Fahrt ins Fremde
Abdullah saß bereits im Auto und rief nach mir, also drehte auch ich mich um, ging zum Wagen und stieg ein. »Angurten«, befahl er, drehte den Zündschlüssel im Schloss und startete. »Inschallah«, klopfte mein Vater mit seinen Fingerknöcheln auf das Autoblech, »gute Reise.« Abdullah fuhr langsam an, ich winkte dem Vater und den beiden Schwestern. Da herrschte mich mein Mann schon wieder an: »Anschnallen«. Was meinte er? Ich drehte mich auf dem Autositz hin und her und verstand nicht. »Hier, dieser Gurt«, sagte er und fasste nach seinem eigenen, den er um Brust und Bauch gelegt hatte. Woher kam dieses Band? Ich wusste es nicht, er hätte es mir doch sagen können! Vielleicht lag es hinten im Koffer, aber da kam ich nun wirklich nicht dran. »So hübsch, aber keine Ahnung, was ein Gurt ist und wie man sich festschnallt im Auto.« – »Kannst du mir nicht zeigen, wie man das macht?«, fragte ich. »Wenn meine Hübsche das nicht alleine kann, werde ich sie wohl fesseln müssen.« Doch er machte keine Anstalten, anzuhalten und mir zu helfen.
Ich vermisste meine Heimat schon jetzt. Doch anstatt letzte Bilder in mir aufzunehmen, suchte ich nach diesem blöden schwarzen Gurt. Gürtel!, dachte ich. Es dauerte lange, bis ich kapiert hatte, wie ich mich festzurren konnte. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, aber ich wollte nicht, dass Abdullah mich weinen sah, und drehte mich weg. Er starrte ungerührt geradeaus und fuhr. Vorbei an den römischen Ruinen, in denen wir als Kinder gespielt hatten. Raus in die weite Ebene. Am Straßenrand standen Büschel von verdorrtem Gras, sonst nur Erde, Steine, Sand. Vom Sommer rot verbrannt, so weit das Auge reichte. Am Horizont sah ich die hohen kahlen Berge, in deren Tälern im Zweiten Weltkrieg das große Gemetzel zwischen Franzosen und Deutschen stattgefunden hatte.
Es war heiß, die Sonne brannte mir durch das Seitenfenster ins Gesicht, auf den Kopf, den Arm, den Oberkörper. Alles fühlte sich klebrig an, der Autositz aus Kunstleder, mein Gesicht, meine Haut zwischen den nackten Beinen. Ich presste sie gegeneinander und spreizte sie wieder, genauso machte ich es mit meinen Handflächen, dann mit den Händen auf meinen Armen. Ein seltsames Spiel, das ich eine Zeitlang spielte, um mich zu trösten.
Ich war noch ein Kind, als ich diese Strecke nach Tunis zum letzten Mal gefahren war. Bei einem der vielen Umzüge, die wir mit unserem Vater machen mussten, wenn er als Gendarm wieder einmal in eine andere Stadt versetzt worden war. Wir haben einen Lkw gemietet, um unsere Möbel zu transportieren. Vater fährt, Mutter sitzt mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß neben ihm. Wir anderen Kinder hocken hinten zwischen Hausrat und Möbeln. Der Lastwagen ist mit einer Plane zugedeckt, doch wir legen uns auf den Bauch und heben sie an. Dann sehen wir hinten hinaus auf die lange Straße, die weit in der Ferne im Nichts zwischen blauem Himmel und roter Erde versinkt. Manchmal fährt ein Auto hinter uns, dann winken wir wie die Irren und hoffen, dass der Fahrer zurückwinken würde. Doch meistens hupt der und macht uns unverständliche Zeichen. Wie leicht könnte einer von uns von der Ladefläche fallen, dem nachfolgenden Auto direkt vor die Räder. Aber daran denken wir nicht.
Ich war ein melancholisches Kind damals, manchmal frech, meistens glücklich. Jetzt war ich deprimiert und unglücklich. Ich spürte, wie mir wieder die Tränen übers Gesicht liefen. Ist das das Erwachsenenleben? So fühlt es sich also an. Wenn ich mich nun aus Abdullahs Auto hinausfallen ließe, sinnierte ich. Einfach so, mal sehen, was passiert. Oder ist das kindisch? Hat er mich deshalb mit diesem Gürtel an den Sitz gefesselt? Damit ich nicht wegkann? Warum will er mich unbedingt bei sich in Deutschland haben? Was soll ich dort? Seine Frau sein und mich schlagen lassen? Ich kenne nichts, die Sprache sowieso nicht, kein einziges Wort. Gibt es andere Tunesier dort? Jemanden aus meiner Stadt, den ich vielleicht kenne? Oder würde ich nur mit meinem Mann sprechen können?
