Mein neuer Job

Am Spätnachmittag kam er wieder. Allein. Wie warm es noch war, vor dem Haus fielen die Ranken der Bougainvilleen wie Schleppen von der hohen, weißen Mauer, die den Garten gegen die Straße hin abgrenzte. Die Feigen waren reif, und von den Dattelpalmen hingen lange Früchtetrauben. Von weitem schon sah ich sein Auto die sandige Straße entlangkommen. Die ganzen Stunden vorher hatte ich nicht gewusst, was ich mit mir anfangen sollte. Nervös war ich, lief in einem fort raus in den Garten und wieder zurück ins Haus. Ich hängte Wäsche auf die Wäschespinne, putzte Gemüse, zog die Wäsche gerade, nahm sie wieder ab. Ohne dass es mir bewusst war, hatte ich auf ihn gewartet. Und als ich das rote Auto sah, wusste ich sofort, dass es seines war, so viele gab es damals nicht in unserer Straße. Ich bückte mich und sammelte hektisch ein paar Granatäpfel auf, die auf dem Gartenboden zerplatzt und blutrot aufgesprungen waren.

Er fuhr nicht schnell, Staub wirbelte das Auto trotzdem auf. Als es vor dem Tor hielt, warf ich die Granatäpfel wieder unter den Baum und lief ins Haus. Schicksalsergeben. Durch die Windschutzscheibe hatte ich nur wenig von dem Mann erkennen können. Dunkelblauer Sakko, weißes Hemd, herausgeputzt. Vielleicht würde alles gar nicht so schlimm kommen, beruhigte ich mich, ich musste nur alles richtig machen. Ich lief in die Küche zur Mutter, die teilnahmslos am Herd saß. Seit Jahren war sie nicht aus dem Haus gegangen. Sie sei krank, hieß es, aber was für eine Krankheit das sein sollte, wusste keiner. Sie interessierte sich für nichts und niemanden und konnte sich nur wenig merken. Manchmal schloss sie sich stundenlang im Schlafzimmer ein, immer wieder schaffte sie es nicht einmal, das Mittagessen zu kochen. Wenn der Vater dann mittags aus seiner Polizeistation nach Hause kam, gab es meistens Streit und wüste Beschimpfungen.

Jetzt nickte die Mutter nur, als ich sie fragte, ob ich ein frisches Kleid anziehen solle. Auch wenn ich nicht wusste, wer er war, gefallen wollte ich dem Bräutigam schon. »Das rote Kleid mit weiß- und lilafarbenem Blümchenaufdruck, kurze Volantärmel, ein Baumwollfähnchen?«, fragte ich. »Ja«, sagte die Mutter, da rief der Vater schon aus dem Wohnzimmer nach ihr. Was wollte er? Ihr Einverständnis zum zukünftigen Schwiegersohn? Nein. »Geh und hol Esma«, befahl er, so verlangte es die Sitte, so war die Hierarchie. »Geh, und widersprich deinem Vater nicht«, sagte die Mutter zu mir und setzte mit leerem Blick Teewasser auf.

Ich schaute sie mit einer Mischung aus Trotz und Hilflosigkeit an. Warum sagt sie nichts? Wieso bereitet sie mich nicht auf das vor, was auf mich zukommen wird? Eine Mutter muss das doch wissen. Ist es so furchtbar, dass sie nicht darüber sprechen will? Oder bin ich ihr so egal, dass sie es nicht für nötig hält, mich aufzuklären? Lauter Fragen, die ich nicht stellte.

Ich wollte nicht von ihr weggehen, trotzdem bewegte ich mich. Gerade, steif und langsam, auf meinen Herzschlag horchend. Als ich die Tür zum Wohnzimmer hinter mir zuzog, zitterte ich. Ich war wie unter einer Glasglocke, die Geräusche um mich herum verschwammen zu einem unverständlichen Gemurmel. Eine blauschwarze Feige lag auf dem Tisch. Hatte der unbekannte Mann sie im Garten gepflückt und hereingebracht? Ich sah auf und richtete meinen Blick geradewegs auf ihn: groß und hager, sehr hager. Ein Berber, schlaksiger dunkelhäutiger Typ mit schmalen Schultern und langem Hals, den vorstehenden Adamsapfel verdeckte der große weiße Hemdkragen nur wenig. So hager, dass ich meinte, seine Rippenknochen durch den Anzug sehen zu können. Er roch nach Tabak und Zigaretten, aber schlecht sah er wirklich nicht aus.

