Erste Schritte
Es wurde Frühling, 1983, inzwischen war ich fast zweieinhalb Jahre in Hamburg, und ich kannte schon die Krokusse und Primeln, womit die Einfassungen der Bäume bepflanzt waren. »Salam«, grüßte ich sie wie lebendige Wesen. Es war an einem Nachmittag, der Tag war schon warm, als die Frau mit ihrem Sohn zum Spielplatz kam. Ich saß mit Jasin auf dem Schoß auf der Wippe. Obwohl mich die Sonne blendete, erkannte ich sie sofort. Sie war mir ein paar Monate zuvor beim Einkaufen im Penny-Markt aufgefallen. Sie in einem Gang zwischen Regalen, ich im anderen, am Ende standen wir uns gegenüber. Ihr Sohn saß im Kindersitz des Einkaufswagens und quengelte. Da hob sie ihn heraus, küsste ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr, sodass er lachte. Wie sie ihn so schnell beruhigen konnte, wunderte mich. Ich mit meinen beiden, Amin an der Hand, Jasin im Kinderwagen, hätte nicht die Geduld gehabt. Sie wirkte selbstbewusst und offen. Wir schauten einander an, fragend, ohne die Worte laut auszusprechen: »Na, bist du auch Tunesierin?« Beide waren wir unverschleiert.
Wir hatten damals nicht miteinander gesprochen, aber auf dem Spielplatz erkannte ich sie sofort wieder. Die dicken roten Haare, ihr ungewöhnlich blasser Teint, die dunklen Augen. Ihr Sohn war ein spilleriger Junge, zart, mit langen Wimpern, aber ein Lausbub. Er musste ungefähr in Amins Alter sein. Schnurstracks rannte der nun auf meinen Sohn zu, boxte ihn, den Schüchternen, ein wenig, und schon rollten sie zusammen im Sand. Ein Grund, seine Mutter anzusprechen. Auf Arabisch: »Wir haben uns schon bei Penny gesehen.« – »Ja, ich erinnere mich.« – »Du sprichst ähnlich wie ich. Kommst du auch aus Tunesien?« – »Ja, aus dem Südwesten.« – »Ich auch, nicht weit von Sbeitla.« – »Dann sind wir ja Nachbarinnen. Ich bin Karimah.« – »Esma, Esmahene eigentlich, aber ich kürze den Namen ab, ist einfacher.« – »Und hübscher.« Sie lachte offen, und wenn sie lachte, legte sie in einer ungewöhnlichen Mischung aus Ironie und Ernst ihre Stirn in Falten. Das irritierte mich, gefiel mir aber.
Ich war von der Wippe heruntergestiegen und kickte mit meinen Schuhspitzen den Sand auf dem Platz vor mir her. Wir setzten uns auf eine Bank. Im Nu waren wir mitten im Gespräch. Wo wir wohnen und wie lange wir schon hier in Deutschland sind und wie es uns hier geht und überhaupt – alles auf einmal. Einfach das Übliche, wann wir aufstehen, was wir kochen. Ich glaube, es vergingen Stunden. Es war, als ob wir uns schon ewig kannten. Noch nie habe ich mit jemandem so lange gesprochen. Es war wie eine Befreiung. Wir beklagten, dass wir so weit weg von der Familie wohnten, hier so gut wie alleine und traurig waren.
»Seit wann bist du verheiratet?«, fragte ich Karimah. »Bald drei Jahre«, antwortete sie und wiegte den Kopf. »Uuuund?«, fragte ich und dehnte das U in die Länge, da ich nicht unbedingt eine Antwort erwartete. Ich schaute sie an. Karimah reckte den Kopf in die Höhe, sagte nichts, doch plötzlich schob sie mit den Händen die Ärmel ihrer rosa Bluse hoch. Nun sah sie mir direkt in die Augen. »Da, schau!« Sie heftete ihren Blick auf mich, sodass ich ihr nicht ausweichen konnte. Und ich sah die Blutergüsse auf ihren Oberarmen, rot, blau, gelb. »Scheiße«, sagte ich nur, nichts weiter, stand auf und legte das Baby, das ich die ganze Zeit auf dem Arm gehalten hatte und das nun eingeschlafen war, in den Kinderwagen. Dann krempelte ich meinerseits die Ärmel auf, ein wenig langsamer als sie, und verschränkte meine nackten Arme vor der Brust. Als Karimah meine blauen Flecken sah, legte sie ihre Stirn in Falten, einen kurzen Moment nur und brach dann in lautes Gelächter aus.
