Unter Frauen

Ein Haus am Alsterkanal, ein großer Garten mit Bäumen und Büschen, die sich rot und gelb färbten, eine Villa aus warmem roten Backstein, dahinter ragte ein hoher, stillgelegter Fabrikschornstein in den Himmel. Meine neue Welt. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich frei. Das Eisentor, umrankt von Rosenbüschen, das klingt sehr kitschig, aber es kam mir vor wie im Märchen: das Tor zu meiner Freiheit. Ich war zu Hause, angekommen in Hamburg-Mundsburg. Ein unbeschreibliches Gefühl, das ich nie gekannt hatte, auch nicht in Tunesien.

Es war Nachmittag, alle Türen, auch die Eingangstür standen weit offen. Duftschwaden von Kaffee und Kräutertee, säuerlicher Hibiskus, zogen durch den Raum, und es roch nach süßem Kuchen. Wie lange hatte ich keinen deutschen Kuchen gegessen, dabei liebte ich ihn seit meiner Zeit in der Bäckerei. Die Frauen saßen an einem langen alten Tisch beim Nachmittagskaffee. Wie in einer Schulklasse schwirrten die Stimmen durcheinander. Ich trat über zwei hohe Stufen in eine geräumige Eingangshalle, das Wohnzimmer. Alle anderen Räume und Flure des Hauses gingen davon ab. Da hörte ich schon jemanden »die Neue« sagen und spürte, wie sich alle Augen auf mich richteten. Das verschüchterte mich komischerweise gar nicht. Im Gegenteil, es war wie ein Auftritt. Nach meiner ersten Hamburger Wegstrecke, die ich gerade hinter mich gebracht hatte, genoss ich die Blicke der Frauen sogar.

Ich weiß noch genau, was ich an diesem Tag trug: eine rosa Stoffhose und eine schwarze ärmellose Bluse. Die schwarze Jacke hatte ich mir lässig über die Schultern geworfen, meine langen, offenen Haare reichten bis zur Taille und waren ziemlich wild. Ich fühlte mich gut, richtete mich auf und erwiderte ihre Blicke: Das waren also die Frauen, die von ihren Männern verfolgt wurden, die schwanger waren oder Kinder hatten, ohne Job und ohne Wohnung waren. Hier fanden sie Hilfe. Ich zählte 18, Ausländerinnen und Deutsche, Junge und Alte. An einem versteckten Ort, der ganz offen auf mich wirkte.

Eine Frau, sie mochte ungefähr in meinem Alter sein, erhob sich. Blonder Strubbelkopf, kurzes Kleid. Sie ging mir entgegen. »Frau Abdelhamid?«, fragte sie, worauf ich nickte. »Schön, dass Sie da sind. Haben Sie uns gleich gefunden?« Wie ein Kind lachte ich mich über meine Verlegenheit hinweg: »Ich glaube – sehr langer Weg. Länger als normal.« – »Was ist schon normal?«, sagte sie. »Aber jetzt sind Sie hier, das ist das Wichtigste.« Sie konnte nicht wissen, dass ich mich wie eine Bergsteigerin fühlte, die oben am Gipfelkreuz angelangt war. »Ich bin Anja, Betreuerin und Sozialpädagogin«, stellte sie sich vor. »Wenn Sie wollen, können wir gleich ins Büro gehen.« – »Nein, nein«, wehrte ich ab und sagte, dass ich gerne hier am Tisch sitzen und Tee trinken würde. Und Kuchen essen, Quarkhörnchen, die besten in ganz Hamburg.

Ohne mich weiter zu beachten, wandten sich die Frauen wieder ihrer Unterhaltung zu. Es tat mir gut, dass sie mich in Ruhe ließen. Ich hätte auch nichts zu sagen gewusst, mir war nicht nach Sprechen zumute. Abgesehen davon, dass ich es kaum konnte. Also setzte ich mich auf einen freien Stuhl, beobachtete und schwieg.

Frauen unter sich. Sie waren entspannt, die eine oder andere hatte sogar ihre Knie angezogen und die Füße lässig auf den Stuhl gestellt. Ich verstand nicht viel von dem, was sie sagten, aber sie lachten. Vielleicht sprachen sie über ihre Träume oder machten sich über ihre Männer lustig, keine Ahnung. Wie eine Familie, dachte ich, alle zusammen. So eine Familie, wie ich sie mir immer gewünscht hatte.

Als mich Anja später mit ins Büro nahm, fiel mir zuerst die Fensterbank auf. Voller Pflanzen. Kakteen, Geranien, Begonien, Wasserlilien. Gemütlich. Auf dem Weg hierher hatte ich mir überlegt, was man wohl von mir wissen wollte und was man mich fragen würde. Aber Anja wollte gar nicht viel wissen. Die erste Frage, die sie mir stellte, war: »Können wir uns duzen? Wir sagen alle du.« Dann nahm sie meine Daten auf und fragte, ob ich mir vorstellen könne hierzubleiben. »Ja, ja«, sagte ich. »Ich will – will bleiben – schön hier.« – »Warten wir erst einmal ein paar Tage ab«, antwortete sie.