An seinem linken Handgelenk hatte er eine kleine Tasche hängen, die er unmerklich an der Schlaufe hin und her schaukelte. Darauf starrte ich nun, bloß nicht in seine Augen schauen, und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Ich streckte meine Hand aus, er die seine. Wir sagten »Bonjour« auf Französisch, nicht auf Arabisch. Dann schüttelte er meine Hand: »Du bist also Esma?« – »Ja«, antwortete ich laut. Drehte mich aber sofort wieder um und lief weg, zurück in die Küche. Schnell, nichts weiter. Eine ordentlich erzogene Frau spricht leise, schlägt die Augen nieder und stellt keine Fragen.

Das war also »mein neuer Job, der so gut zu mir passte«. Ich hätte es mir denken können. Zu etwas anderem als zur Ehefrau taugte ich nicht. »Und?«, fragte die kleine Schwester, die am Wäschewaschen war. Ich fühlte mich ausgelaugt und leer, so als ob ich den ganzen Tag nichts gegessen hätte. »Na ja, nicht schlecht, ziemlich knochig, nichts Besonderes«, antwortete ich. – »Und die grünen Augen?« – »Grüne Augen habe ich nicht gesehen.« – »Ist er nett?« – »Ja klar«, reagierte ich zaudernd, »er zeigt sich von seiner besten Seite.« Mir schwindelte, ich fühlte mich wie ein einziger gleichgültiger Brei, alles hätte man mit mir machen können. Ich setzte mich neben meine Mutter und schwieg. Wie früher in der Schule, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Einfach wegtauchen.

Mit Abdullah habe ich an diesem Tag nicht mehr gesprochen, auch mit meinem Vater nicht. Er sagte nur zwei Sätze: »Samstag kommt der Notar. Wir werden die Verwandten und Nachbarn einladen.« Streng und lieblos wie immer. Abdullah kam auch am nächsten Tag, am Mittwoch und am Donnerstag und am Freitag wieder. Jeden Tag, ich war nun jedes Mal zu Hause und sah ihn meistens kurz. Viel miteinander geredet haben wir nicht. Organisatorisches. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Er war mein Schicksal, das ich hinnahm, ich hatte nicht gelernt, mir selbständig Gedanken zu machen oder Wünsche zu äußern. Der Vater würde mir schon den richtigen Mann ausgesucht haben. Irgendeiner hatte es ja sein müssen. Nun war es eben dieser unbekannte Hagere, dem ich Kinder gebären und eine gute Hausfrau sein sollte. Es kam mir nicht in den Sinn, mich dagegen aufzulehnen.

Abdullah brachte jeden Tag neue Dinge für das bevorstehende Fest. Unmengen von Obst und Gemüse, er schleppte Fleisch und zum Schluss noch Kuchen an. Das war er seiner Ehre schuldig. An seinem Hochzeitstag wollte er großzügig sein. Je freigiebiger er sich zeigte, desto männlicher und wohlhabender schien er. Zeigen, was man hat, darum geht es bei einer Hochzeit. Abdullah hatte es immer sehr eilig, lange blieb er nie. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er sich wirklich für mich interessierte. Er sagte wenig, stellte keine Fragen. Ich auch nicht, dabei hätte ich gerne von ihm gewusst, wo und wie er in Deutschland lebte, was er arbeitete. Wenn er mir wenigstens eine Postkarte mitgebracht hätte.

