Ein neuer Job
Es roch nach Frühling, als wir den langen Holztisch ins Freie stellten und im verwilderten Garten des Frauenhauses unseren Nachmittagskaffee tranken. Der Flieder blühte lila, alles war grün, und ich hörte das gurgelnde Wasser des Alsterkanals. Von Tag zu Tag ging es mir besser. Die Weinattacken waren verschwunden, und mein Deutsch war inzwischen ganz ordentlich. Ich hatte gelernt, über mich zu sprechen, zu fragen, um Hilfe zu bitten und selbständig zu denken.
»Das Altenheim hat zugesagt«, rief Anja an einem dieser Nachmittage, die ich »meine grünen Tage« nannte, plötzlich. »Willst du den Job machen?« – »Was?« Ich war überrumpelt. »So schnell?« Das hatte ich nicht erwartet. Ich stützte meine Arme auf die Stuhllehne, legte den Kopf in die Hand: »Sag das nochmal, bitte.« – »Du-hast-einen-Job-im-Altenheim. Als Pflegehilfe.«
Eine Woche vorher hatten wir eine Anfrage vom Arbeitsamt bekommen, dass man eine Stationshilfe für ein Altenheim suche. Ich meldete mich sofort. »Willst du selbst dort anrufen und einen Vorstellungstermin vereinbaren?«, hatte mich Anja gefragt. »Aber klar!« Gleich war ich zu unserer Telefonkabine gerannt, ich weiß noch genau, immer war sie belegt, weil die Frauen wie die Weltmeister telefonierten. Ich wartete und sprach dann mit der Personalchefin im Altenheim. Sie bestellte mich zwei Tage später zum Vorstellungsgespräch. Anja fuhr mich hin.
Ich war außer mir vor Aufregung, ich wollte diesen Job unbedingt. Nein, außer zwei, drei Monaten Putzen habe ich keine Arbeitserfahrung in Deutschland vorzuweisen, legte ich gleich los, ob man sich damit zufriedengeben würde? Mal sehen. Die Personalfrau sagte nicht viel, zeigte uns aber das Haus, stellte mich dem einen oder anderen vor und erklärte, was ich als Stationshilfe zu tun haben würde: Essen richten, die alten Menschen zum Sport bringen, Betten machen, versorgen. »Ja«, sagte ich, »das kann ich gut. Seit ich geboren bin, versorge ich Menschen. Meine Geschwister, meine Eltern, meinen Ehemann, meine Kinder – ja wirklich, das müssen Sie mir glauben.« – »Und wer versorgt Ihre Kinder jetzt?« – »Sie sind nicht in Deutschland. Mein Ehemann hat sie nach Tunesien entführt. Sie leben bei seinem Bruder. Ich würde viel darum geben, sie zu sehen.« Sofort kam ich ins Erzählen, doch die Personalchefin unterbrach mich und meinte: »Sie haben geschickte Hände, eine spontane Art und ein ansteckendes Lachen. Das wird den alten Damen und Herren gefallen.« – »Das hoffe ich sehr«, antwortete ich.
Und nun die Zusage. Ich fiel Anja um den Hals: »Was muss ich denn da tun?« – »Keine Sorge, das wird man dir erklären.« – »Kann ich das überhaupt?« – »Klar kannst du das!« Nicht zu fassen, ich würde arbeiten, Geld verdienen und endlich für mich selbst sorgen können. Und irgendwann auch für meine Kinder. Ich musste sofort meinen Vater anrufen, damit er die Neuigkeit dem Anwalt weitergeben könnte. Wenn ich nur erst meine Kinder wiederhätte!
Mein erster Arbeitstag war Ende April 1992. Ein kühler Tag, aber ich hatte mich in Schale geworfen: Graues Kostüm und hochgeschlossener gestreifter Body darunter, der meinen Hals bedeckte. Mit dickem, schwarzem Kajal umrandete ich meine Augen, meine Haare – immer noch lang, ich hatte mich nicht aufraffen können, sie schneiden zu lassen, schlang ich mit bunten Bändern wie einen Kranz um den Kopf. Wie eine südamerikanische Künstlerin, deren Bild eine meiner Mitbewohnerinnen an die Wand gepinnt hatte. Ein Styling, das nicht unbedingt zum Füttern von alten Leuten passt. Aber ich freute mich und wollte es allen zeigen. Wahrscheinlich war ich die auffälligste Altenpflegerin, die jemals in diesem Heim gearbeitet hat.