Die Tür zum Büro stand sperrangelweit offen. Unser Gespräch hatte nichts Geheimes, dauernd wurden wir unterbrochen, weil irgendjemand hereinkam und etwas suchte oder wissen sollte. Hier brauchte sich keiner zu genieren. Ich war verwundert, Anja schien es zu merken. »Die Frauen hier haben viel durchgemacht und nichts mehr zu verbergen«, sagte sie. »Aber nun zeige ich dir erst mal das Haus und stelle dir ein paar Mitbewohnerinnen vor, diejenigen, die zur Zeit da sind, das ändert sich dauernd. Trotzdem sind wir so etwas wie eine große Wohngemeinschaft. Mit viel Spielraum, aber auch mit klaren Regeln.«

Die Führung durchs Haus war dann sehr lustig. Eine Villa mit großem Wintergarten und Terrasse, alles ebenerdig auf einer Etage. Wie die Häuser in Amerika. So jedenfalls stellte ich mir amerikanische Häuser vor. Es gab acht oder neun Ein- und Zweibettzimmer, auf den Fensterbänken standen jede Menge Pflanzen. Die Wände hatten die Bewohnerinnen mit Spiegeln und Postern dekoriert: Pferde, Sänger, Schauspieler – aber die kannte ich damals noch nicht. Ich kannte überhaupt keine Filme und war noch nie in einem Konzert gewesen. Auch nie in einer Ausstellung oder im Theater, nicht einmal in einer Disco.

Es war eine komplett neue Welt, in die ich hier hineingeraten war. Anja zeigte mir auch das Zimmer, in dem ich wohnen sollte. Die Möbel zusammengewürfelt, unterschiedliche Bettgestelle, zwei bunt bemalte Stühle, ein Tisch in der Mitte des Raums und ein Wandschrank, der dick mit weißer Farbe überstrichen war, sodass ich ihn nur wegen seines silbernen Schlosses von der Wand unterscheiden konnte. Mein »Gepäck« fiel mir plötzlich ein. Alles was ich hatte, passte in eine kleine Tasche, einen Schrank brauchte ich bestimmt nicht dafür.

»Was ist?«, fragte Anja, die meinen befremdeten Blick wahrgenommen hatte. »Keine Kleider«, sagte ich, »keine Schuhe.« – »Och«, sagte sie. »Das kommt dir schlimm vor, ich weiß. Aber deswegen brauchst du dich nicht zu genieren. Viele Frauen kommen hier nur mit den Kleidern an, die sie am Leib tragen. Wir haben ein Lager mit Kleiderspenden.« – »Woher?« – »Von Leuten, die mehr haben als du. Such dir nachher ein paar Klamotten aus. Mit kleinen Hilfsarbeiten kannst du dir hier im Haus ein paar Mark verdienen. Außerdem gibt’s zweimal pro Jahr Kleidergeld von der Stadt. Damit wirst du dir bald selbständig neue Kleider kaufen können.« Ich hatte kaum ein Drittel von dem, was sie sagte, verstanden. Aber ich merkte, dass ich hier gut aufgehoben war. In diesem Moment kam meine Mitbewohnerin herein.

Steffi, sehr dünn, mit weit auseinanderstehenden Augen, wie eine Katze. Ich fand sie hübsch: »Hi«, sagte sie und fragte, ob ich Deutsch könne. »Wenig.« – »Dann bring ich es dir bei. Ich habe Deutsch studiert.« Sie sei schon zwei Monate im Frauenhaus, die Polizei habe sie auf der Straße wegen Drogenkonsum aufgegriffen. Jetzt wolle sie hier mit einer Ersatztherapie beginnen. Sie schien nett, auch wenn ich Angst vor Drogen hatte, seit ich meinen Mann betrunken erlebt habe. »Wenn du wirklich hierbleiben und ein neues Leben beginnen möchtest, werden wir dir helfen, so gut wir können«, sagte Anja im Weitergehen. »Natürlich will ich«, entgegnete ich. – »Bist du dir sicher? Viele Frauen kommen und gehen nach zwei oder drei Tagen wieder. Obwohl sie von ihren Männern schlecht behandelt werden, gehen sie zurück zu ihnen.« Wie ich ein paar Jahre vorher auch, aber das sagte ich Anja nicht. Noch nicht. Stattdessen fragte ich: »Warum zurück?« – »Weil die Frauen nichts anderes kennen als dieses unselbständige Leben bei ihren Männern. Sie haben Angst vor etwas Neuem.« – »Aber ich – geschieden. Mann – ist weg.« – »Das spielt keine Rolle, wenn du wüsstest, wie groß die Abhängigkeiten der Frauen sind.«

Ich verstand sie nicht richtig. Aber sie erzählte einfach weiter, und ich versuchte, mir alles zu merken. Wie ein Kind, das begierig ist zu lernen. »Wenn du hierbleibst, dann unterstützen wir dich«, wiederholte sie. »Wir sind vier Kolleginnen. Mit jeder von uns kannst du sprechen und erzählen, was dir auf dem Herzen liegt, oder sagen, was du brauchst. Aber es muss von dir ausgehen. Wir sind da, um dir zu helfen, damit du wieder auf die Füße kommst. Wir drängen dich nicht, du musst selbst wissen, was du willst.« – »Bleiben – ich will bleiben!«, sagte ich. Dieses Mal war ich mir ganz sicher, dass das Frauenhaus kein »vorübergehend« für mich war, sondern ein Zuhause. Nicht wie das erste Mal, als ich auf der Türschwelle wieder kehrtgemacht hatte.

Trotzdem war ich in den folgenden Tagen traurig, niedergeschlagen, deprimiert. Die Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Stundenlang igelte ich mich in meinem Zimmer ein, saß auf meinem Bett und sprach mit kaum jemandem. Auf was ließ ich mich ein? Was stand mir bevor? Ich war jetzt schon erschöpft, obwohl ich den Weg noch lange nicht zu Ende gegangen war. Im Gegenteil, ich hatte gerade erst angefangen. Ich ahnte, dass es schwer werden würde.

