7.

»Frei wie noch nie«

Ein Septembertag. Noch heiß in Tunesien, aber kalt in Hamburg. Mit einer Plastiktüte und 50 DM, die mir der Vater gewechselt hatte, war ich losgezogen. Ohne konkrete Vorstellung, wie es weitergehen sollte. Aber in Tunesien konnte ich nichts mehr für meine Kinder tun. Als ich mit festen Schritten die Gangway bis zur Flughafenhalle entlangging, fröstelte ich. Ich hatte nur ein dünnes Sommerkleid mit Stoffjacke an. Einen Pullover hatte ich nicht eingesteckt, überhaupt keine Kleidung. Nicht daran gedacht. Der Beamte an der Passstelle musterte mich von oben bis unten. Ich versuchte, mich mit seinen Augen zu sehen: Wer ist das denn? Gehört die hierher? Eine Fremde? Er schaute in meine Papiere, schaute mich an, schaute in die Papiere. Ich legte meine Hand ans Ohr, damit ich ihn besser verstehen würde, wenn er etwas sagen oder fragen würde. So große Angst hatte ich vor den ersten Worten. Ich konnte noch immer kein Deutsch. Aber er wollte nichts von mir, sagte nur: »Guten Tag.«

Vor dem Flughafengebäude wehte ein leichter Wind, die Sonne war gerade untergegangen und hüllte die kleinen Wölkchen in einen pfirsichroten Umhang. Der verblasste schnell, der Himmel schien alles Licht aufzusaugen. Ich zog meine Jacke fester um mich. Wohin jetzt? Es würde sich schon etwas ergeben, hatte ich in Tunesien gedacht, wenn ich erst einmal in Hamburg war. Jetzt war ich da. Und? Wie weiter? Ich zögerte und stieg in ein Taxi. »Hamburg-Harburg«, sagte ich. Weiß der Himmel, warum gerade diese Adresse. »Harburg«. Ausgerechnet. Mir fiel spontan keine andere Adresse als die meines Mannes ein.

»Halt, aussteigen«, schrie ich den Taxifahrer unvermittelt an, als er bei Aldi um die Ecke bog und ich den Spielplatz erkannte. Er stutzte. »Entschuldigung«, stammelte ich, Gott, war ich aufgeregt, was konnte der arme Mann dafür. Ich drückte ihm 20 Mark in die Hand und schlug die Autotür hinter mir zu. Inzwischen war es dunkel geworden, und die Straßenlaternen brannten. Ohne mich umzusehen, ging ich auf die Haustür zu und stieß sie auf. Dieser erdig-scharfe Modergeruch im Hausflur, o Mann, er war mir verhasst und vertraut zugleich. Ich tastete nach dem Lichtschalter. Mein Gesicht glühte, aber innerlich war ich eiskalt. Ich musterte die Flurwand: Fünf Zentimeter über dem Boden zog sich eine rostrot gezackte Linie an den Fliesen entlang. Putzwasserspuren. Es sah aus, als hätte es eine Überschwemmung gegeben. Als mir der Hausbesitzer aus dem flirrenden Halbdunkel entgegenkam, schreckte ich zusammen. Er schien überrascht. »Guten Abend«, sagte ich forsch. Wenn ich ihm früher begegnet war, hatte er meistens eine Taschenlampe bei sich, um in die eine oder andere Ecke zu leuchten. Das Haus war marode, aber zum Renovieren war kein Geld da. Ich hatte mich öfters mit ihm unterhalten. Ein sonderbarer Mensch, einsam, ohne Frau und Kinder. Hat mir leid getan. Immer suchte er das Gespräch mit den Mietern. Aber jetzt machte er mir schnell Platz, damit ich an ihm vorbeikomme, sagte nur knapp: »Nee, auch wieder da?« – »Och ja«, antwortete ich und steuerte geradewegs auf unsere dunkle Eingangstür zu. Ich klopfte und klingelte gleichzeitig.

Ich hatte nichts zu verlieren, alles, was ich in diesem Moment wollte, war, meinen Mann zur Rede zu stellen. »Aslema«, stieß ich laut und herrisch hervor, als sich die Tür öffnete. Zu laut, noch ehe ich jemanden sah. »Ich will mit dir reden!« Da erschien Abdullah im Türspalt. »Jetzt, sofort!«, schob ich nach. Erschrocken zuckte er zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein blasses Gesicht hatte den Ausdruck einer Katze, bevor sie das Weite sucht. Er schluckte. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit mir. Fahrig fuhr er sich mit seinen Fingern durch die Haare. Ich roch sein billiges Haargel. »Was machst du hier?«, bellte er mich an und suchte nach einer Zigarette. Seine Haut spannte sich über seine hohen Backenknochen, sodass seine Wangen noch eingefallener wirkten als sonst. Und noch einmal: »Was machst du hier?« Er klopfte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Da sah ich die dunklen Ringe unter seinen Augen, er sah übernächtigt aus. »Wie kommst du hierher?« – »Mit dem Flugzeug.« – »Und was willst du hier?« – »Die Kinder! Lass mich rein«, forderte ich barsch. »Nein«, fauchte er, »du kommst hier nicht rein. Nie wieder.« – »Ich will die Kinder!« – »Du weißt genau, dass die nicht hier sind.«

