6.
»Ich werde kämpfen«
Wie sollte ich die Tage überstehen, ohne meine Söhne? Die Monate und Jahre, bis sie erwachsen waren. Sie dann erst wiedersehen? Wenn sie mich dann überhaupt noch sehen wollten. Würden sie nach mir suchen? Fehlte ich ihnen? Jetzt schon? In den folgenden Tagen saß ich stundenlang mit Amal auf dem Schoß. Ich drückte sie an mich und wiegte sie, bis sie wegrannte, weil ich mich zu sehr an sie klammerte. Ich wollte nicht begreifen, was passiert war, immer wieder schüttelte ich den Kopf. So sah das Ende aus.
Wie dumm war ich eigentlich gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, was mein Mann plante? Nicht der leiseste Verdacht war mir gekommen. Und nun hatte er vor meinen eigenen Augen die Kinder entführt. Immer wieder hallten seine Worte in meinen Ohren: »Vergiss Deutschland! Anssi lau led! – Vergiss die Kinder!« Wie ein Todesurteil. Ich hörte Abdullahs Stimme tagsüber, da zuckten seine Worte wie Blitze in mir, nachts überfielen sie mich wie ein Unwetter. »Vergiss die Kinder!«
Ich kann sie nicht vergessen! Nie. Hatten sie mich am Ende schon vergessen? Woran würden sie sich erinnern? Was war ich für Amin und Jasin? Ich hatte ihnen Essen gemacht, sie angezogen und ins Bett gebracht. Ich war ihnen nicht wirklich nah gewesen. In meiner Einsamkeit war ich plötzlich überzeugt davon, dass ich mich zu wenig um meine Kinder gekümmert hatte. Jetzt, wo sie weg waren. Diese Einsicht kam spät. Aber ich hatte doch so gut ich konnte für sie gesorgt! Und stand nun mit leeren Händen da.
Haben Amin und Jasin sich von mir geborgen und geliebt gefühlt? Was würden sie sagen? Ich habe ihnen nie gesagt, dass ich sie liebe. Warum nicht? Weil es mir nicht bewusst war …
Im hintersten Winkel unseres Gartens hockte ich auf der Erde, die Beine angezogen, mein Kleid über die Knie gezogen. Es wurde Herbst, die Steppe hatte sich feuerrot gefärbt, alles Gras war verbrannt. Aber ich nahm nichts um mich herum wahr. Zerrte an den vertrockneten Pflanzen in den Blumentöpfen. Bis auf die Wurzeln brach ich die Ästchen und Zweige ab, zermahlte sie zwischen den Fingern zu Staub und verstreute ihn um mich. Wenn ich jetzt für meine Kinder kämpfe, bin ich dann eine liebende Mutter, wie ich es von mir selbst erwarte? Wollen mich meine Kinder überhaupt? Ich will meine Kinder, weil sie zu mir gehören.
Ich liebe sie, das spüre ich. Zu spät? Vielleicht würde ich ihnen niemals mehr sagen können, dass ich sie liebe! Und dass ich für sie da sein möchte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich hatte versagt. Das tat weh. Nachts konnte ich nicht schlafen. Zum ersten Mal beneidete ich meine Mutter, die immer schlafen konnte. Auch tagsüber. Weil sie sich daran gewöhnt hatte, den Schmerz zu ignorieren. Aber ich? Ich war noch nicht so abgestumpft, sondern quälte mich. Dann schlüpfte Amal wieder zu mir und nahm mich bei der Hand, um mich aus meiner Ecke zu holen. Sie war mir geblieben. Amal heißt Hoffnung. Daran habe ich mich geklammert, 24 Stunden am Tag. Ich musste sie immer um mich haben. Und wenn ich sie spürte, wusste ich, dass die Kinder ein Teil von mir waren. Ich musste für sie kämpfen.
