4.
»Wie eine Gefangene«
Eine Holzwiege mit Himmel und Sternenvorhängen. Abdullah hatte sie besorgt und ins Kinderzimmer gestellt. Ich ließ sie stehen, wo sie stand, mitten im Raum. Außer leeren Koffern und einem auf dem Boden aufgestapelten Berg von Hemdchen, Tüchern und Mützchen war das Zimmer immer noch leer. Mein Lieblingszimmer, trotzdem war Amin dort allein. Er hat viel geschlafen zu Anfang, und ich habe dauernd nach ihm gesehen. Schläft er? Atmet er noch? Ist das Kind nicht hungrig? In der Nacht bin ich aufgeschreckt, ich konnte es nicht glauben, dass er nicht mehr in meinem Bauch ist. Spürte ihn bei mir, aber er war nicht da, ich suchte ihn überall.
Ich liebte Amin über alles und konnte es doch nicht zeigen. Nicht einmal mir selbst. Darüber weinte ich jede Nacht. Ich weiß nicht, wo ich meine Liebe und Zuneigung begraben hatte. Weiß nur, dass ich mich selbst um meine Gefühle betrog. Ich schob die Wiege nicht in unser gemeinsames Schlafzimmer. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, Amin je mit in unser Bett genommen zu haben. Nicht einmal, wenn er weinte. Ich rannte dann sofort zu ihm, stellte mich auf Zehenspitzen ans Fußende seines Bettchens und schaukelte ihn, aber herausgenommen oder herumgetragen habe ich ihn selten.
Da lag er, eingewickelt in Flügelhemdchen, Strampelanzug und Mütze, wie man es mir im Krankenhaus beigebracht hatte. Stundenlang stand ich an seinem Bett und beobachtete ihn, wie er schluchzte, wie seine Lippen zitterten und ihm die Augen zufielen. Wie sich seine Brust hob und senkte, wie sich seine Augen unter den Lidern bewegten und wie er versuchte, sich die kleinen Fäustchen in den Mund zu stecken.
Amin war da, aber das Leben ging weiter wie bisher. Ich war enttäuscht. Von mir und von dem Kind. Weil ich erwartet hatte, dass nun alles anders werden würde. Aber es geschah nichts, auch mit Kind blieb mein Leben trostlos. Wenn ich darüber nachdachte, spürte ich eine große Leere in mir. Ich war traurig. Warum hatte ich so wenig Kontakt zu meinem Baby? Habe wenig mit ihm geschmust und es kaum gestreichelt. Vielleicht dachte ich, Amin ist noch zu klein, er braucht seinen Schlaf und soll seine Ruhe haben. Ich weiß nicht. Oder habe ich meine Gefühle verdrängt, weil es mir nicht gut ging und das Kind, wie alle anderen auch, unter unwürdigen Umständen gezeugt wurde?
Nach drei Wochen hatte ich keine Milch mehr, um meinen Sohn zu stillen. Ich mochte auch nicht mehr, denn jedes Mal, wenn ich ihn an die Brust legte, hatte ich das Gefühl, dass er mich noch mehr an meine unglückliche Ehe fesselte. Würde ich dieses Leben nie mehr los? Ich gab dem Kind das Fläschchen, setzte mich auf meine Decke zwischen den aufgestapelten Babysachen und wiegte es an meiner Brust. Ich brauchte Amin ebenso sehr wie er mich. Es hätte ewig dauern können. Füttern, sauber machen, jeden Tag baden – Amin war mein Ein und Alles. Trotzdem kuschelte ich wenig mit ihm. Ist das nicht traurig? Ich liebte ihn unendlich und blieb ihm doch fern.
Ich hatte mich so auf ihn gefreut! Mit ihm würde ich endlich zu einer richtigen Frau. Eine erwachsene Frau, die sich um ihr Kind kümmert. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dieser Verantwortung gewachsen war. Ich verstand mich nicht, erwartete mehr von mir. Da hatte ich endlich jemanden, der mich brauchte. Einen kleinen Kerl, den ich mir sehnlichst gewünscht hatte. Und dann spürte ich eine eigenartige Scheu, spürte ich wenig Nähe. Weil ich selbst nie Nähe bekommen habe! Es dauerte lange, bis ich das begriff.