Die Tage wurden kürzer, es regnete ständig, und der herbstliche Nebel lullte uns ein, fast den ganzen Tag brannte Licht im Haus. Die Betreuerinnen hatten Geduld mit mir, auch wenn ich nach Tagen noch kaum mehr als ein paar Worte gesagt hatte. Auch nicht im Büro unter vier Augen – ich konnte nicht. Und hatte doch ständig das Gefühl, mich erklären zu müssen. Ich wollte erzählen, warum ich hier bin. Wer oder was mich hierher verschlagen hat, aber ich konnte nicht. Es fehlten mir die Worte und Sätze, meine Gefühle und Gedanken zu beschreiben. Weil ich es nicht gewohnt war, zu sprechen. Am allerwenigsten über mich selbst.

Manchmal ergaben sich die Gespräche zufällig während des Tischabräumens oder des Aufräumens. Dann fing ich an, sprudelte fast hysterisch, stammelte, aber schon nach fünf Minuten weinte ich nur noch. Weil all diese furchtbaren Erinnerungen wieder hochkamen, alles durchlebte ich noch einmal. Schläge, Demütigungen, die Ausweglosigkeit und die Angst um meine Kinder. Die Bilder überwältigten mich.

Weinen, weinen, weinen – wenn ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Richtige Heulkrämpfe waren das, stundenlang, es schüttelte mich, und keiner konnte mich beruhigen. Meine Zimmernachbarin Steffi versuchte mich zu überreden, mit ihr zu rauchen. Sie wollte mir Tabletten besorgen: »Probier doch mal, es hilft dir bestimmt. Glaub mir, deine Probleme verschwinden wie von selbst, und dein Kummer verfliegt ruckzuck.« Aber ich schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn sie fragte, ob sie mir helfen könne. Ich wollte nicht.

Ich zerfloss in Selbstvorwürfen. Warum hatte ich die Kinder nicht beschützen können, wie sich das für eine Mutter gehört? Die Betreuerinnen fürchteten dann, ich könnte mir das Leben nehmen. Das hätte ich auch getan, aber ich lebte für meine Kinder. Um sie kreisten meine Gedanken. Eines Abends stand ein Arzt an meinem Bett. Den ganzen Tag über war ich nicht aufgestanden. Hatte wieder nur geheult und gegrübelt. Wahrscheinlich hatten ihn die Betreuerinnen, die für mich inzwischen zu vertrauten Personen geworden waren, gerufen. Ein älterer Herr, sehr groß und hager, aber mit einer weichen Stimme. Doktor Wiener, er war ein Vatertyp. Er fragte nicht, warum ich weine oder was mir denn fehle. Sondern er hielt einfach meine Hand. »Na, jetzt beruhigen Sie sich, Ihre Kinder brauchen Sie noch«, sagte er immer wieder. Bis ich merkte, dass ich unter seiner warmen Hand tatsächlich ruhiger wurde. »Wenn Sie möchten, dann kommen Sie in meiner Praxis vorbei. Einfach kommen, dann werden wir schon weitersehen … « Ich fühlte mich wie ein Kind, das sich an die Hand der Mutter klammert. Am liebsten hätte ich ihn nicht mehr losgelassen. Ich konnte ihm nicht erklären, warum ich weinte, aber das erwartete er gar nicht.

Von da an ging ich jede Woche zu ihm. Er hatte seine Praxis nicht weit vom Frauenhaus. Ich erzählte ihm von meiner panischen Angst vor meinem Exmann und dem Trauma der Kindesentführung, und er riet mir zu einer Therapie. Doch mir reichte es, erst mal ihm mein Herz ausschütten zu können. »Lernen Sie Deutsch«, sagte er mir immer zum Abschied, »beim Fernsehen oder beim Radiohören – sprechen können macht frei.« Ich lernte tatsächlich. Und je besser ich sprechen und von mir erzählen konnte, desto besser ging es mir.

Am frühen Abend saß ich regelmäßig mit den anderen Frauen vom Haus vor dem Fernseher, und wir sahen die Serie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Ich sehe uns heute noch sitzen, die einen auf dem Boden, die anderen auf der Couch, die einen rauchend, die anderen mit einer Teetasse in der Hand. Alle fieberten wir mit den Schauspielern mit, und hinterher diskutierten wir die Probleme der Helden. Am Anfang verstand ich wenig, aber schon nach zwei Wochen konnte ich mitreden.

Ich spürte, dass ich im Frauenhaus geschützt war und trotzdem frei. Eingebunden, aber trotzdem selbständig, fremd und trotzdem vertraut. Frauen, die wie ich keiner geregelten Arbeit nachgingen, arbeiteten im Haus. Abwaschen, Küche aufräumen, Staubsaugen oder Wäsche waschen, alles nach einem Plan, in den wir uns eintrugen. Das brachte Regelmäßigkeit in den Alltag und Gewohnheiten, die mir guttaten. Ohne Stress und Druck. Man ließ mir Zeit, mich einzuleben, und diese Zeit habe ich auch gebraucht.