Es war zu komisch: zwei Frauen, die sich auf dem Kinderspielplatz ihre blauen Flecken zeigten. Aber ich verstand sie nicht sofort. Was hatte sie? Lachte sie mich aus? Ich brauchte eine Weile, dann lachte ich mit. Es war das befreiende Lachen von Schicksalsgenossinnen. Wir kicksten und glucksten. Die blauen Flecken machten uns zu Blutsschwestern, sie waren unser Geheimnis. Plötzlich hatte ich eine Verbündete: Karimah. Mit ihr teilte ich meine Schmerzen. Nie zuvor hatte ich jemanden so nah kennengelernt. Karimah gehörte zu mir, wir gehörten uns, sie war meine Freundin, mein Mann kannte sie nicht. »Komm mit zu mir«, sagte sie, »ich zeig dir, wo ich wohne.«
Unsere beiden Söhne hatten die ganze Zeit gespielt und waren glücklich zusammen. Ich auch. Karimahs Wohnung war größer als unsere, weniger feucht, sonnig. Wir kochten Tee aus frischer Minze, meine Freundin stellte ein niedriges rundes Tischen auf den Wohnzimmerfußboden, wir legten eine Decke drum herum. Mit einem langen Strahl von hoch oben, damit sich Schaum bildet, gossen wir den Tee in kleine Gläser. Dann setzten wir uns auf den Boden und tranken ihn sehr süß, wie zu Hause.
Beide waren wir zwangsverheiratet worden mit einem Mann, den wir nicht kannten, beide nach Deutschland verfrachtet worden, ohne dass wir es wollten. Karimah und ich konnten gar nicht aufhören zu erzählen. Endlich sprechen, nicht mehr schweigen und alles hineinfressen – das war schon viel.
Mit Abdullah konnte ich nie reden. Das hat mich stolz und trotzig gemacht. Aber mit Karimah lachte ich, lange hatte ich nicht so viel Spaß gehabt. Zum Schluss überlegten wir tatsächlich, wie wir unsere Ehemänner am besten verlassen könnten. Abhauen? Es war ein Witz, aber immerhin dachten wir darüber nach. Natürlich verabredeten wir uns für den nächsten Tag und auch für den übernächsten und für alle Tage auf dem Spielplatz. Karimah brachte etwas zu essen mit, ich habe etwas mitgebracht. Die Kinder spielten im Sand, und wir saßen da und redeten. Es war das schönste Frühjahr, der schönste Sommer und der schönste Herbst, den ich je erlebt habe. Meine ersten Schritte raus aus der Isolation.
Abdullah erzählte ich zunächst nichts von meiner Freundin. Auch Karimah erzählte nichts. Ihr Mann arbeitete in der gleichen Firma wie mein Mann und wie viele andere ausländische Gastarbeiter. Wenn unsere Männer Frühschicht hatten, trafen wir uns vormittags, gingen einkaufen zu Penny. Wenn sie Spätschicht hatten, war es noch schöner. Kaum waren sie weg, waren wir draußen, auf dem Spielplatz oder in der Fußgängerzone von Harburg. Die war nicht weit, vielleicht 400 Meter von unserem Haus entfernt, aber ich war noch nie dort gewesen. Nun ging ich heimlich an den kleinen Geschäften aus Backstein vorbei, sah in die Schaufenster. Sah zum ersten Mal, dass es nicht nur Supermärkte gibt, sondern Läden, in denen nur Schuhe verkauft werden oder nur Fotoapparate oder Zeitschriften. Meine Freundin kannte sich aus, sie ging dort öfter shoppen. Nie hätte ich mich das getraut. Ganz abgesehen davon, dass Abdullah es mir nicht erlaubt und mir auch kein Geld dafür gegeben hätte.
Geld hatte eigentlich auch Karimah nicht, doch sie war Meisterin im Sparen und im Geldverstecken. Das konnte sie gut. Wenn ihr Mann ihr 50 Mark Haushaltsgeld gab und meinte, das sei für eine Woche, dann hat sie es immer geteilt. Eine Hälfte für sich und die andere Hälfte für Kartoffeln und Brot. Sogar ein Sparbuch hat sie angelegt und über viele Jahre gespart, was sie nicht für Parfum und Süßigkeiten ausgab. Schade, das konnte ich nie. Abdullah ließ mir immer nur ein paar Pfennige da, für alltägliche Kleinigkeiten wie Fencheltee oder Eis für die Kinder. Das Geld, das ich hatte, gab ich sofort wieder aus. Klamotten und Schuhe durfte ich sowieso nicht alleine kaufen.