Liebe war ein Fremdwort in unserer Familie gewesen. An ihrer Stelle standen Gebote, Tabu und Ehre. Ich hatte gelernt, meine Gefühle zu verstecken, damit bin ich groß geworden. Gefühle waren wie der Sand, der täglich mit Wasser aus dem Haus gespritzt wurde. Vor die große Mauer, die sich um den Garten zog. Innerhalb dieser Mauern herrschten die Regeln des Vaters. Regeln waren kalkulierbar, Gefühle unberechenbar und deshalb verboten. Wie sollte ich geben, was ich selbst nie erlebt hatte?
Von neun überlebenden Geschwistern war ich die Frechste gewesen, unglaublich frech. Frecher als alle anderen. Man kann sich das nicht vorstellen, aber ich war die Einzige, die sich traute und den Mut hatte, ins Schlafzimmer unserer Eltern zu gehen. Im Dunkeln, wenn beide schliefen, schlich ich mich langsam und auf Zehenspitzen zum Fußende ihres Bettes. Dort hob ich die Bettdecke an einem Zipfel hoch und schlüpfte zu ihnen ins Bett. Zu ihren Füßen lag ich dann, eingerollt auf kleinstem Raum wie eine Katze. Wie warm es dort war! Meine Mutter und mein Vater traten im Schlaf nach mir, aber ich blieb trotzdem. So groß war mein Verlangen nach ihnen. Nach Wärme. Ich habe mir ihre Nähe und Zuneigung erschlichen, sie haben mich nie dabei erwischt.
Meine Mutter kann gar nicht sagen, wie oft sie schwanger war. War es 15- oder 20-mal? Neun Kinder kamen durch, fünf starben, viele Fehlgeburten, manche wurden abgetrieben. Nur eines weiß sie noch genau. Dass sie nach der vierten Schwangerschaft nicht mehr wollte. Das fünfte Kind war ich. Sie hat alles versucht, um mich loszuwerden: Gift geschluckt, mit Nadeln operiert, doch ich blieb. Wenn sie mir das heute erzählt, lachen wir beide darüber, weil wir verstehen, warum. Trotzdem ist sie durch die Hölle gegangen, eine schlimmere als meine. Ich kann nur ahnen, was sie durchgemacht hat.
Ungefähr zwölf sei sie gewesen, erzählt meine Mutter, aber genau weiß sie es nicht, als sie von den Chefs ihres Clans, zwei Onkeln, verheiratet worden war. An einen älteren Mann. Sie hatte noch nicht einmal ihre Tage. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich jede Nacht auf sie zu legen und sie zu vergewaltigen. Mein Gott, sie war doch noch ein Kind. Manchmal versuchte meine Mutter nach solchen Nächten zu fliehen. Sie lief weit und versteckte sich dann im Gestrüpp bei den Schafweiden vor dem Dorf. Aber jedes Mal wurde sie von einem ihrer Onkel aufgegriffen, verprügelt, bis ihr das Blut in Rinnsalen über Rücken und Arme hinunterlief, und zurück zu dem alten Mann gebracht. Erst nach einem Jahr hatte die Familie ein Einsehen mit ihr, und die Ehe wurde geschieden.
Aber auch die neue »Freiheit« meiner Mutter sollte nicht lange dauern. Mit 14 wurde sie zum zweiten Mal verheiratet. Da wehrte sie sich nicht mehr und fügte sich in ihr Schicksal. Ihren ersten Sohn gebar sie mit 15, meinen ältesten Bruder. Ein lieber Mensch, der sehr unter unserem Vater litt. »Männer«, sagt die Mutter heute und lacht, »Männer hasse ich. Alle außer meinen Söhnen.« Uns Kindern hat sie wenig Zuneigung, Vertrauen, Nähe und Wärme entgegengebracht. Das alles ist irgendwo zwischen Vergewaltigung, Demütigung, Schlägen und Depressionen auf der Strecke geblieben. Erst heute können wir uns in den Arm nehmen. Manchmal streicheln wir uns und kuscheln. Als wollten wir nachholen, was nicht nachzuholen ist. Ob meine Mutter je lieben konnte? Um ihr Leiden weniger zu spüren, hat sie ihre Gefühle ausgeknipst. Vor vielen Jahren habe ich ihr Vorwürfe deswegen gemacht. Jetzt weiß ich, dass sie nicht anders konnte.
