Raus ins Freie

Amal war ein paar Monate alt, als Abdullah eines Morgens die beiden Jungs schnappte und sie ins Auto setzte. Um sie wie immer zum Kindergarten zu bringen, dachte ich. Ich war damit beschäftigt, mich um das Baby zu kümmern, was nicht einfach war in dieser kalten Wohnung. Ständig musste ich Wasser kochen und wieder abkühlen lassen: für die Wäsche, das Bad, das Fläschchen. Als Abdullah an diesem Tag gegen Mittag nach Hause kam, ich war gerade dabei, Amal zu wickeln, da sagte er unvermittelt: »Soll ich dich hinfahren?« – »Wohin?« – »Zu den Kindern.« – »Sind sie nicht im Kindergarten?« – »Nein, im Krankenhaus.« – »Was?« – »Ich habe sie zur Beschneidung gebracht. Sie sind wach. Du kannst sie jetzt sehen.« – »Das ist nicht wahr.« – »Doch, du kannst sie jetzt sehen.« Das konnte nicht sein Ernst sein! Er hatte unsere Söhne ohne mich ins Krankenhaus gebracht und den Eingriff vornehmen lassen. Ohne dass ich mich richtig besann, begann ich zu schreien: »Warum hast du das gemacht? Ohne mich. Wie kannst du den Kindern so etwas antun und sie dann alleine lassen? Das kannst du doch nicht machen, herzloses Schwein.«

Immer wieder hatte Abdullah von der Beschneidung Amins und Jasins gesprochen. In Tunesien wird diese rituelle Reinigung normalerweise bald nach der Geburt vorgenommen und mit einem großen Familienfest gefeiert. Doch das wollte mein Mann nicht. Die Verwandtschaft sei zu groß, hatte er eingewandt, man könne nicht alle einladen. Viel zu teuer. Nach meiner Meinung fragte er nicht. Ich hatte auch nichts dazu zu sagen.

Aber jetzt war ich wütend, so wütend, wie ich mich selbst noch nie erlebt hatte. Ich raufte mir die Haare und schrie, sodass Amal zusammenzuckte und zu weinen begann. Ohne Windel, nackt wie sie war, legte ich sie in ihre Wiege im Wohnzimmer. Dann ballte ich die Fäuste und ging auf meinen Mann los. Er setzte sich aufs Sofa und zündete sich eine Zigarette an. Fast schien es mir, dass er lachte. Ich wollte ihn schlagen, aber ich schlug nicht, den Mut hatte ich nicht. Stattdessen schlug ich meinen Kopf gegen die Wand. Einmal, zweimal. »Tu dir nicht weh«, sagte Abdullah höhnend über die Schulter, als er aufstand und in Richtung Tür ging. »Doch, das tut weh«, schrie ich außer mir. »Sei froh, dass ich alles organisiere und dir abnehme! Ich trage die Verantwortung für meine Kinder. Nicht du. Alles klar?«

Dann fiel die Tür ins Schloss.

Er hatte recht, ich hatte es nicht gelernt, Verantwortung zu übernehmen, nicht einmal für mich selbst: Wer war ich? Ein Nichts. Meine Stirn blutete, ich wischte mit der flachen Hand darüber. Es brannte, auch meine Lippen waren aufgesprungen. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach so dastand und vor mich auf den Boden starrte. Das Weinen von Amal brachte mich in die Realität zurück. Sie hatte Hunger, und ihr Bett war nass. Reiß dich zusammen, dröhnte es in mir. Du machst jetzt Amal trocken, stellst Wasser auf, löffelst Milchpulver ins Fläschchen, schüttest heißes Wasser drüber. Dann: schütteln, abkühlen lassen, Sauger draufschrauben, fertig. Wie die Verse eines Gedichts sagte ich mir jede einzelne Aktion vor. Denken konnte ich nicht, aber ich funktionierte, Schritt für Schritt. Die Kinder brauchten mich! Ich bezog Amals Bett neu und gab ihr das Fläschchen. Während sie dann über meiner Schulter einschlief, überkam mich eine große Traurigkeit. Warum hat mein Mann mich nicht in seine Pläne eingeweiht und die Kinder mit ihren Schmerzen alleine gelassen? Er tat, als gehörte ich nicht zur Familie.