Diese wahnsinnige Hitze. Nicht auszuhalten in dem kleinen Auto. Mein Schweiß mischte sich mit den Tränen. Die Sonne knallte auf meine Haut. Und meine Augen brannten vom Weinen. Nie habe ich mich so allein gefühlt. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, und hatte so viele Fragen zu stellen. Aber nicht diesem fremden hageren Mann neben mir, er machte mir Angst. Und für meine Gedanken und Gefühle interessierte er sich sowieso nicht.
Dabei hatte ich es mir trotz einer bösen Vorahnung bei der Schließung meines Ehevertrags vor einem Jahr so schön vorgestellt. Wie sich eben jedes Mädchen seine Ehe vorstellt. Dass alles anders werden würde, wenn ich erst verheiratet wäre. Dass mich mein Mann aus dem Elternhaus befreien und auf Händen tragen würde. Doch Abdullah hatte mir bisher weder Zuneigung entgegengebracht, von Liebe will ich gar nicht sprechen, noch ein nettes Wort an mich gerichtet. Wenn er mit mir sprach, dann indirekt, »Sie soll kommen«, oder im knappen Befehlston: »Wasch mein Hemd«, »Bügle mir die Hose«. Oft überzog er mich mit überheblichen Kommentaren. Für ihn war ich nicht viel mehr als ein Geschäft, keine Partnerin, die ihn interessierte und mit der er gemeinsam etwas unternehmen wollte. Was er wollte, holte er sich.
Und er wollte jede Nacht etwas von mir. Tagsüber existierte ich nicht für ihn, nachts kam er und wollte mit mir schlafen. Wenn ich müde war. Ist das normal? Er behandelte mich wie ein Handwerker seine Maschine. Wenn ich nicht auf Anhieb funktionierte, half er mit Fußtritten nach. Die Hochzeitsnacht, es war ein Schlachtfest, das Schlimmste, das man sich nur vorstellen kann.
Sieben Tage. Am Abend des letzten Tages führt der Bräutigam die mit Tüchern und Bändern geschmückte Braut in sein Haus. Da Abdullah keines hatte, mietete er kurzfristig eines. Als wir dort ankommen, ist das Wohnzimmer voll mit Nachbarn und Verwandten. Alle sind da, um die Braut anzusehen. Obwohl ich hundemüde bin, muss ich auf der Terrasse Platz nehmen. Unbeweglich wie eine Statue. Und mich anstarren lassen. Von Kindern und Jugendlichen, von Alten und Jungen, die zusammengelaufen sind, weil sie die Trommelmusik und schrillen Triller der Frauen gehört haben. Stundenlang muss ich ausharren wie auf einem Altar und darf nicht einmal zur Toilette gehen. Die anderen glotzen, schwatzen, kommentieren die Braut: Was sie anhat, wie sie sitzt, wie sie verziert ist, ob sie hübsch ist, was für eine Frau sich Abdullah ausgesucht hat.
Bis irgendwann nach Mitternacht jemand zu ihm sagt: »Höchste Zeit jetzt, dass du zeigst, dass du ein Mann und deine Frau eine Jungfrau ist.« Man würde warten, bis er getan hat, was er tun muss. Ich verstehe nicht, aber Abdullah erhebt sich. Er zertritt die Zigarette, die er sich gerade erst angesteckt hat, ungeraucht auf dem Boden und schaut mich mit flackernden Blicken an. Dann legt er seinen Arm um meine Taille. Wie eine Zange, denke ich, und erschrecke über das ungewohnte Gefühl. Er zwingt mich ins Schlafzimmer und schließt die Tür mit einem leichten Klacken.
Ich sehe zu Boden. Rot gemusterter Teppich. Ich weiß nicht, was passieren wird. Bis heute kann ich es meiner Mutter und meiner Schwester nicht verzeihen, dass sie mich nicht gewarnt haben. Sie haben doch gewusst, was kommt. Ich nicht. Weiß nicht, wie es ist, mit einem fremden Mann im Schlafzimmer zu stehen und sich ausziehen zu müssen, nicht wie es ist, wenn der Mann eine Frau nimmt. Ich habe keine Ahnung, nicht einmal davon, wie ein Mann aussieht. Kann es mir nicht vorstellen. Zwar habe ich meinen kleinen Bruder nackt gesehen, als er noch jung war, aber nie einen erwachsenen Mann. Nicht in Zeitschriften oder im Fernsehen – und noch schlimmer, ich habe nie etwas mit einem Mann gehabt. Ich weiß nicht, wie es geht.
Und nun steh ich allein mit ihm in diesem dunklen Zimmer, in das das Mondlicht wie gelbgrüne Galle scheint, und habe Angst. Warum hat mich meine Mutter nicht aufgeklärt? Maßlose Wut überkommt mich. Warum nicht? Ich hasse dich!, schreit es in mir. Ich weiß nicht, wo mich hinstellen, was ich machen soll. Bin diesem Mann ausgeliefert. »Du musst«, sagt er, »zieh dein Kleid aus.« Dann streift er sein Hemd über den Kopf. Er atmet laut, und ich höre das Klicken seines Gürtels, dann das Geräusch der Hose, die an seinen Beinen hinunterrutscht. Ich zittere und spüre die Zeit, wie sie sich dehnt.
