Fremde Kleider

Ziellos tigerte ich durch die Wohnung. Wie in einem Käfig. Nach kurzer Zeit schon kannte ich jede Ecke, jede Holzleiste und jedes Kabel. Was tun? Immer hatte ich gesagt bekommen, was ich tun und lassen soll, jetzt sagte keiner etwas. Von unserem Reiseproviant war noch Brot übrig, auch Tee und Oliven. Ich aß, trank und beschloss zu warten. Doch Abdullah kam nicht. Ich horchte. Hörte nichts, nur die Geräusche der Straße. Ich musste mir selbst eine Beschäftigung suchen: Koffer und Taschen ausräumen. Es fiel mir schwer.

Viel hatte ich ja nicht mitgebracht. Ein wenig Folklore, Tunika, Tücher, Kaftan. Ich zog die Koffer über den Teppich ins Schlafzimmer, löste die Schnüre, die ich darumgebunden hatte, damit sie sicher zublieben. Als ich den großen Wandschrank mit den goldenen Türgriffen öffnete, traf mich der Schlag. Träume ich? Der Schrank war voll mit Kleidern, Blusen, Mänteln und Jacken. Was ist das? Sogar Unterwäsche und Schuhe! Für wen oder von wem ist das alles? Für mich? Hat mein Mann diese ganzen Sachen für mich gekauft? Auch die Nachthemden? Wer hat ihm dabei geholfen? Warum ohne mich? War Abdullah ein orientalischer Prinz, der seine Geliebte mit schönen Kleidern ausstattet?

Ich setzte mich aufs Bett und starrte die Kleiderberge an – unheimlich! Das Haus schien eingeschlafen, aber ich fröstelte, die Zeit war zu lang. Irgendwann schichtete ich meine mitgebrachten Habseligkeiten zu den schon vorhandenen. Mein Mann sorgte für mich, wie er es dem Vater versprochen hatte. Nicht einmal meine eigenen Kleider musste ich mir aussuchen.

Abdullah hatte schon eingekauft, als er nachmittags nach Hause kam. Er war auf Frühschicht gewesen. Obwohl er wegen unserer verspäteten Rückkehr nach Deutschland von Tunesien aus eine Krankmeldung an seinen Betrieb geschickt hatte, musste er sich sofort nach unserer Rückkehr melden und seine Arbeit aufnehmen. Mir das zu sagen, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Ich hatte ihn ja auch nicht danach gefragt.

»Armes Mädchen! Musst so viel leiden.« Stundenlang saß ich in den nächsten Wochen und Monaten vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und führte Selbstgespräche.

Selbstmitleidig oder anklagend. »Wieso hat dich dein Mann nicht lieb? Warum will er dich nicht kennenlernen?«, fragte ich mein Spiegelbild. »Du hast nichts anderes verdient. Warum warst du denn so hochnäsig und hieltest dich für etwas Besseres?«, flüsterte es böse. »Selbst schuld. Wolltest ja unbedingt einen reichen Mann heiraten.« Blöder Spiegel! Weiß auch nicht mehr als ich selbst. Aber wenigstens vermittelte er mir das Gefühl, am Leben zu sein. Ich holte mir Trauben aus der Küche, kam zurück, aß sie und spuckte die Kerne im hohen Bogen aus: Mal sehen, ob sie in diesem finsteren Loch Wurzeln schlagen.

»Das ist nun die Strafe für deinen Hochmut. Immer hast du gedacht, du verdienst was Besseres. Das hast du nun davon. Einen Mann, der dich nicht beachtet«, zischte es aus dem Schrank. Dafür hasste ich mich, ich machte mir bittere Vorwürfe: Warum hatte ich mich bloß über alle anderen Männer lustig gemacht, die gekommen waren und um meine Hand angehalten hatten? Mit allen anderen wäre es besser geworden als mit Abdullah, dem Deutschen. Hätte ich einen von den anderen geheiratet, wäre ich wenigstens in Tunesien geblieben und hätte meine Familie um mich gehabt. Wer weiß …

Viele Mädchen in der Nachbarschaft hatten mich um den Mann aus Deutschland beneidet. »Was hast du für ein Glück«, sagten sie, »du kommst raus, wirst viel erleben, viel sehen.« Aber nun sehe ich weder etwas von Deutschland noch von meinem Mann. Wenn die wüssten, wie einsam man sein kann. Ich wünsche es keiner von ihnen. Unendlich einsam!

