2.
»Pack deine Sachen«
Plötzlich hörte ich seine raue Stimme von der Terrasse her. Abdullah war aus der Stadt zurückgekehrt und unterhielt sich lautstark mit der Frau seines Bruders. »Die Akte von der Botschaft ist da.« – »Wollt ihr nun endlich fahren?« – »Ja, sofort, heute noch, ich bin schon viel zu spät.« – »Wie lange seid ihr unterwegs?« – »Wir fahren nach Tunis, holen das Visum ab, dann weiter mit der Fähre. Anderthalb Tage und mindestens einen Tag von Genua nach Hamburg.«
Ich hörte meine Neffen und Nichten, wie sie um den Onkel herumschwirrten und riefen: »Wohin? Wohin gehst du mit Esma?« – »Nach Deutschland.« – »Was ist das?« – »Ein Land, ganz weit weg.« Es war Anfang September und kochend heiß, die Luft zum Schneiden dick. Ich stand in der dunklen Küche des Flachbaus meiner Schwagerfamilie, zu der wir nach der Hochzeit für ein paar Wochen gezogen waren, und rührte die Gemüsesoße für das Couscous zum Mittagessen. Warum kam mein Mann nicht zu mir und erzählte mir, was er vorhatte? Es betraf mich doch ganz unmittelbar, aber er tat so, als sei ich ein lästiges Anhängsel.
Ihm nachlaufen? Nein, ich hatte keine Lust rauszugehen. Mir war heiß, mit meinem Kopftuch hatte ich die Haare nach hinten gebunden. Jetzt war es so weit. Den Gedanken, dass ich eines Tages aus Tunesien weggehen müsste, hatte ich ein ganzes Jahr lang vor mir hergeschoben. Fast vergessen. Bin ich diesem fremden Mann wirklich versprochen worden? Abdullah, diesem schlaksigen Typen, der ein rotes Auto fährt und in Deutschland arbeitet? Irgendwie hatte ich gehofft, er würde nicht zurückkommen, aber er war wiedergekommen. Um zu heiraten und um mich zu sich zu holen.
Das Jahr nach dem Ehevertrag war vergangen wie alle anderen Jahre vorher auch. Ich hatte meiner Mutter im Haus und mit den kleinen Geschwistern geholfen. Hin und wieder hatte ich auch meine ältere Schwester besucht, die schwanger geworden war und erst kürzlich entbunden hatte. Von meinem Bräutigam in Deutschland habe ich nicht viel gehört. Wenn er schrieb, dann meinem Vater, der richtete einen Gruß an mich aus.
Doch im August war Abdullah tatsächlich gekommen. Ich habe ihn kaum wiedererkannt, mit seinem schmalen Oberlippenbärtchen und den spitzen Schuhen.
Wie ein Ganove sah er aus. Er gefiel mir, aber er machte mir auch Angst. Mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich nur daran dachte, diesem wildfremden Menschen ausgeliefert zu sein. Allein und ohne Rückhalt in der Familie. Mir war bange. Mit ihm in einem fremden Land, in einer fremden Kultur mit fremden Ritualen, Gewohnheiten und Alltäglichkeiten? Alle dachten, ich hätte das große Los gezogen.
Es gab keinen, der meine Ängste verstand. Keinen, mit dem ich hätte sprechen können!
Abdullah hat nicht lange gefackelt. Er wollte die Hochzeit und keine langen Vorreden. »Lass uns etwas zusammen machen, wie willst du es haben?« – Das gab es nicht. Mit mir wurde nicht gesprochen. Mein zukünftiger Mann regelte alles mit meinem Vater, und mir sollte es recht sein. Meine Schwester und ich durften immerhin mit zum Einkaufen. Kleider, Schmuck, Speisen und Getränke für die Hochzeit. Wir haben ausgesucht, er hat bezahlt.
Da wird nicht diskutiert, da wird gehandelt. Was brauchst du? – Was brauche ich? – Hier haben wir’s! Ich war die Frau, die zusieht, wie der Mann zur Tat schreitet.