»Esma, wo bist du?«, rief mich mein Vater. »In Gedanken«, wollte ich antworten, blieb aber stumm. Er stand am Hoftor, groß und abgemagert, er kam vom Beten, hatte einen Schal um seine Schultern liegen. »Esma, ich will jetzt von dir wissen, warum Abdullah dich verlassen hat?« – »Weiß ich nicht.« – »Aber es muss doch einen Grund dafür geben. Sag mir warum?« Mein Vater hatte meinem Mann immer vertraut und ihn wie einen Sohn behandelt. Jetzt war er enttäuscht. Er konnte nicht verstehen, dass Abdullah mich so mir nichts, dir nichts hatte sitzenlassen. Er verschränkte seine Arme. Für ihn war die Schuldfrage klar. Ich spürte, was er hören wollte. Ich sah es in seinen Augen, die mich fragend anschauten. Nicht liebevoll, sondern streng: Die Frau war schuld, wenn der Mann ging! Ich wusste, dass er das dachte. Ich sagte nichts, stand aber auf, lief ihm durch die Bäume bis zur Terrasse entgegen, senkte meinen Blick und starrte auf die Steinfliesen. Sandfarben mit grünen Einsprengseln, die grauen Fugen dazwischen verliefen ins Unendliche. Als Kind hatte ich manchmal die Augen zusammengekniffen, dann hatten die Linien angefangen zu flimmern und wie Wasserwellen zu laufen. Auch jetzt wogten sie auf und ab.
»Er ist wie mein Sohn, als Ehefrau musst du ihm gehorchen«, hörte ich den Vater sagen. »Hast du nicht auf ihn gehört? Du musst doch etwas falsch gemacht haben.« Ich schüttelte den Kopf, was hätte ich ihm antworten sollen? Er tat mir weh mit seinen Unterstellungen. »Was willst du von mir wissen?«, fragte ich ihn forsch. »Du weißt doch sowieso schon alles. Du hast mich schuldig gesprochen, warum soll ich mich verteidigen? Wie soll ich mich verteidigen?«
Da wurde er laut: »Dass du den Pass verloren hast, ist unverantwortlich. Wer kümmert sich jetzt um die Söhne? Dein Mann war nicht zufrieden mit dir und hat dich deswegen verlassen. Warum war er unzufrieden, dafür muss es doch einen Grund geben.« Ich schwieg. Wie sollte ich ihm erklären, was mir selbst unerklärlich war. War mein Mann unzufrieden mit mir, weil ich ihm zu selbständig geworden war? Weil ich arbeiten gehen und Geld verdienen wollte? Weil ich eine Freundin hatte, den Führerschein machte oder weil ich mich ihm verweigert und die Polizei geholt hatte?
Es war eine unerträgliche Atmosphäre, voller gegenseitiger Vorwürfe. Ich fühlte mich fremd. Ich war auf Urlaub nach Tunesien gekommen und nicht darauf eingestellt zu bleiben. Die Regenzeit hatte eingesetzt, ich fror. Aber woher das Geld nehmen, um Amal und mir Kleider zu kaufen? Ich hing in der Luft. Sollte ich hierbleiben und einen Job suchen, den es nicht gab? Nicht für mich, denn ich hatte ja nichts gelernt. Nicht einmal lesen und schreiben konnte ich, um ein Formular auszufüllen. Keiner würde mich beschäftigen. Eine Frau, die von ihrem Mann verlassen wird, hat keine andere Wahl, als zu den Eltern zurückzukehren. Und sie hat Glück, wenn die Eltern sie dann nicht verstoßen.