Es war, als hätten sie auf mich gewartet. »Wie heißt du, meine Liebe?«, grüßte eine alte Frau. »Bist du aber schön«, sagte mir ein alter Mann. Ich war aufgeregt. Brötchen mit Käse belegen, Kaffee und Tee in Thermoskannen füllen, alles auf einen Wagen stellen und dann los damit über die mit orangefarbenem Teppichboden ausgelegten Gänge und das Essen in den Zimmern verteilen. Tür auf, Tür zu. Jedem Bewohner das, was er wollte, und wenn ein Opa ein Stück höher sitzen wollte, habe ich ihm ein Kissen untergeschoben, und wenn eine Oma nicht essen wollte, habe ich mein eigenes Pausenbrot geholt, damit wir zusammen essen konnten: einen Bissen für Mama, einen für Papa.
Während ich das Essen in der Stationsküche zubereitete, fing ich an zu singen. Ein paar Zeilen auf Deutsch nach kleinen orientalischen Melodiefolgen. Ich sang meine Aufgaben: »Butter für Herrn So-und-so! – Salami für Frau So-und-anders! – Ach, die Dame isst nur Pfirsichmarmelade! – Braucht der Herr ein zweites Kopfkissen?« Das belustigte mich selbst, und ich merkte, dass ich mir, sobald ich die deutschen Worte in eine Melodie verpackte, die Aufgaben besser merken konnte. Es dauerte nicht lange, da kannte ich alle Namen auswendig und wusste von allen Heimbewohnern, was sie gern oder nicht gern mochten. Ich wusste auch, ob sie Besuch erwarteten, einen Arzttermin hatten oder zum Sport eingetragen waren. »Frau Mayer muss zur Wassergymnastik, mit den Schultern kreisen, kreisen«, sang ich dann, und »Herr Müller geht zum Zirkeltraining, Arme strecken, über den Balken hüpfen«. Die anderen Mitarbeiter brachen in Lachen aus, wenn sie mich singen hörten. Aber mir machte die Arbeit Spaß und den alten Leuten auch.
Sie waren wie meine Kinder, um die ich mich kümmern durfte. Die alte Frau, die blind war: Ich weiß nicht, wie sie es machte, doch jedes Mal, wenn ich hereinkam, erkannte sie mich sofort. »Esma, mein Engel?«, fragte sie dann in Richtung Tür. Oma Hedwig, so nannte ich sie, hatte ihre weißen Haare, die ihr bis in den Nacken reichten, immer akkurat wie ein Mann nach hinten frisiert. An den Wänden ihres Zimmers hingen Fotos, gerahmte und ungerahmte, von sich selbst, als sie noch jung war, mit einem langen blonden Pferdeschwanz, neben ihr ein kleiner Mann mit Schnauzbart in Uniform. Fotos von den Kindern, Sohn und Tochter mit Enkelkindern, blasse, unschuldige Gesichter. Oma Hedwig konnte die Fotos nicht sehen, aber immer sprach sie davon.
Wenn ich mich dann zu ihr setzte, ihr das Essen klein schnitt und den Löffel in die Hand gab, fing sie an zu erzählen. Immer wieder die gleiche Geschichte, trotzdem rührte sie mich. Sie erzählte, wie sie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten geflüchtet und in Bremen im Auffanglager gelandet sei. Mit ihren zwei kleinen Kindern, dem Gerd und der Anna, über die polnische Grenze. Das dritte, das jüngste, die Therese, sei auf der Flucht gestorben. Gerade mal ein Dreivierteljahr alt. »An Masern, aber ich hab ihr nicht helfen können.« Sie habe es nicht geschafft, sie zu retten. Das Fieber sei höher und höher gestiegen, sie habe keine Medikamente gehabt, was hätte sie machen sollen? – »Sie konnten doch nichts machen!«, wollte ich die Frau jedes Mal beruhigen. – »Doch, doch ich war doch die Mutter, ich hätte ihr helfen müssen«, weinte sie dann. Nach so vielen Jahren immer noch. Auch mir liefen meistens die Tränen übers Gesicht, vor allem wenn Oma Hedwig dann fortfuhr und von ihrem Mann berichtete, der in Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Sie hatte Angst vor seiner Rückkehr, weil sie fürchtete, dass er ihr den Tod der Tochter vorwerfen würde. Als er tatsächlich zurückkam, hat er nicht viel gesagt. Hat kaum mit ihr gesprochen, auch nicht über den Verlust der kleinen Therese. Das hat ihr am meisten wehgetan, ein Leben lang fühlte sie sich schuldig.