Abdullah hatte Amin inzwischen in der Schule angemeldet. Er überraschte uns damit, indem er eines Tages mit einem Schulranzen auf dem Rücken nach Hause kam: »Nächste Woche fängt die Schule an, Amin.« Der Junge freute sich. Am Tag der Einschulung hupte Abdullah morgens ungeduldig vor der Tür. Obwohl die Grundschule höchstens 200 Meter entfernt von unserer Wohnung lag, wollte der Vater mit dem Auto fahren. Ein neuer, silberfarbener Mercedes. Angeber! Ich setzte mich mit Jasin und Amal nach hinten, Amin vorne. Er war so stolz.

Die Schule war ein weiter, luftiger Bau inmitten einer grünen Rasenfläche, schwarze Vogelsilhouetten klebten auf den großen Fensterscheiben. Von innen habe ich das Gebäude nie gesehen. Die Abc-Schützen, Eltern und Großeltern standen schon alle im Schulhof, als wir direkt am Zaun vor dem Schulgelände anhielten. Das Gras roch frisch, ein Geruch, den ich zum ersten Mal in Deutschland wahrnahm. Es war am Vortag gemäht und noch nicht zusammengerecht worden.

»Bleibt sitzen«, rief mein Mann über die rechte Schulter, »bin gleich wieder da«, und sprang aus dem Auto. Amin auch. »Inschallah«, rief ich ihm hinterher, blieb aber sitzen wie geheißen. Mit langen Schritten ging Abdullah, er trug ein schwarzes Sakko und Krawatte, das nahm ich jetzt erst wahr, auf eine Frau zu, die bei den Kindern stand. Er grüßte sie mit Handschlag, es musste die Lehrerin sein, sprach ein paar Worte mit ihr und kam tatsächlich gleich wieder zurück. Ich sah die Kinder und wie sie mit beiden Händen ihre schönen bunten Tüten vor sich hertrugen. Amin stand dazwischen, er war kleiner als die anderen und dünner. Wie er so dastand und ganz, ganz verloren wirkte in seinem weiß-blauen Matrosenanzug. Er war der Einzige ohne Schultüte. »Warum hat Amin keine?«, fragte ich mich. Er tat mir so leid.

Ich musste endlich Deutsch lernen, dann konnte ich meine Kinder selbst ins Krankenhaus oder zur Schule bringen, wenn es notwendig war. Doch als ich Abdullah wenig später nach einem Kurs fragte, wiegelte er ab. »Wozu? – Keine Zeit.« Ich war nur für Essen und Wäsche zuständig. Morgens schmierte ich meinen Kindern die Pausenbrote. Aber wenn sie mittags nach Hause kamen, fragte ich nicht: »Wie war’s in der Schule?« Einfache Fragen, die ich nicht stellen sollte. »Was habt ihr heute gelernt?« Wenn meine Kinder mich fragten, ob sie nachmittags zu einem Freund gehen dürften, antwortete ich »Weiß ich nicht« oder »Fragt den Vater«. Wünschten sich meine Kinder neue Schuhe, einen Ball oder Jeans, das Gleiche: »Fragt den Vater« oder »Ich muss euren Vater fragen.« Ich habe nie mit ihnen über Dinge gesprochen, die außerhalb des Hauses passierten. Das hatte mich nichts anzugehen.

Aber ich wollte weg. Raus, nicht mehr die Welt vom Fenster aus beobachten, sondern mit anderen Leuten zusammen sein, Geld verdienen, arbeiten, unbedingt, wenigstens ein paar Stunden. Mit Amals Geburt waren meine Lebensgeister zurückgekehrt. Das Baby war meine Hoffnung, gleichzeitig provozierte es meinen Widerspruch gegenüber Abdullah. Wenn er meinte, er könne mich mit dem Baby ans Haus fesseln, hatte er sich getäuscht. Ich war lange genug depressiv gewesen, jetzt musste sich etwas ändern. Plötzlich hatte ich eigene Wünsche. Auch wenn Amal noch klein war, erst ein Dreivierteljahr alt. Karimah bestärkte mich darin, arbeiten zu gehen, als ich mit ihr darüber redete. Auch wenn sie selbst ganz zufrieden war mit ihren Kindern. Ich wollte selbständig werden und arbeiten und mich auch von Abdullah nicht mehr von meinem Wunsch abbringen lassen.

