Verzweifelt
Wohin? Irgendwohin. Die Münzen in meiner Hand waren kühl, ich rieb und knetete sie wie Steine, das Metall beruhigte mich, und ich konnte mich daran festhalten. Ziellos quälte ich mich die lange Rampe zur Abfertigungshalle hoch. Hielt mich am hellblau gestrichenen Geländer fest. Orientalische Musik dudelte mir aus Lautsprechern entgegen. Alles verglast, ich sah durch die Fensterscheiben der Wartehalle wie aus einem Aquarium hinaus aufs Meer. Setzte mich auf einen knallroten Plastiksessel zwischen zwei Säulen. Sah Rauch aus rot-weiß gestreiften Fabrikschloten in der Ferne aufsteigen, das Wasser war grünviolett, Himmel und Wolken hatten einen Gelbstich wie ein altes Gemälde. Hier konnte ich nicht bleiben.
Du hast nichts mehr, alles verloren, von dem du je geträumt hast. Hast keinen Mann, keine Kinder, keine Papiere und keine Illusionen auf ein besseres Leben mehr, dröhnte es in meinem Kopf. Und vor allem hatte ich kein Taschentuch, um die Tränen wegzuwischen. Ich war verzweifelt, schwitzte und weinte, alles auf einmal. Durstig war ich, hatte aber nichts zu trinken, und so lief ich los, als würde ich um mein Leben laufen.
Es dauerte lange, bis ich ein Taxi fand. Dem erstbesten, das ich von weitem sah, winkte ich. »Ich will nach Hause. Können Sie mich zum Busbahnhof fahren?« Der Fahrer merkte sofort, dass ich am Ende war. »Immer mit der Ruhe«, sagte er, »steig ein.« Er sah mich mitleidig an und reichte mir eine Packung Taschentücher. »Was ist denn passiert? Wo ist denn dein Zuhause?« Wie ein Vater sprach er mit mir. Das tat gut, ich schnäuzte mich, und verschränkte die Arme vor meinem Körper wie ein Schutzschild, umklammerte mit beiden Händen meine Oberarme. Als ob ich mir selbst Halt geben wollte.
Als wir am Flughafen vorbeifuhren und ich die abfliegenden Flugzeuge sah, brach ich erneut in Tränen aus. Ein Heulkrampf schüttelte mich, so schlimm, dass ich nicht mehr aufhören konnte. All der Schmerz, den ich vor meinen Kindern und meinem Mann zurückgehalten hatte, brach nun aus mir heraus. Dem Taxifahrer tat ich leid. »Wie kann ich dir bloß helfen?«, fragte er hilflos. »Komm mit zu uns, zu meiner Frau und meinen Kindern, ich nehme dich mit, dort kannst du dich ausruhen. Meine Frau kocht für dich, du wirst essen und schlafen und morgen weiterfahren.«
Ich schüttelte den Kopf. Das war gut gemeint, aber ich wollte nicht. Keinen Trost. »Bitte zum Bahnhof«, bat ich schluchzend und weinte, weinte, weinte. Selbst schuld, hämmerte es in meinem Kopf: Daran, dass meine Welt zusammengebrochen war und dass da oben am Himmel ein Flugzeug mit meinen Söhnen auf dem Weg nach Deutschland unterwegs war. Ganz allein meine Schuld.
Auf dem Busbahnhof herrschte ein riesiges Chaos. Reisende aus allen Ecken des Landes mit Taschen, Kindern und Tieren trafen sich hier zwischen Bussen mit verwirrenden Aufschriften. Ein Lärm, nicht auszuhalten. Gegacker hier und Geplärr dort. So verheult, wie ich war, fiel ich wenigstens nicht auf. Meine verquollenen Augen, meine rote Nase, mein schweißnasses Haar, das in Strähnen unter dem Kopftuch hervorhing. Der Taxifahrer stieg aus, um sich zu erkundigen, mit welchem Bus ich fahren konnte. Ich blieb auf dem Beifahrersitz sitzen. Mit einer Packung Kekse und Wasser kam er zurück. Ich trank, essen konnte ich nicht. Als ich ihm die Fahrt bezahlen wollte, sagte er: »Kostet nichts, mein Zähler spinnt.« In meiner Hand hielt ich immer noch fest umschlossen die paar Münzen, die mir Abdullah gegeben hatte. Die streckte ich ihm nun hin und bat ihn, sich ein Geldstück herauszunehmen. Er nahm nicht viel, sagte: »Pass gut auf dich auf, Gott sei mit dir«, und dann stieg ich aus.