Die Tage gingen dahin, einer nach dem anderen, immer im gleichen Rhythmus, wie der Scheibenwischer am Auto. Mein Mann war auf Frühschicht, eine Woche später auf Spätschicht, und ich war allein. Die Fenster waren geschlossen. Ich hatte kein Geld und keinen Wohnungsschlüssel, den nahm mein Mann mit. Er schärfte mir ein, nicht aus dem Haus zu gehen, abgesehen davon hätte ich mich auch gar nicht getraut. Nachdem ich Abdullah morgens um halb fünf das Frühstück gerichtet und ein Mittagessen eingepackt hatte, legte ich mich meistens wieder ins Bett und schlief. Oder versuchte zu schlafen. Dann stand ich wieder auf, wusch ein Kleidungsstück oder zwei von Hand, eine Waschmaschine hatten wir nicht, räumte auf, aß ein wenig. Eigentlich hatte ich nichts zu tun. Manchmal schaltete ich den Fernseher an, nur zur Ablenkung und um Stimmen um mich zu haben. Alles im Nachthemd oder Bademantel, angezogen habe ich mich eigentlich nur, um mich gleich wieder umzuziehen. Fast täglich probierte ich meine neuen Kleider. Den Schrank hoch und runter, von links nach rechts und wieder zurück, Kleider, Hosen, Röcke, in allen Kombinationen. Was hätte ich auch sonst machen sollen?

Zwischendurch stellte ich mich vor den Spiegel, tanzte hin und her, betrachtete mich, sprach mit mir selbst und holte meine Schminksachen, die ich auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Ohne zu blinzeln, umrahmte ich meine Augen mit schwarzem Kajal und schminkte die Lippen mit knallrotem Lippenstift. Rouge auf die Wangen, auf dem Kopf band ich Tücher zum Turban. Oft mehrere übereinander, rot, blau, weiß – wie es meine Großmutter getan hatte. Nie war die alte Frau ohne fünf Tücher aus dem Haus gegangen, jetzt war sie lange tot. Ich würde es ihr nachmachen, wenn ich je aus dem Haus kam, nahm ich mir vor.

Meistens zupfte ich ein paar Strähnen meines krausen, dunklen Haares unter den Tüchern hervor: War ich nicht hübsch? Meine bernsteinfarbene Haut – ohne Makel. Nicht wie meine Mutter, deren Gesicht und Arme über und über mit dunkelgrünen Tätowierungen bedeckt waren. Sie sollen magische Kräfte besitzen. Die erste Tätowierung, die Ayasha in Kreuzform auf Wangen und Stirn, schützt das Leben. Die Fula, das Dreieck auf dem Kinn, sichert Glück und Wohlstand. Es muss höllisch wehgetan haben. Mit Nadeln hatte man der Mutter als Kind die Tatoos gestochen. Sie sprach nicht gern darüber, und wenn, dann weinte sie. Bis heute will sie ihre Male weghaben.

In der Küche wusch ich meine Schminke am Spülbecken wieder ab, ich zog mich aus bis auf die Unterwäsche, nur den Turban ließ ich auf dem Kopf. So stellte ich mich dann auf die Couch im Wohnzimmer. Wippte auf und ab. Vor zugezogenen Vorhängen. Ich mochte die Vorhänge nicht, sie machten das Zimmer so dunkel, trotzdem nahm ich sie nicht ab. Offensichtlich brauchen die Fenster der deutschen Häuser ihre Vorhänge. Wie den Schleier, den meine Verwandten in Tunesien anlegen. Man darf ihn ihnen nicht einfach wegnehmen. Auch die Vorhänge nicht. Das Fenster war mein Freund, bei ihm blieb ich stehen und versuchte zu erraten, was draußen auf der Straße vor sich ging. Wie schon in der ersten Nacht.