Viele Monate später erwischte mich Abdullah mit meiner Freundin. Komischerweise hat er nicht viel dazu gesagt. Weil unsere Söhne sich angefreundet hatten und zusammen in den Kindergarten gehen wollten, sahen wir uns dann auch immer öfter mit der ganzen Familie. Die Männer kannten sich, sie übernahmen die Kindergarten-Anmeldung, wie sie alle Formalitäten übernahmen. Ich konnte noch immer kein Deutsch, Schreiben sowieso nicht. Aber ich war froh, dass ich Karimah hatte, bis heute bin ich froh. Sie hat mir ihre blauen Flecken gezeigt, und ich habe ihr meine gezeigt. Wir haben sogar drüber gelacht und unsere Männer zur Hölle gewünscht. Und wir haben unsere Kinder gesehen. Und wir wussten, die blauen Flecken haben nichts zu bedeuten. Für unsere Kinder könnten wir mehr ertragen.
Bestimmt war mein Mann unzufrieden mit mir, es konnte gar nicht anders sein. Er hatte ein Anrecht auf mich, dem ich mich nicht entziehen durfte. So hatte ich es gelernt. Aber wie konnte ich mit ihm schlafen, wenn er mich ständig schlug? Das tat weh, verdammt weh, auch in der Seele. Doch anstatt Abdullah zu sagen: »Ich bin unglücklich mit dir«, sagte ich ihm: »Ich bin nicht glücklich in Deutschland.«
Jasin war knapp zwei Jahre alt, als wir mit den Kindern zum ersten Mal nach Tunesien in Urlaub fuhren. Fast drei Jahre lang hatte ich meine Familie nicht gesehen. Mein Vater hatte uns mitten in der Stadt, nicht weit von dem ausgetrockneten Flussbett entfernt, in dem wir als Kinder immer gespielt hatten, einen Bauplatz gekauft.
Meine um ein Jahr jüngere Schwester, Nora, war inzwischen auch aus dem Haus. Sie hatte eine Ausbildung angefangen, wieder abgebrochen, war verheiratet. Und unglücklich wie ich. Als Kinder waren wir wie Zwillinge gewesen, alles haben wir zusammen gemacht. Als ich die Schule abbrach, hat sie auch abgebrochen, und als mein Vater mich mit 16 kurzzeitig auf eine Haushaltsschule schickte, wo ich Stricken lernte, wollte sie auch Stricken lernen. Nora stand Schmiere, wenn ich über die hohe weiße Mauer, die der Vater ums Haus gezogen hatte, um seine Töchter zu schützen, in Nachbars Garten kletterte. Ich rollte ein Fass in die Ecke, zog mich hoch und sprang drüber. Verboten? Egal. Meistens schürfte ich mir die Hände dabei auf. Und meistens kam ich auch sehr schnell wieder zurück, aber immer mit der Sehnsucht, gleich wieder zu gehen. Ich hatte in diesem Garten nichts zu suchen, trotzdem war Nachbars Garten mein größter Traum: Dorthin zu gehen und dort zu bleiben, an diesem Ort, der so friedlich wirkte, an dem Vaters Regeln nicht galten, ein Ort, an dem keiner streng war und wo es keinen Streit und keine Schläge gab. Nur Freiheit. Nichts weiter wünsche ich mir.
Als pubertierende Mädchen waren meine Schwester und ich die größten Freundinnen und die größten Feindinnen zugleich. Einmal, ich erinnere mich, sie war 14, ich 15, war ich auf ihre langen Fingernägel eifersüchtig. So schön waren die. Nicht rot lackiert, das durften wir nicht, höchstens heimlich, meinen Nagellack hatte ich in einem Stoffsäckchen unter der Matratze versteckt. So sehr beneidete ich Nora um ihre Fingernägel, dass ich sie eines Tages, meine Schwester hatte sich zum Mittagsschlaf hingelegt, mit der großen Schere einfach abschnitt. Mitten im Schlaf. Ich glaubte mich im Recht, schließlich hat sie mich mit ihren Nägeln oft gekratzt. Aber sie war wütend und zornig und sprach viele Tage nicht mehr mit mir. Das tat weh, auch wenn ich so tat, als ob es mir gleichgültig sei.
