Kleine Fluchten
»Willst du mit einkaufen gehen?«, manchmal kam Abdullah nach Hause und fragte mich, ob ich ihn begleiten wolle. Das waren Feiertage für mich. Abwechslung, ein Ausflug, klar, wollte ich, immer. Ich freute mich irrsinnig. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Aber nein. Stattdessen zog ich mich um, schnappte mir Jacke und Schuhe, und los ging’s. Wie früher als Kind mit meinem Vater. Auch er kam manchmal und fragte: Wer von euch Kindern kommt mit? Einen Kollegen besuchen? Dann schrien wir um die Wette, natürlich wollte jeder mit, und dann liefen wir um die Wette nach draußen, und oft war ich die Schnellste.
Wenn Abdullah fragte: »Kommst du mit?«, rief ich »Ja« und beeilte mich. »Los, komm«, sagte er. »Warte, ich zieh mir nur noch die Schuhe an. Sofort!« – »Ich kann nicht warten!« Dann riss er die Tür auf, schlug sie wieder zu, blieb kurz davor stehen und machte sich aus dem Staub. So ließ er mich meine Abhängigkeit spüren. Zu stolz, um auf mich zu warten. Bis ich ihm dann durchs Treppenhaus hinterhergerannt kam, den Bäckersleuten noch freundlich zugewunken hatte und zur Glastüre hinausgestürmt war, war er oft schon weg. Er machte sich lustig über mich. Und ich kam mir betrogen und abgekanzelt wie ein kleines Mädchen vor.
Ab und zu nahm er mich aber doch mit. Ich liebte es, im Auto zu sitzen. Es vermittelte mir die Illusion, überall hingehen zu können. Raus aus meinem Käfig. Freiheit. »Ich will Autofahren lernen«, sagte ich dann zu meinem Mann, »darf ich?« – »Wer setzt dir denn solche Flausen in den Kopf?« – »Ich selbst.« – »Kommt nicht in Frage.« – »Bitte!« – »Zu teuer!« Er sagte mir nicht, dass er nicht wolle, dass ich selbständig würde. Dass ich überhaupt daran dachte, Auto zu fahren, war schon eine Sünde.
Autos übten schon immer eine große Faszination auf mich aus. Ich muss ungefähr 15 gewesen sein, als mein Vater eines Nachmittags von einem Kollegen nach Hause gebracht wurde. Der Kollege wollte noch auf einen Tee bleiben. Als ich das Haus mit Wasser ausspritze, wie jeden Tag, sehe ich das Auto draußen vor der Mauer stehen. Meine Geschwister spielen im Garten, ich gehe an ihnen vorbei, raus vor die Tür. Der Schlüssel steckt. Einem Polizisten klaut so schnell keiner ein Auto. Ich schleiche um den Wagen herum, das Metall ist warm. »Lass die Finger davon«, ruft mein kleiner Bruder. Aber ich bin schon auf der Fahrerseite, öffne die Tür und steige ein. Setze mich hinter das Lenkrad – welch ein Gefühl! Ich brauche den Schlüssel nur im Zündschloss umzudrehen. Das Auto macht einen Hüpfer nach vorne, ich erschrecke, weiß, dass ich auf eines der Pedale treten muss, das Auto macht noch einen Hüpfer, und der Motor stirbt ab. Ich juble. Weil ich mich traue zu fahren. Gleich noch einmal. Wieder rollt das Auto ein Stück vorwärts. »Bist du lebensmüde?«, höre ich meine Mutter vom Garten aus rufen. »Wenn dein Vater dich erwischt, bringt er dich um.« Aber das stört mich nicht, Hauptsache, ich bin gefahren.
Jetzt wollte ich alles kennenlernen. Mir jeden Weg einprägen. Wie ein gelehriger Hund saß ich neben Abdullah und schaute nach links und rechts und geradeaus. Nach allen Richtungen, irgendwann würde ich unsere Wohnung verlassen, und irgendwann würde ich alleine diese Wege gehen. Ich wagte kaum, mir diese Hoffnung einzugestehen, es war mehr ein Gefühl. Denn in Wirklichkeit dachte ich natürlich nicht daran, alleine rauszugehen. Ich konnte die Sprache nicht und kannte keine Umgangsformen. Ich hatte viel zu viel Angst. Was, wenn mir etwas zustoßen würde? In dieser fremden Stadt? Wen sollte ich anrufen und fragen? Nicht einmal meine Adresse in Hamburg konnte ich sagen.