Von Neuem stürzten mir die Tränen aus den Augen. Ich setzte mich auf die Straße neben dem Taxistand wie eine Beduinin vor ihr Zelt und legte meine Arme mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel. Schmutzig grau waren die Hände, ich fuhr mir übers nasse Gesicht, auf dem die Tränen schwarze Schlieren bildeten. Strich unter den Augen entlang, starrte auf den dreckigen Asphalt: Kein Mensch wird mich vermissen, wenn ich jetzt verschwinden würde. Überrollt von einem Bus, verscharrt wie ein streunender Hund. Versunken in dem schwarzen Loch, das sich vor mir auftut. Eine schrille Hupe weckte mich. Ich sprang auf und schüttelte mich. Amal fiel mir ein. Meine Süße. Sie würde mich vermissen. Ganz sicher. Würde im ganzen Haus nach mir rufen und untröstlich weinen. Wie heute Morgen, als ich wegfuhr.
Alle haben geschlafen, alles war dunkel im Haus, als ich ankam. Ich legte mich sofort ins Kinderzimmer zu Amal und vergrub mich in der Bettdecke, die mir viel zu heiß war. Wie gut meine Tochter roch. Ich kuschelte mich an ihren Lockenkopf. Ich muss schrecklich gestunken haben nach dieser irrwitzigen Odyssee. Erst weit nach Mitternacht war ich nach Hause gekommen. Bis Kairouan mit dem Bus, weiter hatte mein Geld nicht gereicht. Es war schon dunkel, als ich mich an irgendeine Ausfallstraße stellte, um zu trampen. Verboten in Tunesien, für Frauen sowieso, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Ziemlich bald hatte mich dann eine Polizeistreife aufgegriffen und mit auf die Wache genommen. Scham ist nur ein schwacher Ausdruck für meine Gefühle in diesem Moment. Die hielten mich für ein leichtes Mädchen.
Mein Vater holte mich ab, nachdem die Beamten ihn angerufen hatten. Er sagte kein Wort, so wütend war er, weil man ihn mitten in der Nacht herausgeklingelt hatte. Erst zu Hause schnaubte er: »Du bringst mich noch ins Grab mit deinem Dickkopf – warum musstest du unbedingt mitfahren?« In dieser Situation konnte ich ihm nicht gut erzählen, dass ich Abdullah in Verdacht hatte, meinen Pass gestohlen zu haben. Überhaupt nichts konnte ich erzählen. Er hätte es mir auch nicht geglaubt. Ich habe ihm nie etwas davon erzählt.
Ich hörte ihn mit den Türen schlagen, drei Türen hintereinander, so verärgert war er. Scheißtüren! Während meiner ganzen Kindheit hatte ich mich hier eingesperrt gefühlt. Und jetzt wieder, hinter diesen Türen und Mauern. Aber ich spürte Amals regelmäßigen Atem an meiner Schulter, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Ein tiefes Verlangen packte mich. Ich hatte Sehnsucht nach einer Mutter, nach meiner Mutter.
Eine Mutter, die mich tröstet, die mir vertraut, die mich in die Arme nimmt und der ich alles sagen kann. Eine Mutter, die mir heiße Milch bringt oder eine Wärmflasche ins Bett legt. Aber eine solche Mutter hatte ich nie gehabt. Meine Mutter war nicht einmal morgens aufgestanden, wenn ich zur Schule musste. Immer war sie müde gewesen, taub und gleichgültig. Ich spürte, wie sich die Kälte des Hauses vom Fußende der Matratze nach oben hin breitmachte.