Eines Abends, wir saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, fing der Vater unvermittelt wieder mit dem Thema an: »Esma, du musst um deine Kinder kämpfen. Du musst zurück nach Deutschland, zu deinen Söhnen, du gehörst zu ihnen. Oder hol sie hierher. Wenn du es willst, schaffst du das auch.« Ich goss ihm Tee ein, der so vertraut nach Minze roch, und wunderte mich. Woher dieser plötzliche Stimmungsumschwung? Nicht ein Tag war vergangen, an dem ich nicht daran gedacht hatte: Wenn mein Vater mich jetzt unterstützen würde, würde ich meine Kinder wiedersehen. Das wusste ich. Was aber, wenn er mich nur trösten wollte? Ich trank den süßen Tee, ich freute mich, wollte es mir aber nicht anmerken lassen. Fast beiläufig fragte ich: »Ohne Pass und Visum? Wie soll das gehen? Abdullah will mich nicht haben.« – »Dann soll er dir wenigstens deine Söhne überlassen und dir einen Unterhalt bezahlen. Dafür musst du kämpfen. Von hier aus kannst du das nicht, fahr nach Hamburg!« – »Und die Papiere? Ich brauche nicht nur einen Ausweis, sondern auch eine Einladung aus Deutschland, um ein Visum zu bekommen. Abdullah wird mich nicht einladen.« – »Wir werden einen Weg finden und einen neuen Pass beantragen. Ich wäre nicht dein Vater, wenn ich dir dabei nicht helfen würde.« Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte, dachte, lass ihn einfach reden.
»Esma soll hierbleiben und die Kinder dem Vater lassen«, mischte sich da meine Mutter ein. Wir hatten sie nicht kommen hören. Plötzlich stand sie neben mir und legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Abdullah trägt die Verantwortung. Esma soll hier ihr eigenes Leben leben.« Ich sah, wie die Lippen meines Vaters anfingen zu zittern, mit einem Ruck stellte er das Teeglas, das er zum Trinken angesetzt hatte, ab. Ich sprang auf, schüttelte wütend ihre Hand von meiner Schulter und blickte in ihr faltiges Gesicht. »Was soll das schon wieder? Wie kannst du nur im Ernst denken, dass ich meine Kinder ihrem Schicksal überlassen werde. Was bist du bloß für eine Mutter?«, fauchte ich sie an. Ihre Gleichgültigkeit konnte sie doch nicht auf mich übertragen. Aber sie ließ sich nicht von meiner heftigen Reaktion beeindrucken, schüttelte ihren verhüllten Kopf, deutete auf den Vater und presste ihre Lippen zu einem Strich zusammen. Was hätte sie dafür gegeben, ihren Mann loszuwerden? In ihren Augen hatte ich Glück: Der Schläger war gegangen und hatte mich freigegeben. Das war doch das Beste, was mir hatte passieren können. Sie selbst war dem Mann ausgeliefert, abhängig, krank und seit über 30 Jahren gefangen. »Halte du dich da raus, die Kinder gehören zur Mutter, nirgendwohin sonst«, herrschte der Vater sie an.
Ich stellte den Fernseher ab. Der Vater hatte recht. Ich musste nach Deutschland zurück. Nur dort konnte ich etwas für uns erreichen. Ich wollte meine Kinder spüren, riechen, sehen. Lieber heute als morgen. Nicht einmal anrufen durfte ich und hatte keine Ahnung, wie es ihnen ging.
Amal war inzwischen fünfeinhalb Jahre alt und schulpflichtig. Ich wollte sie einschulen, egal ob wir nach Deutschland zurückkehrten oder nicht. Der Gedanke tröstete mich. So konnte ich wenigstens etwas tun, während ich wartete. Meine Tochter sollte alles lernen, was ich selbst nicht gelernt hatte. Damit sie später selbständig durchs Leben gehen würde. Unabhängig von jedem Mann und frei.
Aber ich hatte nichts, kein Geld, keine Kleidung, keine Schulsachen. Mein Vater musste mir helfen und mit uns einkaufen gehen. Er ließ sich nicht lange bitten. Wann immer es um seine Enkelkinder ging, war er großzügig. Es schmerzte ihn, dass wir Amin und Jasin so einfach verloren hatten. Wir gingen auf den Markt in der Stadt, wo die Händler ihre stinkenden Pick-ups vor den Markthallen stehen haben. Ein wogendes Meer aus bunten Tüchern, Früchten, Gewürzen und Gegenständen. Dazwischen Amal. Sie genoss es, auf der Suche nach Jacken, Kleidern, Strümpfen, Schuhen, Heften, Schultasche und Mäppchen die Holzstege zwischen den Ständen entlangzupoltern. Wenn ich ihr dann die Kleider vor Bauch und Brust hielt, um zu sehen, ob sie passten, leuchteten ihre Augen, und sie trippelte ganz aufgeregt mit den Füßen. Blaues Röckchen, weiße Bluse, bunte Bänder für ihr krauses Haar. Wie stolz sie war, plötzlich zu den großen, zu den Schulkindern zu gehören. Ich auch. Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich Schulsachen für mein Kind. Amal hüpfte und tanzte an meiner Hand.