Wir fuhren zu Aldi, 500 Meter links um die nächste Ecke, oder zu Penny, 500 Meter rechts um die Ecke. Noch heute mag ich diese anonymen Geschäfte, in denen keiner den anderen kennt, keiner etwas von einem will und man sich zwischen mannshohen Regalreihen verstecken kann. Im Hintergrund dudelt leise die Musik. Langsam, ganz langsam gehe ich meinen Weg, ziehe meine Bahnen, das Kopftuch tief im Gesicht. Dann vergesse ich meine blauen Flecke und vergesse alles um mich herum, sogar Abdullah, der den Einkaufswagen neben mir herschiebt. Mit meinem Kopftuch bin ich unsichtbar und schaue keinem in die Augen. Bin niemand! Keiner fragt nach mir, ein Staubkorn im Laden. Nichts macht mir meine Bedeutungslosigkeit klarer als dieses Gefühl, mit allen anderen meine Bahnen zu ziehen und in der Anonymität zu verschwinden. Wie ein Stern am Himmel, einer unter Milliarden. So muss sich Freiheit anfühlen.
Die Geschäfte, die ich in Tunesien kenne, sind öffentliche Orte, an denen geklatscht und getratscht wird. Ich war immer ganz scharf darauf. Wenn ich zum Einkaufen ging, erfuhr ich Neuigkeiten. Doch wann ging ich schon? Mein Vater hatte es verboten. Trotzdem ergriff ich jede Gelegenheit, um zu entwischen, überhaupt rauszukommen – herrlich. Einmal, ich erinnere mich, brauchte meine Mutter Zucker. Ich bot mich an: »Ummi, ich geh und hol dir Zucker.« Im Laden bei den Nachbarn, die ein paar Lebensmittel verkaufen. Meine Mutter weiß, dass wir Mädchen das Grundstück nicht verlassen und nicht vor die Mauer dürfen, aber sie sagt nichts und lässt mich gehen. Aber mitten auf dem Weg sehe ich schon von weitem meinen Vater auf der anderen Seite der Straße auf mich zukommen. Ich ducke mich, aber auch er hat mich schon gesehen, gleich wird es Schläge geben. Ich renne los, durch das große Tor zurück in den Garten, nach hinten in den letzten Winkel zu den frisch gepflanzten Zitronenbäumchen und warte. »Gleich haut er dich, ich weiß es«, sage ich mir leise und kauere mich in die Ecke. Warte, bis mein Vater mich schlagen wird. Er schlägt mich auch. Mit allem, was im Weg und zur Verfügung steht, mit der Hand, mit dem Gürtel, mit dem Stock und mit dem Gartenschlauch.
Es ist schlimm, ich liege auf der frisch umgegrabenen Erde, schreie. Und nicht zum ersten Mal kommt eine Nachbarin an die angrenzende Grundstücksmauer gelaufen und ruft beschwörend: »Bitte, bitte, Abdelhamid, bitte, Hadsch, bitte, lass deine Tochter, sie ist doch dein Kind!« Das ist ganz falsch, denn nun wird mein Vater noch wütender. Er empfindet es als Schande, dass sich jemand einmischt, und er schlägt noch mehr zu. So lange, bis ich nichts mehr fühle.
Als ich am Abend desselben Tages meinem Vater das Bett zurechtmachen wollte, wie immer bevor er schlafen ging, da habe ich mir in die Hose gemacht. So sehr fürchtete ich mich vor ihm. Er stand an der Tür, ich die Decken in der Hand vor seinem Bett und spürte plötzlich, wie das Wasser an meinen Beinen hinunterlief. Mein Vater schaute mich an und sagte streng: »Das machst du nie wieder!« Dann musste ich mit nassen Kleidern auf die Knie gehen, um Verzeihung bitten und versprechen, dass ich nie wieder auf die Straße gehe.
Doch ich bin immer wieder weggelaufen. Und immer wieder bereute ich unendlich, was ich getan hatte. Ich habe doch gewusst, wie es ausgehen würde! Ich durfte nicht auf die Straße und gehen, wohin ich wollte. Ich war ein Mädchen und hatte die Ehre der Familie zu wahren. Und meine Unschuld, von der ich lange nicht wusste, was das heißt, war von größerem Interesse für die Familie als mein Drang nach Freiheit.
Bei Aldi war ich frei, ging die Regalreihen entlang, strich mit meinen Fingern über die Packungen, über jede Tomatendose, jedes Reinigungsmittel, über Keksrollen und Marmeladengläser, nahm das eine oder andere Ding zur Hand. Ich wägte ab, legte es zurück oder in den Wagen. Lesen konnte ich nicht. Abdullah war großzügig, er verdiente gut, das wollte er zeigen. Schnell durfte ich selbständig nehmen, was wir brauchten und was ich wollte. Alles, Lebensmittel oder Kosmetikartikel, Make-up, Badesachen, Schokolade, Naschereien. Ein kleines Paradies. Ich suchte aus, er schob den Wagen, und am Schluss bezahlte er.