Ich friere, obwohl mir nicht kalt ist, und drehe meinen Kopf in die andere Richtung. Sehe zur Wand. Ich soll mich ausziehen? Aber ich friere doch! Und schäme mich vor diesem Mann, den ich nicht kenne. Er darf mich nicht nackt sehen, unmöglich, das ist eine Sünde.
Da sagt er wieder: »Weg mit dem Kleid!« Nein!, denke ich. »Nimm endlich den Schleier vom Kopf. Leg dich hin! Nicht oben auf das Bett. Komm hier herunter auf den Fußboden.« – Nein! – »Auf den Teppich.« Ich gehe in die Hocke, doch ich ziehe mich nicht aus. Da fasst er mich, er schiebt mein Kleid nach oben, zerrt an mir, drückt mich, stellt mich, setzt mich, legt mich in die Position, in der er mich haben will. Ich bebe. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Wo? Was? soll ich mit meinen Händen bedecken? Mein Geschlecht, die Augen, den Mund?
Abdullah sucht nicht den Mund, er denkt nicht daran, mich zu küssen. Ein weißes Tuch, ein Nachthemd schiebt er nun unter meinen Körper. Ich presse meine Knie zusammen, er drückt mich mit Gewalt in eine Ecke. Es muss jetzt schnell gehen, die Leute draußen warten. Er reißt schon meine Beine auseinander, spaltet und spreizt sie mit seinen Händen, zwängt seinen hageren, langen Körper dazwischen. Nein! Ich muss mich verschließen, zumachen! Muss mir etwas in den Mund stopfen, damit ich nicht schreie. Erwische ein Stück Bettdecke. Augen zu, ich spüre – nein, will nichts spüren – schaudere, bin taub, mein Fleisch ist taub –, ich spüre, wie ein Panzer in mich eindringt. Augen auf, zu, nein auf. Keiner hat mir gesagt, wie weh das tut. Ich erstarre und sehe, wie es mich zerreißt.
Als meine Mutter und meine älteste Schwester ins Zimmer kommen, kauere ich noch immer in der Ecke. Ich habe nicht bemerkt, dass Abdullah hinausgegangen ist. Die Frauen flüstern leise in der Dunkelheit. Ich höre meinen Namen, Esma, aber antworte nicht. Um mich herum ist es feucht, ich bewege mich nicht von der Stelle. Rascheln von Stoff auf dem Teppich. Meine Mutter tastet sich auf allen vieren zu mir. »Hilfe, Ummi, bitte hilf mir!«, wimmere ich. Da spüre ich, wie ihre Hand nach meinen Beinen greift, wie sie über meine Waden streicht, einmal, zweimal, ein paar Mal, über meine nackten Beine. Ungewohnte Liebkosung, meine Mutter muss gekommen sein, um mir zu helfen, denke ich, als es schon wieder vorbei ist. Sie hat aufgehört, ohne ein Wort zu sagen, jetzt tastet und fasst sie nach dem Tuch. Das Nachthemd, auf dem ich immer noch liege, zieht es mit einem heftigen Ruck, leise vor sich hin grummelnd, unter mir hervor und kriecht zurück zu meiner Schwester. Wieder flüstern die beiden, dann sind sie verschwunden. Wie schwer die Dunkelheit ist. Von draußen höre ich schon das Johlen der Hochzeitsgäste. Sie feiern die blutige Trophäe, die Mutter und Schwester ihnen präsentieren. Eine Scheißnacht.
Eine Autohupe schreckte mich aus meinen Träumen. Wir waren auf dem Weg nach Tunis. Ich leckte mir über meine Lippen, die aufgesprungen und salzig waren. Der fremde Mann neben mir, mein Mann, hatte gehupt, weil ein Schäfer mit seiner Schafherde über die sandige Straße zog. Wir mussten anhalten. Die Schafe blökten laut, ein paar Ziegen mit Glöckchen sprangen hin und her. Ich sah zu Abdullah. Über seine hohen Backenknochen breiteten sich weiße Flecken aus, auch auf seinem sehnigen Hals. Wieder drückte er auf die Hupe. Er fluchte. Gleich würde es dunkel werden. Zu spät für die Botschaft. Meine Papiere würden wir heute nicht mehr abholen können, auch keine Fähre nach Italien mehr erreichen. Wir würden bei seinem Cousin in der Hauptstadt übernachten müssen.
Ich war müde. Die Frau des Cousins hatte Fladenbrot auf den Tisch gestellt und Tee gekocht. Ich hatte Hunger, bekam aber trotzdem nichts hinunter. Der Fernseher lief, während die Familie davor saß, bin ich auf dem Sofa eingeschlafen. Gut so. Ob ich gut schlief oder nicht, Angstträume hatte oder nicht, war nicht mehr wichtig seit meiner Hochzeit. Ob eine Nacht gut war oder nicht, beurteilte ich danach, ob Abdullah kam und etwas von mir wollte oder mich in Ruhe ließ. Es war eine gute Nacht in Tunis.