Immer wieder fing ich damit an und versuchte ihn zu überreden: »Andere Frauen arbeiten auch. Sie haben mir gesagt, dass es einfach sei.« Von den Frauen seiner Kollegen hatte ich gehört, dass es nicht schwer sei, einen Putzjob zu bekommen. Putzen konnte ich. »Jede Frau kann ein paar Stunden pro Tag arbeiten und nebenher den Haushalt machen. Jasin und Amin sind schon groß. Wenn sie zurück aus dem Kindergarten und der Schule sind, können sie auf Amal aufpassen, und ich kann zwei Stunden gehen.« – »Sie sind noch zu klein. Wenn den Kindern etwas passiert, bist du schuld.« – »Es wird nichts passieren. Du bist doch nachmittags auch da, wenn du Frühdienst hast.« – »Nein, du bist die Mutter. Du trägst die Verantwortung.« – »Aber wenn ich arbeiten gehe, kann ich dir helfen, Geld zu verdienen.« – »Brauchen wir nicht!« – »Doch, für eine größere Wohnung und schnellere Autos.« – »Autos sind nicht schlecht.«

Ich wusste, dass ich Abdullah mit diesem Thema packen konnte. Wenn er von Autos sprach, wurden seine Augen ganz groß. Und als ich ihm wieder einmal mit der Arbeit und den Autos in den Ohren lag, hat er ja gesagt. »Aber auf deine eigene Verantwortung.« Da jubelte ich und bat meine Freundin, bei einer Reinigungsfirma anzurufen. Mein Mann besorgte die Arbeitserlaubnis, die er auch unterschrieb. Damit das Geld, das ich verdiente, auch wirklich auf sein Konto geht. Aber das war mir nicht wichtig, ich hatte sowieso kein Konto. Nicht das Geld wollte ich, sondern aus meinen vier Wänden herauskommen.

Putzen. Ich kam unter Menschen, auch wenn es nur zwei Stunden täglich waren. Ich machte mich schön, nahm meine Tasche und stieg mittags in das Auto, einen Firmenwagen, der die Putzfrauen an verschiedenen Stellen des Viertels einsammelte. Meist Frauen mit Kopftüchern, aber selbstbewusste Frauen. Sie haben türkisch gesprochen, und ich war eine von ihnen. War dabei, saß dazwischen. Wir redeten nicht viel, aber jeden Tag fuhren wir miteinander über die Autobahn zum gleichen Bürogebäude mit Ingenieur- und Architektenbüros. Dort wurden wir eingeteilt und eingewiesen. Eimer, Putzmittel, Lappen, Schrubber, Staubsauger: Jede von uns schnappte sich ihr Werkzeug, und nach Feierabend sahen wir uns wieder.

Es gab Leute, die sich gestört fühlten – »Ach du meine Güte, die schon wieder« –, wenn ich putzen kam. Ich habe ihnen das angesehen, auch wenn sie mich nicht ansahen. Nicht einmal »Guten Tag« gesagt haben. Manche haben mich verachtet. Da freue ich mich, dass ich endlich arbeiten darf, und die tun so, als ob ich nicht existiere. Strecken mir, ohne mich eines Blickes zu würdigen, den vollen Aschenbecher rüber. Nach dem Motto: »Mach deinen Job und verschwinde!« Da fühlt man sich natürlich minderwertig und beschissen. Aber wenn mich doch jemand zurückgrüßt und mir sagt, dass er froh sei, dass es eine Putzfrau gibt, die den Papierkorb leert, dann bin ich glücklich. Selig sogar. Denke: Wenigstens einer, der zufrieden ist mit mir und mit dem, was ich mache. Wenigstens einer, der mich sieht. Das tut gut. Und es ist nicht nur einer, sondern viele.

Ich war oft unsicher und wusste nie genau, ob ich alles richtig mache. Staubsaugen zum Beispiel: Gehe ich noch in die Ecke unter dem Schreibtisch oder nicht? Ich hatte keine Erfahrung, und jeder will es anders haben. Saugen und dabei die Leute nicht stören ist nicht einfach. Der eine fährt mit seinem Bürostuhl zurück und sagt: »Hier, bitte schön« und »Danke schön«. Der andere sagt: »Nee, bloß nicht saugen. Lass mich in Ruhe arbeiten.« Obwohl du den Leuten Gutes tust, bist du ihnen lästig, ein komisches Gefühl.

