Allein
Ich lief einen schmalen Fußweg entlang. Mit meiner Plastiktüte in der Hand. Zwischen zwei Häuserblocks hindurch, die sich links und rechts von mir auftürmten wie Gebirgszüge. Ich ging schnell, meine eigenen Schritte hallten mir im Ohr. Ich ging ohne Ziel, als ob jemand hinter mir her wäre, einmal um den Block. Ich lief meiner Wut und den Tränen davon. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich an der Bushaltestelle nicht weit von unserem Haus ankam.
Es musste gegen Mitternacht gewesen sein. Ich war allein, kein Mensch weit und breit auf der Straße. Ich stellte die Tasche auf die Bank und sackte in mich zusammen, plötzlich waren meine Beine schwer, kaum aufrechthalten konnte ich mich noch. Alle Wut war verflogen, da war nur noch Leere, ein abgebranntes Feuer. Ich hatte Angst, sah nach rechts und sah nach links, setzte mich und wartete. Auf was? Finster war es, alles still. Jedes einzelne Blatt, das zu Boden fiel, konnte ich hören. Jetzt erst merkte ich, dass es nieselte. Die Straße glitzerte nass.
Ausgesetzt an der Bushaltestelle. Im Schein der Laterne spiegelte sich mein Gesicht im Plexiglas: Wer bin ich? 31 Jahre alt, drei Kinder, vor elf Jahren nach Hamburg gekommen, nichts außer den eigenen vier Wänden gesehen, kaum ein Wort Deutsch gelernt, fremd geblieben. Aber ich war frei. So frei, wie ich nie gewesen war. Ohne Kleider, ohne Geld und ohne Worte.
Der Spielplatz, den ich immer geliebt hatte, erschien mir wie eine öde Wüste, und die Kastanienbäume, die mir vertraut wie Freunde waren, wuchsen zu schwarzen Riesen. Ich zitterte. Aber da war niemand, der mich in eine Decke wickelte und einer Mutter auf den Bauch legte. Ich war ein Notfall, aber keiner wusste von mir, kein Mensch würde mich vermissen und nach mir suchen. Jetzt musste ich für mich alleine sorgen.
Ob die Kinder an mich gedacht hatten, als sie an diesem Abend eingeschlafen sind? Ich sehe sie vor mir, wie sie unter diesen bunten Acryldecken, die neuerdings zu Dutzenden auf dem Markt zu kaufen sind, liegen, alle drei aneinandergekuschelt. Amal mit ihrem Plüschhasen zwischen den beiden Jungs. Den Hasen dicht an die Nase gepresst, weil er den Geruch von allem, was sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat, verströmt.
Das Geräusch eines Autos, das durch Wasserpfützen fuhr, schreckte mich auf. Ob jetzt noch ein Bus fährt? Wenn einer käme, wohin sollte ich fahren? Oder sollte ich sitzen bleiben? Und wenn jemand vorbeikäme und mich fragte, ob ich Hilfe brauche, was sage ich? Ich habe Angst, unendliche Angst. Wenn ich jetzt verschwinden würde, kein Mensch würde es bemerken. Lieber nicht mehr leben als so ein Leben. Aber ich lebte doch für meine Kinder! Plötzlich riss mich ein dringendes Bedürfnis aus meiner Starre. Ich musste mal.
Karimah! Natürlich. Sie wohnte nicht weit von hier, 200 Meter vielleicht. Ihre roten Haare standen in alle Richtungen vom Kopf, und die dunklen Augen wurden noch größer als sonst, als sie erkannte, wer mitten in der Nacht vor ihr stand. Ich hatte sie aus dem Schlaf geklingelt. »Wo kommst du denn her?«, fragte sie. Das letzte Mal hatten wir uns im Frühjahr gesehen, als ich auf der Suche nach meinen Kindern nach Tunesien aufgebrochen war. »Ich dachte, du bist in Tunesien bei den Kindern. Was ist passiert?« – »Allah sei Dank, bin ich froh, dass du da bist«, stammelte ich. »Darf ich auf deine Toilette?« – »Komm rein. Wie siehst du aus? Bist ja ganz blau gefroren!« Ich schlüpfte hinein, hier war es warm, die Wohnung war mir vertraut, hier kannte ich mich aus. So heimelig, sogar die Gardinen vor den Fenstern.