Am nächsten Morgen musste alles schnell gehen. Wieder kein Bad, nur Katzenwäsche, mein Mann wurde noch einmal zu seiner schönen Frau beglückwünscht, dann fuhren wir los, um meine Papiere zu holen. Zuerst zur deutschen Botschaft, ein quadratischer weißer Villenbau mit Mauer und Stacheldraht im Nobelviertel von Tunis. Abdullah parkte auf offener Straße mitten in der Sonne. Er stieg aus und verschwand, nachdem er ein paar Worte mit den Wachleuten am Eingangstor gewechselt hatte, hinter der Mauer. Ich blieb im Auto sitzen, was hätte ich auch anderes tun sollen, spürte, wie meine Haare unter dem Kopftuch klebten. Aber ich wartete brav, traute mich nicht, das Auto zu verlassen und ein paar Schritte zu gehen.
Die riesigen Palmen am Straßenrand erschreckten mich. Tunis war mir fremd, obwohl ich als Kind zwei oder drei Jahre mit meiner Familie hier gewohnt hatte. Sogar eingeschult worden war ich hier. Es ist im Frühjahr, die Schule ein zweigeschossiges Gebäude mit großen Fenstern. Davor blüht der Ginster. »Asmahan, Asmahan«, wiederholt der Lehrer meinen vollständigen Namen, als wir Kinder ihm vorgestellt werden. »Asmahan ist eine bekannte syrische Sängerin. Weißt du das? Bist du nach ihr benannt?« Ich schüttle den Kopf, das habe ich nicht gewusst. »Kannst du uns auch ein Lied von Liebe und Leid singen?«, fragt der Lehrer weiter. Schüchtern wie ich bin, erschrecke ich. Ich will nicht singen, ich weiß nicht einmal, was das ist: Liebe? Leid? »Ein Lied«, bohrt der Lehrer weiter, »oder sing uns ein Lied von den Haremsfrauen.« Ich kenne ein paar Lieder, die Schwester meiner Mutter sang uns Kindern manchmal orientalische Lieder vor. Aber in dem Moment, als der Lehrer danach fragt, fällt mir kein Lied ein, nichts. Anstatt zu singen, fange ich an zu weinen. »Dummes Ding«, höre ich den Lehrer sagen, dann beachtet er mich nicht mehr.
Als Abdullah nach zwei Stunden aus der Botschaft kam, war er guter Laune. So hatte ich ihn noch nicht erlebt. »Alors, zum Hafen«, rief er. »Auf nach Goulette. Hast du den Hafen schon mal gesehen?« – »Weiß nicht«, entgegnete ich. Ich war nicht darauf gefasst, von ihm angesprochen zu werden. Meine Gedanken kreisten um die Einschulung und meinen Namen. Davon hätte ich ihm gerne erzählt. Dass ich den Namen einer Sängerin trage, dass der Lehrer in der Schule mich nicht mochte und dass ich nicht das erste Mal in Tunis war, weil mein Vater hier bei der Polizei gearbeitet hatte. Aber ich konnte nicht. Gerade hatte ich noch daran gedacht, nun brachte ich keinen Ton über die Lippen.
Am Hafen war ich noch nie gewesen. Solch riesige Schiffe hatte ich nie gesehen. »Siehst du das große weiße dort? Eine Fähre, damit fahren wir nach Italien«, rief mein Mann, während er nach rechts und links schaute und langsam durch die Hafeneinfahrt fuhr. »Warum Italien und nicht Deutschland?«, murmelte ich. Aber er verstand mich nicht, so laut war es hier. Frachtschiffe dröhnten und wurden beladen, Lastwagen rumpelten aus großen Schiffsbäuchen über Eisenbrücken. Es sah aus, als wollte ganz Tunesien umziehen, nicht nur wir. »Lass mich nicht allein«, sagte ich meinem Mann. »Mach dir nicht in die Hose!«, sagte er, während er das Auto abstellte. Er fingerte aus dem Handschuhfach seine schwarze Tasche und sprang hinaus, um uns einen Platz zu reservieren. Ich wäre gern mitgekommen, aber da war er schon weg.
Was für ein Gestank! Teer, Tang, Schmutz, Abgase, Benzin. Es wehte ein leichter Wind, es roch nach Fisch und Verwesung. Die Möwen kreischten, und die Frachtkräne quietschten erbärmlich. Ich machte die Beifahrertür auf und streckte meine Beine aus. Eines nach dem andern. Es tat gut, raus aus dem heißen Ofen zu kommen, auch wenn die Hitze des Asphalts durch meine dünnen Sandalen brannte. Mir war schwindlig, der Boden bewegte sich wie das Wasser vor der Kaimauer.