Wenn es zu Hause besonders schwierig war oder mein Mann mich geschlagen hatte, fürchtete ich immer, dass mir jeder ansah, wie unglücklich ich war und was für eine furchtbare Ehe ich führte. Das war natürlich Quatsch, aber ich genierte mich und wünschte mir insgeheim, dass ich jemandem mein Herz ausschütten könnte. Fragte sich nur, in welcher Sprache. Aber es gab tatsächlich den einen oder anderen, der mich jeden Tag fragte: »Wie geht’s? Alles okay?« Ich sagte: »Danke, gut. Und wie geht es Ihnen? Schönen Tag noch.« Wunderbare Momente. Bei diesen Leuten fühlte ich mich nicht als Putzfrau, sondern als Mensch. In ihren Büros habe ich länger sauber gemacht als in anderen, habe noch die Blumen gegossen oder die Bücher auf dem Regal abgestaubt.

Eine Frau versuchte immer mit mir zu sprechen. Sie fragte woher und wohin, wie lange schon in Deutschland? Ich verstand nicht viel und konnte nur ein paar Worte antworten, aber auch bei ihr habe ich immer extra sauber gemacht. Den Aschenbecher geleert zum Beispiel, der nicht auf dem Programm stand. Aber es ging nicht lange gut mit der Arbeit, höchstens zwei oder drei Monate. Nicht wegen der Kinder, sondern wegen Abdullah. Jeden Tag hat er gemeckert, gar nichts konnte ich ihm mehr recht machen. Alles war schlecht. Ob die Kinder gebadet waren oder nicht, ob die Suppe versalzen war oder zu fade. Er schimpfte unentwegt: »Du bist einfach zu dumm.« Manchmal glaubte ich fast selbst daran. Es kostete mich enorm viel Kraft, mich seinen Anschuldigungen entgegenzustellen. Irgendwann warf ich das Handtuch und kündigte den Job. Ein Versuch war’s wert gewesen. Aber mir fehlte das Durchhaltevermögen, um wirklich etwas zu verändern.


Es war wieder einer dieser typischen Nachmittage meines unglücklichen Ehelebens. »Hast du Amin gesehen?«, fragte ich Abdullah schon in der Haustür, als er um halb drei Uhr nachmittags von der Arbeit nach Hause kam. Amin war noch immer nicht von der Schule zurück, und ich machte mir Sorgen. Bei allen Nachbarn hatte ich geklingelt, mich mühsam vorgestellt, ich kannte ja keinen, und keiner kannte mich, und habe nach Amin gefragt. Ich war im Kindergarten gewesen, um Jasin abzuholen, und habe dort gefragt. War den Weg zur Schule abgelaufen, doch kein Amin. Ich machte Essen. Wo war er bloß? Ich kannte Amins Schulfreunde nicht, ihre Familien sowieso nicht, war nie auf einem Elternabend gewesen. Außer Karimahs Sohn und den Kindern der Erzieherin kannte ich keine Jungs in seinem Alter. Beide hatte ich schon alarmiert. Aber nichts. Amin war nirgends.

»Warum hast du nicht sofort nach ihm gesucht?«, schrie mich Abdullah an. »Hab ich doch.« – »Um ein Uhr war die Schule zu Ende, und er ist immer noch nicht da. Das kann nicht sein, du hättest längst die Polizei rufen müssen.« – »Warum die Polizei?« – »Um ihn zu suchen, mein Gott, wie blöd bist du! Wenn ihm etwas passiert, ist das allein deine Schuld.« Es war März und noch ziemlich kalt. »Aber er hat doch einen warmen Anorak an«, rief ich, als ob die Kleidung das Kind schützen würde. Mein Mann hörte mich nicht mehr, denn er war schon wieder beim Auto, um noch einmal die Wege abzufahren.