Wir waren Frauen mit den unterschiedlichsten Schicksalen, aber alle wurden wir damit nicht alleine fertig. Viele von uns waren aggressiv und hatten jede Menge Gewalterfahrungen hinter sich, manche waren alkohol- und drogenabhängig. Auch alte Frauen suchten das Frauenhaus auf. Die Armen, ihre Kinder haben sie verstoßen, und sie hatten niemanden, der sich um sie kümmerte. Eine alte Frau, die keine Zähne mehr hatte, auch keine künstlichen, sie war ein wenig verrückt. Sie ging jeden Morgen nach dem Frühstück aus dem Haus, keiner wusste wohin, aber pünktlich zum Mittagessen war sie wieder da. Zum Essen fanden sich alle ein. So war die Regel des Hauses. Eine schöne Regel, die mein Gefühl von der großen Familie, die zusammen um den Tisch sitzt, verstärkte. Das Essen wurde von außerhalb angeliefert, sobald es kam, war auch die Oma nicht mehr weit. Immer, wenn dann eine von uns den Tisch deckte, riefen wir: »Gleich kommt die Oma.« Wir hätten sie vermisst, wenn sie weggeblieben wäre.

Eine andere alte Frau saß den ganzen Tag auf einem Stuhl vor dem Radio im Wohnzimmer und strickte. Sie trug immer dieselbe rotgrüne Jacke aus grober Wolle, und ihre langen grauen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wir sprachen nicht miteinander, aber viele Stunden saß ich neben ihr, sah ihr stumm zu und hörte mit ihr Radio: Nachrichten, Diskussionen, Musik, den ganzen Tag über. Zuerst war es nur ein Hintergrundgeräusch für meine Gedanken, aber täglich verstand ich mehr. Schon nach einer Woche bekam ich die wichtigsten Nachrichten mit. Ich lernte viel über Deutschland in dieser Zeit. Und ich lernte sprechen.

Die Arme der alten Frau waren spindeldürr und übersät mit braunen Flecken. Ihre Hände, über deren Sehnen und Knochen sich eine durchsichtige, weiße Haut spannte, sahen aus wie Vogelkrallen. Unablässig und im gleichmäßigen Takt bewegten sich die Finger, so als ob sie mit den Stricknadeln tanzten. Diese Bewegungen erinnerten mich an die Zeit in Tunesien, nachdem ich die Schule abgebrochen hatte. Ich hatte auch gestrickt. Wie kam es, dass ich jetzt erst wieder daran dachte?

Eines Tages war der Vater mit dem Vorschlag gekommen, meine jüngere Schwester und mich an einer Haushaltsschule anzumelden. Haushalt sei das Einzige, was wir Mädchen können müssten. Ich war 15 und froh, ein paar Stunden am Tag aus dem Haus zu kommen. Wir waren ungefähr ein Dutzend gleichaltriger Mädchen. Wir kochten, spülten, wuschen und strickten, und es machte mir Spaß. Vor allem das Stricken. Ich war flink und schnell, eine der Besten. Hätte ich nie gedacht, aber hier wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich doch etwas kann.

Als die Schule zu Ende war, bettelte ich meinen Vater an, mir eine Strickmaschine zu besorgen. Um professionell zu stricken. Pullover und Jacken, alles, was gebraucht wurde. Warum nicht? Mein Vater ließ sich darauf ein, er kaufte mir so ein Gerät, und ich strickte tatsächlich bis zu meiner Hochzeit Kleidung, die ich sogar verkaufen konnte. Echte Auftragsarbeit, das Geld, das ich damit verdiente, kassierte der Vater. Ich hätte es auch gar nicht haben wollen. Wichtig für mich war, dass ich etwas zum Leben meiner Familie beitrug.

»Ich – auch«, sagte ich schüchtern zu der alten Frau. »Besorg dir Wolle, und wir stricken zusammen«, meinte sie. Aber genau davor hatte ich Angst. »Kann nicht – nicht mehr.« – »Stricken verlernt man doch nicht. Komm probier’s, ich zeige es dir.« – »Nein, nein – später.« Ich traute es mir nicht zu, aber das Gefühl war wieder da. Fast hätte ich es vergessen, dieses Glück und die Befriedigung, die ich damals empfunden hatte.

Über drei Wochen war ich nun schon im Frauenhaus. Meine Weinattacken wurden weniger, und allmählich begann ich mich am Gemeinschaftsleben zu beteiligen. Es war ein grauer Nachmittag, und ich füllte Wäsche in die Waschmaschine. Petra, eine Betreuerin, stand neben mir, weil sie mir zeigen wollte, wie die Maschine funktioniert. »Ich habe noch nie mit einer Waschmaschine gewaschen«, versuchte ich ihr zu erklären, »alles immer mit Hand.« – »Sag, dass das nicht wahr ist.« – »Doch, alle Kinderkleider, meine Kleider, auch die Hosen von meinem Mann.« – »Warum das denn?« – »Viel Zeit – keine Waschmaschine. Auch kein warmes Wasser in der Wohnung.«

Während sie mir zeigte, wo welches Waschmittel in die Maschine kommt und welche Schalter und Knöpfe zu drehen oder zu drücken sind, sagte sie: »Du wirst jetzt vieles neu lernen müssen.« – »Ja, will ich auch.« – »Wir müssen beim Sozialamt einen Antrag für dich stellen, und du musst dich auf dem Einwohnermeldeamt ummelden. Hast du eigentlich ein Bankkonto?« – »Nein, gar nichts.« – »Wie hast du nur gelebt, ohne Waschmaschine und ohne Bankkonto?« – »Mein Mann. Ich kann nicht. Du machst das?« – »Nein, das musst du jetzt selbst lernen.« – »Aber kann nicht lesen – nicht schreiben.« – »Wir werden dir helfen, wenn du willst. Willst du?« – »Ja, ja. Aber ich weiß nichts.« – »Wenn du weißt, was du willst, kannst du es auch. Was willst du?« – »Ich will meine Kinder.« – »Wie stellst du dir das vor?« – »Weiß nicht, mein Vater – mein Vater macht alles.« – »Du musst jetzt erwachsen werden und kannst dich nicht mehr auf deinen Vater verlassen. Hier in Deutschland kann er sowieso nichts für dich tun.« – »Hier ist Vater Staat. Ist auch ein Vater, oder?«