Mächtig und weiß lag das Schiff, das uns mitnehmen würde, ein Riesenfisch auf graugrünem Wasser – bereit für alle Menschen und Autos dieses Landes. Ein Hai, dachte ich, der uns alle verschlucken wird. Er wird uns mit in die Tiefe reißen und quer durch die Erdkugel hindurch auf die andere Seite der Welt schwimmen. Und uns dort wieder ausspucken – wenn wir Glück haben. Aber ich will nicht verschluckt werden, ich will überhaupt nicht weg aus Tunesien.
Ich ließ meine Arme hängen, mit leeren Händen stand ich da, und es liefen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. Nichts hatte ich als die Trauer, die ich mitnehmen konnte. Nun gab es kein Zurück mehr. Von weitem winkte mein Mann mit den Papieren, so als wolle er gleich abheben. »Setz dich, es geht los«, schrie er. Am Rande des Parkplatzes hatte ein Eisverkäufer seinen Stand aufgebaut und laut röhrende Musik aufgedreht. Ich hätte gerne ein Eis gehabt, aber jetzt ließ Abdullah sich nicht mehr aufhalten, und ich hatte nicht den Mut, etwas zu sagen. Hinter und vor uns und neben uns ein Riesenknäuel von Lastwagen und Autos, die nur eines wollten: rein in dieses grässliche Schiffsmaul. Ein Durcheinander, egal in welche Richtung ich schaute, nur Müll, Gestank, Geschrei und Autos. Die reflektierenden Sonnenstrahlen verwandelten die glänzenden Blechkisten in Lichterketten. Alle drängelten und fluchten. Schweißgeruch hing in der Luft. Ein paar fliegende Händler, ich weiß nicht, wie sie es schafften, sich zwischen den Autos heil hindurchzulavieren und gleichzeitig ihre Tabletts mit Früchten zu balancieren. Avocados, Kokosnüsse, Datteln, Orangen, Zitronen streckten sie uns durchs offene Autofenster herein. Aber Abdullah fuhr so ruckartig an und bremste wieder, dass ich Angst hatte, er würde ihnen die Arme ausreißen.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir in den dunklen Schiffsbauch geruckelt waren und Abdullah den Motor abstellen konnte. Die Luft war zum Ersticken, mir war schlecht. Wenn ich wenigstens eine Flasche Wasser gehabt hätte. Aber ich hatte nicht daran gedacht, etwas zu trinken mitzunehmen. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Halbdunkel. Kühler war es hier. Aber Chaos. Überall rannten geschäftige Männer durcheinander, kleine Babys plärrten, hysterische Mütter schrien, und aus Lautsprechern dröhnten Befehle, die ich nicht verstand. »Achtung, der Bauch ist voll«, wahrscheinlich oder: »Achtung, Sie befinden sich auf dem Weg ans andere Ende der Welt.« Ich kapierte nichts, hatte aber das Gefühl, dass alle anderen mehr wussten als ich. Alle wussten Bescheid, jeder wusste, was er zu tun hatte.
Männer schlossen ihre Autos ab, ich hörte das Klicken der Schlüssel in den Schlössern, und sie nahmen ihre Frauen und Kinder irgendwohin mit. Meiner auch. Durch ein schlauchiges, dunkles Labyrinth von Gängen folgte ich ihm, blieb ihm dicht auf den Fersen, weil ich Angst hatte, ihn zu verlieren. Was hätte ich auch ohne ihn tun sollen? Es dauerte lange, bis wir auf Deck kamen. Ein Aufenthaltsraum, schön ausgestattet mit farbigen Polstern, Sitzgruppen und kleinen Tischen. Das Meer leuchtete durch die Fenster. Schimmernd und sanft wie Samt, friedlich. Ganz im Gegensatz zu meiner aufgewühlten Verfassung. »Setz dich hierher«, befahl Abdullah. Sofort setzte ich mich und zog meine Tasche auf die Knie.
Von jetzt an hatte er mich in der Hand. Ich spürte keinen Boden mehr unter meinen Füßen, alles fremd, neu, ungewohnt. »Bleib du hier und pass brav auf unsere Taschen auf«, sagte mein Mann, »ich muss noch etwas regeln.« Weg war er. Panisch blickte ich um mich. Es waren keine Taschen da, auf die ich hätte aufpassen können, die hatten wir im Auto gelassen. Aber wenn er sagte »bleib«, konnte ich ihm nicht widersprechen.
Auch wenn ich gerne mitgegangen wäre. Ich wollte nicht alleine sein, sondern die Abfahrt vom Hafen miterleben. Aber wer weiß, vielleicht war es gut so, dieser Abschied hätte mich noch trauriger gemacht. Also saß ich da mit meiner blauen Handtasche auf dem Schoß, die Schultern hochgezogen wie ein flügellahmer Vogel. Nicht einmal aufzustehen traute ich mich, um nach einer Toilette zu suchen. Um mich herum wuselten Kinder mit Fantaund Colaflaschen. Ich wollte mir etwas zu trinken kaufen, doch mein Mann hatte mir kein Geld dagelassen.
