Neue Hoffnung

Meine neue Freiheit sollte nicht allzu lange dauern. Es wurde Herbst und wurde Winter in Deutschland. Fast täglich hatten wir Nebel, er stimmte mich melancholisch. Karimah hatte ihr zweites Kind geboren und kam nicht mehr so oft zum Spielplatz. Manchmal ging ich bei ihr vorbei und half ihr beim Baden und Windelnwaschen. Mit meiner Freundin fühlte ich mich wenigstens nicht mehr alleine. Ich wollte kein drittes Kind mehr. Sie bestärkte mich, wir bestärkten uns: »Verweigere dich, setz dich zur Wehr. Lass nicht alles mit dir machen, nur weil du eine Frau bist.« Sobald Abdullah nachts anfing, an mir rumzumachen, gefror ich zu Eis und rollte mich an den äußersten Rand des Bettes. Das Nachthemd zugeknöpft. Ich wollte nicht mehr, oft nahm er mich trotzdem. »Du bist meine Frau, wozu solltest du sonst nütze sein?« Das ließ er mich nicht nur fühlen, das sagte er auch.

Karimah und ich redeten ohne Ende. Wir träumten davon, arbeiten zu gehen, eigenes Geld zu verdienen, Deutsch zu lernen. Wenn nur erst ihr Baby raus aus den Windeln wäre. Dann würden wir es gemeinsam versuchen. Auch wenn unsere Männer nicht einverstanden wären. Wir hatten beide keine Ahnung, aber irgendwie, dachten wir, würden wir es schon schaffen, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Und dann putzen gehen oder als Verkäuferinnen arbeiten. »Am liebsten in einer Bäckerei«, sagte ich, weil ich unsere erste Hamburger Wohnung so vermisste. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich Pläne, das war neu und stimmte mich optimistisch.

Mein Mann war nicht begeistert von unseren Treffen, obwohl er meine Freundin mochte. »Du gehst nicht mehr ohne mich aus dem Haus«, befahl er mir. »Warum nicht?« – »Weil ich es nicht will.« – »Auch andere Frauen gehen raus, wenigstens einkaufen, das erleichtert uns das Leben.« – »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Ein Frau bleibt im Haus, ist für den Mann da und erzieht die Kinder.« Er hatte recht, so hatte ich es gelernt. Je öfter ich jedoch mit Karimah zusammen war, desto weiter entfernte ich mich von ihm. Das spürte Abdullah, und es machte ihn misstrauisch. Auch ich selbst war unsicher. Wohin bewegte ich mich?

Auf jeden meiner Träume folgte ein jäher Absturz. Eigene Pläne zu schmieden, etwas zu wollen oder auch nur daran zu denken, etwas zu wollen, war ungewohntes Terrain für mich. Ein paar Monate vorher hatte ich noch alles ohne Widerspruch hingenommen und nicht nach dem »Warum« und »Wieso« gefragt. Jetzt widersprach ich plötzlich und träumte davon, selbständig zu handeln. Woher kam das? Es war eine Wut in mir, eine irrationale Wut, die sich an kein konkretes Gegenüber richtete. Sie ängstigte mich. Manchmal so sehr, dass ich mich deswegen in der Wohnung verschanzte, um uns vor mir zu schützen. Ich war eine verkorkte Flasche, in der es gärte.

Vom Küchenfenster aus hatte ich direkte Sicht auf den Spielplatz. So konnte ich meine Jungs laufen lassen und sie trotzdem sehen. Ich hörte ihre Stimmen, sie waren wie junge Hunde, die kläfften und sich balgten. Ich beobachtete sie, wie sie ihre kleinen Hände in die nassen, braunen Blätter vergruben, bis sie ihre Finger kaum mehr darum schließen konnten. Bevor der ganze Blattsalat herunterfiel, bewarfen sie sich damit. Manchmal scharrten sie auch in den Blätterhaufen, dass das Laub nur so hochwirbelte und wieder auf sie hinunterregnete. Die Kinder hatten ihren Spaß. Immer wieder kamen sie ans Küchenfenster gelaufen, riefen »Mama« und »Durst« oder »Hunger«. Dann beugte ich mich durchs offene Fenster und gab ihnen eine Tüte Kartoffelchips oder einen Tetrapack mit Saft. Oder ein paar Pfennige, damit konnten sie sich Eis oder Kaugummi in der Bäckerei um die Ecke kaufen.