Am nächsten Morgen hat mich meine Tochter früh geweckt. »Wo ist Amin?«, war ihre erste Frage, »Mama, wo ist Jasin?« Ich drehte mich zu ihr, halb wach, und dachte: Wie soll ich einer Fünfjährigen einen Albtraum erklären? Die Bettdecke habe ich über uns gezogen, sie gestreichelt und ihr gesagt, dass sie mich jetzt für sich alleine haben könne. »Darüber kannst du dich doch freuen, oder?« – »Warum warst du dann gestern den ganzen Tag nicht da?«, fragte sie stattdessen. »Weil ich mich von Jasin und Amin verabschiedet habe. Es wird eine Zeit lang dauern, bis wir sie wiedersehen.« – »Warum hast du mich nicht mitgenommen, ich habe geweint.« – »War’s nicht schön bei Opa?« – »Doch, aber ich will bei dir sein.« Da drückte ich sie an mich und versprach, nie wieder von ihr wegzugehen. Ich versprach auch, mit ihr auf den Spielplatz zu gehen, obwohl es gar keinen Spielplatz in der Stadt gab. Und Gummibärchen, alles, was sie sich wünschte.
Ich konnte nichts tun. Die Zeit schlich und verging doch nicht. Ich wartete. Wieder saß ich vor dem Haus. Wenn jemand vorbeikam und mich fragte, warum ich immer noch hier in Tunesien sei, suchte ich nach einer Ausrede. Das schöne Wetter oder ich wolle warten, bis die Granatäpfel reif seien, oder einfach: Weil es mir hier gefalle. Keiner fragte genauer nach. Fragen ist nicht üblich. Ich war am Verzweifeln und versank immer tiefer in mir.
Drei Tage, vorher hatte es keinen Sinn in Hamburg anzurufen, vorher würde mein Mann nicht dort sein. Auch meine Kinder nicht. Doch wenn nicht in Hamburg, wo waren sie dann? Drei Tage zum Verrücktwerden, diese Ungewissheit. Ich vermisste meine Söhne unsäglich und machte mir die größten Sorgen, konnte aber mit keinem darüber reden. Was, wenn sie nicht angekommen waren? Von hier aus würde ich nicht einmal nach ihnen suchen können. Dieser Gedanke machte mich wahnsinnig. Ich hatte Angst anzurufen, konnte es aber gleichzeitig kaum erwarten. Es gab nur die Möglichkeit, von der Post aus zu telefonieren. Während der Öffnungszeiten von 8 bis 18 Uhr. Wenn die eine von zwei öffentlichen Telefonzellen nicht funktionierte, nahm man die nächste. Meistens waren beide kaputt.
Das erste Mal ging ich vormittags, 20 Minuten Fußweg. Der Mann hinter dem Tresen wechselte mir Geld. Eine dunkelbraune Schwingtür, ich wählte, es klingelte, unzählige Male, keiner nahm ab. Nach zehn Minuten wieder, zehn Minuten später noch einmal und 20 Minuten später wieder. Jedes Mal ließ ich es viele Male klingeln, aber am anderen Ende rührte sich niemand. Der Telefonhörer in meiner Hand fühlte sich glitschig an. Die Kinder sind in der Schule, mein Mann sicher auf der Arbeit, dachte ich. Ich war deprimiert. Irgendwann machte ich mich auf den Rückweg.
Am nächsten Tag wollte ich es nachmittags versuchen. Lief wieder die 20 Minuten zu Fuß. Ich rief an, keiner meldete sich, ich wartete, rief wieder an, und immer so weiter. Mein Herz schlug bis zum Hals, und dann geschah nichts. Wie ein Luftballon, der zerplatzt, bevor er aufgestiegen ist. Die Spannung war unerträglich. Jeden Tag ging ich nun los. 20 Minuten bis zur Post, dann nichts, keiner da. Vormittags dachte ich immer, Abdullah müsste doch zu Hause sein. Nachmittags hoffte ich, dass die Kinder da wären. Sollten sie normalerweise auch, aber sie waren es nicht.
Ich fing an, Selbstgespräche zu führen. Wie eine Irre bin ich gelaufen, die Hände gefaltet und vor mich hin betend. »Sie sind da, gleich wirst du mit ihnen sprechen, es geht ihnen gut, gleich wirst du mit ihnen sprechen, es geht ihnen gut.« Als könnte ich Jasin und Amin mit Beschwörungsformeln herbeireden. Manchmal heulte ich auch, und meine Sorgen wuchsen himmelhoch. Ich habe mir vorgestellt, dass meine Söhne gar nicht in Hamburg, sondern woanders gelandet wären, entführt seien und mein Mann auf der Suche nach ihnen.