Abdullah hatte sich Zeit gelassen mit dem Heiraten. Als er mit mir aus Tunesien zurückkam, war er stolz. Endlich eine Frau! Die er in den ersten Wochen, solange sie noch neu war, allen Landsleuten in Hamburg vorführen wollte. Obwohl ich dadurch aus dem Haus kam, war es grauenhaft für mich. »Zieh deinen Kaftan an, den mit der roten Stickerei«, herrschte er mich dann an, »und ziehe das blaue Kopftuch dazu an.« – Warum der Kaftan?, wollte ich fragen, fragte aber nicht, fragte stattdessen: »Zu wem gehen wir?« – »Zu einem Landsmann aus Tunesien.« – »Hat er Frau und Kinder?« – »Ja, aber das geht dich nichts an. Frag nichts, erzähl nichts, sei einfach da.«
Wie ein Mitbringsel aus Tunesien! Deshalb sollte ich dieses folkloristische Kleid anziehen. Nicht, dass es mir nicht gefallen hätte, ich hatte es sogar selbst ausgesucht. Aber hier in Deutschland? Nein, hier wollte ich es eigentlich nicht anziehen. Keiner lief so herum, niemand ging damit auf die Straße. Ich bin jung, modern, schön und nicht zum Verstecken. Was sollen denn die Leute von mir denken? Dass ich aus dem hintersten Winkel des Orients komme?
Das Kopftuch binde ich gerne um – wenn ich will. Als gläubige Muslimin. Aber jetzt will ich gehen wie alle anderen Frauen in Tunesiens Großstädten und wie die Deutschen, die ich vom Fenster aus beobachte. Ich will sein wie alle. In Jeans und T-Shirt und hochhackigen Schuhen. Was soll ich in diesem weiten Kleid?
Doch Abdullah bestand darauf. »Ich will stolz auf dich sein!« Angeben wollte er mit mir, nichts weiter: »Schaut mal, ich habe eine Frau mitgebracht, etwas ganz Schönes, etwas Originales. Da guckt ihr, was? Das Püppchen gehört mir, mir allein. Hättet ihr das eurem alten Abdullah zugetraut?«
Ich hasste diese Besuche, zu denen ich mich ausstaffieren sollte wie diese Puppen in Landestracht, die gerne von Touristen gekauft wurden. Für wildfremde Menschen, die ich nicht kannte, sollte ich mich schön machen. Dabei ging es mir nicht gut, ich erlebte die schlimmste Zeit meines Lebens und wollte nur noch meine Ruhe haben. Am liebsten hätte ich mich eingegraben und wäre erst wieder herausgekommen, wenn der ganze Ehespuk vorbei gewesen wäre. »Du musst aber«, sagte Abdullah, wie er von Anfang an immer wieder sagte: »Ob es dir passt oder nicht. Du musst.«
Es war in dieser Zeit, als ich anfing zu schauspielern. Ich spielte die gutgelaunte Esma mit ihren lustigen Geschichten und machte Witze, obwohl ich die elendsten Gedanken hatte. Laut schallend lachte ich oder tief glucksend. Spielte das freche Kind und den Clown, über den man sich amüsiert, auch wenn innerlich meine Tränen wie ein Rinnsal liefen, das nicht mehr abzustellen war. Ich kann gut lachen, und ich kann gut schauspielern, ich kann gut singen, und ich kann gut tanzen. Trotz oder wegen meines ganzen Kummers. Es ist gut so. Denn wenn ich das nicht könnte, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.
Die Besuche verliefen immer gleich. Die Männer saßen im Wohnzimmer, redeten, tranken, aßen, sahen fern. Während ich mit den Frauen in der Küche kochen und essen und ein wenig von der Hochzeit erzählen durfte. »Hat dein Mann viel Geld ausgegeben und dir eine schöne Hochzeit ausgerichtet.« – »Jahaaaa.« – »Wie lange habt ihr gefeiert?« – »Eine Woche.« – »Warst du mit den Frauen im Hamam?« – »Sie haben mich gewaschen und gecremt und mit Parfum eingesprüht.« – »Wie war’s?« – »Schön, das war schon schön. Auch die Henna-Nächte.« – »Haben sie dich bemalt?« – »Ja, ich sah aus wie eine orientalische Prinzessin, mit weißem Kleid und Schleier.« – »Und wie fühlst du dich so jung verheiratet?« – »Weiß noch nicht, mal sehen.« – »Du kannst zufrieden sein, du hast einen guten Mann abbekommen.« – »Ich kenne keinen anderen.«
Was sie bloß alle an Abdullah fanden? Obwohl, zugegeben, nach außen hin war er höflich, die Liebenswürdigkeit in Person. Wenn ich ihn so kennengelernt hätte, hätte ich ihn auch nett gefunden. Aber so wie andere ihn erlebten, war er nicht, nicht zu mir. Über diese andere Seite konnte ich jedoch nicht reden, sie ging keinen etwas an. Ich schämte mich. Sollte ich den Frauen meine blauen Flecke zeigen? Meine weiten Ärmel zurückschieben und meine Oberarme bloßlegen? Was würden sie denken von mir? Womöglich, dass ich die Schläge verdient habe? Das würde mir noch mehr wehtun. Deshalb schwieg ich lieber: Bloß nicht erzählen, wie ich von meinem Mann behandelt wurde und wie dreckig ich mich fühlte. Vor lauter Selbstmitleid kam ich lange nicht auf den Gedanken, dass auch viele andere Frauen aus Scham darüber schweigen, was hinter verschlossenen Türen passiert.