Und wenn ich etwas haben will, besorgt es Abdullah. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus Deutschland sind wir Mann und Frau. Verheiratet nach arabisch-tunesischer Tradition. Tagelang wird die Braut für ihren Bräutigam geschmückt und schön hergerichtet. Frauen aus der Nachbarschaft begleiten mich ins Hamam, anschließend werde ich drei Tage und drei Nächte mit Henna bemalt. Am letzten Tag gehe ich zur Friseurin, Haare schneiden, glätten, hochstecken, bekränzen, Gesicht und Augen schminken. Knallig wie eine Puppe. Dann erst kommt der Bräutigam, um die Braut zu holen. Abzuholen zur Hochzeitsnacht.
Abdullah schien an diesen Ritualen nicht besonders interessiert. Er feierte eine Woche lang mit seinen Freunden und der Familie. Als er mich abholen sollte, wollte er gar nicht selbst kommen. War ihm zu lästig. Er schickte eine Frau, die mein Vater jedoch abfing. Er ging persönlich zu Abdullah und zitierte ihn weg von seinen Freunden: »Weißt du nicht, dass der Bräutigam seine Braut selbst abholt?« Das habe er vergessen, log er. Er sei mit den Vorbereitungen für die Reise nach Deutschland beschäftigt.
Nach der Hochzeit wollte er so schnell wie möglich nach Hamburg zurück. Musste er wegen seiner Arbeit. Obwohl er sich angeblich das ganze vergangene Jahr um meine Ausreisepapiere gekümmert hatte, waren sie bei der Botschaft in Tunis nicht rechtzeitig fertig geworden. Drei Wochen warteten wir nun schon, Abdullah hatte sogar seinen Urlaub verlängern müssen. Jeden Tag war er in der Stadt unterwegs, telefonierte, organisierte. Aber die Papiere ließen auf sich warten.
Ich schnitt den grünen Paprika für das Couscous, löste die weißen Fasern und die Kerne heraus. Ein Stück der weißen Haut steckte ich mir in den Mund und kaute darauf herum. Es schmeckte nach nichts, wie Schaumgummi. Ich wartete auch, obwohl ich nicht genau wusste auf was. Auf die Zeit mit Abdullah in Deutschland? Wie würde es werden? Ich war unruhig, getrieben wie ein Gecko, der über die weiße Hauswand wuselt, ohne Ziel und Richtung. Gleichzeitig langweilte ich mich, wenn ich nicht gerade mit Hausarbeiten beschäftigt war, die mir meine Schwägerin auftrug.
Ich schaute an mir herunter, mein kariertes Kleid war voller Spritzer vom Tomatenmark, das ich in die Soße gerührt hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drehte die Flamme am Gasherd auf volle Stärke. Der Herd stand auf einem Betonsockel, zu hoch für mich, mit einem hohen Topf sowieso. Ich warf eine Handvoll scharfer Pepperoni hinein.
Ich wollte nicht weg, aber hierbleiben wollte ich auch nicht. Nicht mit meinem Mann und nicht in dieser Familie. Für ein paar Tage würden wir hier unterkommen, hatte es geheißen, jetzt dauerte es schon Wochen. Eigentlich sollten es Flitterwochen sein, die stellt man sich schön vor, oder? Doch seit meiner Hochzeit hatte ich nicht eine schöne Stunde erlebt.
Wenn mich mein Mann nicht wie Luft behandelte, schlug er mich. Auch eine Alternative. Die kannte ich ja schon von meinen eigenen Eltern. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Gleich nach der Hochzeit fing Abdullah damit an. Ich war todunglücklich. Wäre ich bloß weggelaufen. Aber wohin? Zu meinen Eltern konnte ich nicht mehr. Mein Vater hätte mich umgehend zurückgebracht.