Die Vorbereitungen für das Fest waren in vollem Gange. Es waren schweigsame Tage, ich backte und kochte und hatte weder Erwartungen noch Hoffnungen. Nur Ängste. Wenn ich fühlte, wie sie sich breitmachten, begann ich meinen Körper hin und her zu wiegen wie beim Tanzen und von einem orientalischen Prinzen zu träumen, der auf einem fliegenden Pferd heranrauschen, mich zu sich auf den Sattel heben und wieder in die Lüfte steigen würde. Immer höher. Bis wir zusammen verschwinden.

Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Samstag einfach übersprungen wie ein Stein, der, flach ins Wasser geworfen, hohe Bögen hüpft. Doch der Samstag kam, gnadenlos, ein frostiger Tag und zu kalt für die Jahreszeit. Früh um halb sieben war es neblig, es dämmerte, als ich durch das große Tor in der weißen Mauer raus auf die Straße lief. Zur Friseurin ein paar Häuser weiter, sie sollte mir die langen Haare kürzen und hochstecken. Das Kleid, das ich anziehen würde, hatte ich über den Arm gelegt. Kein neu gekauftes, aber ein weißes Kleid. Es war zu weit, zwei Schwestern vor mir hatten es schon getragen, aber es war gut genug.

»Wie geht’s?«, fragte die Nachbarin, ein paar Jahre älter als ich und schon Mutter von drei Kindern. – »Weiß nicht.« – »Geht uns allen so, wir wissen nichts«, entgegnete sie gähnend, sie hatte noch nicht ausgeschlafen. Doch dann feuchtete sie mein Haar mit einem nassen Tuch an, bürstete es glatt und steckte es mit ein paar Klammern am Kopf fest. »Wir Frauen tun, was man uns sagt«, meinte sie. »Wir sind unselbständig, aber das hat auch Vorteile. Die Männer regeln alles, wir müssen uns um nichts kümmern. Sei froh, du bekommst einen reichen Mann, der kann dir alles kaufen, was du willst, und er holt dich raus aus unserem armseligen Kaff.« – »Ich will nicht weg.« – »Deutschland, habe ich gehört, soll ein Paradies sein.« – »Ich will aber hier bleiben.« – »Sei nicht dumm, andere Mädchen wären froh darüber.« – »Gibt es in Deutschland Palmen?« – »Weiß nicht, aber ich habe gehört, dass es dort kalt ist und schneit.« Schnee – darunter konnte ich mir nur wenig vorstellen.

Als die Friseurin fertig war, schlüpfte ich in mein Kleid und strich die Ärmel glatt. Die Nachbarin zupfte überall ein wenig herum, dann nahm sie einen Lippenstift und malte mir über die Lippen. Geld hat er, dachte ich. Das ist es doch, was sich alle Mädchen wünschen. Ich würde es kriegen. Nicht schlecht, ich werde einen Mann bekommen, der mir Schmuck und Kleider kaufen kann, wann immer ich Lust darauf habe. Oder Schokolade, Autos, Häuser, Badewannen. Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet. Meine Kinder würden die schönsten Kleider der Stadt tragen, und ich würde eine stolze Mutter sein. Ist der Mann denn da so wichtig? Über kurz oder lang hätte ich sowieso einen nehmen müssen. Meiner hat wenigstens Geld.

»Freust du dich?«, fragte die Nachbarin mitten in meine Gedanken hinein und drückte mir einen weißen Kranz ins Haar. »Weiß nicht«, gab ich noch einmal zur Antwort, aber dann lachte ich zum ersten Mal in dieser Woche.

Zu Hause war Abdullah inzwischen mit seiner Familie eingetroffen. Mutter, Vater und Geschwister, die ich nicht kannte. Er stellte sie mir vor, aber ich konnte mir ihre Namen nicht merken. Ich gab ihnen die Hand, grüßte und verschwand in unserem Kinderzimmer. Bis man mich rief, so war es Sitte. Wieder wurde die Mutter geschickt, mich zu holen. Selten war mein Wunsch, mit ihr zu sprechen, größer als in diesem Moment. Ich nahm sie an der Hand wie ein kleines Kind, ging mit ihr durch den dunklen Hausflur. Ließ sie los und folgte ihr in die Küche. Dort warf ich einen Blick in den Rasierspiegel meines Vaters, der über der Spüle hing. Meine Mutter stand hinter mir. Sie sagte mir nicht, was ich zu tun habe, nicht, wie ich mich verhalten soll. Nicht einmal, ob’s gut werden würde oder nicht, sondern nur einen einzigen Satz: »Ich weiß, dass du nicht willst, aber das wird dir nichts nützen.«

