles Lächeln auf den schwebenden Schirm, das diesmal wohl für Chill bestimmt war.

»Schalt ihn ab.« Josef blicke wieder ernst drein.

»Aber … « Hamlin begriff nicht sofort.

»Schalt ihn ab, okay?«, erwiderte Josef, bestimmter jetzt. »Das hier müssen wir unter uns regeln, kannst ihm hinterher davon erzählen.« Josefs Blick richtete sich an Hamlins Kopf vorbei. »Hi Chill. Gut zu hören, dass es dir gut geht. Schätze, bei Ham bist du sicher. Wunderst dich wahrscheinlich, was der alte Mann hier so treibt. Tut mir leid, konnte dich bisher nicht einweihen. Das ... das ist eine lange Geschichte. Sorry.« 

Josef schien das Ganze ziemlich ernst zu sein.

»Wir sehen uns!« 

Dann wieder zu Hamlin gerichtet.

»Schalt ihn ab.«

Hamlin gehorchte und deaktivierte den BackUp-Kanal.