Die Ferien in Tunesien waren eine Zeit, die ich herbeisehnte und vor der ich gleichzeitig Angst hatte. Die Familie, alle Nachbarn glaubten: »Esma ist reich und glücklich in Deutschland.« Eine Lüge, falsch, alles nicht wahr. Aber soll ich das meiner Familie erzählen? Dass ich in Wirklichkeit alleine bin, klein, unnütz, gedemütigt, geprügelt, gefangen wie ein seltenes Tier? Wen geht es was an?
In Gedanken höre ich meine Schwestern feixen: »Die hochmütige Esma, immer wollte sie was Besseres sein – geschieht ihr recht.« Wahrscheinlich tue ich ihnen unrecht damit. Trotzdem habe ich eine Scheu. Soll ich, »die Deutsche«, ihnen unter die Augen treten, ihnen womöglich in die Augen sehen und sagen: »Alles wunderbar« oder »Alles Scheiße«? Nein, das wollte ich nicht. Mein armer Vater. Er war so überzeugt davon gewesen, dass er mir den besten und den reichsten Ehemann besorgt hatte. Ich kann ihn doch nicht enttäuschen, ihm reinen Wein einschenken und sagen: »Deutschland, schön und gut. Aber die Wohnung ist kalt und modrig, mein Mann behandelt mich wie eine Sklavin und prügelt mich, wie du die Mutter geprügelt hast.« Sicherlich würde er dann die Schuld bei mir suchen: »Du bist keine gute Ehefrau, deshalb geht es dir schlecht.« Nein, niemals.
Ich würde kein Wort sagen. Es würde mir ja sowieso keiner glauben. Und wenn doch? Wäre man schadenfroh? Diesen Triumph will ich keinem gönnen. Doch was heißt hier Triumph, in Wirklichkeit schäme ich mich. Weil ausgerechnet ich es so schlecht getroffen habe. Ungerechte Welt. Also nehme ich mir vor zu schauspielern – wie immer. Was soll’s. Indiskrete Fragen mit launischen Sprüchen parieren kann ich doch. »Trägt er dich auf Händen?« – »Nein, aber er fährt mich im Auto spazieren.« Oder: »Lebt ihr gut in Hamburg?« – »In einem Palast mit Angestellten.« Freche Sprüche härten die Seele ab. Das hatte ich schon als Kind gelernt.
Abdullah war stolz auf seine Söhne. Er führte sie zunächst seiner Familie vor, dann setzte er uns drei bei meinen Eltern ab. Alle paar Tage kam er, um nach uns zu sehen. Keine Ahnung, was er sonst trieb. Meistens brachte er Obst und Gemüse vom Markt mit. Während ich dann mit den Schwestern kochte, unterhielt er sich mit meinem Vater: das Haus. Mein Vater hatte ein Konto eingerichtet, auf das sein Schwiegersohn monatlich Geld aus Deutschland überwies. »Es wird Zeit, dass du mit deinem Haus anfängst.« – »Hilfst du mir, Abdelhamid?« – »Ich habe Material und Handwerker bestellt. Sobald du einen Plan gemacht hast, fangen wir an.«
Mit mir wurde darüber nicht gesprochen. Hausbau war kein Frauenthema. Dafür die Heirat. Ich durfte mir Klagen über Mädchen anhören, die schwer unter die Haube zu bekommen waren. »Du hast es gut! Wir haben dir den allerbesten Mann besorgt. Jetzt musst du uns helfen. Kannst du uns nicht jemanden aus Deutschland schicken, der eine deiner Schwestern heiratet?« – »Das ist nicht einfach, ich kenne nicht viele Leute.« – »Ein unverheirateter Landsmann?« – »Fällt mir kein passender ein.« – »Oder einen Deutschen?« – »Weil ich ja so viele Deutsche kenne, die auf tunesische Mädchen stehen.« Ich war bitter, manchmal konnte ich sogar richtig arrogant werden. Wieso waren sie nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen? Hatten sie nichts Besseres zu tun, als auf den reichen Mann zu warten? Und dann auch noch hoffen, dass ich ihnen dabei helfe? Das machte mich wütend. Immer und überall sollte ich helfen, mit Geld und guten Ratschlägen, nur weil ich aus Deutschland kam.