Wenn ich mich wenigstens jemandem hätte anvertrauen können! Erzählen, wie es mir geht, anstatt alles in mich hineinzufressen. Aber hier gab es keinen, der mir zugehört hätte, nicht einmal eine stumme Mutter am Herd. Ich war allein. Abdullahs Schwägerin schikanierte mich, ihre Kinder waren mir fremd. Im Grunde war ich ganz froh, von hier wegzukommen. Raus aus diesem dunklen Holzcontainer, kaum mehr als ein Dach über dem Kopf. Die Familie konnte sich nichts anderes leisten, weil mein Schwager das Geld, das er auf dem Sozialamt verdiente, regelmäßig versoff. Ich mochte sie alle nicht.
Ich horchte auf die Stimmen auf der Terrasse. Meine Schwägerin redete auf meinen Mann ein, dass er erst nach dem Mittagessen aufbrechen solle. »Hol deinen Bruder von der Arbeit ab, wir essen zusammen, dann könnt ihr losziehen.« Abdullah schien einverstanden, denn ein paar Minuten später hörte ich, wie er sein Auto startete und wegfuhr. Er war nicht in die Küche gekommen, um mir unsere Reise anzukündigen. Er hielt es nicht für notwendig, direkt mit mir zu sprechen. Aber das war ich nun ja schon gewöhnt. Wahrscheinlich wusste er, dass ich ihn gehört hatte, und überließ es meiner Schwägerin, mir zu erzählen, was zu tun sei.
Die Soße brodelte und zischte und lief über den Topf. So unerwartet, dass ich meine Hände, mit denen ich mich auf dem Betonsockel abgestützt hatte, nicht mehr zurückziehen konnte. Die kochende Brühe verbrühte mir die Finger, ich schrie, schüttelte meine Hände wie eine Verrückte und tauchte sie in das kalte Wasser, das in einer Plastikwanne im Spültrog stand. Auch das noch, mein Gott, wie weh das tat.
Doch da stand meine Schwägerin schon in der Tür: »Du Arme, hast du dir die Finger verbrannt?«, fragte sie und ohne eine Antwort abzuwarten: »Wie kann man nur so ungeschickt sein?« – »Lass mich in Ruhe.« – »Aus dir wird nie was. Mein Schwager hätte eine intelligentere Frau verdient.«
Ich sah sie nicht an, Wut kochte hoch in mir, und während ich zurück zum hohen Herd ging, erwiderte ich böse: »Bist du eifersüchtig?« – »Auf dich? Das würde mir im Traum nicht einfallen.« – »Hättest ihn wohl selbst gern gehabt. Ich schenk ihn dir.« Das war frech, aber irgendwie musste ich mich wehren. Schöne Flitterwochen waren das: In denen man es nur noch meinen Fingern ansah, dass ich erst kürzlich geheiratet hatte. Sie waren schwarz mit Henna bemalt. Die Nägel schön lang und rot, aber jetzt hatte ich hässliche weiße Blasen auf den Knöcheln. Sie brannten wie Feuer. Während mein Mann lustig in der Stadt herumkurvte, verbrannte ich mir die Finger und musste mir von meiner Schwägerin verächtliche Kommentare anhören.
Ich war müde, fühlte mich steinalt. In Rinnsalen lief mir der Schweiß unter dem Kleid am nackten Körper hinunter. Wenn ich jetzt wenigstens meine Tasche packen und ins Hamam gehen, baden gehen könnte. Doch keiner würde es mir erlauben. Nur eine halbe Stunde kaltes Wasser, ich würde viel darum geben. Stattdessen stellte sich meine Schwägerin direkt hinter mich: »Dein Prinz aus Deutschland kommt dich abholen«, sagte sie kalt. – »Er ist kein Prinz.« – »Klar, stell dich nicht so an.« – »Wenn du wüsstest … « – »Sei zufrieden, Esma, er hat Geld.« – »Aber er behandelt mich wie Dreck.« – »Lieber Dreck als gar nichts«, sagte sie und fragte dann, warum ich das Geschirr vom Frühstück noch nicht abgewaschen habe.
»Ich schwitze, bin schmutzig, stinke nach Knoblauch. Ich will baden und kein Geschirr spülen.« Aber Bad oder Dusche gibt es nicht. Ob ich mir wenigstens auf der Terrasse einen Eimer Wasser über den Kopf leeren könnte? Ging auch nicht. Dort spielten die Kinder. Alles in mir krampfte sich zusammen. Warum, verdammt nochmal, nahm hier keiner Rücksicht auf mich?