Die Tage mit Amin vergingen, die Nächte auch. Zunächst lebte ich weiter wie gewohnt. Abdullah schlug mich, ich war allein mit dem Kind. Isoliert und traurig. Und je trauriger ich wurde, desto weiter weg rückte ich von meinem Sohn. Besuch bekamen wir nie. Zu Abdullahs Freunden wollte ich nicht. Keiner sollte merken, wie schlecht es mir ging. Ich wollte mich nicht ausheulen. Es wäre besser gewesen, meinen Kummer jemandem anzuvertrauen, aber ich kannte niemanden.
Mein einziger Kontakt war die Bäckersfrau. Eine lebensfrohe Frau mit Lachfältchen um die Augen. Ich muss ihr leidgetan haben. Oft klopfte sie nachmittags und brachte wie schon beim ersten Mal ein Tablett voll mit Gebäck und Kuchen oder eine Strampelhose für Amin. Aber sie blieb immer nur kurz. Es war uns beiden peinlich, dass wir nicht miteinander sprechen konnten. Manchmal deutete sie auf Gegenstände und sagte mir die deutschen Wörter vor: »Der Kuchen schmeckt gut« oder »Tasse« oder »Tisch«, »schönes Kleid«. Oft schwiegen wir auch. Das war schön, doch wenn es zu lange dauerte, sahen wir uns hilflos an, grinsten. Sie deutete dann zur Tür und schnippte mit den Fingern: Hoppla, ich bin spät dran und muss gehen, runter ins Geschäft, Brot verkaufen. Ich glaube, sie spürte, wie unglücklich ich war.
Amin war gerade drei Monate alt, da wurde ich erneut schwanger. Ich begann mich zu kratzen, die Arme, der Kopf, die Beine, die Haut war trocken, ein Jucken überall. Etwas stimmte nicht. Ich wollte nicht, nicht schon wieder, das konnte nicht sein. Ich bildete mir ein, ich könnte die Augen schließen, schlafen und die Realität ausblenden. Mich taub stellen. Aber es ist schwierig einzuschlafen, wenn die Haut juckt. Abdullah fuhr mich wieder zur gynäkologischen Untersuchung. Ohne seine Freunde diesmal. Zum Schluss diskutierte er wieder mit der Ärztin und schwieg mir gegenüber. Ich ahnte, dass ich schwanger war, wollte aber nichts davon wissen.
Wollte nicht wissen, was ich ahnte. Als wir Tage später, wir hatten bei Aldi eingekauft, der Bäckersfrau im Flur begegneten, unterhielt sich Abdullah mit ihr. Sie schaute mich mitleidig an und drückte mir die Hand, so als mache sie sich Sorgen. In der Wohnung frage ich Abdullah: »Was hast du ihr erzählt, dass sie mich so traurig angesehen hat?« – »Du bist schwanger – nichts weiter. Darüber haben wir gesprochen. Hättest du dir doch denken können.« Da fing ich zum ersten Mal nach Monaten an zu heulen. Ich ging in die Hocke, lehnte mich gegen die Wand, die Tränen liefen mir übers Gesicht. »Nein, ich will nicht, bitte nicht.« Mein Mann zuckte mit den Achseln: »Wie stellst du dich bloß wieder an? Statt dich zu freuen, heulst du wie ein Hund. Ist ein Wunder, dass du überhaupt schwanger wirst. So wenig wie wir miteinander schlafen. Wozu bist du denn hier? Ich will Kinder, deshalb und nur deshalb habe ich dich geheiratet.« Dass ich jetzt kein Kind wollte, nicht mit diesem Mann, das war Nebensache.