Das war ihre Art von Mitleid. Sie hatte abgeschlossen und ließ das Leben an sich vorbeilaufen wie einen Film, kümmerte sich um nichts. Nur manchmal, wenn der Vater sehr brutal geworden war und seine Kinder grün und blau geprügelt hatte, war sie dazwischengesprungen. Doch dann hatte der Vater sie gepackt, und sie bekam den Rest. An ihren schönen langen, schwarzen Haaren schleuderte er sie durch die Küche. Wir Kinder standen hilflos herum und sahen zu. Mit schlechtem Gewissen. Wir mussten zusehen, konnten gar nicht anders, ohne ihr zu helfen.

Ich wusste nicht, ob meine Mutter sich an diesem Tag für mich freute oder traurig war. Sie war da, nur da, wie eine Pflanze. Ich verstand sie nicht, sie mich wahrscheinlich auch nicht. Und eigentlich tat sie mir leid, weil sie keine Möglichkeit hatte, aus diesem schrecklichen Leben abzuhauen. Ich hatte die Chance, jetzt, ich musste sie nur nutzen. In Deutschland vielleicht? Aber das sollte noch lange Jahre dauern.

Ich ging ohne Schleier zur Hochzeit, das war in unserer Familie nicht üblich. Barfuß, nur in meinem weißen Kleid lief ich jetzt ins Wohnzimmer. Ohne darauf zu achten, ob die Mutter mir hinterherkommen würde. In der Ecke neben dem Fenster hatte jemand zwei Sessel aufgestellt und einen blassgelben Vorhangstoff darübergeworfen. Ein Extraplatz für das Brautpaar.

Der Notar war da. Mit dem Vater breitete er Papiere und unsere Ausweise auf dem Tisch aus. Im Kassettenrecorder lief Musik, Folklore. Es roch nach Minze, womit den Gästen Tee aufgebrüht worden war. Durch das Fenster, das bis zum Boden reichte, sah ich, wie sich giftig-rosa Streifen des Morgenrots über den Himmel zogen. Fast alle waren versammelt, Zeugen, Geschwister, Onkel und Tanten, auch ein paar Frauen aus der Nachbarschaft. Keine Freunde. Freundinnen hatte ich keine, woher auch. Nachdem ich die Schule abgebrochen hatte, war ich kaum mehr aus dem Haus gekommen. Familie und Verwandtschaft, das war wichtig. Ohne Familie zu sein wäre in Tunesien so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann. Für Freundinnen ist kein Platz.

Der Vater befahl mich mit einer forschen Handbewegung an den Tisch. Der Bräutigam und die Trauzeugen, zwei seiner Geschwister, schauten mir entgegen. Mund zu, schlucken und lächeln, dachte ich, so hatte ich es gelernt. Wer nicht gehorcht, wird verstoßen.

Abdullah trug seinen dunkelblauen Anzug wie vor ein paar Tagen schon, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Er überzog mich mit einem abschätzenden Blick. Was wohl in seinem Kopf vorging? Seine hellen Augen waren wässerig und unergründlich. Wenn er wenigstens nett zu mir wäre. Und wieder ratterte die Maschinerie meiner stummen Selbstbefragung los. Ist er mein Märchenprinz? Begehrt er mich? Bin ich die Frau, die er auf Händen tragen und mit der er glücklich werden will? Sein Blick blieb kalt.