Fast täglich ging ich zu Penny, Holz holen. Feines Anfeuerholz aus den Holzkistchen der Mandarinen. Ich deutete mit dem Finger darauf, da wussten die Verkäuferinnen gleich, was ich wollte. Kistenweise schleppte ich sie nach Hause. Feuer machte ich gerne. Jeden Morgen schürte ich den Herd. Wie eine Beduinin setzte ich mich dann vor das schwarze Eisenteil und blies in die Glut, legte Holz nach und blies wieder. So lange, bis mir schwindlig wurde und ich nach Luft ringen musste. Ich genoss diesen Zustand der halben Besinnungslosigkeit. Er lenkte mich von meiner Einsamkeit ab – oder trieb mich weiter hinein. Ich weiß es nicht. Dann träumte ich von einem Spaziergang über einen bunten orientalischen Markt und dass ich meinen Kindern kaufen würde, was sie wollten. Mein Mann war nie dabei.

Seit zwei Jahren ging der Große schon in den Kindergarten, der Kleine seit ein paar Wochen. Wenn Abdullah Spätdienst hatte, brachte er sie morgens hin. Es war nicht weit. Er wollte, dass sie selbständig zurückkommen. Mittags ging ich trotzdem öfter hin, um meine Jungs abzuholen. Ein niedriges Holzhaus, ein riesiger Garten mit alten Kastanienbäumen, eine lange Rutsche darunter. In meinen vier Wänden stand die Zeit still, aber hier pulsierte das Leben, wonach ich Sehnsucht hatte. Kaum war ich durch das Gartentor, lebte ich auf.

Es roch nach feuchter Erde. Wenn Lebendigkeit einen Geruch hat, so ist es dieser: feuchte Erde. Meistens war ich zu früh da. In den Kindergarten traute ich mich nicht hinein, aber ich setzte mich dann auf einen der Holzklötze, die herumlagen, und schaute durch die großen Fenster in den Gruppenraum. Dort saßen die Kinder bei ihrer Abschiedsrunde zusammen, fassten sich bei den Händen und sangen. Immer das gleiche Lied. Ich hörte es durch das geschlossene Fenster, mein erstes deutsches Lied, das ich mitsingen konnte: »Alle Leut’ gehen ’raus, große Leut’, kleine Leut’, dicke Leut’, dünne Leut’. Alle Leut’, gehn jetzt nach Haus.« – »Tschüüühüüüüüs«, bis heute tönt mir dieses langgezogene Tschüs in den Ohren. Es war so vertraut, fast beneidete ich meine Söhne.

Einmal sah ich, dass jedes Kind einen Pappteller mit einem dunklen Kuchenstück mit Smarties drauf vor sich stehen hatte. Das kannte ich nicht und fragte Amin später danach. »Wenn ein Kind Geburtstag hat, bringt seine Mutter einen Kuchen mit, und wir feiern.« Das wusste ich nicht, das hatte ich noch nie gemacht. »Soll ich dir zum Geburtstag auch einen Kuchen backen?«, fragte ich. Amin grinste über beide Ohren und jauchzte: »Bitte, bitte ja, Mama.« Mein Mann war dagegen, aber als Amin Geburtstag hatte, gab ich ihm heimlich eine große Dose Smarties und Kekse mit.

Wie gern wäre ich hier selbst noch einmal Kind gewesen.

Manchmal besuchte ich die Kleinen auch, wenn sie im Garten spielten. Zum ersten Mal wechselte ich ein paar Worte mit einer jungen Erzieherin, Rosie, die selbst zwei Kinder hatte und in der gleichen Straße wohnte wie wir. Es war stürmisch, der Wind jagte graue Wolken vor sich her, es tröpfelte, aber die Kinder johlten und tobten. Sie fragte mich, ob sie meine Buben nachmittags einmal mit zu sich nach Hause nehmen könnte, da sich unsere Kinder angefreundet hatten. Ich verstand sie sogar, lächelte und zeigte auf meinen Ehering: Dass ich erst meinen Mann fragen müsse.