Karimahs Kinder schliefen, der Mann auch. »Komm her, wärm dich auf bei uns«, sagte sie. Ob sie wusste, wie gut mir das tat? Ohne viel zu fragen, legte sie mir eine Decke über die Schultern und kochte starken Kaffee, den sie mit vielen Löffeln Zucker süßte. Ich streckte meine Finger über der warmen Herdplatte aus und fing an zu erzählen. Von der Scheidung und von den Kindern, die bei Abdullahs Bruder wohnten. Ich erzählte, wie ich sie gleich nach meiner Ankunft in Tunesien besucht hatte. »Seither nicht mehr.« Weil ich Angst hatte, dass Abdullah sie sonst woanders verstecken würde. »In Tunesien konnte ich nichts mehr tun, deshalb bin ich hierhergekommen. Ich will nach einer Arbeit suchen und später die Kinder zu mir holen.« – »Mutig von dir. Wolltest du nicht zurück zu deinen Eltern?« – »Nein, dort konnte ich nicht länger bleiben. Wozu? Auch wenn ich noch nicht weiß wie, aber ich will für das Sorgerecht kämpfen.«
Ich erzählte Karimah von meinem Besuch bei Abdullah und wie ich ihn und die Algerierin auf meinen Kleidern hatte sitzenlassen. »Seine Augen hätte ich sehen wollen«, lachte meine Freundin plötzlich. Ein befreiendes Lachen wie damals auf dem Spielplatz, als wir über unsere blauen Flecke lachten. Für einen kurzen Moment stimmte ich mit ein. Ich hatte zwar nicht erreicht, was ich wollte, mich aber doch tapfer geschlagen. Wir setzten uns an den Küchentisch, auf dem eine Stoffdecke mit Sonnenblumen lag. Schön, dachte ich und war auf einmal unendlich müde. »Es ist schrecklich, allein auf der Straße zu stehen und nicht zu wissen wohin.« – »Du Arme, und jetzt bist du bei uns gelandet. Bleib eine Weile. Du kannst hier schlafen.« Karimah war ein Engel.
Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Die Kinder waren schon in der Schule. Karimah hatte schon mit ihrem Mann gesprochen und machte mir den Vorschlag, ein paar Tage zu bleiben. Es würde sich dann schon irgendetwas ergeben. Das hoffte ich auch. Aber als ich nach dem Frühstück die Gardine des Küchenfensters zur Seite schob und all die bekannten Wege sah, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich war da und meine Kinder nicht. Ich öffnete das Fenster und sog die Luft ein. Da durchfuhr es mich auf einmal kalt. Mir war, als würde ich die Stimmen meiner Lieben vom nahen Spielplatz hören. Ganz deutlich. Aber das kann doch nicht sein! Auch Karimahs Kinder hörte ich, lachend mit meinen zusammen, wie ich sie früher oft gehört hatte. Unverwechselbar das zarte Kichern von Amal und das schelmische Hohoho von Jasin. Ich beugte mich hinaus, es war kühl, und der Wind blies mir ins Gesicht. Da sah ich einen Jungen in einem rotweißen Fußball-Shirt um die Ecke biegen und hatte plötzlich Amin vor Augen. Und wie aus dem Nichts tauchten neben ihm Amal und Jasin auf. Alle drei ein Eis in der Hand. Capri-Sonne, was sie so gern aßen.
Phantasiere ich? Bin ich verrückt? Oder hat Abdullah die Kinder hergeholt? Das halt ich nicht aus. Ich sehe sie doch ganz genau: dort auf der Straße, Jasin mit dem Roller. Ich will den dreien etwas zurufen: Halt, woher kommt ihr? Aber da sind sie schon wieder verschwunden, wie in Luft aufgelöst. Alles pure Einbildung.
Meine Kopfschmerzen wurden heftiger. Und als gegen Mittag Karimahs Kinder in die Wohnung stürmten und nach Jasin, Amin und Amal fragten, fiel es mir schwer zu antworten. »Warum kommt Jasin nicht zurück? Will er nicht mehr nach Deutschland kommen? Will er nicht seine Mama sehen?« – »Ja, doch, natürlich!« Ihre Fragen trafen mich wie Nadelstiche. Schlimmer noch als die Bilder. Das hielt ich nicht aus, ich hätte erst gar nicht nach Harburg kommen sollen. Die Kinder sind nicht hier, ich muss das akzeptieren. Muss weg von hier, wo mich alles an meine Lieben erinnert. Muss weg, wenn ich nicht verrückt werden will. In ein anderes Stadtviertel, das ich nicht kenne.