Petra fing furchtbar an zu lachen. Obwohl ich nicht wusste, was es da zu lachen gab, stimmte ich ein. Zum ersten Mal konnte ich über mich selbst lachen. Als ich den richtigen Knopf an der Waschmaschine gedrückt hatte und die Maschine anfing zu brummen, legte mir Petra ihren Arm um die Schultern und fragte: »Füllen wir nun das Formular vom Sozialamt aus?« – »Wir – zusammen?« – »Wir beide, ich helfe dir. Da kannst du dich drauf verlassen!« Mit einer Thermoskanne voll Kaffee gingen wir ins Büro. Wie ich mir meine Zukunft vorstelle, wollte sie nun wissen. Eine ungewöhnliche Frage für mich, denn sie bedeutete Planung, was ich in meinem vergangenen Leben selten gemacht hatte. Ich stand am Fenster und betrachtete die einzelnen Pflanzen auf der Fensterbank. Müssen gegossen werden, dachte ich. Nach dem Gespräch, nahm ich mir vor. Planung bedeutet zu ordnen und zu wissen, was als Nächstes dran ist. In der Küche hing ein Wochenplan für uns alle. Mich faszinierte dieser Plan, weil er mir sagte, was zu tun war. Kein meckernder Ehemann mehr, sondern ein Plan. Ich liebe Pläne, sie schützen mich davor, etwas falsch zu machen.

»In Zukunft möchte ich mein eigenes Geld verdienen, Deutsch lernen und meine Kinder nach Deutschland holen«, sagte ich. »Teil dir den Weg in kleine Abschnitte ein, bis zum Tag X, an dem du deine Kinder holst«, riet mir Petra. »Wie denn?« – »Mach dir einen Wochenplan. Schreib dir auf … « – »Kann ich nicht!« – »Doch, versuch es und schreib auf, was du jeden Tag machen willst. Es soll ein Spickzettel sein, der dir hilft, deine Zukunft zu organisieren. Für jeden Tag nimmst du dir etwas anderes vor: heute den Antrag fürs Sozialamt ausfüllen, morgen zur Bank, um ein Konto zu eröffnen. Und so weiter.«

Petra legte verschiedene Formblätter auf den Tisch. Ich konnte nichts lesen, verstand nicht einmal das Wort »Name«. Da fuhr sie mit den Fingern die Zeilen entlang und las laut vor. »Name, Nachname.« Unzählige Male sagte ich »Weiß ich nicht« oder »Kann ich nicht«. Doch jedes Mal entgegnete Petra: »Überleg mal genau.« Ich verstand, dass ich lernen musste zu überlegen. Sie hatte Geduld mit mir und füllte nach und nach jede Spalte aus. Sie schrieb, ich sah ihr zu. Und beneidete sie! Zum Schluss notierte Petra mir die Buchstaben des deutschen Alphabets mit jeweils einem Wortbeispiel auf ein Blatt Papier und steckte mir einen leeren Spiralblock zu. Wenn ich wolle, könne ich ja hier meine Pläne eintragen, sagte sie.

An diesem Abend zog ich mich nicht sofort nach dem Abendbrot auf mein Zimmer zurück, sondern blieb am Tisch sitzen. Ich legte den Block und das Blatt mit dem Alphabet auf den Tisch. Jeden Buchstaben übertrug ich fein säuberlich in meinen Block. Darunter schrieb ich halb auf Tunesisch, halb auf Deutsch, so gut ich eben konnte: »Dienstag: Bankkonto eröffnen, Mittwoch: Einwohnermeldeamt«. Von nun an saß ich jeden Abend und schrieb.

Im Frauenhaus konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Keiner schrieb mir etwas vor, keiner zwang mich. Es war ein Raum, in dem ich mir eigene Grenzen setzen und eine eigene Struktur geben musste. In dem ich mich um mich selbst kümmern musste! Keiner schimpfte, weil ich statt eines Kleides eine Hose anzog. Manchmal wunderte ich mich, dass ich nicht fragen musste, wenn ich auf die Toilette gehen wollte. Ich war frei. Konnte selbständig zum Briefkasten gehen und nicht nur meine, sondern die Post von allen Frauen herausholen und verteilen. Doch diese Freiheit macht mir auch Angst.

Petra begleitete mich zur Bank, ein altes, ehrwürdiges Gebäude. Sie stellte sich mit mir am Schalter an. Wir hatten vorher geübt, was ich zu dem betreffenden Sachbearbeiter sagen sollte: »Ich möchte bitte ein Girokonto eröffnen.« Gemeinsam füllten wir Formulare aus: Vorname, Nachname, Geburtsdatum, Adresse. Mir brummte der Kopf, doch hinterher hielt ich einen Zettel mit meiner Kontonummer in der Hand, die Scheckkarte wollte man mir zuschicken. Ein tolles Gefühl. Am Eingang der Bank zeigte mir Petra die Automaten, an denen ich mit meiner Karte Geld abheben konnte. 50 Mark oder 80 Mark? Bloß nicht zu viel. Jedes Mal ist es eine schwierige Entscheidung. Überhaupt Geld. Lange wusste ich nicht, ob mein Geld, das ich im Portemonnaie habe, reicht, um beispielsweise einen Cappuccino zu bezahlen. Ich konnte das nicht einschätzen und rechnen. Doch nun war ich euphorisch. Zum ersten Mal in meinem Leben besaß ich eine Kontonummer und ein Konto.