Ich blieb vor dem Haus stehen, keine zwei Minuten später sah ich Amin tatsächlich quer über den Spielplatz rennen, direkt auf mich zu. Mit seinem schweren Ranzen auf den schmalen Schultern, mit roter Nase und roten Wangen, aber fröhlich: »Mama, Mama«, rief er. – »Ich hab dich vermisst. Wo warst du, mein Schatz?« – »Oben beim Festplatz ist ein Zirkus.« – »Allein?« – »Nein mit Freunden. Wir waren bei den Tieren, Ponys und einem Zebra. Wir haben die Tiere gestreichelt, und wir durften ihnen sogar etwas zu fressen geben. Aus der Hand.« Mein Kind war im Glück, aber ich weinte. Natürlich fragte ich: »Warum bist du nicht nach Hause gekommen und hast Bescheid gesagt? Wir haben uns solche Sorgen gemacht und dich überall gesucht.« Aber das hörte Amin nicht. Er wollte nur von den Tieren erzählen.

Ich habe ihm den Ranzen abgenommen und seine kalten Hände gerieben. Er plapperte weiter, und ich nahm seine Hände in meine und blies hinein. So standen wir, bis mein Mann zurückkam. Er sprang aus dem Auto, ließ den Motor laufen. »Wo warst du?«, schrie er, als er uns sah. Amin lief auf ihn zu: »Im Zirkus, Papa … « Da sah ich, wie Abdullah Amin mit beiden Händen bei den Schultern packte. Im nächsten Moment würde er zuschlagen, ich sah es vor mir … Mir schoss das Blut in den Kopf, ich spürte, wie es an meiner Schläfe pochte. Angst und Zorn breiteten sich in mir aus. Und ohne zu überlegen, sprang ich auf die zwei zu, griff Amin mit beiden Händen am Arm und riss ihn weg. Nein, unseren Sohn sollte Abdullah nicht schlagen, ihn nicht! Eben hatte der Junge noch gelacht, jetzt schluckte er, sog die Luft ein und schluchzte wie ein Baby. »Geh, bitte«, rief ich, aber da lief Amin schon ins Haus zu seinen Geschwistern. Abdullah schäumte. »Nicht vor allen Leuten … «, zischte er zynisch. Da zog er mich schon in den Hausflur, warf mich gegen die geflieste Wand und schlug zu. Dann ging er hinaus, um den Motor des Autos abzustellen. Ich schrie nicht, heulte nicht, sagte keinen Ton, ein Nachbar von oben kam die Treppe herunter, wir schauten aneinander vorbei.

In unserem Schlafzimmer legte ich mich auf den Fußboden. Es war kalt, und ich fror, ich wickelte mich in eine Decke, und alles brach von Neuem über mich herein. Ich bin gefangen! Wie lange noch? Muss mich befreien! Wenn es nur nicht so schwer wäre … Mit trotzigen Bewegungen wischte ich mir meine Tränen aus dem Gesicht.

Als ich die Tür öffnete, lag mein Mann im Wohnzimmer auf dem Sofa, so als ob er den Vorfall schon vergessen hätte. Er schaute fern, die Kinder auch. Wortlos stellte ich jedem einen Teller mit Cornflakes hin, das mochten sie, ich fütterte Amal, wusch sie. »Wer zuerst fertig ist mit Zähneputzen, bekommt morgen ein Überraschungsei«, forderte ich Jasin und Amin auf, sich bettfertig zu machen. Sie trödelten ein wenig, aber ich ließ sie gewähren. Dann brachte ich sie zu Bett und legte mich wie immer zu ihnen, bis sie eingeschlafen waren.

Ich wartete, dann stand ich auf und starrte Löcher in das Dunkel des Zimmers. Ich muss etwas tun, aber was? Weglaufen! Doch wohin? Ich gehe zum Fenster, schiebe die Vorhänge zurück. Ohne zu wissen, was ich tue, mache ich ganz automatisch das Fenster auf und steige hinaus. Ohne klaren Entschluss. Will nur weg. In diesem Moment denke ich nicht an die Kinder, nur weg.

Zuerst lief ich ziellos Richtung Penny-Markt, bog um die Ecke. Die Polizeistation, kam es mir plötzlich in den Sinn, sie war nicht weit. Ich hatte sie oft gesehen, wenn ich einkaufen war. Meistens standen zwei grün-weiße Autos vor der Tür.

Kann ich einfach reingehen? Sagen, was passiert war? Mir würde schon etwas einfallen. Aber kann ich das? Warum eigentlich nicht! Mit einem Satz nahm ich die beiden Stufen hoch zur Eingangstür und ging an diesem Abend zum ersten Mal zur Polizei. Ich hatte mich getraut! Wenn mein Mann die Polizei wollte, dann sollte er sie haben. Er selbst hatte mich auf die Idee gebracht, als er fragte, warum ich sie nicht wegen Amin geholt hatte. Vorher hatte ich nicht dran gedacht, aber jetzt dachte ich daran.