Mit Abdullah gab es nun fast täglich Streit. Er war unzufrieden und aggressiv. Nachts, wenn er von der Spätschicht kam, bedrängte er mich, obwohl ich schon schlief. Nachmittags, wenn er von der Frühschicht kam, war es noch schlimmer, weil die Kinder alles mitbekamen. Er stellte sich ans Küchenfenster, schob den gelben Vorhang halb zur Seite und sah hinaus. Ohne mich anzusehen, fing er an: »Warum wirst du nicht mehr schwanger?« – »Weiß nicht.« – »Du weißt aber ganz genau, dass ich dich wegen der Kinder geheiratet habe.« – »Nein, das weiß ich nicht«, inzwischen traute ich mich immer öfter, ihm zu widersprechen. – »Wie stehe ich denn da, wenn wir im Urlaub nach Tunesien kommen, und ich habe immer noch keine drei Kinder?« – »Dafür hast du ein Haus«, konterte ich.

Das Haus in Tunesien war inzwischen fertig. Ich mochte es nicht. Mit wenig Platz zum Wohnen, dafür mit einer schön geschwungenen Mauer darum herum und zwei Garagen. Für Abdullah, den Autofan. Wenn er schon nicht mit vielen Kindern angeben konnte, dann wenigstens mit seinen deutschen Autos. Angeben und vor seinen Landsleuten protzen, mit der Frau, mit den Kindern, mit den Autos, mit dem Geld. »Seht her, ich habe es zu etwas gebracht«, signalisierte er damit. »Im Gegensatz zu euch hänge ich nicht in Cafés herum, langweile mich nicht und rauche keine Wasserpfeife.« Wenn seine Leute dann etwas vom reichen Onkel aus Deutschland abhaben wollten, spielte er gern den großzügigen Gönner.

»Von dem Haus profitierst du genauso wie ich«, schnaubte er und zeigte mit seiner Zigarette auf mich. Er zitterte, als er sie sich anzündete. Dann folgte ein Vorwurf dem anderen: »Warum hat Amin Schnupfen?« – »Er muss sich erkältet haben.« – »Weil du ihm keine Jacke angezogen hast. Stimmt’s?« – »Er wollte keine anziehen.« Meist nahm ich dann die Kinder, die mit großen Augen auf dem Boden saßen und mit Legos spielten, an der Hand. »Los, kommt weg«, und bugsierte sie in unser gemeinsames Schlafzimmer. Sie wehrten sich, aber ich wollte nicht, dass sie dabei waren und sich schuldig fühlten wegen unserer Streitereien.


Amin war vier, Jasin drei, und ich noch immer nicht wieder schwanger. Es war im Frühjahr 1985, die Kinder waren auf dem Spielplatz, als Abdullah eines Tages im Laufe einer Auseinandersetzung das Schlafzimmer komplett auf den Kopf stellte. Zuerst war er zynisch, aber beherrscht: »Nicht einmal aufräumen kannst du«, rief er, »soll ich dir zeigen, wie’s geht?« Dann wurde er immer wilder wie ein Sturm, der sich zum Orkan steigert. Er riss die Schranktüren auf, zog Kleider heraus, warf sie zu Boden. Er drehte das Bett um, warf die Matratzen übereinander. Ich stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und schaute tatenlos zu: Soll er doch toben. Mir egal, ich weiß nicht einmal den Grund, warum er sich so aufregt. Irgendwann würde er auch wieder aufhören.

»Verdammtes Miststück«, schrie er plötzlich mitten in meine Gedanken hinein. »Du hast mich betrogen!« Triumphierend reckte er seine Faust mit einem Pillenkärtchen in die Höhe: Die Antibabypille. Ich hatte sie zwischen den Handtüchern versteckt. Ohne dass er wusste, wonach er suchte, hatte er sie gefunden. »Undankbares Weib«, schrie er wütend. Seine Augen waren schmale Schlitze, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Aber ich hatte keine Angst vor ihm: Verdammt nochmal, woher nimmt er das Recht, mir die Pille zu verbieten? Es ist mein Körper, über den ich bestimmen will. Ich spürte seine Schreie an mir abprallen, vielleicht grinste ich sogar ein wenig. »Wie kannst du mir das antun? Ich werde dich verstoßen«, tobte er, rot angelaufen vor Zorn. Er machte ein paar Schritte auf mich zu. »Dir werde ich es zeigen!« Dann konnte ich mich nicht einmal mehr wegducken, so schnell hatte ich seine Hand im Gesicht.