Der Notar, ein beleibter Herr mit Oberlippenbärtchen, drängte. Jemand musste den Kassettenrecorder ausmachen, er wollte keine Zeit verlieren. Ich kannte die Zeremonie von meinen zwei großen Schwestern. Ohne lange Einleitung begann der Mann die üblichen Fragen zu stellen: Ob Abdullah seine zukünftige Frau gut behandeln werde und welche Morgengabe er zu zahlen gedenke? Das gute Behandeln muss er vor Allah beschwören, die Morgengabe besteht beim zivilen Trauungsakt aus ein paar symbolischen Dinaren. Natürlich schwor Abdullah bei Allah, er gab auch die Dinare. Beiläufig, so als ob er seine Zigaretten am Kiosk bezahlen würde. Dann fragte der Notar mich, ob ich meinen zukünftigen Mann schon kenne. Ich hätte gerne nein gesagt, stattdessen nickte ich jedoch gehorsam. Noch immer blickte ich auf Abdullah, doch er hatte sich zur Seite gedreht.

Es wurden die Zeugen gefragt, ob sie mit der Ehe einverstanden seien, auch sie bejahten. Nach einer kurzen Pause schlug der Notar ein zerschlissenes Heft auf, das er vor sich liegen hatte, und begann seinen Text herunterzuleiern: » … In Gottes Namen werden wir heute die beiden hier Anwesenden mit Erlaubnis des Vaters und unter Zeugen einander zu Mann und Frau geben.« Er las die Sätze laut vor, alle nickten, alle waren einverstanden, alle glücklich, alle unterschrieben, und das war es dann.

Die Musik wurde wieder bis zum Anschlag aufgedreht. Die Männer klopften sich auf die Schultern, und die Frauen stießen ihren Triller aus: Jujujuju. Dann umarmten und küssten sie den Bräutigam und beglückwünschten ihn: »Deine Frau soll dir Glück bringen.« Der Handel war getätigt. Ich wurde weder geküsst noch beglückwünscht. Unauffällig schlich ich mich in die Ecke des Wohnzimmers, in der die Frauen sich versammelt hatten, und hatte das Gefühl, mit der ganzen Sache wenig zu tun zu haben. Sie schnatterten und erzählten von ihren eigenen Hochzeiten, keine richtete ein Wort an mich.

Sogar an einen Fotografen hatte mein Vater gedacht und einen Mann mit Fotoapparat bestellt. Kaum hatte ich mich zurückgezogen, fing der Vater an zu dirigieren, wer sich wo hinzustellen und was zu tun habe. Das frisch vermählte Paar sollte in den beiden vorbereiteten Sesseln Platz nehmen: Ich in Weiß und Abdullah in Blau, er lässig, die Beine übereinandergeschlagen, ich kerzengerade, Blick nach innen. So nah waren wir uns die ganze Woche über noch nicht gekommen. Die Männer und Frauen standen im Halbkreis um uns herum. »Freundlich lächeln«, ging es mir durch den Kopf, »ich muss das Beste draus machen und mich heute an der Abwechslung freuen.« Da wurde auch schon geknipst, ich zog meine Mundwinkel nach oben, die Kinder bekamen Bonbons, und die Frauen riefen wieder ihr schrilles Juju.

Wie die Geier fielen die Familienmitglieder und Nachbarn nun über das Essen her, das meine Mutter und ein paar Nachbarinnen aus der Küche anbrachten. Man verschlang Berge von Marka, Couscous, Fleisch, Gemüse, Salaten und Kuchen. Drei Schafe wurden aufgetischt: Der edle Spender und Bräutigam konnte sich sehen lassen, das bekam nicht jede Frau zur standesamtlichen Trauung. Sogar ich aß ordentlich viel und prostete Abdullah schüchtern mit dem Teeglas zu. Als später die Frauen ihre Trommeln holten, tanzte ich mir die Seele aus dem Leib. Ich wollte mich freuen. Wenn ich gewusst hätte, dass es der Anfang einer langen Leidenszeit werden würde, hätte ich noch mehr getanzt.

Das Fest dauerte bis zum frühen Abend, ich war die ganze Zeit in der Frauenecke geblieben, Abdullah mit den Männern in der anderen. Normalerweise feiern Männer und Frauen in getrennten Häusern, da der Bräutigam aber kein Haus in der Stadt besaß, war das große Haus meiner Familie ein Kompromiss.