Polizisten machten mir keine Angst, mein Vater war selbst einer. Als mir ein Mann in Uniform entgegenkam, sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. Ich überlegte nicht lange, ich legte los. »Mein Mann schlagen, immer schlagen. Mitkommen, sofort helfen«, so ungefähr stammelte ich. »Alleine – nicht mehr zurück.« Der Polizeibeamte, ein junger Typ mit stoppelkurzen Haaren, guckte ungläubig. Ich hatte ihn überrumpelt. Redete immer weiter, er rief nach einem Kollegen, sie wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Sie stellten mir ein paar Fragen, die ich natürlich nicht verstand. Trotzdem sprach ich weiter, immer wieder dieselben Worte: »Mein Mann – schlagen.«

Es klang wahrscheinlich hysterisch, nach ihren Blicken zu urteilen war ich ihnen unheimlich. Was sollten sie mit mir machen? Ein Protokoll konnten sie nicht aufnehmen, dazu erzählte ich viel zu wirr und zu unverständlich. Ich wusste selbst nicht genau, was ich wollte, nur eines wollte ich nicht: alleine nach Hause gehen. Irgendjemand sollte mein Leid sehen und meinen Mann verhaften, damit ich ihn für immer los war. Als ich einen der beiden Beamten am Arm packte und Richtung Ausgang zerrte, merkten sie, dass ich es ernst meinte, und nach einem kurzen Funkspruch setzten wir uns tatsächlich in Bewegung. Wir gingen zu Fuß, ich voraus. Meine Füße waren eiskalt, da ich nur Hausschuhe anhatte.

Sie klingelten an der Wohnungstür. Es dauerte eine Weile, bis Abdullah öffnete. Wahrscheinlich war er vor dem Fernseher eingeschlafen, doch nun hörte ich, wie er langsam durch die Küche ging und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Er blinzelte, als er uns sah, seine Nasenflügel zuckten. Man hörte, wie er die Luft ausblies: »Was ist passiert?«, fragte er mich auf Arabisch und suchte mit fahrigen Bewegungen nach seinen Zigaretten. Offensichtlich hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass ich aus dem Schlafzimmer verschwunden war.

Ich sagte nichts. »Ist das Ihre Frau?«, fragte einer der beiden Beamten. »Ja.« – »Sie ist vor einer halben Stunde auf der Polizeiwache aufgetaucht. Wenn wir sie richtig verstehen, sagt sie, dass sie von Ihnen geschlagen worden sei.« – »Was? Von wem? Wie kommt sie darauf?« – »Das müssen Sie wissen! Haben Sie sie geschlagen?« – »Nein, natürlich nicht.« Ich merkte, wie Abdullah um Fassung rang: »Oder habe ich dich etwa geschlagen?«, fragte er nun zu mir gewandt, aber auf Deutsch.

Ich sehe in seine Augen, sie sind dunkel, fast schwarz. Nein, unmöglich, ich kämpfe, ich will es ihm ins Gesicht schreien: »Ja, du hast mich im Flur gegen die Wand geworfen und geschlagen.« Aber ich kann nicht. Ich bringe es nicht fertig, nicht vor den Polizisten. Vor lauter Angst. Also zucke ich nur mit den Achseln.

»Wollen Sie eine Anzeige machen?«, fragt einer der Polizisten. Das habe ich natürlich nicht verstanden, fragend wende ich meinen Blick zu Abdullah. »Ob du eine Anzeige gegen mich machen willst, fragen die Polizisten«, übersetzt er mir auf Tunesisch. Er fixiert mich, seine Stimme hat jetzt einen spöttischen Unterton. Dann holt er eine angebrochene Packung Zigaretten aus seiner Hemdtasche, klopft sie auf seinen Handrücken und bietet beiden Polizisten zu rauchen an. Sie sagen nicht nein und lassen sich auch gerne Feuer geben.