Am nächsten Tag wollte ich gleich wieder los. Alleine diesmal, aufs Einwohnermeldeamt. War ich aufgeregt! Machte mich sogar hübsch, zog mich chic an und schminkte mich mit Wimperntusche und Lippenstift. Aus dem Spiegel blickte mir eine selbstbewusste Frau entgegen. Frühstücken konnte ich nicht, keinen Bissen. Doch Anja versuchte mich zu beruhigen. Dass das alles Alltag sei und Routine, sagte sie, und dass im Einwohnermeldeamt täglich Ausländer ankommen, die kein Wort Deutsch können, und dass man mir sicher helfen würde, wenn ich alleine nicht zurechtkäme.

Draußen war es kalt, zu kalt für die Jahreszeit, und ich schloss den Reißverschluss der schwarzen Jacke, die ich mir inzwischen aus dem Lager besorgt hatte, bis oben unters Kinn, um mich zu schützen. Ich nahm die U-Bahn, wieder mit der Angst, in die falsche Richtung zu fahren. Wieder fragte ich jeden, der mir über den Weg lief. Zuerst nach der U-Bahn, dann nach der Straße, dann nach der Hausnummer. Fragen auf Schritt und Tritt. Schon im Moment des Fragens, noch bevor ich eine Antwort bekomme, bin ich erleichtert. Weil ich dann nicht mehr allein mit meinem Problem bin. Fragen zur Selbstvergewisserung. Je mehr ich frage, desto mehr will ich wissen. Fragen machen neugierig. Und zum ersten Mal in meinem Leben bekomme ich Antwort auf meine Fragen. »Ein Mädchen fragt nicht«, hieß es zu Hause immer, und ich fragte nicht. Doch Fragen, die nicht gestellt werden, nagen und zerfressen einen, machen stumpf. Fragen zu verbieten ist ein Mittel der Unterdrückung.

Als ich in den hellen Flur des Einwohnermeldeamts trat, war ich stolz. Ich hatte es erstaunlich schnell gefunden. Ein holzverkleideter kalter Raum mit einem Tisch und drei Stühlen vor einer Wand, zwei Türen, vor denen viele Menschen standen. Ich stellte mich hinten an und wartete auf das Aufleuchten des Signallichts an einer der Türen. Die Leute traten von einem Bein aufs andere, schnäuzten sich und husteten. Sobald das Signal von Rot auf Grün sprang, gingen sie, ohne anzuklopfen, durch die Tür.

Ich dachte an meine Kinder, die ich schon monatelang nicht mehr gesehen hatte. Wie es ihnen wohl ging? Ich nahm mir vor, trotz des Verbots anzurufen und mich zu erkundigen. Meine Schwägerin würde es mir schon sagen. Dann war ich an der Reihe. Hinter einem Computer tauchte der strohblonde Kopf einer ältlichen Dame auf. »Was wollen Sie?«, fragte sie. »Mich anmelden.« – »Und das Formular? Wo ist das Formular? Haben Sie es ausgefüllt?« – »Welches Formular?« – »Na das, das da draußen vor der Tür im Regal liegt. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Holen Sie sich ein Formular, und wenn Sie es ausgefüllt haben, kommen Sie wieder.« – »Aber … « – »Kommen Sie wieder, wenn Sie es ausgefüllt haben.«

Mit einem solchen Empfang hatte ich nicht gerechnet, aber das gehörte wohl dazu. Ich hatte Tränen in den Augen. Was bildet die sich ein, mich so abzufertigen? War es nicht ihr Job, mir zu helfen? Ich zog meine Jacke an, ging raus und knallte die Tür hinter mir zu. »Na, alles gut?«, fragte mich Anja, als ich beim Mittagessen lustlos im Essen rumstocherte. »Gar nichts gut«, entgegnete ich und merkte, wie mir die Tränen herunterliefen. »Morgen – gut!« – »Nein, morgen ist das Einwohnermeldeamt geschlossen«, antwortete die Betreuerin voller Mitleid. »Aber am Donnerstag, da versuchst du es noch einmal. Lass dich nicht entmutigen. Wird schon klappen.«

»Keine Schminke heute«, sagte ich mir, als ich zwei Tage später morgens wieder vor dem Spiegel stand. Ich war früh dran, die Erste im Einwohnermeldeamt. Rote, gelbe, grüne, blaue Formulare: Ich betrachtete das Regal an der Wand, das ich übersehen hatte. Woher, bitte schön, sollte ich wissen, welches Formular für mich war? Blaue für meine Söhne, wenn ich sie endlich nach Deutschland holen würde, das rote für die Tochter und für mich das grüne? Ich schaute mich in der Eingangshalle um, die sich langsam füllte. Aber jeder schnappte sich einen anderen Zettel, ohne dass ich eine Ordnung darin erkennen konnte. Scheiße, dachte ich, egal, nehm ich halt keinen.