Das Schiff hatte längst abgelegt, weit und breit war kein Land mehr zu sehen, nur ein paar Möwen flogen hin und wieder an den Fenstern vorbei. Ich war in eine Art Trance verfallen, als mein Mann in Begleitung eines Ehepaars plötzlich wieder auftauchte. Wie durch einen Schleier hindurch sah ich sie auf mich zukommen: Abdullah, der mir von Stunde zu Stunde fremder wurde, eine junge Frau, klein, mit dichten Locken, und ein Mann, der ein aufgeregtes Kind an der Hand hielt. Die Frau begrüßte mich sofort: »Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Asiya. Wir werden uns alle zusammen eine Kabine teilen.« Ich schreckte auf. Mein Gott, daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, wir würden die Nacht auf dem Schiff verbringen. Nicht zu zweit, sondern mit einer anderen Familie. »Freut mich«, sagte ich abwesend und merkte gleich, dass ich mich wirklich freute. Über eine weitere Nacht ohne Qual.
Die Frau redete auf mich ein, fragte, woher wir kämen, erzählte, wohin sie gingen. Ich verstand nur die Hälfte, aber sie war nett und wusste Bescheid, weil sie nicht zum ersten Mal verreiste. »Kannst du mit mir zur Toilette gehen?«, fragte ich. »Natürlich, meine Liebe.« Ein Stein fiel mir vom Herzen, endlich war jemand da, der sich um mich kümmerte.
Dann gingen wir zu fünft los, wieder über lange mit Teppichen belegte Flure durch das Labyrinth des Schiffsbauches, vor dem mir schon viel weniger gruselte. Wir holten unser Gepäck, stellten es in einer Kabine ab, in der es nach Plastik roch, und der Ventilator surrte wie eine Hummel. »Willst du dich nicht frisch machen?«, fragte Asiya und schickte die Männer und ihren kleinen Sohn weg. Endlich in Ruhe umziehen, duschen, ausruhen. »Du musst die Reise genießen«, fuhr sie fort. »Du bist doch in den Flitterwochen. Wenn ich zurückdenke, wie das bei mir war: Mein Mann hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen.« – »Mein Mann beachtet mich gar nicht.« – »Daran musst du dich gewöhnen, das ist so bei uns.« – »Ich glaube, er liebt mich nicht.« – »Du täuschst dich, warum hätte er dich sonst zur Frau genommen.« Irgendwoher organisierte Asiya eine kalte Cola, sie schmeckte wie Champagner. Ich kannte zwar keinen Champagner, natürlich nicht, überhaupt keinen Alkohol, aber besser konnte Champagner nicht schmecken. Zum ersten Mal fühlte ich mich wohl auf dieser Reise. Ich legte mich auf eine der Gummiliegen und schlief sofort ein.
Eine Stunde später, als die beiden Männer an die Tür klopften, um uns zum Abendessen abzuholen, wachte ich wieder auf. Vollkommen durcheinander, da ich selten tagsüber schlief. Ich hatte die Bilder eines sonderbaren Traums vor Augen: Mein Vater liegt im Bett. Er winselt. So wie ich tags zuvor meine Mutter vorgefunden hatte. Der Vater ist krank, todkrank und ruft nach meiner Mutter: Hani, Hani. Er ruft sie bei ihrem Kosenamen, so nennen normalerweise nur wir Kinder sie. Er ruft nicht laut, aber immer wieder. Sie scheint ihn trotzdem nicht zu hören. Wie immer sitzt die Mutter auf ihrem Stuhl am Herd in der Küche, blickt ins Leere. Ich sitze neben ihr und sehe sie an. Soll ich anstatt ihrer aufstehen und zum Vater gehen? Doch da richtet sie sich auf, stützt sich auf die Stuhllehne, sie macht einen Schritt auf mich zu und lässt sich schwer auf meinen Schoß fallen. Sodass ich kaum mehr Luft bekomme. Wie der Gurt im Auto umklammert sie mich mit ihren Armen. Ich keuche unter ihrer Last und kann mich nicht mehr von der Stelle rühren. Es dauerte eine Weile, bis ich aufwachte und wieder wusste, wo ich war: Auf dem Schiff. In Richtung Europa, nach Deutschland, mit einem Mann, der eiskalt war.