Hier hatte ich nichts mehr zu sagen. Stumm blickte ich auf den Boden, ging an den Männern vorbei, durch die Küche ins Schlafzimmer. Ich weiß nicht, was mein Mann den Polizisten noch erzählte, aber nach ein paar Minuten machte er die Tür hinter ihnen zu. Ich hörte, wie er sich ein Kissen im Wohnzimmer aufschüttelte, und wusste, dass er sich dort schlafen legen würde. Ich setzte mich auf die Matratze der Kinder und wiegte mich mit verschränkten Armen: Wieder nichts erreicht. Ich konnte mich nicht gegen meinen Mann zur Wehr setzen, hatte es nie gekonnt. Aber ich spürte, dass ich mir irgendwie Luft verschaffen musste.

An einem der folgenden Tage war ich wieder zu früh dran, um Jasin vom Kindergarten abzuholen. Die Kinder waren draußen im Garten und spielten. Ich stellte mich neben die Erzieherin und beobachtete die Kinder. »Na, geht’s gut?«, fragte Rosie eher beiläufig. Unsere Kinder waren inzwischen ein paar Mal bei ihr gewesen. Da drehte ich mich zu ihr, sah in ihr Gesicht. Und wie schon bei der Polizei brach es wieder aus mir heraus: »Nicht gut – mein Mann – mich schlagen!« Ich schob meinen linken Ärmel zurück und zeigte ihr die blauen Flecken auf meinem Oberarm. Sie wich zurück, so entsetzt war sie. »Nein«, sagte sie, »das darf nicht sein. Du darfst dir das auf keinen Fall gefallen lassen. Geh zur Polizei.« – »Polizei tut nichts«, antwortete ich ihr. »Dann musst du weg von deinem Mann«, sagte sie resolut, »mitsamt den Kindern. Ihr dürft nicht länger bleiben.« – »Wohin.« – »Es gibt ein Haus für Frauen, die geschlagen werden. Ich bringe euch hin. Dein Mann wird euch dort nicht finden.«

Noch am gleichen Tag fuhr sie mich und die Kinder mit ihrem alten VW-Käfer ins Frauenhaus. Doch kaum dort angekommen, spürte ich, dass ich das nicht durchstehen würde. Ich hatte Panik, war allein. Was würde nur alles auf mich zukommen hier? Auch die Angst vor meinem Vater kam wieder hoch, der mich immer bestraft hatte, wenn ich weggelaufen war. Was würde er dazu sagen? Er hatte mich Abdullah gegeben, ich gehörte meinem Mann. Wer war ich ohne ihn? Nichts. Wie sollte ich ohne ihn zurechtkommen? Und die Kinder? Wie sollten wir ohne Geld und ohne die Sprache zu beherrschen durchkommen? Es ging mir wie vielen Frauen, ich hatte nicht einen Funken Selbstbewusstsein und fürchtete mich. Noch am gleichen Abend ließ ich mich von Abdullah wieder abholen. Er machte mir eine Szene, schlug aber nicht zu.


In diesem Sommer machte ich in Tunesien den Führerschein. Erst als wir im Herbst wieder zurück in Deutschland waren, habe ich es Abdullah gesagt. Zunächst war er sprachlos. »Hätte ich dir nicht zugetraut«, sagte er. Dann: »Wann und wie hast du ihn gemacht?« – »Der Vater hat ihn mir bezahlt. Du warst ja nicht da.« Ich war lange mit den Kindern zu Hause, über zwei Monate. Abdullah hatte es so arrangiert, dass ein Landsmann uns schon im Juli mitnehmen konnte. Er selbst wollte später nachkommen, wenn er Urlaub hatte. »Kannst du in Deutschland nicht einen Führerschein brauchen?«, hatte mich mein Vater gleich in den ersten Tagen gefragt. Er war milde geworden, wenn er helfen konnte, war nichts mehr von seinem Jähzorn zu spüren. »Doch ja, bestimmt. Warum?« – »Du könntest ein Auto nach Tunesien fahren, das wir dann hier verkaufen oder für uns behalten.«

Der Traum meines Vaters war ein deutsches Auto. Wie es der Traum aller unserer Bekannten, aller Nachbarn und der ganzen Verwandtschaft war. Normalerweise fahren wir mit Bus oder Taxi. Das ist nicht teuer, kostet nicht einmal einen Dinar, und es geht gut. Eigentlich brauchen wir kein Auto, keiner kann sich eines leisten. Bis heute nicht. Aber wer ein Auto besitzt, ist besser dran als andere. Ist ein angesehener Mann. Deshalb war Abdullah auch eine gute Partie gewesen. Dass ich nicht lache!