Als gegen Abend die Schüsseln geleert waren, verabschiedete sich Abdullahs Familie, er wollte sie nach Hause bringen. Da fasste ich mir ein Herz, stellte mich neben ihn und hörte mich fragen: »Kommst du noch einmal vorbei, bevor du nach Deutschland fährst?« – »Warum? Das habe ich nicht geplant.« – »Willst du mich nicht mehr sehen?« – »Doch!«, sagte er, aber das klang so gereizt, dass er genauso gut nein hätte sagen können. Ich spürte, dass ich nicht weiterfragen durfte.

Er hatte, was er wollte. Den Ehevertrag, auf mehr hatte er kein Recht. Ganz in Abdullahs Besitz würde ich erst nach der offiziellen Hochzeit übergehen. Bis dahin bleibt die Braut im Haus ihres Vaters. Der Bräutigam erledigt alle Formalitäten, besorgt Kleider und Schmuck, hat aber nicht das Recht, seine Angetraute anzurühren. »Ich werde dir aus Deutschland schreiben«, sagte er. Ob er wusste, dass ich ihm nicht antworten würde, weil ich kaum Lesen und Schreiben gelernt hatte?

Am Tag vor seiner Abreise nach Deutschland kam er doch noch einmal völlig unerwartet bei uns vorbei. Es war ruhig im Haus, so ruhig, dass die Straßengeräusche und die quäkende Musik aus den Radios der Obstverkäufer hereindrangen. Den Regen vom Vormittag konnte man noch riechen, es war der erste nach dem heißen Sommer. Ich öffnete Abdullah die Tür. Dieses Mal kam er nicht in Anzug und Krawatte, sondern in beigebraunen Gabardinehosen und einer grauen Trainingsjacke. Ich freute mich sogar, sagte keck: »Hallo, Bräutigam, bist du extra wegen mir gekommen?« Er lächelte, sagte ja, ging aber an mir vorbei: »Kann ich deinen Vater sprechen?« Er beachtete mich nicht weiter, sondern bat meinen Vater um Erlaubnis, mich zu einem Freund am anderen Ende der Stadt mitzunehmen. »Ich werde einen Kollegen besuchen, der mit mir in Deutschland arbeitet und jetzt in Tunesien ist.« Kein Ton zu mir, ob ich mitfahren möchte, nur an den Vater. – »Du weißt, dass sie dir erst richtig gehört, wenn ihr vor Allah geheiratet habt«, antwortete der. – »Ja, ich bin so stolz auf deine schöne Tochter.« – »Ich werde sie dir mitgeben unter der Bedingung, dass die jüngere Schwester mitfährt und aufpasst.«

Wir Mädchen wurden nicht gefragt, aber wir hatten auch nichts gegen einen Ausflug. Ich rannte hoch in meine Kammer und zog ein luftiges Sommerkleid an. Ich pfiff sogar vor mich hin. Dann fischte ich einen kleinen Handspiegel unter meinem Bett hervor, ich hatte ihn dort zusammen mit anderen Schätzen verwahrt. Und zum ersten Mal in meinem Leben umrahmte ich meine Augen mit einem dunklen Kajal. Ich wollte Abdullah schöne Augen machen und seinem Freund auch. Denn wenn mein Bräutigam erst mit mir angeben könnte, dann würde er mich vielleicht ein wenig freundlicher behandeln und ein paar Takte mit mir reden, schoss es mir durch den Kopf, als ich mich im Spiegel betrachtete.

Woher diese plötzliche Eingebung? Ich zuckte vor meinem Bild zurück, wie kam ich auf diese verrückte Idee? »Pass auf, sie kommt gleich raus«, hatte meine Großmutter immer gesagt, wenn ich mich als Kind im Spiegel betrachtet hatte. Das war eine Drohung. Meine Schwester grinste verschwörerisch, als ich endlich aus dem Haus kam. Sie stieg nach hinten ins Auto, ich hüpfte auf den Beifahrersitz. Abdullah, der noch mit dem Vater sprach, warf mir einen schrägen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