»Geh, pack deine Sachen«, sagte die Schwägerin. »Was denn bloß?« Abgesehen von den paar Kleidern, die mir mein Mann zur Hochzeit gekauft hatte, hatte ich nicht viel. Trotzdem schnappte ich mir nun den blauen Plastikkoffer, den mir Abdullah aus Tunis mitgebracht hatte. Mit einer Hand zog ich ihn hinter mir her vors Haus, mit der anderen nahm ich Bluse und Rock, die ich jeden Tag von Hand wusch, von der Wäscheleine, stopfte alles hinein, zuletzt die dünne, helle Popelinejacke. Dann deckte ich den Tisch zum Mittagessen.
Als mein Mann mit seinem Bruder kam, setzten wir uns alle zusammen an den Tisch. Noch immer beachtete er mich nicht, aber ich beobachtete ihn. Sah zu, wie er hektisch ein paar Löffel Couscous in den Mund schaufelte. Sein Kehlkopf sprang auf und ab, während er sie hinunterschlang. Wie abstoßend das aussah, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Er war aufgebracht. Ich wollte weg. Die Kinder lärmten und fragten durcheinander, mir schwirrte der Kopf. Ich konnte kaum sitzen vor Aufregung, ich war fahrig. Der Löffel fiel mir aus der Hand, egal, ich bekam sowieso keinen Bissen hinunter. »Fahren wir noch zu meinen Eltern?«, fragte ich und betete stumm, dass Abdullah ja sagen möge.
Ich wollte mich verabschieden, auch wenn ich nicht wusste, wie das geht, ich wusste nicht, was es heißt, sich zu verabschieden. Einen Abschied hatte ich noch nie erlebt. »Ja, ja«, antwortete Abdullah gleichgültig, »muss nur noch ein paar Sachen einpacken.« Es klang so, als würde ich auch zu diesen Sachen zählen.
Und das stimmte ja auch. Mein Vater hatte mich Abdullah übergeben. Er übernahm dort, wo der Vater aufgehört hatte. Mit einem Ruck stand ich vom Esstisch auf, zauderte aber gleich wieder, weil ich nicht wusste, was tun. Ob ich mich umziehen sollte? »Los, los«, kommandierte mein Mann. Doch da rannte ich schon in unsere Kammer und zog mir ein sauberes Kleid an. »Wo bleibt sie denn?«, schrie er durchs ganze Haus, konnte er mich nicht direkt ansprechen? »Esma«, rief die Schwägerin, um ihm zu helfen.
Zum Abschied versammelten sich alle vor dem Haus. Schwager, Schwägerin und fünf Kinder. Wir nahmen uns in den Arm und küssten uns. Obwohl sie in den vergangenen Wochen immer wieder behauptet hatten, ich sei eine von ihnen, hatte ich nicht das Gefühl. Der Abschied war ein Ritual ohne Inhalt. Mein Schwager stapelte meinen Koffer über die anderen Gepäckstücke im Kofferraum von Abdullahs Auto. Dann schlug er die Klappe zu. Ich drückte meine Handtasche aus Kunstleder an mich und zuckte zusammen. »Verdammt nochmal«, der Griff der Beifahrertür war glühend heiß. Um ein Haar hätte ich mir die Finger noch einmal verbrannt. Die anderen lachten. »In Deutschland ist es nicht so heiß«, rief die Schwägerin, »du wirst die Sonne vermissen.«
Bestimmt nicht! Ich setzte mich ins Auto und schwieg. Mein Mann auch, ohne noch etwas zu sagen, fuhr er los. Was bloß in seinem Kopf vorging? Er würde es mir nie erzählen. Ich kurbelte das Fenster herunter und winkte. All das, was mir hier an diesem Ort zwar nicht unbedingt lieb, aber doch vertraut war, würde ich verlieren. Die Familie, die Verwandtschaft, die sandigen Wege, das flirrende Licht, der Geruch von verbranntem Gras – alles weg.