Auch einen alten Mann hatte ich ins Herz geschlossen. Herrn Georg, der immer wieder weglief und den wir dann suchen mussten. Meistens brachte ihn die Polizei zurück. Er war völlig verwirrt und brummelte wie ein Bär, dass er heim wolle, in die Heimat, nannte er es. Ich spielte dann die Zornige, obwohl ich nicht zornig war, und schimpfte: »Wo sind Sie gewesen? Wir haben uns Sorgen gemacht. Sie dürfen nie wieder weglaufen, versprochen?« Dann lachte er mich aus und sagte, er müsse seine Sachen packen, »die See ruft«. Ich mochte diese alten Menschen mit ihren Macken, jeder war anders. Ich strich ihnen über ihre weißen Häupter, wie ich über die Haare meiner Kinder gestrichen hatte. Das lenkte mich von meinen eigenen Sorgen ab. Die Frau, die dauernd nach ihrer Handtasche suchte und uns beschimpfte, wir würden sie beklauen. Und der Mann, der in die Hosen machte. Es war eine Schweinerei, aber ich weiß, dass er es genossen hat, wenn wir ihn sauber machten. Er brauchte diese Zuwendung und kicherte wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hat.
Eines Tages, ich war auf dem Weg in den Speisesaal, stieß ich beinahe mit einem älteren Herrn mit einem Koffer in der Hand zusammen. Er war in Begleitung der Heimvorsteherin. Als ich aufsah, traute ich meinen Augen nicht: Doktor Wiener. »Was machen Sie denn hier«, rief ich überrascht. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, so sehr freute ich mich, ihm so unvermutet zu begegnen. Aber das gehörte sich natürlich nicht. War er wegen mir gekommen? »Hausbesuche«, antwortete der Arzt. »Ich mache Hausbesuche.« – »Hausbesuche?« – »Ja, ich arbeite hier. Genauso wie Sie hier auch arbeiten.« – »Sind wir Kollegen?«, fragte ich und lachte. Es kam mir vor, als gehörte er zu meiner Familie.
Manchmal musste ich an meine Großmutter denken, die schon lange tot war. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie immer unterwegs gewesen. Ist rastlos von einem ihrer Kinder zum nächsten gereist und immer ein oder zwei Monate geblieben und dann wieder weitergefahren. Meine Familie war zwei- oder dreimal pro Jahr an der Reihe. Dass wir dann alles für sie taten, war selbstverständlich. Wir verwöhnten sie. Denn sie war nicht nur unser Gast, sondern unsere Königin. Wir halfen ihr, sich anzuziehen, das war eine Sache der Ehre. Wir Enkel haben ihr Kaffee gekocht, ihre Taschen geschleppt und ihr die Füße gewaschen. Altersheime gibt es kaum in Tunesien. Wenn meine Kinder erwachsen sein werden, werde ich von einem zum anderen reisen und mich verwöhnen lassen.
Ich saß in der Pizzeria gleich neben dem Altenheim. Als einziger Gast, wie schon ein paar Mal nachmittags nach meinem Dienst. Ich saß an dem langen Tisch zwischen Fenster und Heizung und ordnete gedankenverloren die Blumen in der Vase. Der junge Mann mit dem dunklen Pferdeschwanz im Nacken hatte mir wie immer die Karte gebracht und gefragt, ob ich schon wisse, was ich trinken wolle. »Das Übliche«, hatte ich gesagt, und er hatte gegrinst. Lange Haare bei Männern mag ich nicht, aber nett war er trotzdem. Als ich nach der Speisekarte greifen wollte, zog er sie zurück. Er neckte mich, das tat mir gut heute. Ich hatte lange mit Oma Hedwig über die Kinder gesprochen und war deprimiert. »Na, gib schon her«, sagte ich ernst, »ich habe Hunger.« Dann nahm ich die Karte und tat so, als würde ich sie lesen.
Es war Herbst, und wenige Wochen vorher war ich für ein paar Tage in Tunesien gewesen. In meinem Sorgerechtsprozess hatte sich nichts getan, aber auch gar nichts. Seit über einem Jahr war ich ohne Nachricht von meinen Kindern, nicht einmal ein Besuchsrecht hatte ich bisher erwirkt. Trotzdem bin ich zum Hof von Abdullahs Bruder gefahren. Habe geklopft und gerufen: Amin, Jasin, Amal, wo seid ihr, eure Mama ist da! So lange, bis ich nicht mehr konnte. Von weitem sah ich Amal auf dem Gelände, sie trug ihren Arm im Gips. Mein Kind verletzt, ohne dass ich helfen konnte – das brachte mich wieder an den Rand der Verzweiflung. Ich schrie und schrie mich heiser und hörte doch nichts als das Bellen der Hunde.