Nach einer Woche sprach ich mit meinem Vater. »Wir müssen es abends versuchen«, meinte er. »Von einer öffentlichen Telefonzelle aus.« Da ich als Frau abends nicht alleine auf die Straße gehen konnte, wollte er mitkommen. Es war schon dunkel, immer noch warm. In den Cafés und den kleinen Läden gingen die Lichter an. Männer in dunklen Lederjacken waren in Grüppchen unterwegs. Mein Herz raste. Als ich die Nummer tippte, fing ich dreimal von vorne an, weil ich Angst hatte, mich zu verwählen. Das Rufzeichen tönte, einmal, zweimal, dann klickte es: »Hallo, hallo, hier ist Mama«, sagte ich auf Deutsch und »die Ummi, hier ist Ummi, salam, salaaaaam« auf Tunesisch. Ohne jemanden zu hören und ohne auf eine Antwort zu warten, stammelte ich immer wieder das Gleiche in den Hörer, so als hätte ich viele Worte nachzuholen.
Erst als ich eine Atempause machte, drang eine Stimme zu mir durch. Eine fremde Stimme, mit der ich nicht gerechnet hatte. »Doch verwählt … «, ging es mir spontan durch den Kopf, während die Stimme fragte, »Hallo, wer ist denn dran? Hier ist El Hemla.« Eine Frauenstimme, ganz fremd, oder doch nicht? Ich kannte sie, war aber zu aufgeregt, um etwas dazu zu sagen, nur: »Kann ich meine Kinder sprechen, ich will mit Amin und Jasin sprechen.« – »Das geht nicht, sie schlafen schon. Das müsstest du als Mutter doch wissen.« – »Ich vermisse sie aber. Wie geht es ihnen?« – »Lass sie in Ruhe. Sie stehen früh auf morgens und gehen zur Schule.« – »Hol sie mir trotzdem, ich will mit ihnen sprechen.« – »Nein, geht nicht.« – »Und wo ist mein Mann.« – »Auf Arbeit.«
Ich war geschockt. Meine Kinder oder meinen Mann hatte ich am Telefon erwartet, nicht diese Frau. Was bedeutete das? Trotzdem traute ich mich nicht zu fragen: »Was machst du denn bei uns?« oder »Warum bist du da?« Es war eine Algerierin, wir hatten sie irgendwann bei Aldi kennengelernt. Ein paar Landsleute standen um sie herum, weil sie weinte. Ohne Geld, auf der Straße, erzählte sie, ihre Mutter habe sie hinausgeworfen. Mitleid hatten wir, die Arme, und dieses Gefühl, »wir Ausländer stehen zusammen«. Ich lud sie sogar ein vorbeizukommen. Sie kam auch ein paar Mal, als mein Mann da war. Aber ich dachte mir nichts dabei.
Nun genierte ich mich, sie nach meinen Kindern zu fragen. Mein Magen krampfte sich zusammen, und sofort war dieses Gefühl wieder da, das ich auch am Hafen beim Abschied von Abdullah gespürt hatte: das Misstrauen und dieses »Jetzt-bloßnichts-Falsches-sagen-sonst-siehst-du-deine-Kinder-nie-wieder«. Ich zwang mich sogar, freundlich zu sein. Aber meine Stimme war mir fremd, als ich zögernd sagte: »Na dann, dann ruf ich ein anderes Mal wieder an.« – »Kannst du versuchen, ja«, hörte ich sie und dann nichts mehr. Aufgelegt, das war’s.
Als ich aus der Telefonzelle kam, kläfften die Straßenhunde wie immer in der anbrechenden Nacht, und irgendwo antwortete das gellende Wiehern eines Esels. Die Töne kamen von weit her und lullten mich ein. Ich war ganz benommen, doch mein Vater packte mich am Arm und wollte sofort wissen, was war. »Die Kinder schlafen, es geht ihnen gut«, antwortete ich einsilbig. »Und?« – »Abdullah war nicht da, aber eine Frau war am Telefon, die hat’s mir gesagt.« – »Was für eine Frau?« – »Ich kenne sie nur flüchtig. Sie war ein paar Mal bei uns, weil sie Hilfe brauchte.« – »Ist doch gut, dass jemand für die Kinder da ist. Abdullah wird sie engagiert haben, damit sie sich kümmert, wenn er bei der Arbeit ist.« – »Ja, wahrscheinlich.« In dieser Nacht legte ich mich nicht zu Amal auf die Matratze, sondern schloss mich stundenlang auf der Toilette ein, dem einzigen Raum im Haus, der abzuschließen war, und kauerte auf dem kalten Fliesenboden. Was war mit meinen Söhnen?