Mein Leben in Deutschland spielte sich in diesem Rahmen ab. Ich schob die Gardine zurück, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, legte den Kopf in die Hände und schaute hinaus: Morgens, wenn es noch frostig kühl war, zogen Horden von Schulkindern in ihren dünnen Jäckchen durch die Straße, hoch zur Grundschule am oberen Ende. Wenn sie mittags zurückkamen, baumelten die Jacken lustig über ihren Schulranzen auf den schmalen Rücken. Wie hüpfende Vogelscheuchen sahen sie aus. Dann war die Gasse wieder still. Einmal am Tag brachte ein Lieferwagen Lebensmittel für die Bäckerei unter unserer Wohnung. Ein dicker Mann schleppte schwere Kartons zur Haustür rein und andere wieder raus. Manchmal wechselte er mit dem Straßenkehrer ein paar Worte. Der piekste mit einer langen Stange leere Getränkepackungen und Eispapiere, die die Kinder fallen gelassen hatten, auf.


Es wurde früh Herbst in diesem Jahr. Die grünen Wacholderbüsche auf den schmalen Rabatten vor den Häusern schien das nicht zu stören. Doch die jungen Kastanienbäume, deren Laub sich allmählich rot und gelb verfärbte, gaben ihren Nachwuchs preis und warfen ihre Früchte ab, kleine Igel, die auf den gepflasterten Wegen aufplatzten. Reif und glänzend, aber vom Straßenkehrer weggefegt, bevor sie neue Erde fanden.

Ich hätte vieles darum gegeben, rausgehen zu können. Doch Abdullah erlaubte es mir nicht und ließ mir keinen Schlüssel da. Womöglich ist das der Grund, warum ich es heute noch nicht lange in Wohnungen aushalte, auch nicht in meiner eigenen. Nicht bei geschlossenen Türen und Fenstern. Dauernd laufe ich von einem Zimmer ins andere, immer fällt mir etwas ein, weswegen ich sofort wieder rausmuss. Ich suche nach Möglichkeiten, um außer Haus zu übernachten, bei meinem großen Sohn oder bei einer Freundin. Als wäre ich auf der Flucht. Unterwegs, ich liebe es, unterwegs zu sein, das ist wichtig für mich. Eine Stunde zur Arbeit zu fahren, eine zurück, das ist kein Problem. Obwohl ich mir manchmal abends nach der Arbeit nichts anderes wünsche, als mich vor dem Fernseher in eine Decke zu kuscheln und einzuschlafen.

Mein Mann hatte mir eingeschärft, weder ans Telefon zu gehen, wenn es klingelte, noch die Tür aufzumachen, wenn er weg war. Es konnte ja sowieso nicht für mich sein. Keiner kannte mich, und ich kannte keinen. Was soll’s? Was hatte ich zu befürchten? Aber seine Verbote verunsicherten mich. Nicht einmal auf die Toilette, die außerhalb der Wohnung im Treppenhaus lag, traute ich mich zu gehen. Jedes Mal, wenn ich musste, öffnete ich vorsichtig die Tür und schaute erst durch den Türspalt, um mich zu vergewissern, dass ich auch niemandem begegnete. Wie eine Gefangene.


Es war frühmorgens. Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich aufstand. Ich hatte schlecht geträumt und schreckliches Heimweh. Als Abdullah zur Arbeit stürmte und die Tür zum Treppenhaus aufriss, schlug mir der warme Geruch von Brot entgegen. Wie jeden Morgen. Aber heute war es anders. Ich hatte Heimweh und wollte – ja warum eigentlich nicht? – zum ersten Mal ein Brot backen. Teig kneten und formen, wie zu Hause. Mich nicht mehr ins Bett legen oder eine Modenschau vor dem Spiegel veranstalten. In Tunesien hatte ich nie gerne gebacken, doch nun spürte ich eine große Sehnsucht danach. Obwohl wir hier gar keinen Lehmofen hatten, sondern nur einen deutschen Elektroofen, von dem ich kaum wusste, wie er funktionierte.