Warum spekulierten diese Mädchen alle auf den reichen Bräutigam? Anstatt sich um eine gute Ausbildung zu kümmern. Aber was soll ich mich aufregen? Ich, die genau auf diesen reichen Ehemann aus dem Ausland hereingefallen war? Und jetzt, wo man dachte, es ginge mir gut, wollten alle von mir abhaben. Dass es mir überhaupt nicht gut ging, wollte keiner sehen. Und sagen konnte ich es auch nicht, dafür schämte ich mich zu sehr.
Von Deutschland kannte ich nicht mehr als eine Dreizimmerwohnung in Hamburg-Harburg und einen Mann, der mich wie einen Boxsack traktierte und über mich bestimmte wie über einen Kanarienvogel. Aber in Tunesien spielte ich die verständnisvolle Schwester, Tochter und Tante, die alles im Griff hat und sogar noch großzügig Geschenke verteilen kann. Ich war nicht mehr die kleine, kokette Esma, sondern der Gast aus Deutschland. Alle zerrten an mir. Einerseits nervte mich diese Rolle. Andererseits gefiel sie mir, ich genoss sie sogar. Meine Familie umwarb mich wie vor der Hochzeit die Männer. Und es schmeichelte mir, hoffiert zu werden, es tat mir gut und lenkte mich vom bösen Rest ab. Ich lachte, sagte meine Meinung, beglückwünschte und tröstete, je nach Bedarf. Ein schönes Gefühl, das mich für das, was ich in Wirklichkeit erlebte, ein wenig entschädigte. Oder ein schizophrenes Schauspiel, das mich hart machte.
Plötzlich hatte ich etwas zu sagen, nur weil ich im Ausland lebte. Dass ich dort nichts zu melden hatte, spornte mich noch mehr an, in der Familie meinen Mund aufzumachen. Je öfter ich das tat, desto mehr glaubte ich selbst daran, dass ich es wirklich geschafft hatte: Vielleicht bildete ich mir ja auch alles Schlimme nur ein? Vielleicht war das Leben mit Abdullah gar nicht die Hölle? Ich spielte, dass es mir gut geht, so wie es von mir erwartet wurde.
Abdullah lud die ganze Familie ein, zu seinen Brüdern und Schwestern in den Südosten Tunesiens zu fahren. Nicht weit vom Meer hatte seine Familie dort einen Bauernhof, Hunderte von Hektar groß, mit Schafen, Ziegen, Rindern und Pferden. Die Familie war nicht arm, trotzdem war das Gehöft heruntergekommen. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser, keine Dusche und keine Toilette, nicht einmal Matratzen für die Kinder. Keine Küche, nur Hütten für jeweils eine Familie. Ein ganzes Dorf voll mit Onkeln und Tanten. Außen herum war eine drei Meter hohe Mauer gezogen. Wie eine Burg. Dahinter ein verwahrlostes schmales Grundstück, vertrocknete Grasbüschel, einige betonierte Flecken, Müll lag herum. Es war heiß, Hochsommer, 40 Grad im Schatten. Wieder einmal fühlte ich mich wie eine Gefangene. Die Kinder auch, die barfuß zwischen Mauer und Hütten hin- und hersprangen. Sie quengelten, weil sie die Hitze nicht gewöhnt waren, und ich rief sie dauernd zurück ins Haus. Aber die Familie freute sich, dass der Onkel aus Deutschland gekommen war.
Der süßliche Blutgeruch von geschlachteten Schafen hing in der Luft, und überall saßen und lauerten die Fliegen. Obwohl ich mich in lange Kleider und Kopftücher gehüllt hatte, fuchtelte ich dauernd um mich, um sie abzuwehren. Wir waren noch nicht lange dort, da fing Jasin eines Morgens an, sich zu übergeben. Wahrscheinlich hatte er die frische Kuhmilch nicht vertragen. Er erbrach sich, es war erbärmlich und hörte nicht mehr auf. Nach kurzer Zeit schon war er so schlapp, dass er kaum noch die Augen aufmachen konnte.