Am Tag der Einschulung war ich mindestens so aufgeregt wie sie. Aufgeregter als an meinem eigenen ersten Schultag. Ein eisiger Wind trieb vertrocknete Grasbüschel vor sich her, und in den Straßen der Stadt wirbelten faulige Orangenschalen, Papierfetzen, Sand und vergammelte Plastikbecher durch die Luft. Aber ich sah nur meine Tochter, so stolz war ich. Zum ersten Mal begleitete ich mein Kind zur Schule. Amin und Jasin hatte ich nie zur Schule gebracht. Das wollte ich jetzt nachholen. Ich hatte Amal herausgeputzt wie einen Weihnachtsbaum und sie sogar zu einem Fotografen gebracht. Sie war die Hübscheste von allen. Die Kinder lärmten und tobten in dem kleinen Schulhof, der von einer baufälligen Ziegelmauer umgeben war. Doch Amal stand ganz schüchtern und still neben mir, sie hielt sich an meinem langen Rock fest. Alles war ihr fremd. Ich sah in ihre großen ernsten Augen, lachte sie an, griff nach ihrer Hand: Sie würde es einmal besser haben als ich. Nicht unbedingt hier, sondern in Deutschland oder Frankreich, egal wo, davon war ich überzeugt.
Als die Lehrerin ein paar Mal in die Hände klatschte, verstummten die Kinder. Die Größeren stellten sich im Halbkreis auf und sangen ein Lied. Ich sah meine Tochter, ihre runden, geweiteten Augen, und plötzlich sah ich wieder Jasin und Amin. Wie sie hinter der Stellwand am Flughafen verschwinden, die Rucksäcke auf ihren schmalen Rücken, und wie sie sich nicht einmal umdrehen. »Vergiss die Kinder!«, tönte es in mir. Das hielt ich nicht aus, ich wandte mich ab und fing an zu weinen.
Seit sechs Monaten hatte ich nichts von meinen Jungen gehört. Ein halbes Jahr ohne Lebenszeichen. An manchen Tagen wollte ich überhaupt nicht aufstehen, so deprimiert war ich, dann wieder weinte ich nur noch. Wir hatten einen kleinen Heizlüfter ins Wohnzimmer gestellt. Frostig war es, das Haus ohne Heizung kalt wie immer im Winter. Wie um einen Altar saßen wir um den Ofen herum und streckten ihm abwechselnd unsere Füße und Hände entgegen, die doch nicht warm wurden. Unsere Körper hatten wir in Decken eingewickelt. »Esma, dein neuer Pass«, rief der Vater an einem dieser kalten Tage, als er von der Arbeit kam. Endlich! Ich konnte kaum glauben, was das bedeutete. Mit einem Ruck warf ich die Decke zu Boden und lief zur Mutter, die in der Küche Gemüse frittierte. In der Luft hing der ranzig-rauchige Geruch von heißem Öl. Der Vater trat hinzu und reichte mir den Ausweis wie eine kostbare Reliquie. »Pass darauf auf. Dieses Papier erst macht jemanden aus dir.« Ein Ich! Meine Existenz hing daran. Es war ein Gefühl, als würde ich zum zweiten Mal geboren.