Eine einzige Ohrfeige warf mich zu Boden. Ich schlug mit der Nase an den Bettpfosten. Blut lief mir übers Gesicht, während mein Mann weiter auf mich eintrat. Da war mein leichter Anflug von Rebellion verdampft wie Wasser und machte einem selbstzerstörerischen Gefühl Platz: Selbst schuld – du hast es nicht besser verdient! Warum kannst du deinem Ehemann nicht gehorchen? Und ich wimmerte wie einst meine Mutter unter der Bettdecke.

Mit einem lauten Ratschen riss Abdullah die Pappschachteln der Tablettenpackungen auf, zerfetzte sie in kleine Stücke und streute sie über unser Bett aus. Er lief zum Schrank und wieder zurück. Ich blieb am Boden liegen und zog mir meinen weiten Pullover wie ein Schutzschild über die Knie. Ich hörte ihn mehr, als dass ich ihn sah. Wie er die Kärtchen mit den Pillen packte, wie es knisterte, als er die Tabletten herausdrückte, und wie er die Wohnungstür aufriss, hinausstürmte auf den gekachelten Flur, nach hinten im Hof zur Toilette. Und wie er wie ein Irrer an der Schnur für die Spülung zog. Immer wieder hörte ich es leer schnappen, weil er nicht wartete, bis der Wasserbehälter wieder vollgelaufen war.

Es dauerte lange, bis alle Tabletten weggespült waren. Als er wiederkam, hatte er sich scheinbar beruhigt. »Na warte … «, zischte er nur. Ich kannte diese angespannte Ruhe zu gut an ihm, jeden Augenblick konnte er wieder explodieren.

An diesem Tag traute ich mich nicht mehr raus aus dem Schlafzimmer. Erschöpft legte ich mich auf eine Matratze und schlief ein. Keiner schaute nach mir, Abdullah muss den Kindern das Abendbrot gerichtet haben, als sie vom Spielplatz gekommen waren. Es dämmerte, als ich aufwachte, weil die Tür aufging. Scheu kamen Amin und Jasin in Schlafanzügen herein, um sich schlafen zu legen. Ich sagte nicht »Hallo«, auch nicht »Gute Nacht«. Aber ich schlug die Bettdecke, die ich über mich gezogen hatte, zurück und stöhnte. Ich hätte sie heute gerne bei mir gehabt, meine beiden. Aber sie kamen nicht, vielleicht weil sie mich nicht stören wollten. Keine Ahnung, was mein Mann ihnen erzählt hatte. Sie waren verschüchtert, und ich hatte nicht die Kraft, mit ihnen zu sprechen oder sie in den Arm zu nehmen. Lautlos legten sie sich in ihre Bettchen, die am Fußende unseres Ehebetts standen und ein wenig ächzten. Sofort schliefen sie ein.

Wenig später stand mein Mann in der Tür. Das Licht aus dem Wohnzimmer blendete mich. »Stehst du heute gar nicht mehr auf?«, fragte er drohend, und ich sah seine eingefallenen Wangen. »Doch.« Ich wusste, was jetzt kam. Und machte keinen Versuch mehr, mich ihm zu verweigern. Auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht. Er nahm sich, was er wollte. Aber er bekam nicht mich, ich war nicht dabei. Bald fing ich wieder an zu kratzen. Ich hatte es geahnt: meine dritte Schwangerschaft. Es war meine schwierigste.

Wenn ich daran denke, kommen mir die Tränen. So unglücklich war ich noch nie in meinem Leben gewesen. Eine Zeit, in der ich nichts mehr aß und nur noch im Bett lag. Mein Mut war weg, meine ersten kleinen Schritte in ein selbstbestimmtes Leben jäh gestoppt. Aus und vorbei. Nie werde ich von diesem Mann loskommen. Nie tun und lassen können, was ich will, nicht in Deutschland und in Tunesien sowieso nicht. Ich war ohne Hoffnung: aus der Traum vom Deutschlernen und vom Geldverdienen.