Ich war hilflos und legte dem Jungen feuchte Tücher auf die Stirn und den Kopf. Mehr konnte ich nicht tun, als in einem fort vors Haus zu laufen und Handtücher in einen Eimer Wasser zu tauchen, den ich aus dem Brunnen gezogen hatte. Ich hatte Angst, große Angst, mein Gott, das Kind, es war doch noch so klein! Und ich betete, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Fünfmal am Tag, auf dem Teppich nach Mekka gerichtet, wie es sich für eine Muslimin gehörte.
Abdullah kam abends, wie immer war er unterwegs gewesen, diesmal um getrocknete Datteln für seine Landsleute in Hamburg zu besorgen. Als ich seine Stimme auf dem Hof hörte, rannte ich hinaus und bedrängte ihn: »Bitte, lass uns zurück zu den Eltern zu fahren. Jasin ist krank, ich habe Angst um ihn. Der Vater wird wissen, was zu tun ist.« – »Warum weißt du das nicht?«, fragte er schnippisch, als ob ihn das Ganze nichts anginge. »Wir hätten Jasin nicht die Milch aus dem Stall zu trinken geben dürfen.« – »Milch hat noch nie einem Kind geschadet.« – »Kennst du einen Arzt hier?« – »Nein.« – »Dann müssen wir zurück. Vielleicht kann ihm auch meine Mutter helfen.« Meine Mutter hatte uns Geschwister öfters von Krankheiten geheilt, später auch meine Kinder. Ich kenne ihre Rituale nicht, weiß nur, dass sie das Heilen von meiner Großmutter gelernt hat. Sie betet, legt den Kindern Kordeln mit Knoten um den Hals und vertreibt böse Geister. Ich glaube fest daran, dass das hilft.
Wir packten unsere Sachen zusammen, füllten Flaschen mit Wasser und fuhren noch in der Nacht zurück. Meine Mutter schüttelte den Kopf, als sie Jasin am nächsten Morgen sah. Sie könne nichts für ihn tun, sagte sie. Wir hatten ihn auf ein Kissen ins Wohnzimmer gelegt. Er trank nichts mehr, die Augen hielt er geschlossen, nur seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Meine Mutter schob ihre hennarot gefärbten Haare zurück, die unter dem Hijab, dem Schleier, hervordrangen, und setzte sich zu dem kranken Kind auf den Boden. Mehr nicht.
Als mein Vater nachmittags von der Arbeit kam und ich ihm Jasin zeigte, wechselte er ein paar Worte mit der Mutter und entschied, zum Arzt zu gehen. Es klingt vielleicht komisch, dass mein Vater diese Entscheidung übernahm, aber Planung und Entscheidung sind Männersache. Auch wenn es darum geht, einen Arzt aufzusuchen.
Abdullah hatte uns wieder alleine gelassen und war zur Hochzeit eines Cousins gefahren. In dem Moment, in dem wir im Hause meines Vaters waren, fühlte er sich nicht mehr verantwortlich. Was mit seinem Sohn geschah, war nun Angelegenheit des Vaters. Ein ungeschriebenes Gesetz.
Inzwischen war es fast Abend geworden, und ich war hysterisch vor Angst. Jasmin röchelte nur noch. Seine Lippen waren aufgesprungen und trocken, er trank nichts. Könnte ich ihn doch nur zwingen! Aber als ich ihm Wasser einflößte, fing er an zu husten. Da nahm mein Vater das Kind auf den Arm, und wir gingen zu Fuß zum Haus eines Arztes. Nicht weit von uns, nur die staubige Gasse hinunter bis zur geteerten Straße. Hühner liefen vor uns her und gackerten. »Sofort ins Krankenhaus«, befahl der Arzt, kaum dass er Jasin gesehen hatte. Er leuchtete ihm in die Augen: »Höchste Zeit. Das Kind braucht eine Infusion.« Wieder nahm es der Vater. Ich ging neben ihm und betrachtete mein Baby. Wie schmal es geworden war, die großen Augen geschlossen, es schlief nur noch. »Der liebe Gott hat’s gegeben. Er wird wissen, wann es wieder vorbei ist«, ging es mir durch den Kopf. Ich wundere mich heute, wie schicksalsergeben ich damals war. Natürlich wollte ich mein Kind nicht verlieren und fühlte mich doch unfähig, etwas zu unternehmen.