Ich freute mich, packte meine Mutter mit beiden Händen an der Schulter und tanzte ein paar Schritte durch die Küche. »Nein«, rief sie. »Und jetzt willst du gehen?« – »Ja! Endlich.«
Aber der Pass allein nützte mir noch gar nichts. Um nach Deutschland zu kommen, brauchte ich ein Visum von der Botschaft, und das wiederum bekam ich nur, wenn ich eine offiziell bestätigte Einladung aus Deutschland vorlegen konnte. Meine Freundin Karimah! Ob sie eine besorgen könnte? Wenn ihr Mann einverstanden wäre – bestimmt. Ich zitterte, als ich am nächsten Morgen ihre Telefonnummer wählte. Auf diese Idee hätte ich schon viel früher kommen können! Sie nahm auch gleich ab, ich rief aufgeregt ein paar Worte in den Hörer: »Karimah! Ich bin’s – Esma.« Doch am anderen Ende blieb es still. »Sag etwas, Karimah. Bist du das, oder habe ich mich verwählt? Wir haben so lange nicht miteinander gesprochen. Hallo.« – »Warum rufst du jetzt erst an?«, kam es zögernd. – »Bitte Karimah, kannst du dir das nicht vorstellen? Weil ich viel zu deprimiert war. Ich bin so verzweifelt, seit mein Mann mit Jasin und Amin abgehauen ist.« – »Warum verzweifelt?« Warum klang meine Freundin nur so zurückhaltend? Ich hatte das Gefühl, dass sie am liebsten sofort wieder aufgelegt hätte. Aber dann fing sie doch an zu reden: »Dein Mann hat uns erzählt, du hättest einen anderen und wolltest nichts mehr von uns wissen.« – »Was, wie bitte?« – »Dass du einen anderen Mann in Tunesien hast. Hast du einen?« – »Nein, wieso? Warum soll ich einen anderen Mann haben? Das wäre das Allerletzte, was ich mir vorstellen könnte. Ich habe die Nase voll von Männern.« – »Aber Abdullah hat gesagt, er sei mit den Jungen alleine zurückgekommen, weil du nicht mitkommen wolltest. Wegen eines anderen. Deswegen hast du auch deine Kinder verraten.« Das war ein Schock. Unmöglich! Wie ist Abdullah bloß darauf gekommen? – Ich? – Meine Kinder verlassen wegen eines anderen? – Nicht einmal denken kann ich so etwas. Das ist das Allerletzte. So eine abgrundtief gemeine Lüge! Abdullah hatte mir meine Kinder genommen und mir das Wichtigste im Leben geraubt, was ich hatte. Und jetzt behauptete er das Gegenteil. Ich spürte, wie eine maßlose und ungeheuerliche Wut in mir hochstieg.
»Abdullah hat mich hier ohne Pass sitzenlassen und ist mit den Söhnen abgehauen«, schrie ich ins Telefon. Mir war heiß, und auf meinem Hals breiteten sich rote Flecken aus. »Mein Ausweis war verschwunden, wer weiß, vielleicht hat er ihn sogar verschwinden lassen. Er wolle mir einen von Deutschland aus schicken, hat er gesagt. Alles Lüge!«, rief ich. »Verdammt, und ich hab nichts bemerkt. Nun wohnt er mit einer Algerierin zusammen und will nichts mehr von mir wissen. Nicht einmal anrufen darf ich. Stell dir das vor: Ich weiß nicht einmal, wie es den Jungs geht. Seit einem halben Jahr höre ich nichts von ihnen, kein Lebenszeichen. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie beschissen es mir geht? Schlecht, schlecht! Ich habe nicht mit den beiden gesprochen. Wer weiß, vielleicht haben sie schon vergessen, dass sie überhaupt eine Mutter haben. Aber sie fehlen mir so sehr. Abdullah hat mich verlassen und meine Söhne entführt.«
Ich wurde immer lauter. Endlich konnte ich meinen Zorn aus mir herausschreien. Alle Trauer, in die ich mich monatelang eingeigelt hatte, war wie weggeblasen. Karimah war die einzige Person, die mich verstehen konnte. Und wenn nicht, so war es mir auch egal. »Sag, dass das nicht wahr ist«, stammelte sie, »das tut mir so leid!« Sie fand kaum Worte für ihr Entsetzen und ihr Mitleid. »Du kennst mich doch«, rief ich, »niemals würde ich meine Kinder alleine lassen, freiwillig niemals.« – »Ja, ich weiß. Es kam mir ja auch ziemlich komisch vor. Und ich habe gleich gesagt: So etwas tut Esma nicht. Sie trennt sich nicht von ihren Kindern.« – »Hast du Amin und Jasin gesehen?«, fragte ich nun. – »Nein, sie sind nie wieder zum Spielplatz gekommen.«
Wir sprachen lange miteinander. Karimah erzählte, dass sie unsere Jungen nur einmal kurz nach dem Urlaub gesehen habe, dann nicht mehr. Die Lügengeschichte meines Mannes von meinem angeblichen Freund in Tunesien hatte sie über ein paar Ecken mitbekommen. Auch dass Abdullah mit einer anderen Frau zusammenlebte. Aber aus Not, so hatte er es wohl dargestellt, weil er jemanden brauchte, der seine Söhne versorgt, wenn sich die Mutter nicht um sie kümmert. Was für hundsgemeine Lügen. Ich war so entsetzt, dass ich es gar nicht mit Worten beschreiben konnte. Gleichzeitig schämte ich mich auch noch. Wegen seiner verdammten Lügen. Wie hat er mich dargestellt? Als Rabenmutter und Ehebrecherin. So konnte ich mich nie wieder nach Hamburg trauen.