Wieder stand ich stundenlang vor dem Fenster, die Gardinen halb zugezogen, starrte gedankenverloren hinaus: Wenn ich als Jugendliche über meine Zukunft nachgedacht hatte, hatte ich mir immer drei Kinder gewünscht, zwei Jungs und ein Mädchen. Wäre das zweite Kind ein Mädchen, würde ich ihm die Haare wachsen lassen und sie nicht zu Zöpfen flechten wie in Tunesien, sondern offen lassen, offen und lang, wie sie die Mädchen in Deutschland trugen. Sie waren so fröhlich, diese Kinder, die morgens und mittags an meinem Fenster vorbeizogen. Bald würden meine Kinder auch in die Schule gehen. Deutsch lernen. Und ich?
Ich wollte raus. Durfte nicht. Fühlte mich eingesperrt. Einmal, Abdullah muss gute Laune gehabt haben, nahm er mich zu C&A mit, um Babykleidung einzukaufen. Es war wie im Paradies. Ich traute mich gar nicht, die Kleider anzufassen, so schön fand ich sie, die Farben und Stoffe. Mein Mann suchte einzelne Pullover und Strampelhosen heraus, lila, hellblau, hellgrün, aus weichem Nickistoff. Ich strich mit den Fingern darüber und bat ihn, sie vor das Kind zu halten, fragte: »Passt dies? Passt jenes?« Amin krähte und grapschte mit seinen Händchen danach. Doch da zog Abdullah die Kleider schon wieder weg und legte sie über seinen Arm. Nehmen wir. Er schlenderte um die Kleiderständer und schlenkerte sein Ledertäschchen, ich mit dem Kind auf dem Arm ihm hinterher. Verstohlen fasste ich nach dem einen oder anderen Teil. Später ließ er mich alleine aussuchen und rauchte in der Cafeteria seine Zigarette, während ich mit Amin die kleine Freiheit zwischen den Kleiderständern genoss.
Nachdem wir bezahlt hatten, steuerte Abdullah in Richtung Damenabteilung. Ich war noch nie dort gewesen. Überhaupt hatte ich noch nie ein Kleidungsstück in Deutschland gekauft. »Such dir was aus«, sagte er jetzt. Mein Gott, wie aufgeregt ich war. Nur auf unserem Markt in Tunesien hatte ich bisher so viele Kleider gesehen. Aber nicht so ordentlich aufgehängt, sondern alle auf einem Haufen. Ich sah nach Abdullah, er griff wahllos in einen Ständer und zog ein langes schwarzes Kleid heraus: »Probier mal an.« Dass er mir das anbot, fand ich seltsam. Wo war eine Umkleidekabine und wohin mit dem Kind auf meinem Arm? Ich war ratlos und schüttelte den Kopf.
Was ich anziehen durfte, Rock oder Hose, ob ich mit Kopftuch oder ohne unterwegs war, bestimmte er. Ich war sein Beiwerk, nach Lust und Laune garniert und ausstaffiert. So brauchte ich mir selbst keine Gedanken zu machen. Ich dachte, das sei normal und bei allen so. Der Mann versorgt die Familie mit allem, was sie braucht, und er bestimmt auch, was sie braucht. Kleidung oder Essen. Abdullah stopfte uns sogar voll. Und wenn er gekonnt hätte, hätte er wahrscheinlich auch über die Luft, die wir zum Atmen brauchen, bestimmt.
Er nahm mir die Luft, ohne dass ich es richtig bemerkte. Mein Radius war klein. Noch immer kannte ich von Hamburg nicht mehr als die Straße vor unserem Haus. Nachdem ich morgens Amin versorgt hatte, legte ich mich meistens wieder ins Bett und stand nur auf, um zu putzen und zu waschen, ich aß unregelmäßig und war immer zu dünn. Nur ab und zu ließ mich Abdullah alleine einkaufen gehen. Nicht den großen Wocheneinkauf, sondern alltägliche Dinge, die ausgegangen waren. Butter, Milch, Eier, Windeln und Creme. Dann setzte ich Amin in den Kinderwagen und ging um die Ecke zu Penny. Es waren schöne Ausflüge, genießen konnte ich sie trotzdem nicht. Und wenn ich mich inmitten all der Menschen, die ich nicht kannte und mit denen ich kein Wort wechseln konnte, entdeckte, spürte ich meine Einsamkeit umso deutlicher. Kein »Wie geht’s?«. Kein »Danke, gut!«.