Als ich beim Familiengericht nachhaken wollte, war es geschlossen – Sommerpause, tut uns leid. Also versuchte ich es bei unserem Rechtsanwalt. Ich betrat die Kanzlei, da machte Monsieur Avocat die Tür hinter mir zu und stellte sich mit seinem Bierbauch direkt vor mich: »Soso, die Tochter Abdelhamids kommt persönlich bei mir vorbei, das freut mich aber«, sagte er, so dicht vor meinem Gesicht, dass ich seine Alkoholfahne riechen konnte. Was wollte er von mir? Ich bekam es mit der Angst zu tun. »Wegen der Kinder«, stammelte ich. »Mal sehen, was sich da machen lässt«, entgegnete er und kam noch näher. »Nein bitte!«, bei diesen Worten wich ich zurück, riss die Tür auf und verließ fluchtartig die Kanzlei. Zu Hause beschwor mich der Vater, durchzuhalten: Zwei, drei Jahre seien durchaus üblich bei einem Sorgerechtsprozess, zumal diese Prozesse von Männern geführt werden, die wenig Interesse daran haben, Frauen ihre Kinder zuzusprechen. Wo käme man denn da auch hin? Die Töchter sind nicht wichtig, aber die Söhne. Sie sind die Stammhalter und gehören zur Familie des Vaters, wo sie Namen und Tradition fortführen.
Ich schaute noch immer in die Speisekarte. Schon zweimal war der Kellner mit dem Zopf vorbeigekommen, und ich hatte jedes Mal abgewunken. Ich stützte meinen Kopf in die Hand und versuchte die Angebote zu lesen und auseinanderzuhalten. Ich hätte ihm ja irgendwelche Ziffern sagen können, die am Rand der betreffenden Pizza standen. »Na, was darf's heute sein?«, fragte er mich nun wieder. Markus hieß er, ich hatte ihn gleich das erste Mal gefragt, er studierte Informatik und verdiente sich sein Studium mit dem Job in der Kneipe. Ich überlegte, starrte von Neuem in die Karte. »Weiß nicht.« Ich schaute ihn an, ließ ihn warten. Eigentlich nicht mein Typ, groß, kräftig, ein Schrank, blaugraue, tiefliegende, aber liebe Augen, ein Doppelkinn, jünger als ich.
»Also, einmal ›Ich weiß nicht‹, das notier ich schon mal«, versuchte er einen Witz. »Ach«, sagte ich, ohne auf ihn einzugehen, mir war nicht danach. »Ich kann mich nicht entscheiden. Kannst du mir nicht etwas empfehlen?« Wir hatten uns von Anfang an geduzt, diesen ungezwungenen Umgang unter gleichaltrigen Deutschen hatte ich im Frauenhaus kennengelernt, und er gefiel mir. »Was magst du denn gerne?«, fragte er und setzte sich neben mich auf die Bank. »Dann stell ich dir etwas zusammen.« – »Wie zusammenstellen?« – »Auf deine Pizza kommt nur drauf, was du gerne magst.« – »Aber ich weiß doch nicht, was ihr alles habt, und manches kenne ich vielleicht gar nicht.« – »Hey, dann komm mit in die Küche, und such dir was aus.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Noch nie hatte ich mir mein Essen im Restaurant selbst zusammenstellen und in der Küche aussuchen können.
Nachdem ich alles probiert hatte, wusste ich, dass ich Artischocken liebte, scharfe Pepperoni und Krabben. Aber auch Speck, Salami, Thunfisch, Ruccola. »Weißt du was?«, sagte Markus, »ich mach dir eine Riesenpizza mit vier unterschiedlichen Teilen.« – »Wenn du meinst«, sagte ich, »und was übrig bleibt, lass ich einpacken und bring’s meinen Kindern mit.« – »Was, du hast Kinder?«, fragte er mich. »Warum kommst du dann immer allein?« – »War nur ein Witz. Den Kindern kann ich die Pizza gar nicht mitbringen, denn die leben entführt in Tunesien.« Ich ärgerte mich, dass es mir herausgerutscht war. Ich wollte Markus nicht von meinen Problemen erzählen, was gingen sie ihn an. Zumal wir nicht weitersprechen konnten, da er plötzlich alle Hände voll zu tun hatte und damit beschäftigt war, telefonische Bestellungen entgegenzunehmen und neue Gäste zu bewirten. Obwohl alle vier Pizzateile gut schmeckten, ließ ich sie an diesem Tag fast unberührt stehen und ging schnell nach Hause.
In meine eigenen vier Wände. Als ich im Herbst nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte das Frauenhaus eine kleine Wohnung für mich gefunden. Anderthalb Zimmer, Küche, Dusche und Toilette, nicht weit vom Flughafen entfernt. Einerseits wäre ich gerne bei den Frauen im Frauenhaus geblieben, andererseits spürte ich genau, dass ich ausziehen musste, wenn ich wirklich selbständig werden wollte. Und das wollte ich: meinen eigenen Weg weitergehen. Ich hatte viel Hilfe und Unterstützung erfahren, hatte Arbeit, hatte Deutsch gelernt. Doch ein paar Frauen im Haus waren mir mit ihren Drogenproblemen auch ziemlich auf die Nerven gegangen. Ich wollte nicht mit hineingezogen werden. Und wenn meine Kinder kämen, bräuchte ich sowieso eine eigene Wohnung.