Und schon gar nicht meine Freundin nach einer Einladung fragen. Ihr Mann würde dem nie zustimmen, weil er Abdullah nicht in den Rücken fallen wollte. Nicht wegen einer Frau, die womöglich fremdgeht und deshalb ihre Kinder vernachlässigt. Mir wurde schlecht, wenn ich nur daran dachte. Karimah fragte nicht, ob ich zurück nach Deutschland kommen wolle, als wir auflegten.
»Du musst gehen!« Mein Vater hatte für mich entschieden. Auch wenn mein Mann mir verboten hatte zu kommen. Ich musste kämpfen. Aber hatte ich überhaupt eine Chance gegen Abdullah? An manchen Tagen schien er mir unüberwindlich, und ich war hoffnungslos, an anderen wollte ich sofort aufbrechen und deutsche Urlauber am Strand um eine Einladung bitten. Doch die Touristen, die ich mit meiner Schwester in Sousse ansprach, hatten andere Dinge im Kopf als die Geschichte einer unglücklichen Mutter, die nicht einmal richtig Deutsch sprach.
Dafür machte Vater einen tunesischen Autohändler mit Wohnsitz in Dortmund ausfindig. Jeder kannte ihn. Er war der einzige Mensch in der Stadt, der einen roten Porsche fuhr. Vater lud ihn nach Hause zum Essen ein, erzählte ihm meine Geschichte, und der Geschäftsmann sagte sofort: »Geh zur Botschaft in Tunis, und schildere dort den Fall. Die werden einer Mutter, deren Kinder entführt worden sind, nicht die Einreise nach Deutschland verwehren. So herzlos ist dort keiner. Das wäre ja gelacht. Wenn dir einer helfen kann, dann die Botschaft.« Das war eigentlich naheliegend. Dass wir nicht selbst daran gedacht hatten …
Ich hatte Angst, doch mein Vater sagte: »Nimm deinen Pass und fahr nach Tunis. Du bist jetzt erwachsen und selbständig.« Noch am gleichen Tag bestellte er mir ein Sammeltaxi, und einen Tag später war ich tatsächlich auf dem Weg zur Botschaft. Zum ersten Mal alleine. Ein Regentag, das Land versank im gelbgrauen Morast aus Staub und Wasser. Aber ich hatte kaum Augen für die ebene Landschaft, in der sich die Straße ohne Kurven, Steigungen oder Neigungen kilometerweit schnurgerade wie ein mit dem Lineal gezeichneter Strich zog. Wie konnte man als Straßenbauer nur so gerade Straßen bauen? Irgendwo traf man doch immer auf Hindernisse, die umgangen oder weggeräumt werden mussten.
Ich war voller Hoffnung, fast übermütig. Endlich konnte ich etwas tun. Das Blut stieg mir in den Kopf, ich glühte, so wie ich als kleines Mädchen immer geglüht hatte, wenn ich mich vors Haus auf die Straße geschlichen hatte. Ich fühlte mich stark, weil ich wusste, was ich wollte.