Wie es mir in Deutschland gefiele, wollten Abdullahs Freunde wissen. Was sollte ich darauf antworten? Dass ich meine Tage trübsinnig im Bett, vor dem Fernseher, vor dem Spiegel und vor dem Fenster verbringe und deshalb nur das Stück Straße vor unserem Haus kenne? Das Fenster war der Rahmen, in den meine Hamburger Welt passte. Nein, ich legte mir eine andere Antwort zurecht: »Viel habe ich noch nicht gesehen, aber was ich gesehen habe, gefällt mir gut. Die Vermieterin ist lieb, die Straße vor dem Haus sauber.« Das reichte meistens schon. Man erzählte mir dann immer, was mich alles noch erwarten würde: Scherereien mit den Behörden, und ich solle mir ja angewöhnen, immer pünktlich zu sein. Manchmal würde, wer kein Deutsch spricht, blöd angemacht. Das sei aber noch lange kein Grund, die Sprache zu lernen.
Wir Frauen unterhielten uns in der Küche und schälten dabei Zwiebeln, Kartoffeln und Äpfel, tischten Essen auf und räumten wieder ab. Wir aßen zusammen mit den Männern oder getrennt, machten den Abwasch. Während unsere Männer im Wohnzimmer über alte Zeiten redeten und über ihre verflossenen Freundinnen. Ich bekam immer nur Satzfetzen mit, hörte aber doch, wie sie sich mit ihren deutschen Freundinnen brüsteten, die sie alle vor ihrer Ehe gehabt hatten. »Schöne Frauen, kluge Frauen, verruchte Weiber, Huren, Nutten.« Die meisten hatten sich von ihren arabischen Liebhabern ein Kind andrehen lassen, für das die Männer natürlich die Vaterschaft abstritten, wie Abdullah auch. Wenn meine Landsleute bei ihren deutschen Amouren wenigstens in der Liebe etwas gelernt hätten! Aber nicht einmal das war der Fall.
Einer von Abdullahs Freunden war Deutscher, verheiratet mit einer Italienerin. Bei diesem Besuch durfte ich in Jeans gehen. Ich war dann aber auch wieder nur Staffage, verstand nichts und bekam auch nichts übersetzt. Also beschränkte ich mich aufs Beobachten und setzte mich in einen Sessel, von dem aus ich einen guten Überblick hatte. Die Szenerie war mir unheimlich: die beiden Männer vor dem Fernseher, Bier und Schnaps in sich hineinschüttend, sich kugelnd vor Lachen. Mein Mann machte Witze, und je mehr er trank, desto deftiger und lauter. Er flirtete mit der Frau seines Freundes, zischte »meine Schöne« durch die Zähne, während sein Adamsapfel auf und ab sprang. Mir war’s egal, ich wunderte mich aber trotzdem, dass sein Freund dazu lachte und sogar stolz darauf zu sein schien. Der Abend endete erst, als sich beide Männer auf dem Klo übergeben hatten.
Im Auto neben Abdullah ekelte ich mich. Wie er nach Alkohol und Zigaretten stank! Er war mir noch fremder als sonst. Wäre er gegen einen Baum gefahren, ich glaube, ich wäre weggelaufen. Weit weg, so weit ich nur konnte. Aber er fuhr gegen keinen Baum, und als ich einmal davonlief, kam ich nicht weit. Zu Hause ging ich sofort ins Bett. Nicht einmal abgeschminkt habe ich mich. Dabei liebte ich es, mir vor dem Zubettgehen mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht zu schöpfen, mich mit dem Handtuch trocken zu rubbeln und mich mit beiden Händen einzucremen. Was mache ich bloß? An nichts anderes konnte ich mehr denken: »O Allah, mach, dass ich schlafen darf.«