Am nächsten Morgen beim Frühstück in einer riesigen Cafeteria fragte mich Asiya, wie es mir gehe, zum ersten Mal weg von den Eltern, auf der Reise in ein fremdes Land. Ihr Interesse tat mir gut. Sie spürte, wie unsicher ich war. Wenn sie von der Marmelade oder vom Brot nahm, fragte sie mich, ob ich auch etwas haben wolle. Das wäre Abdullah nie in den Sinn gekommen. Ich beobachtete die drei, wie sie mit dem Messer Marmelade aufs Fladenbrot schmierten. Wie elegant, ich hatte bisher nur selten mit einem Messer gegessen, versuchte aber, es ihnen nachzumachen. Asiyas Mann lachte mich an. »In Deutschland wirst du oft mit Messer und Gabel essen, nicht mehr mit den Fingern wie bei uns.« – »Das ist schwierig.« – »Nein, nein, du bist geschickt und wirst es schnell lernen.« Er war nett, und wenn er mit mir sprach, schaute er mir in die Augen. Das gab mir ein Gefühl der Freiheit. Von zu Hause, wo ich als Frau die Augen niederzuschlagen hatte, auch vor meinem Mann, kannte ich das nicht.
Tat es ihm leid, dass Abdullah mich ignorierte? Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich fragte er, ob wir bis Hamburg zusammen fahren sollten. Hintereinander im Konvoi und gemeinsam die Pausen verbringen. Ich sagte nichts, war aber froh, dass mein Mann zustimmte. Von Stunde zu Stunde fühlte ich mich abhängiger von ihm. Wer war ich ohne ihn? In meiner Handtasche befand sich schmutzige Wechselwäsche, sonst nichts. Kein Geld, kein Pass, kein Schlüssel, kein Wasser. Mein Mann hatte alles an sich genommen. Ich war niemand, aber eigentlich kannte ich es nicht anders von zu Hause. Was machen ohne Mann? Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde, und wusste nicht, was von mir erwartet würde.
Um die Mittagszeit erreichten wir den Hafen von Genua. Wie Ameisen liefen die Menschen auf dem Schiff nun wieder alle durcheinander: mein Mann vor mir, die neuen Freunde hinter mir. Ich hatte Herzklopfen, doch als ich im Auto saß, legte ich den Gurt fast schon freiwillig an. Auf der Fähre war ich noch in einer Art Zwischenland, zwischen Wasser und Himmel gewesen. Als wir über die Metallrampe ins Freie fuhren, ruckte es. So als würde mein Band zur Heimat nun endgültig zerschnitten. Und ich spürte, jetzt beginnt ein neues Leben. Alles würde anders werden.
Die Luft war feucht, kühl, lange nicht so heiß wie am Tag zuvor in Tunesien. Die Beamten, die uns aus dem Schiff winkten, trugen andere Uniformen und riefen Worte in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Die Schrift auf den Straßenschildern war anders, eckige Zeichen, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Die Bäume waren anders, die Häuser waren anders, hoch mit dunklen Fensterhöhlen, die uns Ankömmlinge anstarrten. Wüst und unheimlich. Die Farben bleicher, das Rot der Hausdächer, das Grau der Brücke, die sich über die Stadt spannte. Die Autolawine auf der vielspurigen Hafenstraße war anders, dunkel, bedrohlich und breit. Auch die Gerüche waren anders, und die Menschen waren anders.
Wenn nur auch mein Mann sich verändern würde! Wenn er plötzlich aufspringen und laut rufen würde: »Was habe ich bloß für eine schöne, nette, liebe Frau!« Aber er sprang nicht auf. Er blieb sitzen, er blieb derselbe. Er klammerte seine Finger ums Lenkrad, das mit Kunstleder umwickelt war, bis seine Knöchel weiß wurden. Und bahnte sich aggressiv seinen Weg aus dem Hafen. Unsere neuen Bekannten hinterher. Auf die Autobahn. Wieder betrachtete ich Abdullah von der Seite: Er wirkte angestrengt. Aber hübsch mit seinen hohen Backenknochen und den eingefallenen Wangen. Seine schwarzen Haare fielen ihm buschig in die Stirn. Die starken Augenbrauen, seine glasklaren grünen Augen. Warum ist er nur so unfreundlich zu mir? Was habe ich ihm getan? Ich würde viel tun, um ihn glücklich zu machen, aber er behandelt mich wie ein lästiges Insekt – abgesehen vom Bett – uninteressant für ihn. Ein Werkzeug bestenfalls.
Dieser blöde Gurt nagelte mich fest. Wenn ich wenigstens wüsste, wie lange wir noch zu fahren hatten. Waren es Stunden oder Tage? »Wie weit ist es noch bis Hamburg?«, hörte ich mich plötzlich fragen. Die Worte waren aus mir herausgebrochen, weil ich das Schweigen nicht mehr länger ertrug. »Nimm dir eine Landkarte aus dem Handschuhfach und schau selbst«, erwiderte er. Als ob ich wüsste, was das ist: eine Landkarte. Lesen konnte ich sie sowieso nicht. Trotzdem drückte ich auf den silbernen Knopf vor mir.