Vor dem weißen Botschaftsgebäude standen zwei Wachleute, die Maschinengewehre geschultert, dazwischen eine lange Menschenschlange. Offensichtlich wollte halb Tunesien das Land verlassen. Sogar Algerier waren darunter, ich erkannte sie an ihrem Dialekt. Kommen die aus Algerien angereist, weil man hier in Tunesien leichter ein Visum für Deutschland bekommt? Haben die auch entführte Kinder im Ausland? Oder bin ich die Einzige? Ich musste lauthals über meine Gedanken lachen: O Allah, die Algerier holen sich nicht nur unsere Tomaten, sodass wir unser Couscous ohne rote Soße kochen müssen, jetzt holen sie sich auch noch unsere Visa. Wie absurd, dachte ich, während sich die Leute in der Schlange nach mir umdrehten. Meine gute Laune war ihnen nicht geheuer. Und wer hat sich meinen Mann geschnappt? – Naaa, wer wohl? – Ist doch logisch, eine Algerierin! Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr so gelacht hatte.
Als ich an der Reihe war, es hatte ewig gedauert, ich war fast die Letzte, legte ich sofort los: »Meine Kinder wurden nach Deutschland entführt … « Gleich nahm mich der Beamte am Schalter zur Seite und schickte mich in einen separaten Raum. Er war kahl mit hellgrünen Resopaltischen, die ihre beste Zeit bereits hinter sich hatten. Während ich saß und wartete, spielte ich mit meinen Fingern an den angestoßenen Tischecken herum. Hatten die kein Geld für neue Möbel? Als ein Mann in Uniform eintrat, sprang ich sofort auf und redete wild drauflos. Gebrauchte alle deutschen Worte, die ich kannte.
»Langsam, langsam«, beruhigte mich der Beamte auf Tunesisch. Mir fiel ein Stein vom Herzen, weil er meine Muttersprache sprach. So konnte ich mir die ganze Geschichte viel leichter von der Seele reden, und ich erzählte alles, was passiert war, dass ich kein Visum habe, dass mein Mann alleine mit den Kindern in Deutschland sei und dass ich unbedingt zu ihnen fliegen wolle. Warum ich denn nicht sofort gekommen sei, fragte der Mann. Ich glaube, er hatte Mitleid mit mir. Ich schaute irgendwo Richtung Fenster: »Ich habe einfach nicht gewusst, was zu tun ist. Ich war verzweifelt, unsicher, unselbständig.« Dann aber fixierte ich ihn. Auf keinen Fall wollte ich jetzt schüchtern wirken. Vorbei! So etwas würde ich nie mehr mit mir machen lassen. Und wegschicken würde ich mich schon gleich gar nicht lassen. »Wenigstens vier Wochen, Sie müssen mir ein Visum für vier Wochen geben. Ich will meine Kinder sehen, das müssen Sie mir glauben.« Meine Geschichte schien Eindruck auf ihn zu machen. »Immer mit der Ruhe«, meinte er und legte seine Hand auf meinen Arm, »Sie bekommen mehr als einen Monat!«
Dann wollte er Adresse und Alter der Kinder wissen. Was mein Mann mache, ob wir verheiratet oder geschieden seien, alles Mögliche. Ich war vorbereitet, mein Vater hatte mir das Notwendigste auf einen Zettel geschrieben. »Lassen Sie Ihren Ausweis da«, sagte der Beamte weiter. »Ich werde heute noch in Deutschland anrufen und Ihre Angaben prüfen. Wenn alles in Ordnung ist, können Sie morgen Ihr Visum abholen. Ist das okay?«
Was? So einfach? Und dafür habe ich so lange gewartet? Ich hatte geglaubt, es gäbe keinen Weg zurück nach Deutschland, und nun sagte er mir, dass ein einziges Telefonat genügte, um von hier wegzukommen. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Als ich aus der Botschaft kam, tanzte und lachte ich. Es regnete immer noch, aber ich lief ohne Schirm. Einfach geradeaus, mitten in die Stadt hinein bis zum Bazar, wo ich für meine Kinder orientalische Schuhe kaufte.