Ich freute mich trotzdem über Vaters Vorschlag. Von selbst wäre ich nicht darauf gekommen, aber natürlich war ich einverstanden mit einem Führerschein. Abdullah brauchte ich diesmal nicht zu fragen. Wenn mein Vater etwas vorschlug, konnte er nichts dagegen haben. Außerdem war er nicht da und bekam es nicht mit.

Nicht einmal, als er nachkam. Mein Vater hatte mich bei einer Fahrschule angemeldet, und ich nahm Fahrstunden. Wieder wusste ich nicht, wo mein Mann sich herumtrieb. Bei seiner Familie, Brüdern, Schwestern? In unserem neuen Haus verbrachten wir jedenfalls kaum eine Woche gemeinsam als Familie. Obwohl es für die Kinder schön gewesen wäre, unten am Fluss zu spielen. Aber ich hatte keine Lust dazu, weil ich mich bei meiner Familie wohler fühlte. Dort hatte ich Abdullah nicht ständig um mich. Meine Mutter war in den vergangenen Jahren gesprächiger geworden. Meine Schwestern und Brüder, auch wenn sie inzwischen alle verheiratet oder sonst wie ausgezogen waren, kamen fast täglich vorbei, um mich mit meinen Kindern zu besuchen.

»Das Geld hätte sich dein Vater sparen können«, reagierte Abdullah nun sehr abweisend. »Warum hat er nicht zuerst mit mir darüber gesprochen? Weißt du, dass es hier gar nicht erlaubt ist, mit einem tunesischen Führerschein zu fahren?« – »Aber ich habe doch das Papier.« – »Das nützt dir leider gar nichts. Früher ja, da musste man in Deutschland nur die Theorie nachmachen, dann durfte man fahren. Heute nicht mehr. Du musst den Führerschein komplett neu machen.« Ich wurde wütend, warum hatte mir das keiner vorher gesagt? »Dann werde ich eben den Führerschein hier noch einmal machen. Das kann doch nicht so schwer sein.« – »Nicht schwer, aber teuer. Woher willst du das Geld nehmen?« – »Willst du es mir nicht geben?« – »Nein.« Nun rückte ich mit der Idee meines Vaters heraus: »Aber ich könnte dir beim Autofahren helfen.« – »Wie das denn?« – »Wir könnten in Deutschland ein zweites Auto kaufen, dann mit beiden nach Tunesien fahren. Eines könntest du dort wieder teuer verkaufen. Du weißt, wie begehrt deutsche Autos sind. Wir könnten viel Geld damit verdienen.«

Abdullah ließ sich nicht beim ersten Mal überzeugen, auch nicht beim zweiten Mal. Doch nach ein paar Wochen kam er mit Büchern, die er auf den Küchentisch knallte: »Hier, schau da rein. Ich weiß nicht, wie du das hinkriegen willst, aber bitte schön – wenn du unbedingt einen Führerschein machen möchtest … Steht alles drin, was du brauchst.« Damals kannte ich nicht einmal die deutschen Buchstaben. Trotzdem, ich weiß nicht wie, habe ich es gelernt. Abdullah hat mir gezeigt, was wichtig ist, mir Fragen und Antworten vorgelesen. Er hat die Texte übersetzt, und ich habe alles auswendig gelernt. Auf den Fragebögen habe ich mir die Zeichen eingeprägt, gewusst, das ist die Frage, und dazu gehört diese oder jene Antwort. Was mir fremd vorkam, war falsch, was ich wiedererkannte, war richtig.

Die theoretische Fahrprüfung habe ich dann auch tatsächlich sofort bestanden, nur die praktische nicht. Ich hatte den Kopf nicht frei und war viel zu unkonzentriert. Auch wenn ich gerne fuhr. So war ich wenigstens weg von zu Hause. Ich konnte fahren, gut parken, alles, was mir der Fahrlehrer sagte, nur selbständig konnte ich gar nichts. War viel zu aufgeregt. Nach ein paar Metern Fahrt mit dem Prüfer sagte er: »Bitte fahren Sie rechts ran.« Das war’s dann.

Loewenmutter
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