Petra und Anja und zwei Freundinnen aus dem Frauenhaus haben mir geholfen, die Wohnung zu streichen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in einem Baumarkt, suche Abklebefolie, Pinsel und Farben aus. Ein helles Orange und Blau, ich will keine weißen Wände, die Leiter borgen wir vom Frauenhaus. Ein Wochenende lang streichen wir. Richtige Weiberarbeit. Wir kochen Tee, drehen das Radio laut auf, kleben Kanten ab und pinseln drauflos. Zuerst die Fenster und die Decken, dann die Wände. Zwischendurch machen wir Picknick am Boden mit Döner und Hähnchen vom Wienerwald. Montags habe ich Muskelkater.
Ich kann es kaum glauben, meine erste eigene Wohnung. Im Gebrauchtwarenlager hole ich mit Anja Matratze, Schrank, Couch, Tisch und Stühle für ein paar Mark. Es sind alte Stücke vom Sperrmüll, nichts Besonderes, aber ich bin stolz darauf. Vor allem auf meinen Tisch. Er ist blau gestrichen und passt gut zu den Stühlen, die ich weiß anmale. Wie Himmel und Wolken. Zum ersten Mal eine Wohnung mit allem, was dazugehört: auch Töpfe, Teller, Schüsseln und Tassen, alles gebraucht, aber egal, alles kann ich selbst aussuchen und selbst bestimmen. Das ist ein wunderbares Gefühl, schöner als wenn bei den deutschen Hochzeitsfeiern die Verwandtschaft mit Geschirr ankommt, das der Braut nicht gefällt.
»Na, wie fühlt sich eine eigene Wohnung an?«, fragte Anja bei einem der Geschirrtransporte, die wir miteinander machten. »Erwachsen!«, sagte ich. »Als ob ich jetzt erwachsen werden würde.« Endlich konnte ich mir mein eigenes Leben einrichten. Zum Einzug kaufte ich mir Wasserlilien für die Fensterbänke und einen Strauß feuerroter Astern, den ich auf den Tisch stellte.
Ich hatte mich auf die Wohnung gefreut. Doch schon in den ersten Tagen merkte ich, dass es nicht einfach werden würde. Im Frauenhaus war ich aufgehoben, und ich hatte mich an den ganzen Trubel gewöhnt. Immer war jemand da, mit dem ich sprechen konnte. Jetzt musste ich auf einmal allein zurechtkommen. Keiner da, wenn ich spätnachmittags von der Arbeit nach Hause kam und erzählen wollte, welche Faxen Oma Hedwig oder Herr Georg gemacht hatten. Deshalb fuhr ich anfangs täglich auf einen Abstecher im Frauenhaus vorbei, ging hinterher einkaufen, dann nach Hause, ein Brot schmieren und ins Bett, um nicht die große Stille spüren und aushalten zu müssen. Manchmal ließ ich mir auch Wasser in die Badewanne ein. Während ich darauf wartete, dass sie sich füllte, stellte ich mich ans offene Fenster. Mindestens drei Flugzeuge sah ich in dieser Zeit in Fuhlsbüttel starten und landen. Immer dicht über meinem Haus vorbei, sodass ich mich unwillkürlich duckte. Wann würden in einem dieser Riesenvögel meine Kinder sitzen? Mehr denn je dachte ich an sie.
Erinnerten sich Amal, Jasin und Amin überhaupt noch an mich? Je weniger ich von ihnen wusste, desto größer wurde die Sehnsucht. Am liebsten wäre ich zu Abdullah gefahren und hätte mich vor seine Tür gesetzt, so lange, bis er nicht mehr anders konnte, als mir die Pässe der Kinder zu geben. Ich würde ihn belagern, irgendwann würde er mürbe werden. Mich machte die Warterei schon lange mürbe. Alles Mögliche überlegte ich mir: Überfall, Erpressung, in die Wohnung einbrechen, die Algerierin als Geisel nehmen. Verdammt nochmal, ich bin doch die Mutter!