Er verabschiedete sich umständlich, dann startete er das Auto, fuhr los, und es war wie die Tage vorher. Er schwieg, es gab nichts zu besprechen. Ich schaute ihn von der Seite an. Permanent, penetrant, ich ließ keinen Blick von ihm, er starrte geradeaus. Plötzlich wurde mir übel. Ich biss mir auf die Lippen und legte mir die Hände beruhigend auf den Bauch. »Wann wirst du mich nach Deutschland holen?«, fragte ich. »Nächstes Jahr.« – »Im Frühjahr?« – »Weiß noch nicht.« – »Ist Deutschland weit weg?« – »Ja.« Es war keine Unterhaltung, Abdullahs Stimme klang gelangweilt. Dabei hätte ich gerne von ihm gehört, dass er mich schön findet und Sehnsucht nach mir hat. Mädchenträume eben.

Es muss vor einer Ampel gewesen sein. Unvermittelt, wie wenn man von einer Mücke gestochen wird, die man vorher weder gehört noch gesehen hat, beugte er sich plötzlich zu mir herüber, drückte seine Lippen auf meine Wange und griff mit seiner Hand zwischen meine Schenkel. So überraschend, dass ich aufschrie vor Schreck. So etwas hatte ich noch nie erlebt, ich wusste kaum, was ein Kuss ist. Nie war ich von meinen Eltern in den Arm genommen oder geküsst worden, ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern, auch von der Großmutter nicht.

»Nein!«, schrie ich. Ich kannte diesen Mann nicht, nur seine bis dahin gleichgültige Tour. Ich lehnte mich so weit wie möglich zum Autofenster hinaus, die feuchte Hitze schlug mir wie Moder entgegen. Ich wollte weg, er machte mir Angst. Die Ampel schaltete auf Grün, und Abdullah fuhr los wie ein Irrer, bremste jedoch gleich wieder mitten auf der Straße mit quietschenden Reifen ab. Er wollte es noch einmal wissen, riss mich mit Gewalt vom Fenster weg und küsste mich – was heißt küsste –, er drückte mir zum zweiten Mal seine Lippen mitsamt Zähnen ins Gesicht. »Lass mich«, rief ich voller Panik. Wenn der Vater das erfahren würde, würde er mir nicht nur Vorwürfe machen, sondern mich windelweich hauen. Es wäre die Hölle, denn ich bin schuld, obwohl ich doch nichts dafür kann. »Was stellst du dich so an?«, brüllte Abdullah. »Kleines Biest.« Meine Schwester hinten im Auto machte keinen Mucks, aber ich schrie laut, so laut, dass es die ganze Straße hörte: »Hol dich der Teufel.«

Da startete Abdullah wieder durch, den Gang hatte er sowieso nicht herausgenommen, trat mit voller Wucht aufs Gas: »Was fällt dir ein, dich deinem Mann zu verweigern?«, tobte er. »Du wagst es, mich zu beschimpfen und mich vor allen Leuten lächerlich zu machen? Warte nur, bis wir erst richtig verheiratet sind, mach dich auf alles gefasst.« Dann holte er zum Schlag aus, ich nahm meinen Kopf zwischen beide Arme und duckte mich. Doch Abdullah erwischte nicht mich, sondern drosch mit seiner flachen Hand auf das Lenkrad ein. Vier-, fünfmal: »Das werde ich nicht dulden«, schrie er. »Wenn wir erst verheiratet sind, wird dir dein Rumgezicke schon vergehen.« Und plötzlich sehr leise: »Ich werde dich kleinkriegen, verlass dich drauf.« Ich rutschte vom Sitz und kauerte mich zusammen, heulend, ein Nichts, da, um geschlagen, getreten, gezogen, geschoben und gewürgt zu werden. Eine halbe Stunde später lieferte Abdullah meine Schwester und mich wieder beim Vater ab. Mein Bräutigam sagte keinen Ton, ich auch nicht. Sein Tobsuchtsanfall war ein Vorgeschmack auf das, was mich erwarten würde. Am nächsten Tag fuhr er zurück nach Deutschland. Ich versuchte, ihn zu vergessen.

Loewenmutter
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