Dann kam der zweite Sohn. Die Geburt war überraschend leicht und ging schneller als die erste. Wieder setzte mich Abdullah am Krankenhaus ab und kam, nachdem das Kind geboren war. Den Namen überließ er dieses Mal mir. Ich nannte den Jungen Jasin. Er gefiel mir, ich hätte ihn an mich nehmen und küssen mögen, aber wie schon bei Amin überfiel mich wieder diese merkwürdige Zurückhaltung und Scheu. Eine befremdliche Distanz, die mich davon abhielt, in Liebe auszubrechen. Obwohl ich Lust dazu hatte. Wo war meine jugendliche Überschwänglichkeit geblieben? Herausgeprügelt! Oder an einem Ort verbarrikadiert, wo sie unverletzlich war.
Ich legte wieder mein Kind, das mich so viel Kraft und Tränen gekostet hatte, neben mich auf die Kissen und betrachtete es. Wie zart und zerbrechlich es war. Ich strich über sein Gesicht und seine Ärmchen, und es schloss sein kleines Händchen um meinen Finger. Da bekam ich eine Gänsehaut, so schön war es. Ich war nicht glücklich, das ist das falsche Wort, aber ich freute mich. Die Kinder gaben mir einen Sinn. Ich genoss die Zeit im Krankenhaus wie einen Urlaub, in dem ich verwöhnt wurde. Ohne Schläge und Gleichgültigkeit.
In Tunesien bleibt eine Frau traditionell nach einer Geburt 40 Tage im Bett, um sich zu erholen. Ich blieb so lange wie möglich im Krankenhaus. Ich bettelte sogar darum, so groß war meine Angst vor dem Leben mit meinem Mann. Als ich nach 14 Tagen nach Hause entlassen wurde, fand ich die Wohnung unaufgeräumt vor, überall stand schmutziges Geschirr und lag Wäsche herum, und es war kalt. Obwohl Sommer war. Was wollte ich hier? Ich ließ die Tür offenstehen, damit der Duft des warmen Brotes aus der Bäckerei hineinziehen konnte.
»Ich habe mit deinem Vater über ein Haus in unserer Heimatstadt gesprochen«, fing Abdullah eines Nachmittags an. Er lag auf dem Sofa und rührte seinen Nescafé, während ich das Baby fütterte. – »Ja und?« – »Wir werden sparen müssen, um eins bauen zu können.« – »Ich habe kein Geld, das ist deine Sache«, erwiderte ich. – »Weiß ich, aber ich werde mich nach einer kleineren Wohnung für uns umsehen müssen. Eine, die weniger Miete kostet.« – »Ich würde gerne hier über der Bäckerei bleiben.« – »Das können wir uns nicht leisten.« – »Aber für die Kinder ist es schön hier, die Leute sind nett, und ich gewöhne mich langsam an die Gegend.« – »Erinnerst du dich an unsere Freunde von der Fahrt auf dem Schiff nach Hamburg? Sie haben ganz in der Nähe von hier eine billige Wohnung gefunden. Im gleichen Haus gibt es eine kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Ohne warmes Wasser, Toilette ist auf dem Flur.« – »Und wie bade ich dort das Baby jeden Tag?« – »Du stellst dich blöder an, als du bist. Hast du vergessen, wie wir es zu Hause gemacht haben? Wir können uns hier keinen Palast leisten, wenn wir ein Haus in Tunesien bauen wollen.« – »Und wenn ich auch arbeiten würde? Lass mich mithelfen, Geld zu verdienen. Dann könnten wir diese Wohnung behalten.« – »Nein. Kommt nicht in Frage.« – »Warum nicht?« – »Denkst du eigentlich mal an die Kinder? Wer soll sich dann um Jasin und Amin kümmern? Rabenmutter.« – »Nein, viele Frauen arbeiten.« – »Ich habe schon zugesagt. In zehn Tagen ziehen wir um.« – »Was? So schnell?« – »Du kannst anfangen zu packen. Dann hast du genug Arbeit.« Damit war für Abdullah die Diskussion erledigt. Aber zum ersten Mal hatte ich ihm widersprochen.