An einem dieser Grübeltage fuhr ich zu meinem Lieblingseinkaufszentrum in Mundsberg und ließ mir die Haare schneiden. Schon lange war ich um den Friseursalon herumgeschlichen. Man brauchte sich nicht anzumelden, sondern konnte einfach spontan vorbeikommen. Ich hatte mir die Haare zu einem Zopf geflochten, der mir lang über den Rücken fiel. Jetzt war ich so weit. Ich stieß die Tür auf. Sie war mit dem Riesenfoto einer Kurzhaarfrisur beklebt. Als der Lehrling am Tresen fragte, was ich wolle, sagte ich: »Der Zopf muss weg, und dann möchte ich bitte so aussehen, wie die Dame auf dem Foto an der Tür.« Dem jungen Mann fielen fast die Augen aus dem Kopf, so verwundert war er. »Die schönen Haare«, rief er aus und dann nach seiner Chefin. Eine resolute Person, die mich prüfend ansah und mir einen Katalog mit Langhaarfrisuren vorlegte: »Schauen Sie sich das an. Wollen Sie sich nicht daraus eine schöne Frisur aussuchen?« – »Nein, nein«, sagte ich, »alles muss ab, bis hoch zu den Ohren.« Sie blätterte trotzdem ein wenig mit mir im Katalog und deutete mit dem Finger auf die eine oder andere Frisur. Ich aber schüttelte jedes Mal den Kopf, bis sie merkte, dass es mir ernst war: »Okay, schneiden wir einen Bob.«
Keine zehn Minuten später saß ich vor dem Spiegel, die Friseurin bugsierte den hydraulischen Stuhl ein wenig nach oben, schaute mir von hinten über die Schulter in die Augen. »Erst schneiden, dann waschen, dann nochmal schneiden, okay?«, fragte sie. Ich nickte und hörte gleich darauf das Geräusch der Schere, die sich auf Schulterhöhe durch meine Haare kämpfte. Die Esma, die mir eine halbe Stunde später aus dem Spiegel entgegenschaute, kannte ich nicht, aber sie war mir nicht unsympathisch. Größer kam sie mir vor.
Als Markus ein paar Tage später an meiner Wohnungstür klingelte und ich öffnete, waren wir beide überrascht. Ich hatte eine Pizza bei ihm bestellt, aber nicht erwartet, dass er selbst kommen würde. Markus erkannte mich kaum wieder mit den kurzen Haaren. »Pizza. Ich wollte zu Esma … «, stotterte er. »Steht vor dir!« – »Was ist passiert?« – »Die Haare sind ab, das siehst du doch.« – »Ja, ziemlich kurz, oder?« – »Täte dir auch gut.« – »Findest du, dass meine Haare zu lang sind?« – »Viel zu lang!« Er starrte mich ungläubig an, dann lachte er schallend, wahrscheinlich war ich zu frech. Ich entschuldigte mich, wollte ihm die Pizza und die Limo bezahlen, die er mitgebracht hatte, aber er winkte ab. »Wenn ich mir die Haare abschneiden lasse, kommst du dann auf ein Picknick mit an die Alster?« – »Was ist die Alster?«, fragte ich und steckte den Geldbeutel weg. »Du lebst in Hamburg und kennst nicht die Alster?« – »Nein.« – »Na, dann lass dich überraschen. Ruf mich an, wenn du mitkommen möchtest.« Mit diesen Worten legte er einen Zettel mit seiner Telefonnummer auf den Pizzakarton, den ich noch immer in der Hand hielt.
Ich habe tatsächlich angerufen. Weil ich jemanden zum Reden brauchte. Mein Vater hatte mir von den Kindern erzählt, die erste Nachricht seit langem. Von einem Kollegen auf der Polizeistation hatte er erfahren, dass Amal häufig krank sei und dass Amin kaum zur Schule gehe. Wenn ich doch nur etwas tun könnte. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie schwer es ist, weit weg zu sein und den eigenen Kindern nicht helfen zu können, wenn man weiß, dass es ihnen schlecht geht. Schlimm, einfach schlimm. Ich musste jemandem mein Herz ausschütten, deshalb rief ich Markus an.