Als das grüne Signal aufleuchtete, griff ich trotzdem zum nächstbesten Formular, versuchte etwas zu entziffern, konnte aber kein einziges Wort lesen. Ich zitterte. »Zumachen?«, fragte ich in der Tür. Der junge Sachbearbeiter nickte. Er musste mir helfen, dazu war er schließlich da. Als ich ihm das unausgefüllte Formular über den Schreibtisch schob, stutzte er. »Kann nicht Deutsch – bitte helfen!«, sagte ich schnell. Ich sah, wie er unwillig einen Stift, den er in der Hand hielt, auf den Tisch rollen ließ. »Was kann ich für Sie tun?« – »Eine Wohnung! Ich brauche – Wohnung.« – »Nein«, antwortete er, zog die Augenbrauen nach oben und sah mich belustigt an. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Sie wollen sich bestimmt anmelden.« – »Ja!« – »Wo wohnen Sie denn jetzt?« Eifrig zog ich den Zettel, auf dem mir Anja die Adresse aufgeschrieben hatte, aus der Jackentasche. »Hier, Frauenhaus!« – »Ach ja – gut, diese Adresse müssen Sie nun auf dem Formular eintragen.« – »Wo? Ich kann nicht lesen, kann nicht schreiben. Sie können das – ich nicht.« Da schaute er mich mit einem Lächeln an und entgegnete: »Sie lernen das auch noch!« Da lachte ich zurück. Er nahm seinen Stift wieder auf und schrieb: Geburtsname, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort, Staatsangehörigkeit, Religion, bisherige Adresse, neue Adresse und so weiter. Wort für Wort las er mir vor, antworten konnte ich inzwischen. Bei tunesischen Ortsnamen fragte er mich, wie sie geschrieben werden. Aber das wusste ich auch nicht, ich kannte nur die arabischen Zeichen, also schrieben wir nach Gehör.

Sozialamt, Arbeitsamt, Ordnungsamt, Rentenamt, Krankenkasse und wieder Sozialamt. So ging das mindestens eine Woche lang. Immer das Gleiche: Vorname, Nachname, Geburtsname, Geburtsort, Religion … immer schneller. Es machte mir sogar Spaß. Ich meldete mich wohnungssuchend, arbeitssuchend, kindersuchend. Und nach kurzer Zeit kannte ich alle Adressen der Ämter auswendig und meine Daten auch. Das machte mich zuversichtlich, je mehr ich registriert und gemeldet war, desto größer wurde mein Selbstvertrauen. Ich war jemand, hier und dort eingetragen, hier und dort wusste man, was ich wollte und wer ich bin – ich konnte mir vertrauen und mir etwas zutrauen. Und jeden Abend schrieb ich in meinen Block, was ich den ganzen Tag über getan hatte beziehungsweise was ich mir für den nächsten Tag vornahm. Nicht viel, oft nur ein paar Worte, manchmal auf Arabisch, aber immer öfter auf Deutsch, wobei mir meistens jemand half.

Doch meine Stimmungen schwankten. Es gab auch Tage, an denen ich hoffnungslos war, an denen ich wieder im Bett liegen blieb und weinte, bis das Kopfkissen feucht war. Manchmal schleppte ich mich dann ins Telefonhäuschen, einen winzigen Raum, in dem nur ein Tischchen mit dem Telefon und ein roter Plüschsessel standen. Dort wählte ich langsam die Nummer meines Schwagers in Tunesien, legte aber schon vor dem ersten Klingelzeichen wieder auf. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn sich jemand gemeldet hätte. Hätte ich geweint oder geschrien? Aus lauter Wut auf meinen Mann, der mir alles genommen hatte? Hätte ich nach meinen Kindern verlangt? Aber was, wenn man mir gedroht hätte, sie woanders zu verstecken? Was, wenn sie gar nicht mehr da gewesen wären? Nein, um Allahs willen, ich hatte Angst vor der Enttäuschung, wollte nichts riskieren und legte schnell wieder auf.


Es wurde Winter, obwohl es noch nicht geschneit hatte, freute ich mich in diesem Jahr darauf. Es war frostig, und mein Atem kondensierte zu feinem, weißem Nebel. Die Sonne warf lange Schatten, und die Platanen streuten ihre Blätter in den Wind. Ich mochte das raschelnde Geräusch, wenn ich sie mit den Schuhen vor mir herschob. Es roch feucht, modrig, vertraut und heimelig, es schien mir, als ob ich den Geruch schon immer gekannt hätte.

Ich ging allein spazieren. Durchstreifte die Umgebung des Frauenhauses, ging den Alsterkanal entlang. Manchmal konnte ich mein Glück gar nicht fassen: dass ich das durfte! Jeden Tag ein Stück weiter, Schritt für Schritt. Oft setzte ich mich aber schon nach wenigen Metern auf eine der Bänke am Kanal und blickte über das Wasser zum Horizont. Auf der Rückenlehne breitete ich meine Arme aus, schloss die Augen und genoss die Luft wie ein warmes Bad. Wenn die Enten aus dem Wasser hochstoben, rauschte es, und ich ging langsam weiter. Ohne meine Kinder! – Wie lange noch?

Es war an einem dieser Tage, dass ich das Einkaufszentrum entdeckte. Zwei Parallelstraßen weiter, durch den Park und dann über die Straße. Geschäfte, Cafés, Restaurants, Apotheken, alles unter einem Dach, verbunden mit Passagen, so etwas kannte ich nicht. Hier konnte ich schlendern, bummeln, schauen. Hatte ich noch nie gemacht. Ich musste ja nicht gleich einkaufen. Ich betrat ein Geschäft nach dem anderen, hatte Zeit, fühlte und betrachtete die Kleider auf den Ständern, zog etwas heraus, hängte es wieder zurück. Wie im Schlaraffenland. Kurze Röcke, lange Röcke, durchsichtige Blusen, Wollpullover, Baumwollkleider. Ich war scheu und stellte mir vor, wie ich darin aussehen würde. In neuen, in eigenen Kleidern!