Aufgeregt riss ich alle Schubladen in der Küche auf, suchte nach Mehl und Salz, fand alles außer Hefe. Nur ein leeres Papier lag im Kühlschrank. Ich faltete es auf und strich es mit meinen Fingern glatt: In einer Bäckerei muss es Hefe geben, dachte ich, sicher würde man mir dort Hefe geben. Ohne zu überlegen, schlüpfte ich in meine Hausschuhe und ging die Treppe nach unten. Die Tür zur Küche zwischen Ladengeschäft und Backstube stand wie immer halb offen. Dort hatte ich die Bäckersfrau schon ein paar Mal mit den Lehrlingen aus der Backstube sitzen und Kaffee trinken sehen. Eine Frau mit kurzen blonden Haaren, zupackend und freundlich, vielleicht zehn Jahre älter als ich.

Ich klopfte. »Herein!« Ich schob die Tür ganz auf und machte einen Schritt vorwärts. Ein paar Leute saßen um eine Eckbank. Denen streckte ich nun das leere Hefepapier, das ich in der Hand hielt, entgegen: »Bitte«, sagte ich, ein Wort das ich auf der Autobahnraststätte aufgeschnappt hatte. Sie schauten mich an, dann schauten sie sich gegenseitig an. Irgendwie betreten. Dann lachten sie: »Hallo, guten Morgen.« In dem Moment, da ich das Papier sinken ließ, sah ich an mir herunter. Und das Wort »Hallo«, das ich mir eingeprägt hatte, blieb mir im Halse stecken: Ich war im Nachthemd. Esma, das tunesische Mädchen, stand morgens in der Backstubenküche, mitten unter fremden Leuten, und trug nichts anderes als ein geblümtes Nachthemd.

Ich weiß nicht mehr, ob ich über mich gelacht habe. Wahrscheinlich bin ich zu Tode erschrocken und wollte nur noch weg. Auf jeden Fall legte ich meine beiden Arme reflexartig über die Brust, als ob ich auf diese Weise etwas verbergen könnte. Ich hatte einfach vergessen, mich anzuziehen. Aber da sprang die Bäckersfrau schon auf und sagte etwas, das ich nicht verstand. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter: »Warte!« Also blieb ich stehen. Ändern konnte ich jetzt sowieso nichts mehr. Es war mir peinlich, aber es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Bäckersfrau wieder zurückkam und mir lächelnd einen kleinen Brocken Hefe in die Hand drückte. Ich drehte mich um, sie sagte noch etwas, vielleicht »Herzlich willkommen«, aber da war ich schon weg.

Ein paar Tage später, mein Mann war gerade nach Hause gekommen, klingelte es an der Wohnungstür. Zum ersten Mal, seit ich in Deutschland war. Ich stand in der Küche und briet Fleisch und Zwiebeln. Ich schrak zusammen und wischte mir mit der Hand über die Stirn, der scharfe Geruch trieb mir die Tränen in die Augen. Ich kochte, wie ich immer für ihn kochte, obwohl mir Kochen verhasst ist. Putzen, aufräumen, waschen, nur nicht kochen, nein das kann und will ich nicht. Meine Mutter hat es mir nie gezeigt. Ich glaube nicht, dass sie selbst jemals gekocht hat, oft kochte die Großmutter oder eine Haushälterin, die manchmal zu uns kam.

Ich aß auch nicht gerne, meistens nur eine Kleinigkeit, schon bevor Abdullah nachmittags von der Arbeit kam. Wenn ich ihm dann sein Essen bereitete und im Wohnzimmer vor ihn stellte, rauchte er noch seine Zigarette zu Ende. Pingelig drückte er sie im Aschenbecher aus, bevor er das Essen probierte. Oft blieb ich an der Wohnzimmertür stehen und wartete auf seine Reaktion. Was würde passieren? Würde er den Teller wieder gegen die Wand werfen oder ihn mit seinem Handrücken auf den Boden fegen? Einfach so, ohne Vorwarnung, wie es alle paar Tage vorkam?