Er holte mich zum Picknick an der Alster ab. Mit kurzen Haaren. Extra für mich? Ich konnte es nicht glauben. Er hatte sich seine Haare für mich abschneiden lassen. »Schön«, sagte ich etwas verlegen, weil ich mir meine Rührung nicht anmerken lassen wollte. »Nicht ganz so schön wie bei dir«, antwortete er lachend. Immer hatte er gute Laune. Wir gingen zu Fuß die »schöne Aussicht« entlang, ich erzählte von mir, ununterbrochen, erzählte und weinte. Und spürte das moosig-weiche Grün unter meinen Füßen, roch die Wassertropfen in der Luft. Mitten in meinem Redeschwall aber stockte ich, ich traute meinen Augen nicht: ein See – mitten in der Stadt! So lange hatte ich schon in dieser Stadt gelebt, aber noch nie diesen See gesehen. Unmöglich. Meine Traurigkeit war wie weggeblasen. Was hatte ich nicht alles verpasst? Ich wirbelte umher wie ein Hund. Begann mit den Händen in den Blättern zu graben, die die Bäume wie bunte Stofffetzen über den Rasen gestreut hatten. Ich sammelte das Laub handvollweise und ließ es über Markus regnen, indem ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Der Arme konnte meine Freude und Ausgelassenheit kaum begreifen. »Hast du wirklich noch nie die Alster gesehen?« – »Ich schwör’s, noch nie in meinem Leben habe ich etwas Schöneres gesehen!« – »Und wie lange lebst du schon in Hamburg?« – »Über zwölf Jahre.« – »Wo warst du? Im Knast?« – »Wofür hältst du mich?«
Auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers tauchte der Fernsehturm aus dem Nebeldunst auf, und auf dem violettblau schimmernden Wasser zogen Paddler ihre Runden. Es war ein sonniger Nachmittag Ende Oktober. Markus breitete eine Decke auf den feuchten Rasen und packte seinen Rucksack aus. Eine selbst zubereitete Fischplatte. Woher wusste er, dass ich Fisch liebte? Himmlisch. Zum Schluss zog er ein Schachspiel heraus. Und während ich ihm meine ganze unglückliche Ehegeschichte und den Kampf um die Kinder erzählte, liefen Jogger mit ihren Hunden um die Wette, küssten sich Pärchen unter den Bäumen, und Markus versuchte mir das Spiel mit den Bauern und der schwarzen und der weißen Königin beizubringen.
Er wolle mir helfen, sagte er. Aber wie sollte er mir helfen können? Es gab keinen Platz für einen Mann in meinem Leben. Ich war nicht verliebt, dazu war ich viel zu traurig und verletzt. Die zwölf zurückliegenden Jahre hatten traumatische Spuren hinterlassen. Alles was ich von Männern kannte, waren Schläge, Unterdrückung und Demütigungen. Wie konnte ich mich da noch auf einen einlassen, wenn ich immer mit dem Schlimmsten rechnen musste? Meine Mutter sagte, sie hasse Männer. Ich hasste sie nicht, aber ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Doch Markus war anders. Seine Höflichkeit, mit der er mir eine Serviette reichte oder ein Glas Wasser einschenkte, faszinierten mich. Ich kannte das Dienen als Aufgabe der Frau, aber nun diente er mir. Er schaute mir in die Augen, er fragte mich nach meiner Meinung, er nahm mich ernst, und er spielte mit mir ein Brettspiel, das in meiner Heimat nur Männer spielen.
In den folgenden Wochen führte er mich durch Hamburg, als sei ich eine Touristin und er der Touristenführer. Wir stiegen auf den Dom und auf den Fernsehturm, schlenderten durch Sankt Pauli und gingen abends ins Theater. Wir kauften Fisch auf dem Fischmarkt, frühstückten an der Alster und kochten gemeinsam Abendessen. Und jedes Mal, wenn Markus mir etwas Neues zeigen konnte und ich begeistert war, strahlte er, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht, nicht er mir. Stundenlang lag ich ihm mit meinen Problemen in den Ohren, erzählte und bat ihn, mir mit Anträgen und Formularen zu helfen, die ich beim deutschen Familiengericht einreichen wollte. Umsonst übrigens. Auch dort stieß ich nur auf bedauerndes Kopfschütteln: »Tut uns leid, aber auf das tunesische Recht haben wir keinen Einfluss.«
Wir führten unendlich lange Gespräche, bei denen ich weinte und Markus mich tröstete. Er erwartete nichts von mir, das war schön, aber gleichzeitig unheimlich. Ein solches Verhältnis zwischen Mann und Frau kannte ich nicht von muslimischen Beziehungen. »Ich weiß, dass das in Deutschland ganz normal ist, dass unverheiratete Frauen und Männer miteinander sprechen. Aber meine Tradition und der Glauben erlauben das nicht«, versuchte ich ihm zu erklären. »Aber es gefällt dir doch auch?« – »Ja, aber es fällt mir schwer, dich in mein Leben zu lassen oder dich als guten Freund zu akzeptieren.« – »Warum?« – »Weil ich es nicht kenne. Ich kämpfe um meine Kinder und bin mit meinen Gefühlen bei ihnen. An etwas anderes kann ich nicht denken.«