Es muss die Geburt von Jasin gewesen sein. Sie hatte mich verändert, und ich spürte etwas, das ich bisher nicht kannte. Verantwortung, was immer das war. Meine Kinder brauchten mich. Ich wollte keine kleinere Wohnung ohne warmes Wasser. Nicht wegen mir, sondern wegen der Kinder. Wir zogen trotzdem um. Eine Wohnung gleich um die Ecke. Sie war ebenerdig, kalt und ungemütlich. Die Eingangstür knarzte, die grünlich-gelben Fliesen an den Wänden des Hausflurs hatten Sprünge, der Boden war schmierig. Im ganzen Haus roch es nach einer Mischung aus Urin und Schimmel.
Aber wenn ich aus dem Küchenfenster sah, sah ich direkt in die Kastanienbäume und Birken auf einem Kinderspielplatz. Still lag er da, umrahmt von Buchsbaumhecken. Mitten in einem großen Sandkasten war eine riesige verwitterte Baumwurzel eingegraben. Vom ersten Moment an liebte ich diese Wurzel im grauen Sand. Wie ein rotbrauner Felsblock in der Wüste, nur weicher. Es war Winter, Schneeregen, als wir in die neue Wohnung zogen. Doch noch am selben Tag ging ich mit Amin raus und zeigte ihm den Spielplatz. Er krähte, rannte auf den Sandkasten zu und ließ sich in den Schneematsch fallen. Gleich stand er wieder auf und turnte wie ein Weltmeister über die Wurzel. Auf der einen Seite hoch, auf der anderen kugelte er herunter. Nach kaum fünf Minuten war er von Kopf bis Fuß nass und dreckverschmiert. Aber er lachte und ich auch. Zum ersten Mal war ich mit ihm draußen spielen gewesen, unter freiem Himmel, auch wenn es kalt war. Egal, hier konnte ich atmen, die Kinder sehen, wie sie kletterten, und hören, wie sie schrien. Hier wurde ich selbst ein wenig zum Kind.
Der Spielplatz war von diesem Tag an mein Lieblingsort. Ich nahm meinen sechsmonatigen Jasin und setzte mich mit ihm auf das Holzbrett der Schaukel. Wenn ich uns anstieß, jauchzte er. Es gab aber auch Tage, an denen ich mich viel zu schwer fühlte, um rauszugehen, und nichts von der Ruhe, die der Schnee über die Stadt legte, mitbekam. In mir war ein nervöses Durcheinander von Gedanken. Und mir war kalt, eigentlich immer, trotz des langen braunen Daunenanoraks, den mir Abdullah vom Einkaufszentrum mitgebracht hatte. Ich zog ihn sogar in der Wohnung an, schlüpfte in gefütterte Schuhe, einen Teppichboden hatten wir nicht mehr. Dann stellte ich mich wieder ans Fenster. Sah, wie die Nachbarn ihre Schaufeln zur Hand nahmen und mit ihnen über das Pflaster kratzten, um den Schnee wegzuräumen. Schon frühmorgens, bevor die Schulkinder unterwegs waren. Schraaaap, schraaaap, schraaaap, ein Geräusch, das sich für mich nach Kerzen und Weihnachten anhört und das ich vermisse, wenn ich es einen Winter lang nicht höre. Ein typisch deutsches Geräusch.
Morgens, bevor die Kinder wach wurden, habe ich Holz und Kohle aus dem Keller geholt, um den Herd anzufeuern. Dann stellte ich einen Topf mit Wasser drauf und machte Badewasser für die Kleinen warm. Ich schüttelte das Milchfläschchen für Jasin und fütterte Amin mit Reisbrei, leerte das restliche Wasser in die Plastikbadewanne auf dem Küchenstuhl. Wenn die Kinder sauber waren, wusch ich die Wäsche darin, kochte für Abdullah das Mittagessen. Selbst vergaß ich meistens zu essen.