Es war schon dunkel, als wir im Krankenhaus ankamen, ein zweckmäßiger, nüchterner Neubau. »Wir können Ihnen nicht sagen, ob das Kind die Nacht überstehen wird«, sagte der diensthabende Arzt, während er Jasin eine Nadel in den Kopf stach, um eine Infusion anzulegen. Mir war schlecht, das konnte ich mir nicht ansehen. Ich flüchtete aus dem Behandlungszimmer und kam erst wieder, nachdem eine Krankenschwester ihn in ein Gitterbettchen gelegt hatte. Was für ein hässliches Bett! Komisch, dass mir das in dieser Situation überhaupt auffiel. Die Schwester meinte es doch nur gut und schob das Bett in ein schmutziges Kinderzimmer, in dem der grünliche Verputz von der Wand blätterte.
Ich blieb auf der Schwelle stehen. Es war mir kalt, und ich zitterte, war ausgelaugt. Das hielt ich hier nicht aus! »Was für ein hässlicher Ort.« Ich glaube, ich habe die Worte sogar laut gesagt. Ich wollte nicht mit hinein in dieses Zimmer, unter der Tür drehte ich mich um, lief den dunklen Flur entlang, raus zur Treppe und vor die Eingangstür. Auf die Idee, zu fragen, ob ich über Nacht bei meinem Sohn bleiben könne, wäre ich nie gekommen. Ich war verzweifelt vor Angst und wütend auf Abdullah, der uns in dieser Situation allein gelassen hatte. Mein Vater kam ein paar Minuten später. »Wird schon alles gut werden«, sagte er. Aber ich wollte nichts hören, keinen Trost, nichts denken, nur noch weg von hier, nach Hause und schlafen.
Natürlich habe ich nicht geschlafen in dieser Nacht, keine Minute. Sondern mich auf der Matratze am Boden unseres ehemaligen Kinderzimmers gewälzt und mir die bittersten Vorwürfe gemacht: Warum hatte ich nicht verhindern können, dass wir auf diesem furchtbaren Bauernhof unsere Ferien verbrachten? Wer weiß, woran Jasin sich infiziert hatte? Aber meinen Mann kümmerte das alles nicht. Der machte sich einfach aus dem Staub, wenn es ernst wurde. Voller Wut ballte ich meine Fäuste unter der leichten Decke.
Als ich aufstand und mir am frühen Morgen mit beiden Händen Wasser ins Gesicht klatschte und mich in Vaters Rasierspiegel betrachtete, waren meine Augen rot umrändert und die Lider dick geschwollen. Erst als der Vater rief: »Beeil dich, wir wollen Jasin besuchen«, kam Leben in mich. Ich bürstete mein Haar, schlüpfte in ein kurzes Kleid. Vater hatte seine Polizeiuniform angezogen wie immer, wenn er Eindruck machen wollte. Und oft machte er damit tatsächlich Eindruck, und wir wurden wegen der Abzeichen auf seiner Schulter in öffentlichen Einrichtungen und Ämtern bevorzugt behandelt.
Im Krankenhaus war es still. Schläfrige Stimmung, ein paar Fliegen hinter der Eingangstür taumelten narkotisiert am Boden. Keine Menschenseele war auf den Gängen, die wir hätten fragen können, wie es Jasin ginge. Also drückte mein Vater, ohne zu klopfen, die Klinke zur Kinderzimmertür herunter. Es roch stickig, die Luft war abgestanden. Doch das Bettchen stand noch dort, wo es die Krankenschwester am Abend zuvor hingerollt hatte. Der Infusionsständer daneben war verschwunden, das fiel mir sofort auf. Meine Eingeweide krampften sich zusammen, ich hatte ein Gefühl, als ob ich mich gleich übergeben müsste. Wie schon in der Nacht zuvor blieb ich auf der Schwelle stehen.
Ich konnte nicht weitergehen durch diese Welle der Angst, die über mich hereinbrach und mich wegzuspülen drohte. Ich wollte nicht hinsehen und verfolgte doch meinen Vater mit den Augen: Sehe, wie er langsam auf das Bett zusteuert. Wie er sich darüber beugt und schaut und sich nicht nach mir umdreht. Da weiß ich: Jasin liegt darin – und er lebt. Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Etwas wackelig auf den Beinen stolpere ich los und verfange mich mit den Händen im Bett eines anderen Kindes. Es fängt laut an zu weinen und nach seiner Mutter zu rufen, weil ich es geweckt habe, und gleich stimmen noch zwei oder drei andere Kinder mit ein, sodass ein einziges großes Geheule ertönt. Mein Vater flucht leise, aber mich stört es nicht. Ich stehe am Kopfende von Jasins Bettchen. Er ist wach und lächelt mich an: Ein Gefühl, wie wenn man an einem wolkenlosen Tag einen bunten Ballon am blauen Himmel entdeckt.