Doch noch bevor ich ins Fach hineingreifen konnte, hatte sich Abdullah zu mir herübergebeugt und streckte seine Hand aus. Den Blick auf die Straße gerichtet, suchte er darin herum. Um schließlich keine Landkarte, sondern ein Foto herauszuziehen. »Da, schau her«, sagte er und hielt mir das Bild zwischen zwei Fingern vors Gesicht. Seine Stimme klang rauchig. »Siehst du das kleine Mädchen? Ist meine Tochter – hübsch, nicht?« Ich wich zurück. Nein, das konnte nicht sein Ernst sein! Wir waren gerade mal vier Wochen verheiratet, da präsentierte er mir eine kleine Tochter mit einer anderen Frau? Nebenbei, einfach so, auf der Fahrt durch Italien nach Deutschland? Ich war schockiert und brachte keinen Ton über die Lippen.
Demütigt er mich nicht schon durch sein Desinteresse genug, jetzt hat er auch noch ein Kind. »Mit einer Deutschen … «, sagte er. »Dein Kind …?«, fragte ich ungläubig, obwohl es keinen Zweifel daran gab. Mir wurde heiß, schon wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Das Mädchen hatte seine dunklen lockigen Haare, seine Augen, seine Nase, seinen schmalen Mund, sein Gesicht. Aber es lächelte, was er nie tat.
Abdullah schien nicht zu bemerken, wie weh er mir mit diesem unerwarteten Geständnis tat. Vielleicht war es ihm auch egal, ich glaube, er war sogar stolz auf sein Mädchen und wollte vor mir angeben. »Hör auf rumzuheulen«, sagte er barsch. Und zum ersten Mal, seit wir zusammen waren, erzählte er drauflos. Dass die Mutter des Kindes aus Ostdeutschland komme. Dass sie ihn aber kürzlich verlassen habe, weil er sie nicht heiraten wollte. Konnte er nicht, er war ja Esma versprochen. »Soll sie bleiben, wo der Pfeffer wächst«, sagte er, dafür würde er seine Tochter nun eben nicht mehr besuchen, und den Unterhalt werde er auch nicht für sie bezahlen. Wenn die Tochter wenigstens ein Sohn gewesen wäre. »Aber Söhne kann ich nun ja jede Menge mit dir machen«, sagte er lachend und starrte wieder geradeaus. Ich zitterte. Das war der Gipfel an Demütigung! Wusste mein Vater davon? Ob er mich ihm dann immer noch zur Frau gegeben hätte? Ich ballte die Hände, die in meinem Schoß lagen, zu Fäusten und richtete mich so gerade auf, wie es nur ging. Ich wollte nicht leiden, auch kein Selbstmitleid. Vermutlich hätten auch eine andere Frau und ein Kind meinen Vater nicht davon abgehalten, Abdullah auszusuchen. Mein Großvater hatte drei oder vier Frauen mit Kindern gehabt, und mein eigener Vater hatte vor unserer Mutter einen Sohn mit einer anderen Frau gezeugt. Männer konnten das, Frauen nicht.
Warum um Himmels willen war ich nicht von zu Hause weggelaufen wie meine Brüder? Ich hätte doch wissen müssen, was mir mit einer Heirat blühte. Meine Brüder waren mutiger, sie waren noch jung damals, kaum 15, und wollten die Schläge des Vaters nicht länger ertragen. Lange wusste keiner, wohin sie geflüchtet waren. Es interessierte auch niemanden. Man sprach nicht mehr von ihnen, nachdem sie weg waren. So war der Schmerz leichter zu ertragen. Schon seltsam. Mein Vater war stolz auf seine Söhne gewesen, aber sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatten, schien er sie vergessen zu haben. Verstoßen hatte er sie. Erst spät erfuhren wir, dass ein Bruder nach Libyen durchgebrannt war, der andere nach Frankreich, wo die Tante eines Freundes für ihn sorgte. Mein kleiner Bruder vertrieb sich die Zeit mit Diebstählen.
Als Abdullah und die Freunde hinter uns eine Autobahnraststätte für eine Pause ansteuerten, waren meine Augen verquollen, aber die Tränen getrocknet. Es war irgendwo in den Alpen. Die Luft klar und dünn, auf den Berggipfeln lag Schnee. Das hatte ich noch nie gesehen. Was für eine Freiheit dort oben, Allah so nah. Ich wollte nicht mehr weinen wegen meines Mannes, sondern stolz sein. Nicht demütig. Also spielte ich meine Rolle, wie ich es schon als Kind gelernt hatte. Mit einem hohlen, tiefen Lachen, das mich kindlich macht, tat ich so, als sei nichts gewesen. Der Wind pfiff mir um die Ohren, ich fror. Asiya legte mir eine dicke Jacke über die Schultern und hakte sich unter. An warme Kleidung hatte ich überhaupt nicht gedacht, nicht einmal an Strümpfe. Warum hat mir keiner von den Bergen und vom Schnee erzählt? Dafür berichtete mir Asiya jetzt von Deutschland, von riesigen Supermärkten mit kuscheligen Fellmänteln. Mein Mann hatte sich einen Fotoapparat umgehängt und spielte den Charmeur, der uns wie ein Pfau umbalzte und knipste. Die grandiose Aussicht interessierte ihn nicht.