»Ungenießbar, was für ein verdorbener Fraß!«, brüllte er nur. Ich stand betroffen da und rieb mich mit meinem Daumen am Ohr, was ich oft tue, wenn ich mich ertappt fühle. Bei was eigentlich? Ich habe nur mein Bestes gegeben. »Putz das weg!«, schrie er, und ich war eine halbe Stunde lang damit beschäftigt, alles wieder aufzuwaschen. Abdullah aß dann nichts mehr, sondern brühte einen Mokka auf und steckte sich eine neue Zigarette an, die er zuvor ein paar Mal auf den Tisch geklopft hatte. Kaffee und Zigaretten reichten ihm, davon lebte er. Das war ihm alles näher als ich.

Manchmal stand er auch auf, packte den vollen Teller, trug ihn in die Küche und warf ihn komplett in die Mülltonne. Ohne ein Wort. »Ist doch schade um den schönen Teller«, traute ich mich einmal zu sagen. »Kann dir egal sein«, schrie er mich an. »Kaufst du einen neuen?«, fragte ich trotzig zurück, es muss mich der Teufel geritten haben. Das ging Abdullah zu weit, er schäumte vor Wut, packte mich mit einer Hand am Arm und schlug mir mit der anderen ins Gesicht, bevor ich meinen Kopf wegziehen konnte. Eine einzige Ohrfeige warf mich zu Boden. Ich zog die Knie ans Kinn und rührte mich nicht mehr von der Stelle. Doch anstatt aufzuhören, schlug und trat er weiter. Viel später versuchte ich aufzustehen, langsam und wimmernd, zog mich am Sessel hoch. Schleppte mich ins leere Kinderzimmer, wo die Vorhänge und Fenster geschlossen waren und die abgestandene Luft nach welken Blättern roch. Dort lag immer eine Decke, die breitete ich über mir aus und spann mich ein wie in einen Kokon, meine geballten Fäuste gegen das Kinn gepresst. So lag ich auf dem Teppichboden. Während Abdullah es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich machte.

Er fasste mich dann eine Weile nicht mehr an. Tagelang tat ich nur noch das Nötigste und schwieg. Mit Make-up versuchte ich meine blauen Flecken zu überschminken. Doch sobald die Flecken auf meinen Armen und am Rücken gelb wurden, fand mein Mann wieder einen Grund zuzuschlagen. Das Gemüse versalzen oder zu fade, zu warm oder zu kalt, das Hemd nicht richtig gebügelt oder Krümel auf dem Küchenfußboden, seine schmutzige Kaffeetasse nicht weggeräumt. Bald merkte ich, dass er gar keinen Grund brauchte, um mich zu schlagen. Egal, ob ich etwas richtig oder falsch machte, ob ich ihm widersprach oder still war, er schlug zu. Weil er schlagen wollte. Ich konnte machen, was ich wollte, er schlug zu. Ein Mann, der seine Frau schlägt, braucht keinen Grund. Trotzdem sagte er: »Weil du es verdient hast.« Und ich hatte ein schlechtes Gewissen. War ich wirklich eine so schlechte Ehefrau? Dass er mich so demütigen und prügeln musste? Ich schämte mich dafür. Mich jemandem anvertrauen konnte ich nicht. Wem auch?

Als es an diesem Tag klingelte, schob mein Mann den Teller weg, den ich ihm gerade gebracht hatte, und ging zur Tür, um zu öffnen. Ich durfte ja nicht. Unsere Vermieterin, die nette Bäckersfrau, stand im Treppenhaus. Auf ihren Händen balancierte sie ein riesiges Papptablett mit unterschiedlichsten Kuchen und Süßigkeiten. Ich war sprachlos hinter meinen Mann getreten, er bat sie herein. Mit einer Freundlichkeit, die ich nicht an ihm kannte. Wie kann er nur so charmant sein? Zu mir ist er unberechenbar und zornig und zu anderen der zuvorkommendste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich verstehe das nicht. Innerhalb von einer Sekunde knipst er den einen Abdullah aus und den anderen an, so wie man einen Lichtschalter drückt.