Ich zauderte kaum, als ich das Geschäft für Brautmoden betrat. Schweigend strich ich die wenigen Regale entlang. Lauter Prinzessinnenkleider, kam es mir vor. Reich, elegant, edel – ein Traum. Und die pompösen Hochzeitsaccessoires erst! Als mich die Verkäuferin fragte, ob ich nach etwas Bestimmtem suche, deutete ich auf eine der Modellpuppen, die ein cremeweißes Brautkleid aus Wildseide mit aufgenähten rosa Blümchen und Schleier trug. »Mezian – das ist wunderschön!« Ich weiß nicht, was mich trieb, aber mit einem Lächeln frage ich die Verkäuferin. »Kann ich das probieren, oder ist es zu kompliziert?« – »Nein, nein, kein Problem, das wird Ihnen gut stehen. Es passt wunderbar zu Ihrem bronzefarbenen Teint und den dunklen Augen.« Sorgfältig entfernte sie die Stecknadeln, mit denen das Kleid festgesteckt war, und zog es der Puppe über den Kopf.

Ich wagte kaum es anzufassen, so kostbar erschien es mir. Nichts für mich? – Doch! In einem kleinen Raum hinter dem Geschäft probierte ich es an. Die Verkäuferin war begeistert.

Ich will mich vor dem Spiegel sehen! Es passt, ein Traum. Einmal Prinzessin sein! Als Kind hatte ich mir das immer gewünscht. Wovon jedes Mädchen träumt. Eine Prinzessin wie aus Tausendundeiner Nacht. Aber es ist kein Traum. Dieses Brautkleid passt so sehr zu meinem momentanen Gefühl wie kein anderes Kleid. Ich fühle mich frei, seit ich im Frauenhaus bin – frei wie eine Prinzessin. Ich bin eine Prinzessin.

»Hübsch«, dachte ich und blinzelte mir zu, zupfte an den Rüschen, drehte mich und folgte mit meinen Augen dem Schwung des Stoffes. Ich schob die feinen Ärmel über die Ellenbogen, verschränkte die Arme und flirtete mit meinem Spiegelbild: »Gefällt mir!«

»Werden Sie bald heiraten?«, hörte ich die Verkäuferin mitten hinein in meine Träume fragen. Ihre Worte erwischten mich wie eine kalte Dusche. Abrupt drehte ich mich zu ihr. Nie wieder!, wollte ich rufen, schluckte die Worte aber runter wie bittere Medizin, nickte nur. Da stimmte die Verkäuferin ein Loblied an, zuerst auf das Kleid, dann auf mich, meine Figur, meine Beine, meine Taille, meine Arme und mein Dekolleté. Das lenkte mich ab, ich lachte sogar, aber zu laut und zu künstlich.

Nicht viel später kaufte ich mir in diesem Einkaufszentrum tatsächlich mein erstes Kleid. Aber kein Brautkleid. Von dem Geld, das ich für meine kleinen Dienste im Frauenhaus bekam, hatte ich eine Summe angespart. Ich suchte lange und probierte viel, denn ich wollte mir ganz sicher sein, dass das Kleidungsstück zu mir passte und mir wirklich gut stand. Bisher hatte ich keinen eigenen Stil, keinen Geschmack entwickelt, woher sollte ich wissen, was gut oder schlecht für mich war? Was mir gefällt und was nicht? Beiger Rock mit Oberteil, Demisaison-Schuhe, Wimperntusche, Gesichtscremes – alles billig – alles, was ich vorher nicht besessen hatte. Sogar einen Minirock mit langen Stiefeln habe ich gekauft. Ganz spontan, im Winter. Weil er mir gefiel. Ich habe den Rock und die Stiefel geliebt. Im Sommer kaufte ich mir meine ersten Shorts und Trägertops.

Im Jahr vor meiner großen Hochzeit hatte ich mir in Tunesien Kleider bei einem Schneider in der Stadt anfertigen lassen: Hosen und dünne Blusen, nichts Besonderes. Ich wollte sie für meinen Mann tragen. Als dieser mich jedoch ein paar Tage nach der Zeremonie darin sah, geriet er außer sich vor Zorn und riss mir die Kleider fast vom Leib. »Du ziehst das sofort wieder aus«, schrie er mich an. »So ein Flitter. Was bildest du dir ein. Willst du mich blamieren? So kannst du nicht rumlaufen und aus dem Haus gehen schon gar nicht. Benimmst dich wie ein Flittchen. Wie kommst du darauf? Zieh dir was Vernünftiges an.« Körperbetonte Hosen und Kleider bezeichnete er als »halb nackt«, und dass seine Frau halb nackt herumlief, duldete er nicht. Wenn schon Hosen, dann wenigstens mit Kleid drüber. Und wenn T-Shirts, dann nur lange, die das Gesäß bedeckten.

Ich habe meine Kleider damals aus- und nie wieder angezogen. Weggeworfen oder verschenkt, ich weiß nicht mehr. Ich fand sie schön, aber Abdullahs Reaktion hat mich tief beschämt und verletzt. Jetzt konnte ich zum ersten Mal anziehen, was ich wollte, und mich zeigen, wie ich wollte. Nach solchen Bummeltagen setzte ich mich in ein Café und bestellte Kuchen. Wie die alten Damen: Kaffee trinken und Kuchen essen, ganz für mich alleine. Wenn ich dann vom Kellner mit einem saloppen »Na, was wünscht die Dame?« begrüßt wurde, war ich glücklich. Man kann sich nicht vorstellen, wie gern ich plötzlich alleine war.

Loewenmutter
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