Ich schaute in den Himmel, hoch zu den Dattelpalmen am Wegrand, hörte die Trillerpfeife eines Polizisten, irgendwo roch es nach verbranntem Gummi.
Die Fahrt zum Haus meines Vaters dauerte nicht lange. Keiner erwartete uns, wir hatten uns nicht angekündigt. Ich rannte durch das Gartentor und klopfte an die Haustür. Immer wieder. War denn keiner da? Das konnte nicht sein. Meine Mutter war krank, sie ging nie aus dem Haus. Und wenn sie doch einmal zu meiner großen Schwester ging, dann wurde sie vom Vater geschimpft. Ich wartete. In den vergangenen Wochen hatte meine Mutter das Haus nicht mehr verlassen. Sie litt an starken Depressionen und Wahnvorstellungen. Dauernd fürchtete sie sich vor Einbrechern oder davor, dass jemand den Gashahn aufdrehen könnte und wir alle kläglich zugrunde gingen.
Aber jetzt war ich panisch. Wenn tatsächlich keiner da wäre, was dann? Ich wollte nicht fahren, ohne mich verabschiedet zu haben und ohne zu wissen, ob und wann ich meine Familie je wiedersehen würde. Wie besessen hämmerte ich mit meinen Fäusten gegen die verschlossene Tür. Endlich schob eine meiner kleinen Schwestern den Riegel von innen auf. »Seid ihr schwerhörig? Warum macht ihr nicht auf? Warum lasst ihr mich so lange warten?«, rief ich und stürmte an ihr vorbei. Durch die Küche, den dunklen Flur entlang, die Treppe hoch in die Kammer meiner Eltern.
Es war dämmerig, die Fenster standen weit offen, aber die Fensterläden mit den Holzlamellen waren geschlossen. Zuerst hörte ich nur die Stimme. Eine Stimme, die winselte, nein, sie jaulte wie ein Hund. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Wie stickig es in dem Raum war. Da sah ich meine Mutter unter einem Berg von Kissen und Decken in ihrem Bett liegen. Sie wimmerte. Vor Schmerzen, ich wusste es sofort. Zwei Schritte, dann war ich bei ihr und zog die oberste Decke weg. »Ist doch viel zu heiß, Ummi«, sagte ich. Mehr nicht, ich wusste, sie war geschlagen worden. Wenn meine Mutter solche Laute von sich gab, litt sie unendlich.
Meine beiden jüngeren Schwestern waren mir gefolgt. Jetzt standen sie verschüchtert hinter mir, ohne etwas zu sagen. Nur das Klagen meiner Mutter war in der Nachmittagsstille zu hören. Ich drehte mich zum Fenster, versuchte mit meinem Blick die Schlitze der Holzlamellen zu durchbohren. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Hier lag meine Mutter, aber genauso gut könnte ich das sein. Ich wusste, wie es ihr ging. Mir würde es genauso ergehen, das Gleiche stand mir bevor. Der blanke Horror. Ich wollte im Boden versinken.
Einen Vorgeschmack auf das, was mich erwartete, hatte ich schon erlebt. Ein paar Tage nach der Hochzeit: Ohne dass ich danach frage oder überhaupt eine Ahnung davon habe, was es ist, drückt mir meine Schwägerin eines Nachmittags ein buntes Magazin in die Hand. »Du hast doch keine Erfahrung mit Männern«, sagt sie. »Schau dir das mal an.« Ein Pornoheft. Das ist wohl ihre Art der Aufklärung. Ich bin geschockt, so etwas habe ich noch nie gesehen. Das will ich auch nicht sehen, mein Gott, ist mir das peinlich. »Aber nein, das ist doch nichts für mich«, flüstere ich wahrscheinlich mehr, als dass ich es sage. Für wen hält sie mich denn? Ich schäme mich und lege das Heft weg, ohne es durchgeblättert zu haben.