Karimah wollte mir helfen und telefonierte herum, ich weiß nicht mit wem alles. Es dauerte ein paar Tage. Ich litt, hatte Kopfschmerzen, und sobald ich auf die Straße ging, hörte ich Stimmen. Auf Schritt und Tritt verfolgten sie mich. Dann traf ich die Menschen in den Geschäften, die ich vom Sehen kannte, und mich überkam dieses Allen-geht-es-besser-als-mir-Gefühl. Unerträglich. Doch eines Vormittags hielt ich die Adresse einer Frauenberatungsstelle in der Hand. Karimah hatte sie mir über eine Freundin besorgt. Dort würde man mir weiterhelfen. »Kommst du mit?«, bat ich sie. Ich sprach kaum ein Wort Deutsch, konnte nicht einen Buchstaben lesen und traute mich nicht, alleine Bus oder U-Bahn zu fahren. »Du wirst jetzt lernen müssen, selbständig zu sein«, sagte sie. Ich wusste nicht, wie recht sie damit hatte. Noch am selben Tag fing ich damit an.
Ein schöner Tag im Frühherbst, an dem das Licht milchig ist und die Spinnennetze in den Büschen wie silberne Spitze glitzern. Die Frau in der städtischen Beratungsstelle machte nicht viel Aufhebens, als wir kamen. Sie wollte nur das Allernotwendigste wissen. Meine Freundin sprach für mich, doch wenn sie eine Frage direkt an mich richtete, versuchte ich zu antworten. Zum ersten Mal musste ich mich auf Deutsch verständigen. Nein, mein Exmann würde mich nicht mehr aufnehmen, versuchte ich zu erklären, obwohl ich hier unter seiner Adresse gemeldet war. Ja, ich hatte Angst vor seinen Schlägen. Ja, die Kinder lebten entführt beim Onkel in Tunesien. Ja, ich wolle um sie und meinen Unterhalt kämpfen. Ja, ich wolle unbedingt arbeiten und Geld verdienen. »Wenn Sie damit einverstanden sind, melde ich Sie im Frauenhaus an«, sagte die Beraterin, »ein schönes Haus am Alsterkanal. Dort können Sie in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.«
Frauenhaus? Das kannte ich, vor Jahren hatte ich in einem solchen Haus schon ein paar Stunden verbracht und war dann doch wieder zu Abdullah zurückgekehrt. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich nickte. Während die Sozialarbeiterin telefonierte und nebenbei etwas auf einen Zettel notierte, verabschiedete sich Karimah.
»Geheim«, hat die Frau gesagt, als sie mir das Papier, auf dem die Adresse des Frauenhauses stand, in die Hand drückte. Das hieß, dass mich keiner in diesem Haus aufspüren konnte. Gut so. Minuten später fand ich mich auf der Straße wieder. In den Händen ein Fahrplan der U-Bahn und ein Stadtplan. Ich war allein und konnte gehen, wohin ich wollte. Ein Gefühl, das mich verunsicherte. Auch wenn ich es mir so oft gewünscht hatte, als ich in Hamburg-Harburg hinter der Gardine gestanden und auf die Straße gesehen hatte. Jetzt war es, als sei eine Wand verschwunden. Vor der ich Ewigkeiten gewartet hatte. Ein neues Leben lag vor mir, mein eigenes Leben, jeder Schritt auf dem Weg dorthin ein Wagnis.
Wäre ich ihn gegangen, wenn ich gewusst hätte, wie schwer er werden würde? Ohne Deutsch zu sprechen, ohne lesen und schreiben zu können? Wenn ich gewusst hätte, wie hilflos ich oft dastehen würde, wenn ich nicht nach dem Weg fragen konnte, wie ängstlich, wenn ich vorgegebenen Mustern folgen sollte, wie kraftaufwändig es sein würde, mir meine Defizite selbst einzugestehen und vor anderen zu verbergen? Ich ließ den Stadtplan zusammengefaltet, er nützte mir nichts. Mir war nicht einmal klar, wie herum ich ihn halten musste, geschweige denn, dass ich ihn hätte lesen können. Noch nie habe ich einen Stadtplan oder eine Landkarte gelesen.