Am nächsten Morgen ging ich wieder zur Post. Wenn mein Mann auf Spätschicht war, musste er doch vormittags zu Hause sein. Müsste er eigentlich, dachte ich, war er aber nicht. Wieder ließ ich es bis zum Besetztzeichen klingeln, wieder nahm keiner ab. Und wie immer juckte meine Haut, weil ich mich so wahnsinnig aufregte. Ich kratzte mich blutig, zuerst am Ohr, dann die Arme. Hatte da jemand den Telefonstecker herausgezogen? Die wollten ihre Ruhe haben. Aber warum?
Ein paar Tage lang wieder nichts. Kein Telefon, keine Post, das machte mich krank. Ich weiß nicht, wie ich es überlebte. Nur noch im Tran. Bis eines Abends das Nachbarskind völlig außer Atem an unserem Hoftor klopfte: »Esma, Esma, schnell, ein Anruf für dich, aus Deutschland.« – »Ich komme.« – »Mama sagt, er ruft gleich noch einmal an, in fünf Minuten.« Ich renne los, ohne Schuhe und ohne Kopftuch. Von der Gartentür des Nachbarhauses aus höre ich schon das Klingeln, ich stürme die Stufen hoch in den Flur. Ich weiß sofort, dass Abdullah dran ist.
Er legt auch sofort los, ohne eine Begrüßung, ohne ein »Wie geht’s?«. Sagt nur: »Was soll das? Warum rufst du dauernd bei uns in Deutschland an. Lass das sein. Lass uns in Ruhe.« Ich habe noch nicht einmal richtig Luft geholt, da dringen die Sätze wie eine Strafpredigt in meine Ohren. Als ob ich etwas falsch gemacht hätte. Darauf bin ich nicht gefasst. Ich sacke zusammen, es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Dann halte ich mir ein Ohr zu, um genauer zu hören. Was schimpft er da? Wie kommt er dazu?
»Ich muss doch wissen, wie es meinen Kindern geht«, rufe ich ins Telefon. »Warum soll ich nicht mit ihnen telefonieren? Zwei Wochen ohne Nachricht. Ich bin fast gestorben vor Angst. Bitte gib mir wenigstens die Kinder. Es sind doch meine.« – »Nein, hier ist schon jemand, der sich um sie kümmert«, tönt es mir entgegen. Wie soll ich das verstehen, das ist doch nicht möglich? »Wieso? Warum? Wie meinst du das?« – »Dass – du – wegen – der – Kinder – nicht – mehr – anzurufen – brauchst. Hier – ist – schon – jemand – der – für – sie – sorgt«, betont Abdullah Wort für Wort. »Brauchst – du – gar – nicht.« – »Nein, bitte, was soll das denn heißen?« – »Dass du die Kinder nicht wiedersehen wirst. Kannst du gar nicht. Du kannst nicht kommen ohne Pass.« – »Aber du wolltest doch … «
Ich stocke, die Zeit bleibt stehen, und ich höre mich nur noch brüllen: »Was habe ich denn getan, sag mir, was ich getan habe, dass ich nicht mehr zu meinen Kindern kommen darf?« Atemlos. »Ich will sofort mit Jasin und Amin sprechen. Was ist mit den Kindern?«, schreie ich. Ich höre kaum, was Abdullah am anderen Ende der Leitung sagt, ich rufe nur immer wieder nach meinen Söhnen. Doch er lässt mir keine Chance. Er will mich loswerden, endlich kapiere ich es, er sagt es klipp und klar: »Vergiss einfach, dass du je in Deutschland warst. Vergiss, dass du Kinder hast, aus, vorbei. Anssi lau led! – Vergiss die Kinder!«
Tüüüt, tüüüt, tüüüt, tüüüt, tüüüt, wie von weit her höre ich dieses Tuten. Aus einer anderen Welt. Langsam hänge ich den Hörer ein, vorsichtig, ich will doch das Telefon der Nachbarn nicht kaputt machen. In meinem Kopf dreht sich alles, die Gegenstände um mich verschwimmen, wie im Nebel sehe ich die Nachbarin, wie sie auf mich zustürzt, als ich zu Boden gehe. Ihr gellender Schrei, »Hilfe!«, dann ist nur noch Leere, alles schwarz.
Meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als mir die Frau Wasser ins Gesicht schüttete und panisch rief: »Esma, was ist mit dir? Esma, wach auf.« Sie schlug mir ins Gesicht. Kniete direkt neben mir. »Was ist passiert?« – »Was ist mit dir?« – »Mach die Augen auf!« – »Was ist mit den Kindern?« Ich konnte nicht antworten, lieber wollte ich sterben.
Von weitem hörte ich meine Mutter. Plötzlich habe ich sie vor Augen, wie im Traum, diese kleine, gebückte Frau, die einmal schön war, aber viel zu früh alt geworden ist, sodass ich ihre Augen vor lauter Falten nicht mehr sehen kann. Ich höre sie, wie sie schimpft, mit ihrer plärrenden Stimme, vor sich hin meckert: »Alles die Schuld der Männer, an allem sind die Männer schuld. Abdullah, dieser Hund, seine Schuld. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Hab es gleich gesagt. Was tut er meinem Mädchen an? Was tun uns die Männer an, ich hasse sie.« Noch immer habe ich die Augen geschlossen, ich will sie nicht aufmachen, nie wieder. Meine Ummi ist nun ganz nah bei mir: »Wäre besser für dich zu sterben, als so zu leiden. Lieber Tod als Leiden. Lebt sie noch, oder ist sie tot?« Mitleidig hört sich diese Frage inmitten ihrer Lamentiererei an. Als ob beides möglich sei.
Mich so zu sehen, erinnerte sie an ihr eigenes Leiden, und es tat ihr in der Seele weh. Mit beiden Händen begann sie mich nun zu streicheln, über meine Wangen hoch bis zum Scheitel und nach unten zum Kinn. »Ist nicht schlimm«, murmelte sie. »Nicht schlimm. Die Männer sind fürs Drama da, sonst für gar nichts. Sie machen die Familien kaputt, und wir Frauen leiden. Nicht schlimm.« Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie blass sie war, sie zitterte, kein schöner Anblick. Die Mutter mit ihren vielen Tüchern um Kopf und Körper. Keine Frau, sondern ein Knäuel aus Stoffen. Was muss sie erst gelitten haben!
Ich hatte meine Söhne verloren. Mehr noch, neben dem Schmerz kroch nun auch Scham in mir hoch. Alle hatten es mitgekriegt, die Nachbarschaft, die Familie, die Verwandtschaft: Esma wurde von ihrem Mann verlassen. Abdullah hat sie verstoßen und die Kinder mitgenommen. Als ob es meine eigene Schuld sei. Ich schämte mich, fragt sich nur wofür? Ich hatte doch überhaupt nichts Schlimmes getan, Schlimmes war mir angetan worden! Aber ich wusste, dass alle mich dafür verurteilen würden, dass mein Mann mich verlassen hatte. Keiner fragte nach mir und wie es mir ging. Nie trägt der Mann die Schuld, immer ist es die Frau. Die nicht gehorsam war, nicht demütig genug oder zu viele eigene Wünsche hatte.
Ich litt und schämte mich gleichzeitig. Weil ich in den Augen der anderen Unrecht getan hatte. Aber verdammt nochmal: Abdullah hatte mir alles, was ich hatte, genommen. War nicht mir Unrecht widerfahren? Es wäre besser, tot zu sein, meine Mutter hatte schon recht. Ich wünschte wirklich, ich wäre tot. Wollte nie mehr aufstehen, mich nicht mehr rühren. Wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Ende, aus.
»Bleib bei uns«, sagte die Mutter »Vergiss diesen Hurensohn in Deutschland. Er hat dich verlassen und deine Kinder entführt. Jetzt soll er sehen, wie er damit zurechtkommt. Sind doch seine Söhne, auch wenn er das bisher nie gezeigt hat. Lass sie, wo sie sind. Bau dir hier ein neues Leben auf.« Meine Mutter wollte mich trösten, aber mir die Kinder ausreden zu wollen war das Schlimmste, was sie machen konnte. Was sollte das, Amin und Jasin gehörten zu mir! Ich konnte mir keine Zukunft ohne sie vorstellen. Wusste meine Mutter das nicht? Nein, das spürte sie nicht. Nicht mehr. Das Leben hatte sie so abgestumpft. »Nein«, schrie ich wild. »Nicht ohne meine Kinder.«