Die Zeit war bleiern. Ich weinte nicht einmal mehr, war leer. Ich ließ mich gehen, mir war alles egal, nichts interessierte mich mehr, was um mich herum passierte. Gegen Ende der Schwangerschaft hatte ich Wasser in den Beinen. Die Ärztin verordnete mir »Bewegung«, aber ich bewegte mich nicht. Ich war so depressiv und in mir selbst gefangen, dass ich mich nicht einmal mehr richtig um Amin und Jasin kümmern konnte. Ich schickte sie morgens nicht mehr in den Kindergarten, kochte kein Mittagessen, wusch kaum noch Wäsche, ich weiß nicht, wer sich darum kümmerte.

Abdullah regelte alles. Er muss die Jungs in dieser Zeit im Fußballverein angemeldet haben. Ich habe es nicht mitbekommen, nicht einmal gemerkt, dass sie zum Training gingen. Wie konnte mir das nur entgehen? Bis heute weiß ich nicht, wer sie hingebracht und wieder abgeholt hat. Auch die Spiele am Wochenende, es fiel mir nicht auf, wenn sie weg waren. Sie haben Fußball gespielt, ohne dass ich es wusste. Erst viel später sah ich die Kinder auf Fotos in ihren gelb-roten Trikots und konnte es kaum glauben.

Ich frage mich, wer diese Trikots gewaschen hat? Sind das überhaupt meine Söhne? Auf einem Foto lehnen sie lässig mit einem Fußball unterm Stollenschuh am Geländer eines Spielfeldes, so habe ich sie nie gesehen. Es ist an mir vorbeigegangen, als ob ich nicht mit ihnen zusammengelebt hätte. Ein kompletter Blackout. So schade. Wo war ich nur in dieser Zeit?

Meine Tochter wollte nicht auf die Welt kommen. Als ob sie etwas geahnt hätte. Wahrscheinlich hat sie meine Verzweiflung gespürt. Eine schwere Geburt. Als die Kinderkrankenschwester mit dem frisch gebadeten und in weiße Handtücher gewickelten Baby auf mich zukam, wehrte ich sie mit ausgestreckten Armen ab: »Nein, weg, nein. Bitte, ich will nicht.« Ich hatte nicht die Kraft, mein Kind anzunehmen. Die Schwester blieb am Fußende des Bettes stehen. »Eine hübsche Tochter«, sagte sie und sah mich an, wie ich unter meiner weißen, leichten Decke lag, die ich bis zum Kinn gezogen hatte. Und sie verstand mich, obwohl ich nur ein paar Worte gesagt hatte. Sie sah auf das Kind, sah zu mir, presste die Lippen zusammen und machte kehrt. Sie muss mein Entsetzen und meine unendliche Hoffnungslosigkeit gespürt haben. Und sie ließ mich alleine, Gott sei Dank. Sodass ich hemmungslos in mein Kissen heulen konnte, endlich wieder weinen, so lange, bis ich ganz rote Augen hatte. Als die Schwester nach zwei Stunden wiederkam, es war die gleiche, fragte sie nicht lange, sondern legte mir meine Tochter behutsam auf den Bauch. Nein, sagte ich leise und drehte meinen Kopf zur Seite. Ich sah sie nicht, aber ich spürte sie, wie regelmäßig sie atmete, spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte, fühlte ihre winzigen, weichen Finger an meinem Hals, als ob sie mich umarmen wollte. Da konnte ich nicht anders und musste sie mir ansehen.

Es war wie ein Geschenk: Ihre blonden Locken und ihre dunklen, großen Augen, die mich ansahen. Ich fuhr mit meinen Händen über ihren Kopf. Wie schön und unschuldig mein Mädchen war. Und sie gehörte zu mir. Amal, dachte ich, und ein leichtes Gefühl, das ich aus den Sommerabenden meiner Kindheit kannte, durchflutete mich. Amal, die Hoffnung, meine Tochter sollte Amal heißen. Eine Freundin aus der Grundschule hatte so geheißen. Von Anfang an hatte ich sie lieb gehabt, obwohl ich keine Freundin haben durfte. Der Vater hatte es verboten, nicht einmal zu ihr gehen durfte ich. »Komm zu mir, ich darf nicht«, hatte ich deshalb eines Tages zu ihr gesagt. Sie kam auch, doch als der Vater spätnachmittags von der Arbeit heimkehrte, schickte er sie weg. Das tat mir so leid, und ich habe das Mädchen nie vergessen.

Loewenmutter
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