»Viel Glück damit«, wünschte der Beamte, als er mir am nächsten Tag das Besuchervisum aushändigte. »Drei Monate, reicht das? Ich hoffe, dass Sie in dieser Zeit eine neue Aufenthaltsbewilligung bekommen.« Ich schwebte vor Glück, plötzlich war alles ganz einfach. Ich wusste, ich würde es schaffen. Endlich. So glücklich war ich selten gewesen. Ich hatte einen Pass und ein Visum, das Wertvollste, was ich je in Händen gehalten hatte.
Ich ging auf einen umzäunten Park zu. Vor dem Tor saß ein Mann. Schon von weitem rief ich ihm zu: »Können Sie mir helfen?« – »Wobei?«, fragte er, ohne von seinem Kohleofen aufzublicken, auf dem er in einem alten Blechkännchen Tee kochte. Er war schmächtig, ein kleiner Kopf auf einer mächtigen Kaschabia, zwei große Hände, Gummistiefel, so saß er auf seinem Hocker über das Feuer gebeugt. »Wenn ich deine Tochter wäre?«, fragte ich, »würdest du mich dann in diesen wunderschönen Park gehen lassen?« Er zögerte einen Moment, wiegte stumm den Kopf, »eigentlich nicht«, sagte er dann. »Ein junges Mädchen spaziert nicht mitten in der Woche alleine durch den Park. Normalerweise kommen Familien am Sonntag, um hier zu picknicken, keine einsamen Mädchen.« Er erhob sich, er war bestimmt einen Kopf kleiner als ich. »Du bist nicht von hier, das erkenne ich an deinem Dialekt. Was machst du hier?« – »Ich habe einen schweren Weg hinter mir und möchte heute noch nach Hause. Ich will mich nur einen kurzen Moment ausruhen.« Ohne etwas darauf zu entgegnen, öffnete er den einen Flügel des Eisentores für mich: »Geh und such dir einen schönen Platz, aber verirre dich nicht«, sagte er. »Danke, Väterchen.« Mit diesen Worten war ich schon weg, sog die kühle, feuchte Frühlingsluft ein und rannte eine kurze Strecke. »Ich darf zu meinen Kindern«, rief ich den Vögeln zu, die durch die Luft schwirrten und sich im nächsten Moment in Wasserpfützen am Wegrand aufplusterten. Dann setzte ich mich auf eine Bank. Erst als ich die Feuchtigkeit des Holzes durch meine Kleider spürte, erhob ich mich und ging zurück.
Zu Hause verkaufte der Vater ein paar Tage später einige Schmuckstücke meiner Mutter, um genug Geld für mein Flugticket zu haben. Die Mutter schimpfte, aber das beachtete ich nicht. Dass es ihr schwerfallen würde, sich von ihrer goldenen Kette, einem Erbstück ihrer verstorbenen Schwester, zu trennen, kam mir gar nicht in den Sinn. Wenn nur Amal nicht so totunglücklich gewesen wäre! Sie tat mir leid. Ich hatte ihr geschworen, sie nie wieder alleine zu lassen, und jetzt musste ich. Aber ich konnte sie nicht mitnehmen, weil Abdullah ihre Papiere an jenem denkwürdigen Nachmittag an sich genommen und eingesteckt hatte. Selbst wenn ich gewollte hätte, ohne die Unterschrift des leiblichen Vaters konnte ich keinen neuen Pass für sie beantragen. Es war so schlimm: Ich musste meine Tochter zurücklassen, um meine Söhne zu sehen.
An dem Morgen, als ich abreiste, ging Amal nicht zur Schule. Sie wollte mich nicht fahren lassen, klammerte sich an mich, schrie und tobte. Doch ich habe mich losgerissen und bin gegangen. Ohne mich noch einmal umzudrehen. Mit einem Gefühl, als würde es mich zerreißen. Amals Schreien und Weinen begleiteten mich den ganzen langen Weg vom Hoftor bis hinunter bis zur Wegbiegung.