Dass ich noch einmal nach Hamburg zurückkehren würde, hatte Abdullah nicht für möglich gehalten. Warum auch, die Kinder waren in Tunesien, und wir waren geschiedene Leute. »Warum bleibst du nicht in Tunesien bei deiner Familie?«, fragte er nun, offensichtlich hatte er seine Sprache wiedergefunden. »Meine Familie war hier. Und hier will ich sie wiederhaben, verstehst du? Hier! Vorher gehe ich nicht. Deswegen will ich mit dir sprechen.« – »Es gibt nichts zu besprechen.« – »Das denkst du, aber wir sind noch lange nicht fertig miteinander. Ich will das Sorgerecht.« – »Wirst du aber nicht bekommen.« – »Das werden wir ja sehen. Wo sind die Pässe?« – »Geht dich nichts an!« – »Gestohlen, haa? Wie meinen.« – »Pass auf, was du sagst!« – »Sollte ich mich nicht wenigstens um die Kinder kümmern, wenn du es schon nicht tust? Du lässt sie in diesem Kaff bei deinem Bruder verkommen. Sie sollen wissen, dass sie eine Mutter haben.« – »Bloß was für eine. Nein, kommt nicht in Frage, du wirst sie nicht mehr sehen. Mein Bruder hetzt die Hunde auf dich, wenn du dich dort noch einmal blicken lässt.« – »Ich will meine Kinder haben und für sie da sein. Es sind auch meine Kinder!«

Ich wurde immer lauter, meine Wut, die vorher von Angst und Unsicherheit gedeckelt war, entlud sich nun wie eine Fontäne. »Die drei interessieren dich doch überhaupt nicht«, schnaubte ich, »nicht einen Finger machst du krumm für sie. Denkst nicht einmal daran, wie es ihnen bei deinem Bruder geht.« – »Gut geht es ihnen dort! Da ist keiner, der sie verhätschelt wie du. Dort bläst ein anderer Wind, und sie lernen das Leben kennen. Aber mach dir darüber keine Gedanken, geht dich doch sowieso alles nichts mehr an.« Abdullah ließ mir keine Chance. »Herzloser Hund!«, zischte ich. »Die Kinder sind dir doch egal. Dir geht es nur um Macht.«

»Ich kann auch anders – überleg dir, was du sagst«, stieß er noch einmal drohend hervor. »Mach, dass du fortkommst. Wenn du nicht freiwillig verschwindest, hole ich die Polizei. Du hast hier nichts mehr verloren. Wir sind geschiedene Leute.« Und nach einer Pause: »Ich hab’s dir schon einmal gesagt: Vergiss die Kinder.«

Mit einem Mal sah ich, wie die Algerierin hinter ihm auftauchte. Ganz leise war sie herangekommen. Unter ihren Augen die Wimperntusche verschmiert, und – das gibt’s doch nicht – sie trug meine Kleider. Ich sah es sofort. Geschmackloser geht es nicht. Viel zu eng. Busen, Hüfte, Schenkel, alles an ihr war drall. »Hübsch, hübsch«, provozierte ich, nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, »deine Freundin schmückt sich mit fremden Federn.« Abdullah lehnte nun mit verschränkten Armen am Türrahmen und hatte Oberwasser: »Lass El Hemla in Ruhe. Und die Kinder auch. Die haben dich sowieso längst vergessen.«

Mit diesem Satz hatte er mich schon einmal getroffen. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Jetzt bloß nicht einschüchtern lassen, egal was er sagt, beschwor ich mich. Er lügt, die Kinder brauchen dich! Du wirst sie bekommen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihm direkt in die Augen: »Guck dich doch an mit deiner Schlampe«, schrie ich. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die Kinder zu ihr wollen.« Da sah ich, wie seine Augenlider zuckten, aber scheinbar ruhig legte er seinen Arm um die Taille der Algerierin und grinste sie an: »Bring ihr ein paar Kleider, damit sie Ruhe gibt!« Stöckelnd verschwand sie in der Wohnung. Wie schamlos! Wollte er mich wirklich mit ein paar Kleidern abspeisen?

Doch ehe ich mich versah, kam seine Freundin mit ein paar hastig zusammengerafften Kleidungsstücken zurück: Hose, Bluse, Rock, Strümpfe. Eins nach dem anderen reichte sie Abdullah. Wie eine Vogelscheuche sah er damit aus. »Hier bitte, da hast du, was dir gehört«, rief er und hielt mir die Sachen hin. Aber ich nahm keine Notiz davon, sondern bemerkte so kühl, wie ich nur konnte: »Ohne Koffer?« – »Du übertreibst«, herrschte er mich an, und zu seiner Freundin: »Hol einen!« Er wollte mich loswerden, nichts sonst, und zwar so schnell wie möglich.

Wieder ging El Hemla und kam gleich darauf mit einem blauen Koffer zurück. Sie stellte ihn vor Abdullah, der bückte sich und stopfte alles hinein, während er schnaubte: »Izheb! – Los jetzt, verschwinde, es reicht!« – »Wenn ich das nur schon viel früher gemacht hätte«, gab ich zurück, richtete mich kerzengerade auf und zog mir die Ärmel meiner Jacke über die Hände. »Ich gehe. Aber die Klamotten kannst du behalten. Die schenk ich dir. Brauch ich nicht mehr. Aus, vorbei. Passen mir nicht mehr. Aus denen bin ich rausgewachsen. Gib sie deiner Schlampe!« Mit diesen Worten drehte ich mich um, ging langsam durch den Flur zur Haustür und zog sie auf. Leise fiel sie hinter mir ins Schloss. Draußen war die Welt dunkel.

Loewenmutter
titlepage.xhtml
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_000.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_001.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_002.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_003.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_004.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_005.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_006.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_007.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_008.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_009.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_010.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_011.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_012.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_013.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_014.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_015.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_016.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_017.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_018.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_019.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_020.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_021.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_022.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_023.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_024.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_025.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_026.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_027.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_028.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_029.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_030.html
CR!R4AJNBA10556Q0DD03ZH3DQP6YBH_split_031.html