Markus tat mir gut, aber er brachte mich auch durcheinander. Manchmal sahen wir uns wochenlang nicht, dann wieder täglich. Es wurde Frühling, er ließ nicht locker, bis wir uns eines Tages nach meiner Arbeit in einem Café bei mir um die Ecke trafen. Wir saßen im Freien, es war frisch, ich hatte einen Eisbecher bestellt, löffelte eine Weile schweigend vor mich hin und kam mir vor wie vor dem Showdown in einem schlechten Film. Ich musste endlich klare Verhältnisse schaffen. »Ich kann nicht«, brach es unvermittelt aus mir heraus. »Jetzt nicht.« – »Warum nicht?«, fragte er wie immer und durchbohrte mich mit seinen unschuldigen Blicken. »Wenn du mit mir zusammen sein willst, dann musst du dich beschneiden lassen, musst Moslem werden und deinen Namen ändern, und dann müssen wir in die Moschee gehen und unsere Verbindung beglaubigen lassen.«
Ich sah ihn nicht an, während ich ihm diesen Katalog von Forderungen um die Ohren haute, sondern beobachtete ein paar Spatzen, die die Krümel unter den Stühlen und Tischen der Gäste aufpickten. »Das kannst du nicht alles wegen mir tun«, fügte ich hinzu. Dass Religion nicht Markus’ Sache war, wusste ich. Gleich würde er aufstehen und gehen, dachte ich und wartete. Doch er stand nicht auf, stattdessen zwinkerte er mit seinen blauen Augen, legte seinen Arm um meine Schultern und fragte: »Sonst noch was? Wenn du willst, werden wir all das machen, sogar noch viel mehr. Wir werden heiraten und Kinder kriegen.«
Damit hatte ich zuallerletzt gerechnet. Ich erschrak. »Am besten zehn Stück, und du ernährst uns alle als Pizzabäcker«, entgegnete ich forsch, um meine Unsicherheit zu überspielen. »Warum nicht?« – »Weil ich an nichts anderes als an meine Kinder in Tunesien denken kann und dich nur ausnütze.« Bei diesen Worten sah ich, wie sich Markus’ Augen mit Tränen füllten. Er hatte es ernst gemeint, und ich hatte ihm wehgetan.
Er passte nicht in mein Leben, trotzdem rief er Gefühle in mir wach, die ich noch nie gespürt hatte und die ich auch nicht beantworten konnte. Denn Markus zeigte mir Gefühle, die es in meinem vorigen Leben nicht gegeben hatte. Liebe, Vertrauen, all die großen Emotionen. Ich wusste nicht, was das ist und wie es sich anfühlt. Liebe war in meiner arabischen Erziehung tabu gewesen und hatte für mich als Frau weder existiert noch war sie erlaubt. Noch war ich nicht so weit, sie zu verstehen.
Aber Markus ging auf alles ein und ließ sich auf alles ein, was ich wollte. Gleich am nächsten Tag fragte er in einer Buchhandlung nach einem Koran auf Deutsch. Er hat ihn gelesen, las mir sogar laut daraus vor. Und bedrängte mich. Da bat ich einen Arzt aus Palästina, den ich kannte, die Beschneidung vorzunehmen, und ein paar Tage später meldeten wir uns bei einem Scheich in der Moschee zur Beglaubigung an. Alles ganz unspektakulär. In Jeans und T-Shirt, ohne großes Tamtam, wir zogen nur unsere Schuhe aus. Wir legten dem Scheich unsere Ausweise vor. Aus Markus wurde Mohamed, und dann leierte der Scheich seinen Spruch herunter: »Im Namen Allahs traue ich euch … « Nichts weiter. Unsere Verbindung war beglaubigt, auch wenn wir nicht offiziell verheiratet waren.
Markus tat alles für mich, ohne dass ich etwas für ihn tat. Als wir aus der Moschee kamen, überraschte er mich mit einem silbernen Anhänger. Er nahm mich mit zu seinen Freunden und stellte mich ihnen als die Liebe seines Lebens vor. Ich jedoch hatte Hemmungen, mich öffentlich zu meinem deutschen Mann zu bekennen. Keinem meiner Bekannten erzählte ich von unserer Verbindung, auch nicht meiner Familie. Ich weigerte mich sogar, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, und es dauerte lange, bis er mich berühren durfte. Wie ein heimlicher Liebhaber war er für mich.
Nur wenig von dem, was er mir gab, konnte ich zurückgeben. Aber wie auch? Ich konnte nicht anders. War noch traumatisiert von Abdullahs Schlägen und Gemeinheiten, und in Gedanken war ich ständig bei Amin, Jasin und Amal. Die wollte ich aus Tunesien holen, nichts anderes, keinen neuen Mann und schon gleich gar keine weiteren Kinder. Markus’ Liebe tat meiner Seele gut, ohne dass ich darauf antworten konnte. Ich war nicht frei. Und bevor ich merkte, dass ein Funke übergesprungen war, ist Markus eines Tages weggeblieben und nicht mehr wiedergekommen.