Die Infusionen hatten meinem Sohn das Leben gerettet. Sobald er genug Flüssigkeit aufgenommen hatte, ging es ihm wieder gut, und noch am Abend desselben Tages durften wir ihn mit nach Hause nehmen. Der Arzt gab uns ein Rezept für Medikamente mit, und so seltsam es klingen mag, zur Apotheke ging ich alleine. »Geh du mit Jasin schon voraus«, sagte ich meinem Vater. »Ich mach die Besorgungen.« Er nickte nur, so froh war er, dass er zu Hause einen fast gesunden Enkel würde präsentieren können.
Welche Ängste hatte ich durchgestanden! »Lieber Gott, ich will solche Sorgen um meine Kinder nicht noch einmal erleben, das ertrage ich nicht«, ging es mir durch den Kopf. Es war, als ob mich die Krankheit meines Sohnes plötzlich aus meiner Starre aufgeweckt hätte: Es reicht! Wozu Kinder, wenn Abdullah in den schlimmsten Situationen so tut, als gingen sie ihn nichts an? Was liegt ihm denn an den Kindern? – Nichts! Aber mir – und ich will solche Ängste nicht erneut durchmachen. Ich würde in der Apotheke nicht nur Jasins Medikamente holen, sondern mir jede Menge Packungen mit der Antibabypille geben lassen. Sie war fast umsonst in Tunesien. Abdullah hatte mich und die Kinder schnöde im Stich gelassen. Damit war Schluss jetzt. Ich wollte keine Kinder mehr. Nicht mit diesem verantwortungslosen Mann.
Ich erwischte eine Apothekerin, die ich gar nicht lange zu überreden brauchte. Ich erzählte ihr von meinem kranken Sohn, der gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen sei. Und dass ich nun keine Kinder mehr haben wolle, nicht noch mehr Sorgen. »Ich lebe in Deutschland, ich habe zwei Kinder und kann nicht mehr.« Sie sah mich an, fragte, ob es in Deutschland keine Pille gäbe. »Doch.« – »Und dein Mann …?« – »Mein Mann ist dagegen.« Es war die Frage und die Antwort, vor denen ich mich am meisten gefürchtet hatte, doch nun war es heraus. »Er sieht nicht, wie schlecht es den Kindern und mir geht«, fuhr ich fort, »er denkt nicht an uns. Nur an sich und an die vielen Kinder, die er noch haben möchte.« – »Das kenne ich, der Mann meiner Schwester ist genauso.« – »Und wenn man ihn braucht, ist er nicht da. Er hat mich mit meinem kranken Kind allein gelassen. Tanzt irgendwo auf der Hochzeit eines Cousins, während ich vor Angst sterbe, weil ich nicht weiß, ob mein Kind überlebt.« – »Nicht möglich.« – »Doch, das müssen Sie mir glauben!«
Ich redete eindringlich, es machte mir plötzlich nichts mehr aus, ob noch jemand zuhörte in der Apotheke oder nicht. Ich redete mich in Rage, gestikulierte und nahm die Apothekerin über den Tresen hinweg an die Hand: »Bitte, bitte.« Endlich wusste ich, was ich wollte. Es hatte lange genug gedauert, aber jetzt fühlte ich mich stark, die Angst um meinen Sohn und seine Gesundheit hatten mich selbstbewusster gemacht. Schließlich ging die Apothekerin nach hinten und kam mit mehreren Packungen der Antibabypille zurück. Ich konnte es kaum glauben. Es hat geklappt, so einfach. Weil ich einmal meinen ganzen Mut zusammengenommen habe. Weil ich gesagt habe, wie es mir geht und was ich will. Einer unbekannten Frau. Von diesem Augenblick an wusste ich: Es würde immer wieder schwer werden, aber wenn ich nur wüsste, was ich wollte, würde ich es auch bekommen. Dafür musste ich dann geradestehen, entscheiden, planen und Verantwortung übernehmen. Von diesem Tag an nahm ich heimlich die Pille.