Doch abends, kaum ist mein Mann zu Hause, erzählt ihm die Schwägerin kichernd, dass sie mir ein Pornoheft gegeben habe. »Und hat sie sich die Schweinereien angesehen?« – »Hmmm, glaube schon.« Wie ein wild gewordener Stier geht Abdullah da auf mich los, schreit und schlägt um sich. »Du Hure, dass du dich nicht schämst.« – »Das stimmt doch nicht, ich habe nichts gesehen«, rufe ich, »ich wollte das gar nicht.« Aber da hat er mich schon erwischt. Mit beiden Händen schlägt er mir ins Gesicht und auf den Kopf. Wie ein Besessener. Als ich den Kopf zwischen die Arme nehme, trifft mich seine Faust im Rücken. Ich falle, ohne etwas zu spüren, rolle mich auf dem Boden zusammen und krieche in eine Ecke. Doch das reicht Abdullah immer noch nicht. Mit beiden Händen packt er mich an den Hüften, zieht mich hervor und drischt weiter auf mich ein.
Alles tat weh, mir war hundeelend. Was hatte ich getan? Ich konnte mir selbst nicht mehr in die Augen sehen und wusste nicht einmal, warum. Weil ich das dumme Heft, das mir meine Schwägerin in die Hand gedrückt hatte, nicht angeschaut hatte? Hätte ich das tun sollen? Oder nicht? Abdullahs Wut war mir unbegreiflich. Egal wie ich mich verhalten hätte, es wäre falsch gewesen. Ich hätte es nicht richtig machen können. Das machte mich hilflos und verzweifelt.
Als mein Mann mich am nächsten Tag fragte, ob ich meine Eltern besuchen wolle, lehnte ich ab. – Er würde mich auch fahren. – Nein. – Am liebsten wäre ich überhaupt nicht mehr aus dem Haus gegangen. So wie ich aussah. Was hätte ich den Eltern sagen sollen? Woher die blauen Flecken kommen? Dass mich mein frisch angetrauter Ehemann geschlagen hat? Sie würden nach dem Warum fragen. Aber das wusste ich ja selbst nicht einmal. So etwas kann man doch keinem erzählen. Wollte ich auch nicht. Ich fühlte mich schuldig, ohne zu wissen, warum. Weil Abdullah mich für schuldig hielt? Es war nicht das einzige Mal in diesen vergangenen drei Wochen, dass er mich geprügelt hatte.
Ich wusste, wie sich meine Mutter unter ihren Kissen fühlte, und ich wusste auch, wie mein Leben in den nächsten Jahren aussehen würde: Heulend und winselnd unter einem Berg von Decken an einem heißen Sommertag. Wie ein Karussell drehten sich Mitleid, Trauer und Wut in meinem Kopf. Ich wandte meinen Blick ab vom Fenster zum Bett meiner Mutter. Eigentlich war ich gekommen, um ihr von meiner Angst vor der Reise in ein fremdes Land zu erzählen. Ich hoffte, sie würde mich trösten, stattdessen brauchte sie nun meinen Trost. Aber ich konnte nicht. Ohne sie anzusehen, machte ich einen Schritt auf sie zu und sagte: »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden, Ummi.« Und dann mit einem Anflug von Galgenhumor: »Soll ich dich mitnehmen?«
Natürlich lachte meine Mutter nicht, sie sagte auch nicht »O ja«, sie schwieg. Kauerte sich noch mehr zusammen und zog die Bettdecke, die ich vorher zurückgeworfen hatte, wieder über sich. Dafür lachten meine Schwestern jetzt und fingen an zu betteln, halb im Ernst, halb zum Spaß. »Bitte, Esma, bitte nimm mich mit nach Deutschland.« Ich sagte nichts mehr. Doch in einem Anflug von Trotz riss ich meiner Mutter die Decke wieder weg, alle Decken, und warf alles auf den Boden. Da lag sie nun in ihrem Nachthemd, ein Häufchen Elend, hilflos und willenlos. Warum hatte sie sich bloß aufgegeben? Ich war wütend auf sie und wütend auf mich selbst. Wenn ich sie brauchte, war sie nicht da. Ohne ein Wort des Abschieds machte ich kehrt und ging aus dem Zimmer.