Ich stand vor dem Hauptbahnhof. Okay, das hatte man mir gesagt. »Hier nehme ich die U2 Richtung Barmbek«, sagte ich laut vor mich hin. »Hauptbahnhof – Mundsburg«, auf dem Plan mit der U-Bahn hatte die Sozialarbeiterin die betreffende Bahn rot markiert. Nicht schwer. Vier Stationen nur bis Mundsburg, nicht einmal umsteigen. Trotzdem war mir schlecht vor Aufregung. Dauernd zog ich den Zettel mit der Adresse aus meiner Tasche und steckte ihn wieder ein. Ich fragte mich, was ich tun sollte, wenn ich das Haus nicht fand? Mich an die Polizei wenden? Meine Freundin anrufen? Ein paar Mark hatte ich noch.
Ich umklammerte meine Plastiktüte mit beiden Händen und sprach Leute an. Fragte sie nach dem Bahnsteig, einmal, zweimal, mindestens dreimal, in meinem holprigen Deutsch. Schilder konnte ich nicht lesen. Immer wieder vergewisserte ich mich, dass die U-Bahn auch wirklich nach Mundsburg fährt und auch wirklich dort anhält – vielen Dank, sagte ich. Die Leute dachten wahrscheinlich, ich käme vom Mond. Ich schwitzte vor Anspannung, der Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich endlich in der U-Bahn stand. In der richtigen. Mich zu setzen traute ich mich nicht. Damit ich auch ja rechtzeitig wieder aussteigen konnte. Meine Hände zitterten. Ich verschränkte die Finger und drückte sie, bis die Knöchel weiß wurden. Eins, zwei, drei, vier Haltestellen. Dann stieg ich aus.
An eine riesige Kreuzung erinnere ich mich, vier Straßen, die in vier verschiedene Richtungen abgehen. Natürlich stand dort nirgends der Name der Straße, in dem sich das Frauenhaus befand. Ich kam mir vor wie auf einem Blindflug. »Alsterkanal, wo Alsterkanal?«, sprach ich willkürlich ein paar Leute an, die vor einer Fußgängerampel warteten. Sie zuckten mit den Achseln. So durfte ich nicht fragen, das brachte gar nichts. Beim zweiten Versuch zeigte ich auf den Stadtplan in meiner Hand. Das war schon besser. Die Sozialarbeiterin hatte mein Ziel mit einem roten Kreis markiert. Sogleich vertiefte sich ein älterer Herr mit Brille in den Plan und versuchte mir zu erklären: die Straße auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung hinunter, dann die zweite rechts. »Ganz einfach«, sagte er und wünschte mir Glück. Ich sprang los, die Ampel war rot. »Halt, stopp«, hörte ich es hinter mir rufen, aber da war ich schon auf der anderen Seite.
Dort blieb ich stehen, als hätte mich das »Stopp« erst jetzt eingeholt. Erneut schaute ich mich nach jemandem um, den ich fragen und der mir helfen könnte. Vier- oder fünfmal bat ich um Hilfe, das letzte Mal 50 Meter vor dem Haus. Ich war völlig auf mein Ziel fixiert und sah nicht das Altersheim in der Nachbarschaft, auch nicht den Kindergarten mit den tobenden Kindern im Garten, ich hatte keine Augen für die alten Platanen, die den Schotterweg entlang des Alsterkanals säumten, und hörte nicht die Elstern, wie sie auf den umliegenden Hausdächern krakeelten. Jeder, den ich nach dem Weg fragte, wies mit der Hand in die gleiche Richtung und sagte: »Immer geradeaus, ist nicht mehr weit.« Ich brauchte diese permanente Bestätigung. Wie eine Fledermaus, die sich an ihrem Echo orientiert.
Aber als ich durch ein grünes, mächtiges Eisentor in einer Mauer trat und mich in einem verwilderten Garten wiederfand, war ich stolz und erleichtert: das Frauenhaus. Ich war allein einen Weg gegangen und hatte so viel hinter mir gelassen.