Er begrüßte die Bäckersfrau mit einer leichten Verbeugung. Bitte, sie solle sich setzen, bot er ihr an, und ob sie Tee haben möchte? Sie war jedoch in Eile und wollte nur Hallo sagen. Mein Mann nahm ihr das Tablett ab, sprach ein paar Worte mit ihr. Ich stand daneben und verstand nichts. Doch sie sah immer wieder zu mir herüber, und einmal berührte sie mich sogar am Arm. Ich vermute, dass sie gekommen ist, um mich zu begrüßen. Nur nicht setzen, denke ich, mein Mann soll stolz auf mich sein. Wahrscheinlich erzählte er ihr, dass er mich kürzlich erst aus Tunesien mitgebracht habe. Ich will ihn nicht blamieren, und vor allem will ich nicht, dass die Bäckersfrau ihm von meinem Ausflug im Nachthemd erzählt. Sie lacht mich offen an. Ich lächele zurück, nein, ich glaube nicht, dass sie Abdullah verraten würde, wie dämlich ich mich ein paar Tage vorher benommen habe und in welchem Aufzug ich Hefe bei ihr geholt habe. Sie weiß, wie peinlich mir das Ganze ist. Sie würde mir helfen, auch wenn wir uns fremd sind. Die Nachthemd-Geschichte ist unser Geheimnis, sie erzählt meinem Mann sicher nichts davon.

Sie war die erste deutsche Frau, mit der ich mich unterhielt, obwohl ich überhaupt nichts sagte. Aufgeregt war ich, lächelte, nickte, probierte von ihrem Kuchen. Und »Danke«, sagte ich, weil ich das von meinem Mann gehört hatte, »Danke schön«. Ich wollte, dass wir uns gut verstehen. Als sie in der Türe stand und noch ein wenig auf Abdullah einredete, vielleicht um ihm zu sagen, dass er mich gut behandeln solle – aber womöglich hoffte ich das auch nur –, sagte ich schüchtern: »Auf Wiedersehen.« Ohne zu wissen, was es bedeutete. Aber diese beiden Worte hatte ich schon in Tunis in der Grundschule gelernt. »Tschüss, Esma«, antwortete sie. Mein Mann sagte mir, dass sie Sabine heiße.

Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, setzte Abdullah wieder sein gleichgültiges Gesicht auf, das ich so gut an ihm kannte. Er schenkte sich Kaffee ein und legte sich auf die Couch vor den Fernseher, rauchte eine Zigarette, dann schlief er ein. Ohne mein Essen angerührt zu haben. Ich stellte ihm Aschenbecher und Kuchen dazu und setzte mich auf die andere Seite des Sofas. Wie jeden Nachmittag. Zu diesem Mann gab es keinen Kontakt. Gleich in der ersten Nacht hatte er eine Mauer zwischen uns aufgebaut. Die konnte ich nicht überwinden.

Ich legte meine Hände in den Schoß und betrachtete ihn: Er war der Mächtige, ich die Ohnmächtige, er der Herr und ich der Knecht. In einer solchen Konstellation geht es schnell, dass man sich unwert fühlt und sich nichts mehr zutraut. Er hat mich benutzt, mir den Mund gestopft, und ich bekam ihn lange nicht mehr auf. Jeden Tag dachte ich: Morgen, morgen wird es anders, ganz bestimmt wird morgen alles anders. Vielleicht kommen wir uns dann näher, vielleicht redet er mit mir, vielleicht werde ich ihm dann meine Fragen stellen. Ich fühlte mich wie die Möwe, die sich in unser Wohnviertel verirrt hatte und vor den Fenstern kreischte. Es war Mitte Oktober, und ich war melancholisch.

Loewenmutter
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