Von unten drangen Stimmen herauf. Mein Mann hatte den Vater von seinem Polizeiposten abgeholt. Die Tür vom Wohnzimmer war angelehnt, ich hörte, wie sie sich unterhielten, ging aber vorbei nach hinten in die Küche, in der der säuerliche Geruch von eingelegten Tomaten hing. Es war kein Feuer im Herd, also zündete ich den Gasherd an, füllte einen Teekessel aus Email mit Wasser und stellte ihn auf die Flamme. Bevor ich in die Fremde ging, wollte ich hier noch einmal Tee trinken.
Ich suchte nach Sesamkeksen und stellte auf einem Tablett Teller und Tassen bereit. Als ich es ins Wohnzimmer trug, nahmen weder mein Vater noch Abdullah Notiz von mir. Wie immer sprachen sie über Geld. »Du musst daran denken, deiner Frau und den Kindern ein Haus in Tunesien zu bauen«, hörte ich meinen Vater sagen. Abdullah nickte und vergrub seine Hände tief in den Taschen seiner feinen Hose.
Nachdem ich den Tisch gedeckt hatte, drehte ich mich zu meinen Schwestern um, die mir auf Schritt und Tritt gefolgt waren. Mehr aus Verlegenheit rief ich ihnen zu: »Ich bin froh, wenn ich euch los bin.« – »Wie gemein«, riefen sie. »Aber was denkst du, wie froh wir erst sind!« Aufs Stichwort gingen wir gleichzeitig aufeinander los wie junge Hunde, wir schubsten uns und stolperten und fielen hin.
Doch dem Vater war es peinlich, dass wir uns vor Abdullah so kindisch aufführten.
Mitten im Satz unterbrach er sich und fing an zu schreien, dass wir aufhören sollten. Da lief es mir kalt über den Rücken. Konnte er nicht einmal nachgeben? Ich verzog mich in die Küche. Dort brühte ich den Tee auf, goss mir eine Tasse ein und ging mit der heißen Tasse in der Hand noch einmal durchs Haus. Die Stiegen hoch und runter, zu jedem Zimmer machte ich die Tür auf, schaute hinein und zog sie wieder zu. Ich wollte nichts vergessen.
Mein Vater sagte nicht viel zum Abschied, nur: »Ich bin stolz darauf, eine Tochter zu haben, die ins Ausland geht und ihren Eltern Geld nach Hause schickt.« Ich nickte unsicher dazu und knotete mein Kopftuch neu. Als wir durch den Garten hinaus auf die Straße zu Abdullahs Auto gingen, legte Vater seinen Arm um meine Schultern. Das hatte er noch nie getan, er fühlte sich weich an, für einen Moment lehnte ich mich sogar an ihn. Er war mein Vater, den ich liebte, auch wenn er mich geschlagen hatte. Dann sah ich mich um. Sah noch einmal die Bäume, die er gepflanzt hatte, die Orangen und die Zitronen, die bald reif sein würden. Ich begann zu weinen und bemerkte, dass auch mein Vater Tränen in den Augen hatte.
Während meine Schwestern an mir herumzupften und mich mit Wünschen bestürmten, was ich alles aus Deutschland mitbringen solle, wenn ich im nächsten Jahr wiederkäme, Schminkzeug, Haarbänder, Toaster, Brotschneidemaschine, schnäuzte ich mich. Ich war so aufgeregt, dass ich überhaupt nicht richtig zuhören konnte. Doch inmitten des Trubels sah ich plötzlich meine Mutter. In Hausschuhen und Nachthemd stand sie in der Haustür und blickte zu uns herüber. Die Lippen zusammengepresst, die Hände flach auf die Oberschenkel gelegt, ihr langer schwarzer Haarzopf lag wie eine Kette um ihren Hals. Ich wollte zu ihr, doch da war sie schon wieder im Dunkel des Hauses verschwunden. Wortlos. Ich habe sie nie verstanden.